Säntimäntls Reise - Thomas C. Breuer - E-Book

Säntimäntls Reise E-Book

Thomas C Breuer

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Beschreibung

Mit einer klapprigen Isetta Baujahr '57 »gurken« zwei »Filmfreaks« kreuz und quer durch Europa von Filmfestival zu Filmfestival, auf der Jagd nach einem ominösen Filmskript von Ernst Lubitsch, wobei allerdings permanent etwas dazwischenkommt. Autopannen. Attentate. Endlosstaus. Überschwemmungen. Streiks. Terroristenfahndungen ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Thomas C. Breuer

Säntimäntls Reise

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Magali Chirouze, Thommie [...]Ein mittelmäßiger oder auch [...]I. To Be Or Not To BeII. Love ParadeIII. Birma oder BurmaIV. Surfen bei SintflutV. Orangene BananenVI. Pompeji für AnfängerVII. Trouble In ParadiseVIII. Aufkleber lügen wie gedrucktIX. One Hour with YouX. Nomaden im KaffeehausXI. Nebel vor der LeinwandXII. Heaven Can WaitXIII. Milchglas im ZielfernrohrXIV. Abseits vom MentholXV. Design For LivingXVI. Dämmerung im AbendlandXVII. Grünes lebenXVIII. That Uncertain FeelingXIX. Elchfleisch in Maraschino

Für Magali Chirouze, Thommie Bayer, Gerhard Kowa, B., C., E. (†) & I.L. sowie L.

Ein mittelmäßiger oder auch guter Regisseur sagt dem Publikum: »Zwei und zwei ist vier.« Aber der Lubitsch ist gekommen und hat nur gesagt: »Zwei und zwei.« Und das Publikum hat es selbst zusammengezählt: »Aha, vier.«

Billy Wilder

 

Die Utopie tritt nie so ein, wie man es sich erhofft, aber meist lassen sich auf der Suche nach ihr doch verwertbare Ergebnisse erzielen.

Paolo Taviani

 

Az eredeti nyelven adják a filmet?

Polyglott

I. To Be Or Not To Be

He’s a real nowhere man, sitting in his nowhere land …

 – John Lennon

Kein grauverhangener Novembernachmittag, der menschliche Lemminge reihenweise aus den Fenstern treibt; kein bilanzträchtiger Anlaß wie Jahreswechsel oder Geburtstag, jedenfalls nicht direkt, der einen zu stundenlangen Betrachtungen vor dem Badezimmerspiegel nötigt: Inventur aller Schlaftablettenbestände, Kontrolle der Rasiermesserschärfe inbegriffen. Nicht mal ein gewöhnlich trister Sonntag.

Klare Luft, freie Sicht von den Hügeln auf die Häuser der anderen Seite des Flusses, klare Sicht nach innen. Nur zögernd trübt das Bild sich ein, zuerst an seinen Rändern, ein Panorama mit Weichzeichner behandelt, in dem die Übergänge fließend werden.

Keine vorübergehende Bewußtseinstrübung.

Dobos Attila hat sein Bestes gegeben, um sein Land auch weiterhin im oberen Tabellendrittel der Welt-Selbstmordstatistik zu halten: sein Leben.

Dobos Attila rutscht langsam vom Stuhl und stirbt.

Er hinterläßt unter anderem eine umfassende Filmbibliothek mit zahlreichen Kleinodien, darunter eine grüne Kladde, von der noch die Rede sein wird, eine komplette Video-Ausrüstung, ein Tonstudio in eher bescheidenen Ausmaßen. – Keine Gründe. Nicht, daß Gründe eine besondere Rolle spielten in einem Land, in dem schon ein simples Lied wie »szomorú vasarnap« als Auslöser für eine Selbstmordepidemie genügt, ein Lied, das ursprünglich als Parodie gedacht war.

Nicht, daß Dobos Attila seine Freunde völlig unvorbereitet im Stich gelassen hätte; daß sie dennoch seinen Tod aus der Zeitung erfahren müssen, liegt daran, daß er seine zahlreichen Abschiedsbriefe unfrankiert in den Kasten geworfen hat.

Die Briefe erreichen ihre Empfänger erst am Tag nach der Beisetzung. Die Inhalte sind gleichlautend:

»Bin soeben verstorben. Dobos.«

Sein Motiv wird gleich zwei Tage lang zum beliebtesten Spekulationsobjekt in den Kaffeehäusern der Stadt. Vermutungen grassieren: berufliche Gründe – das Scheitern seiner Pläne für ein privates Synchronisationsstudio; der Streit mit den Behörden um ein Filmkunstkino; überhaupt fortwährende Ablehnung seiner Projekte, die ihm seine nie versiegende Ideenproduktion zu einer allmählichen Belästigung geraten läßt; sein Broterwerb als Schauspieler in drittklassigen Stücken oder Filmen. Oder private Gründe: Unglück in Eigenregie, falsche Synchronisation des eigenen Lebens, professionelle Einsamkeit, die einmal in dem Satz gipfelt: »Soll ich mir vielleicht einen Hund kaufen, nur damit sich jemand freut, wenn ich nach Hause komme?«

Freunde und Bekannte sind sicher: Dobos war kein Typ für Kurzschlußhandlungen. Es gibt da Indizien, detaillierte Pläne – die Regieanweisung seiner Beisetzung mit Besetzungsplan und einer Liste unerwünschter Personen, die offenbar schon länger existieren mußte, war sie doch von ihm noch handschriftlich auf den aktuellen Stand gebracht worden.

Sein Leben ein Kurzfilm, die Liste der Nachspann.

Säntimäntl steht nicht auf dieser Liste. Im Gegenteil, er zählt sogar zu den Adressaten der Abschiedsbriefe. Seit den gemeinsamen Tagen auf der Akademie in Wien haben sie sich nur selten gesehen. Als die lakonischen Zeilen bei Säntimäntl eintreffen, ist dieser längst unterwegs, mit Werner, seinem Fahrer, einem jungen Mann, den er erst vor wenigen Tagen eingestellt hat.

Säntimäntl will Dobos ohnehin treffen! Dobos als Kontaktmann zu den Kulturfunktionären, da hätte er vielleicht schon mal einen Fuß in der Tür. Und wenn da erst mal etwas laufen würde, dann könnte es mit der ganzen Gegend da unten klappen. Als Präzedenzfall für den Ostblock, sozusagen.

Und außerdem: das Szenario! Die grüne Kladde! Wenn Dobos nur endlich diese grüne Kladde rausrücken würde, das wäre der Einstieg in die Branche überhaupt! Eine Sensation! Dobos kann doch nicht sein ganzes Leben darauf sitzenbleiben. Er hat schon früher immer die besten Zeitpunkte verschlafen, was es auch immer war.

Wäre ihr Fortbewegungsmittel nicht gerade eine BMW Isetta, Baujahr 1957 – dann wären die beiden immerhin rechtzeitig zur Beerdigung gekommen.

So kommen sie zu spät. Sie erreichen die Stadt am Sonntag vormittag, zwei Tage nach der Beisetzung. Säntimäntl weiß von nichts.

Szomorú vasarnap. Trauriger Sonntag. Nicht mal das.

 

Bei jedem Wurf fielen mindestens sechs Stäbchen vom Tisch. Außerdem wackelte der Tisch. So konnte man doch unmöglich spielen! Frechheit!

Säntimäntl raffte unwillig die Mikadostäbchen zusammen, steckte sie in das Etui, das er in seinem Aluminiumkoffer verstaute, den er auf den benachbarten Stuhl gestellt hatte. Auf einem anderen Stuhl standen Kaffeetassen, kleine Zuckersäckchen aus Papier, halbvolle Wassergläser, ein Milchkännchen und ein Aschenbecher, die Werner jetzt nacheinander auf den Tisch zurückstellte.

»Wie spät?« fragte Säntimäntl. »Meine Uhr ist stehengeblieben.«

»Fünf Uhr dreißig«, sagte Werner.

Säntimäntl wunderte sich über Werners Digitaluhr; nach dem ersten Bild, das er sich binnen weniger Tage von Werner hatte machen können, hatte er eher eine altbackene Uhr mit analogem Zifferblatt vermutet. Oder eher noch eine Sanduhr.

Er wunderte sich über einiges an diesem Tag, vor allem über seinen Freund Dobos, den er trotz aller Bemühungen noch nicht getroffenen hatte. Vielleicht sollte man keine Postkarten als Vorwarnung lossschicken! Der Erfolg: verschlossene Wohnung, totes Telefon.

Ihr Wartesaal war Kaffeehaus, Bar und Restaurant in einem. Mittags hatten sie sich bereits im Restaurant über den deutschsprachigen Teil der Speisekarte amüsieren können: »Gordon Blues. Szendvics«. Und so weiter.

Danach zogen sie in die Bar um, um sich einen »Coktél« zu genehmigen.

Mit seinem regenwurmbreiten Schnurrbart, seinen Glycerin-Augen, seinem streng nach hinten gebügelten Haar, seinem Vollfett-Charme, schiefes Lächeln inklusive, und seinen steifen, kartenständerähnlichen Bewegungen erinnerte der Barmixer Säntimäntl stark an den kürzlich verstorbenen Schauspieler David Niven. Das gleiche Gesicht ließ ihn sogar ebenso verstorben wirken, obwohl er noch lebte und mixte.

Säntimäntl schilderte Werner seine Eindrücke. Der zuckte die Achseln. »Das machen viele, Menschen mit Schauspielern und sowieso die Welt mit Filmen zu vergleichen.«

Naja, neu war diese Erkenntnis nicht gerade. Säntimäntl glaubte sogar, sich an einen diesbezüglichen Dialog erinnern zu können. Nur der passende Film fiel ihm nicht dazu ein – vielleicht Wenders?

»Das haben Sie aus einem Wenders-Film, geben Sie es zu!« sagte er mit Bestimmtheit. »Wenders-Filme sind sowieso meist besser als das Leben, die kommen mir oft realer vor als die Wirklichkeit. Die ist mir nämlich zu dick aufgetragen.«

Werner sah Säntimäntl skeptisch an. Das sind vielleicht Sprüche, dachte er. Säntimäntl ließ sich nicht beirren.

»Und wie in einem Wenders-Film fahren wir beide durch die Weltgeschichte, in einem Kult-Auto durch verrottete Landschaften, steigen in heruntergekommenen Hotels ab und machen dabei einen auf Männerfreundschaft …«

»Hm«, sagte Werner. »Das mit der Männerfreundschaft, ich weiß nicht, schließlich sind Sie der Boß!«

Nach weiteren ergebnislosen Anrufen – wo steckte Dobos bloß? – die dritte Etappe: das Café. In Kaffeehäusern pflegte Säntimäntl innere Einkehr zu halten wie andere Leute in einer Kirche.

Die Ziffern in Werners Digitaluhr sprangen nervös hin und her.

Alte Damen schaukelten andächtig ihre Hüte durch die rauchgeschwängerte Luft; Hüte, die ebenso verschwenderisch ausgestattet waren wie die Torten, die sie in sich hineinschaufelten; Hüte, die so groß waren, daß ihre Trägerinnen bestimmt zu Fuß hergekommen waren – in Autos konnten sie so unmöglich hineinpassen. Staubwedelartige Wesen wischten über den Marmor und veranlaßten Werner zu der erstaunten Bemerkung, ihn wundere es, daß es so etwas jetzt auch in Hund gäbe.

Wenn Pekinesen sich Wohnungen einrichten würden, dann gewiß so: überall Möbel von frisch polierter Unsterblichkeit. Stuck und Plüsch. Politur und Positur. Kleine Altäre, auf denen der eigene Geschmack angebetet werden könnte.

Bereitschaftsphilosophen spülten ihre Weltschmerztabletten mit Wasser hinunter. Vermeintliche Zarentöchter beteten ihre Litaneien unter den Kronleuchtern. Greise hangelten sich handkußweise durchs Gestühl. Living Tussaud’s – ein Seniorentreff im Jugendstil, mit jungen Intellektuellen als Auflockerung. Kellnerinnen in knappen Uniformen und Cowboystiefeln schleppten Berge von Kastaniencrèmes und Meere starken Kaffees. Ein Zahlkellner mit sibyllinischem Lächeln und Kugelschreiber-Einflugschneisen am Jackett nahm abgegriffene Geldscheine in Empfang.

Säntimäntls Blick wanderte ruhelos von der Zeit zur Uhr über dem Eingang, von der Uhr zur Tür darunter und von der Tür wieder zur Zeitung. Den anderen Eingang galt es auch noch im Auge zu behalten. In diesem Café pflegte Dobos früher zu verkehren. Also wo, zum Teufel, war er? Es gelang Säntimäntl nicht, sich zu konzentrieren.

Und wenn Dobos überhaupt nicht in der Stadt war? Was sollte dann werden? Wo sollten sie – beispielsweise – Silvester verbringen? In ihrem Hotel vielleicht? Inmitten dieser schäbigen B-Film-Dekoration. (Nicht mal klassisch, höchstens Serien-Remake.) Oder etwa in einem Nachtclub? Im »Club der jungen Künstler«? War Dobos die Feiertage über mit Freunden unterwegs? Bei seinen Eltern? In einem Elfenbeinturm auf dem Land?

Säntimäntl fühlte sich unbehaglich. Der Kaffee beruhigte ihn nicht wesentlich.

Die Zeitung mit ihren angebissenen Berichten interessierte ihn eigentlich nicht. Der Tisch eignete sich nicht für Mikado. Durch seine fahrigen Bewegungen hatten er und der Tisch vermutlich noch mehr gewackelt. Nicht mal Zuckerwürfel gab es – obwohl er gerade aus diesem historischen Kaffeehaus gerne eine Trophäe mitgenommen hätte.

Nun, es war ja immerhin möglich, daß Dobos noch kam. Sicher besser, an zentraler Stelle zu warten, als aufs Geratewohl alle in Frage kommenden Cafés und Klubs der Stadt durchzuhecheln. Lieber die müden Beine schonen und auf die Unweigerlichkeit setzen.

»Natürlich bin ich der Boß«, sagte Säntimäntl mürrisch. »Wir machen ja keine ›Reise um die Welt in achtzig Tagen‹! Wir machen keinen Abenteuerurlaub und keine Kaffeefahrt. Wir haben Festivals und Filmemacher. Und vor allem brauchen wir diese grüne Kladde!«

Nach diesem Redeschwall mußte er noch einen Kaffee haben. Hinten im Restaurant begann eine Drei-Mann-Combo zu spielen, mit Baß, Schlagzeug und »Schweineorgel«, wie Werner fachmännisch erklärte; der Schlagzeuger besaß leider weitaus weniger Rhythmusgefühl als der »Coktél«-Mixer der zweiten Station ihres gastronomischen Kreuzzugs.

 

Bei Selbstmord, dachte Säntimäntl, wird man um die Trauer betrogen. Verstehen soll man und höchstens ein bißchen ärgern darf man sich – daß man nichts verhindern konnte. Aber was hätte er schon groß machen können, er hatte Dobos ja schon seit drei, vier Jahren nicht mehr gesehen. Oder fast fünf? Und Dobos wird sich nicht gerade deswegen … Was wußte er, Säntimäntl, denn überhaupt. Er konnte ja noch nicht mal mit den Leuten hier sprechen.

Immer und überall haben sich bedeutende Menschen umgebracht, dachte er und goß ein weiteres Glas in sich hinein, ausgereifte Persönlichkeiten, die schließlich genau wissen mußten, was sie taten.

Einen einfach im Stich lassen. Na ja, es haben sich auch eine Menge unbedeutender Leute aus dem Staub gemacht, vielleicht sogar deshalb, weil ihnen ihre Träume eine Schlinge um den Hals gelegt hatten: sie mußten nur noch zuziehen. Ob das bei Dobos so war? Erfolgreich war er ja nie gewesen, nicht mal als Schauspieler. Niemand würde auf die Idee kommen, ihm ein Denkmal zu setzen, auf dem die Tauben dann ihre Notdurft verrichten konnten.

Ach was … Gründe! Fragen konnte man ihn jetzt eh nicht mehr.

Nur zwei Filme hatte er gedreht, na ja, immerhin 2 mehr als Säntimäntl selbst, aber Dobos wollte ja immer Regisseur werden. Vielleicht hat ihm das Leben in seinen Filmen besser gefallen? Vielleicht hat es auch nur einen besonders schönen Sonnenuntergang gegeben, als Stimulans. Bei manchen Leuten soll das ja ausreichen.

Nicht mal eine Sackgasse würde man nach ihm benennen, und für seine Unsterblichkeit konnte er nun auch nichts mehr tun.

Säntimäntl hatte Dobos gründlich verpaßt, um ein ganzes Leben.

Dieses eine Mal hatte er Werner zum Telefonieren geschickt. Wozu hatte er ihn schließlich dabei? Werner war auf Anhieb erfolgreich gewesen und hatte Säntimäntl die Hiobsbotschaft mit unbewegter Miene übermittelt:

»Na servus!«

»Wer war am Apparat?«

»Eine Männerstimme.«

»Hat sie einen Namen genannt?«

»Warten Sie, klang ein bißchen wie Mezzanin oder so; obwohl, als Name …«

»Mittsalänen?«

»Ja, das könnte es gewesen sein.«

»Paavo Mittsalänen?«

»Ein Vorname wurde nicht genannt.«

Mittsalänen! Säntimäntl war aufgesprungen und aus dem Kaffeehaus gelaufen.

Bis zur inneren Vereisung war er ziellos durch die von Sonntagsbummlern belebten Straßen gerannt, war mit Menschen oder prall gefüllten Plastiktüten kollidiert, Rolltreppen rauf und runter gefahren, was einige Zeit in Anspruch genommen hatte, denn die Rolltreppen waren lang. Überall hatte es nach Lysol gerochen.

Wohl eine halbe Stunde war er unbeweglich vor einem Denkmal stehengeblieben, bis ihn eine Plastiktüte – Volltreffer in die Kniekehlen – aus seiner Erstarrung löste. Da faßte er den Entschluß, sich zu betrinken.

Jetzt stand er also wieder auf dem Bürgersteig. Die Straßen hatten sich ebenso schnell geleert wie vorher seine Gläser. Nur noch wenige Plastiktüten waren unterwegs. Plastiktüten schienen hier Nationalsport zu sein: er hatte viele Tüten mit ausländischen Aufdrucken gesehen, nicht wenige von ihnen bereits geflickt.

Jetzt kommt man schon mal hierher, und der Kerl hat längst einen Nachsendeantrag zum Stadtfriedhof gestellt! Diese Gedanken belästigten Säntimäntl in der nächsten oder übernächsten Bar. Völlig falsch synchronisiert, das alles! Beschissenes Timing! Und ausgerechnet Dobos wollte mal Filme synchronisieren! Es war ihm schon früher nicht auszureden gewesen.

»Läuft der Film in Originalfassung?«

»Nem értem!« sagte der Mann neben ihm.

Säntimäntl verstand ihn nicht. Er verstand gar nichts. Er zuckte die Schultern, versuchte, einen Punkt im Innern seines Auges zu fixieren. Es gab zu viele Punkte, und noch dazu tanzten sie. Ein mobiles Punkträtsel.

Draußen gingen Schirme vorbei.

Säntimäntl pappte zornig die Hand auf den Tisch. Er hatte den Spiegel über dem Schnapsregal entdeckt. Er sah sich um: ein ganzes Rudel Einzelgänger hatte sich um den Tresen verteilt. Plötzlich kam er sich lächerlich vor unter all diesen einsamen Wölfen, die alle die Mantelkrägen hochgeschlagen trugen, ohne Mäntel anzuhaben.

»Winterschlußverkaufs-Bogarts – Bierdeckel-Belmondos!« grummelte er vor sich hin. »Das kriegen sie hin: mit steifem Zeigefinger aufgeweichten Filz zu durchbohren!«

Sein Nachbar sagte etwas völlig Unverständliches, es klang anders als seine vorherigen Worte – soviel bekam er immerhin mit.

Er mußte sich zusammennehmen. Das, was er hier trieb, war kaum mehr als die Pflichterfüllung eines gewissen Klischeesolls. Ein Glück, daß heute nicht auch noch Silvester war, das wäre peinlich geworden. Feuerwerke machten ihn immer besonders traurig, er wußte auch nicht, wieso. Dafür war morgen noch Zeit genug. Dobos war tot, und kitschige Bilder konnten ihn auch nicht ins Leben zurückholen.

Action! Raus aus dem eigenen Muff, Dobos hätte so etwas nicht geduldet. Er mußte handeln, also zahlte er.

Mittsalänen! Wenn der noch in der Stadt war – mit dem konnte er reden, ohne Pathos, ohne Peinlichkeit. Mein Gott, wie lange war das her?

Mittsalänen! Plötzlich erstarrte er: die grüne Kladde! Das Szenario! Darauf war Mittsalänen immer scharf gewesen! Und wenn er das gewesen war in Dobos’ Wohnung … bestimmt war er es: sie waren schließlich alte Freunde! Er mußte Mittsalänen finden! Natürlich, man würde sich einigen müssen. Aber Mittsalänen hatte doch schon alles erreicht, hatte gleich nach der Akademie in der Branche Fuß gefaßt, erst beim Fernsehen, dann beim Film, und jetzt war er im Norden droben der kommende Mann! Säntimäntl beschwichtigte sich, zweifelte wieder, senkte und hob den Kopf. Keine Minute durfte er verlieren.

Das Szenario: sein Freifahrtschein in die Branche! Es würde ihm über die nächsten Jahre hinweghelfen und für die vergangenen Jahre entschädigen. Mit einem Coup auf die kinematographische Landkarte! Spekulationen, trotzdem: nicht nur Verleih, sondern auch Produktion! Hatte ihm nicht zuletzt diese Idee Mut gemacht, den Dienst zu quittieren?

Als er in der Tür der Bar stand, mußte er lächeln. Die Automatik, die ihn schon oft aus extremen Situationen herauskatapultiert hatte, um ihn zum Kameramann seines eigenen Lebens zu machen, funktionierte immer noch. Er hatte wieder Abstand zu sich selbst.

Mittsalänen und Säntimäntl: das Traumpaar einer kulturellen Verfolgungsjagd!

Weniger Abstand konnte er draußen allerdings vor dem mannsgroßen, dunkelroten Styroporbuchstaben wahren, der von irgendeiner bedeutenden Parole übriggeblieben, mutterseelenallein auf dem Rasen stand, den er auf dem Weg zum Taxistand überqueren mußte: er rannte ein symbolträchtiges M kurzerhand über den Haufen.

 

Kombinieren, recherchieren. Kontaktaufnahmen, Spurensicherung.

Odysseen im Taxi, Abenteuer im Takt des Taxameters, Klack-Klack, das pure Klischee! Regennasse Kopfsteinpflaster betagter Agentenfilme, menschenleere Straßen.

Anrufe bei der Polizei, bei entfernten Bekannten, Telefonate mit aufgebrachten Unbekannten, Kauderwelsch – in Telefonzellen läßt sich schlecht mit Händen und Füßen reden, wenn man den Hörer in der einen und die Zigarette in der anderen Hand hält. Die Füße treten ständig auf der Stelle, als wollten sie die Kälte niedertrampeln.

Nein, davon wisse er nichts … Vielleicht, daß Bela … Farkas Bela … nein, aber der müsse doch im Telefonbuch stehen.

Was? Die Bibliothek? Ein WAS! Grün, sagen Sie? Keine Ahnung. Möglicherweise Gyöngyver … Nein, nein: G-y-ö-n-g-y-v-e-r … Ja. Und das Ganze auf englisch.

»Entschuldigen Sie, aber … ja, schrecklich! Ich weiß gar nicht, was ich sagen … Ist Ihnen etwas über ein Szenario von Ernst Lubitsch bekannt? Das muß ein abgegriffener, grüner Ordner sein … Paavo? Und da sind Sie sicher? Haben Sie vielen Dank! Und Zsuzsa ist nicht da? Seltsam …«

»Heute morgen? Das ist aber ärgerlich! Natürlich ist es zwei Uhr morgens … Hat er gesagt, wohin? Natürlich fragen Sie Ihre Gäste nicht, wohin … Servus!«

Hier war nichts mehr zu erben. Die lieben Freunde hatten die ganze Bibliothek geplündert. Aber Gyöngyver, wer immer das sein mochte, war sicher gewesen, daß Mittsalänen das Buch an sich genommen hatte. Und Mittsalänen war weg!

Es gelang Säntimäntl zwar, Werner aus dem Bett zu holen, aber all seine Erklärungen, warum sie jetzt, um vier Uhr morgens, die Stadt verlassen mußten, waren überflüssig. Werner begriff nichts, nur das Wort: wichtig! Es mußte also wichtig sein. Was dieser Name, den er vage vom Telefon kannte, dabei sollte, wußte er nicht. Um diese Uhrzeit war es ihm auch egal.

Säntimäntl nahm sich noch nicht einmal die Zeit, seine müden Beine mit Franzbranntwein einzureiben. Auch das Packen ging rasch. Am längsten dauerte es noch, den Nachtportier zu wecken, um die Rechnung zu begleichen. Die Isetta brauchte ebenfalls eine ganze Weile, es war schneidend kalt und Frühstarts war sie nicht gewohnt. Werner auch nicht. Er zog die Unterlippe nach innen. Bald hat er alles nach innen gebissen, dachte Säntimäntl, viel ist nicht mehr übrig. Und die Oberlippe ist auch nicht gerade verschwenderisch ausgestattet. Wenn da nicht dieses Monstrum an Unterkiefer wäre, sähe er reichlich karg aus im Gesicht. Er hat was von einem Elch an sich.

Es war schon fast hell, als die Isetta ansprang. Säntimäntl bemühte sich krampfhaft, entspannt zu sitzen. Mit deinem Bauch hättest du hinter dem Lenker keine Chance, dachte Werner, der würde dich abschnüren. Da müßtest du noch mehr schnaufen als jetzt. Heute morgen hat er was von einem asthmatischen Theaterkritiker. Rollkragenpullover, wer hat ihm bloß eingeredet, daß er darin überall als Intellektueller eine Chance hätte? Oder ist der nur wegen seines kurzen Halses? Die Nickelbrille – ist das nun Weisheit mit Fensterglas oder tatsächliche Kurzsichtigkeit? Diesem Herrn traute er alles zu. Und die Pickel, die waren wohl Symbole ewiger Pubertät, kleine erloschene Vulkane. Die Augen nicht ganz so erloschen, eher glasig, Restblut im Alkohol. Ich sollte meine besser auf die Straße richten, sonst penne ich noch weg. Mättsalinen? Wer war das nun wieder?

Säntimäntl starrte stur geradeaus, die Hände auf dem Bauch gefaltet, als befürchte er, seine geballte Niedergeschlagenheit könnte jederzeit aus dem Nabel brechen. Er war nicht nur traurig wegen Dobos. Es verdroß ihn, die Stadt zu verlassen, die er so liebte und die ihm einfach blendend stand. Verflixte Sachzwänge! Es gab immer welche.

Mattsilanen? Werner fiel der verdammte Name nicht mehr ein. Er sah ein undeutliches Gesicht, ohne richtige Konturen, wie mit Wasserfarbe hingepinselt. Er sah dieses Gesicht, wie es ihn vom Heckfenster des Trabants vor ihm anstarrte. Weg damit! – Es sollte einer der wenigen Überholvorgänge ihrer Reise werden. Weg mit dieser Fratze! Mättsalinen – wer war das überhaupt?

»Es gibt auch Schallmauern für Miniaturfahrzeuge!« unterbrach Säntimäntl Werners Gedanken. Der Trabant verschwand im Rückspiegel, das Gesicht mit ihm.

Im milchigen Morgen passierten sie die Vorstädte, wo der Jugendstil den Kinderschuhen längst entwachsen war. Sie kamen an Wohnblöcken vorbei, deren Trostlosigkeit die Bewohner eigentlich scharenweise aus den Fenstern treiben mußte.

Schnee war ihre Konfettiparade. Mehrere Bahnübergänge hielten sie auf: stinkende Diesellokomotiven schienen mit schier endlosen Ketten von Waggons Tauziehen zu spielen.

Nach dem sechsten Übergang folgte ein Neubauviertel mit halbfertigen Hütten und Fertighäusern in Leichtbauweise, bei denen man jederzeit leicht mit der Tür ins Haus fallen konnte, wie Werner bemerkte. Vielleicht war es auch schon die siebte Bahnschranke gewesen. Dem Viertel schloß sich, von Bahndämmen umzingelt, eine Schrebergartenanlage an. Werner konnte Schrebergärten nicht leiden.

»Auf ihre Art sind Schrebergärten Friedhöfe!« sagte er.

Bei dem Wort »Friedhöfe« zuckte Säntimäntl merklich zusammen: »Wieso?«

»Da wird die Natur zu Grabe getragen!« sagte Werner.

»Sie mögen, mein lieber Werner, wohl ein Meister der griffigen Formulierkunst sein, aber ich möchte Sie trotzdem bitten, den Begriff ›Friedhof‹ in der nächsten Zeit zu meiden!« sagte Säntimäntl.

»Versteh ich irgendwie!«

Die Straßen belebten sich, die Wintersportbedingungen wurden immer optimaler. Busse karrten Arbeiter zu den Betrieben, andere schlitterten auf nähmaschinenähnlichen Vehikeln auf die großen Parkplätze zu. Selbst wenn die Sonne geschienen hätte, geblendet hätte sie Werner wohl kaum: binnen kurzer Zeit hatten sagenhafte Schmutzmassen die Windschutzscheibe verfinstert.

Der Kälte wegen waren die beiden Seitenfensterchen geschlossen, der Gestank aber drang überall herein; das Geruchsgemisch aus Minol-Benzin, faulen Eiern – von der Chemie gelegt –, Gummi, Teer, flambiertem Metall, aus Verbranntem und Geschmolzenem und gelegentlichen Beimengungen aus Tabakschwaden und Haarwassern fand seine Wege.

Silvestermorgen.

Schichtwechsel.

Die Letzten, die die Nacht zuvor schon probegefeiert hatten, kreuzten die Ersten, die an diesem Morgen zur Arbeit mußten. Am schlimmsten waren Spätheimkehrer und Frühschichtler in Personalunion dran.

Zur Linken standen die Fabrikhallen, Hochöfen und die Schlote, die die niedrigen Backsteinhäuser zur Rechten regelmäßig mit Ruß versorgten. Dazwischen gab es mehrstöckige Bürogebäude ohne eigene Geruchsnote: Mikroprozessoren haben wenig Eigenaroma. Am nächsten Morgen würden die Straßen mit Scherben und zerfetzten Raketenresten übersät sein.

»In diesem Bezirk soll ja fast die Hälfte der gesamten Industrie des Landes konzentriert sein«, bemerkte Werner.

»Vielen Dank, Herr Baedeker!« sagte Säntimäntl.

Er war nicht auf Gespräche versessen. Allmählich breitete sich die Müdigkeit in ihm aus. Schlafen konnte er nie im Auto, teils aus Ängstlichkeit, teils aus Neugier. Mit seiner zusammengekniffenen Miene hätte er gut dem Verein zur Verminderung der Lebensfreude als Präsident vorstehen können. Fast vergaß er aufs Frieren.

Langsam zerfledderte die Stadt ins offene Land. Sie fuhren auf einer halbwegs geräumten Überlandstraße dahin. Bahnübergänge gab es kaum mehr. Auch der Schneefall hatte nachgelassen. Die triste Farbe des Himmels mochte anderswo als blau durchgehen.

Die Sicht war klar, alles zum Greifen nah, und dennoch wirkte die Landschaft unwirklich. Säntimäntl kam sich vor wie in einem Fahrsimulator, oder wie in einem Hollywoodfilm, in dem sich die agierenden Personen mit scharfen Konturen überdeutlich vom Hintergrund abhoben, der nur blaß und vage auf einer Leinwand abgespult wurde – nur anders herum: es war Säntimäntl, der sich vage fühlte, während die Landschaft deutlich blieb.

Nur einmal wurde er schlagartig aus seiner Trance gerissen: eine Tschaika-Limousine! Die stand vor einem Gasthaus.

»Stop! Stop! Sofort anhalten!« brüllte er begeistert. »Endlich! Die fehlt mir noch in meiner Sammlung!«

Mit staksigen Schritten ging er auf den ausufernden Wagen zu. Ein fahrbarer Altar auf einem gewöhnlichen Parkplatz. Aufgeregt nestelte er an der Verschlußkappe seines Fotoapparates herum.

»Was haben Sie nur mit all den alten Autos, die Sie dauernd fotografieren?« fragte Werner, als Säntimäntl den Apparat wieder in seinem Köfferchen verstaute.

»Ich liebe deren Gemütlichkeit! Damals wußte sich noch die Schönheit gegen das Funktionale zu wehren!«

»Ein schräges Hobby für jemanden, der nicht mal einen Führerschein hat!« bemerkte Werner.

»Vielleicht ist das nur Kompensation! Ist es das, was Sie hören wollen? Na und?

Er griff nach seiner schwarzen Kordjacke, die sorgfältig gefaltet hinten auf der Ablage lag. Als er sie anzog, vervollständigte sie sich mit Säntimäntls Hose zu einem Anzug. Kord einte sie – Werner hatte im Laufe der Jahre zu seiner dunkelgrünen Feinkordhose eine durchaus herzlich zu nennende Freundschaft entwickelt. Säntimäntl hatte seinen schwarzen Kordanzug kurz vor Beginn der Reise erstanden – seiner Meinung nach war Kord die ideale Symbiose von Seriosität und Bohème. Werner dachte allerdings einen Moment daran, auf die guten alten Jeans zurückzugreifen. Ständige Abgrenzung, das war so etwas wie eine Fortsetzungsgeschichte in seinem Leben.

»Ist Ihnen nicht kalt?« fragte Säntimäntl.

Werner schüttelte den Kopf.

»Mein Hemd ist aus reiner Baumwolle!«

Schweigend folgten sie der Sonne auf ihrem Weg in den Westen. Die Bilder wechselten anfangs häufig, als drückte irgend jemand ununterbrochen auf die Fernbedienung. Es gab Straßendörfer, deren Häuser so akkurat nebeneinander gereiht standen wie Schachfiguren vor Eröffnung. Nicht selten beherrschten gewaltige Kirchenschiffe einen Ort, neben denen sich die schmächtigen Häuschen wie Nußschalen ausnahmen.

Manchmal warf die Erde Falten wie ein halbgeöffnetes Verdeck eines alten Deuxchevaux, dann raffte sie sich zu sanften glatzköpfigen Bergen auf.

Schließlich verflachte das Land endgültig, die Bilder wurden eintönig und nur gelegentlich von postkartenfreundlichen Ziehbrunnen unterbrochen. Die Felder bedeckt mit glattgezupften Bettlaken, schneeweiß, und nur an wenigen Stellen verrutscht: darunter dumpfes Grün und schmutziges Braun.

Die Isetta rollte unter holzkreuzförmigen Strommasten an schläfrigen Kilometersteinen vorbei, die halb im Streusalz erstickten. Auf ihrem Weg zur Grenze kullerte sie als Bowlingkugel auf die Kegel der letzten großen Stadt zu und schlingerte ohne Treffer an ihr vorbei.

 

Für reibungslose Grenzübertritte ist dieser Mann eine völlige Fehlbesetzung. Ein bißchen gepflegter … manche Menschen legen einfach keinen Wert auf so was. Alles an ihm ist ramponiert, ausgebeult. Das Hemd hat bestimmt noch nie ein Bügeleisen gesehen. Die anderen wahrscheinlich auch nicht. Wenn er überhaupt andere hat. Und dann dieser Pferdeschwanz, den er ständig als Nackenventilator mißbraucht. Paßt alles zusammen. Drei-Tage-Bart, und den ununterbrochen; ich habe mich schon bei Fassbinder gefragt, wie der das immer hinkriegte. Ein Schnurrbart genügt doch völlig. Wahrscheinlich zu faul zum Rasieren. Will Rastlosigkeit vorgaukeln, Überbeanspruchung. Aber diese Stachel können das Pelikanhafte seines Kinns nur sehr unvollkommen kaschieren. Und wenn er dann noch diese Sonnenbrille aufsetzt – kein Wunder, wenn die uns an der Grenze rauswinken. Und dieser merkwürdige Feudel um den Hals müßte kleinkariert sein, das würde besser zu ihm passen. Soll das der James Dean unseres Jahrzehnts sein? Von dessen Wurstigkeit und Beleidigtsein hat er ja einiges, auch diesen Blick nach übermorgen. Aber das Format? Nein. Bestimmt hat er den »Herr der Ringe« im Gepäck. Schobert hat da mal einen schönen Vortrag drüber gehalten, irgendwas mit Mystizismus als Flucht und so weiter. Mythen spielen bei solchen Leuten eine große Rolle. Die Hippiebuchhandlungen stehen voll mit Märchen und spirituellem Zeugs, igitt. Und die Kinos sind mit dieser ganzen Fantasysoße zugekleckert. Hippies werden ja immer vorgeschickt als Kundschafter, ob das nun Moden anbelangt oder Urlaubsorte oder Weltanschauungen. Billige Versuchskaninchen. Gerade passierten sie eine kleine Kapelle.

»Eine von Gott verlassene Gegend ist das hier zumindest nicht«, sagte er.

»Früher haben wir immer gesagt: da turnt Jupp Inri am Hochreck.«

»Das ist schon einen Lacher wert!« meinte Säntimäntl großzügig. »Aber eine Kapelle ist hier irgendwie fehl am Platze, finden Sie nicht? Da vorne steht schon das erste Wachhäuschen.«

Werner konnte Grenzen ebensowenig leiden wie Schrebergärten. Noch weniger mochte er allerdings Kirchen oder Kapellen.

»Ich finde die ganze Gegend hier irgendwie fehl am Platze«, sagte er.

Eben, dachte Säntimäntl. Alles war hier falsch besetzt. Natürlich gab es Aufenthalt an der Grenze. Der Schlagbaum als Knüppel zwischen den Beinen. Viel Verkehr war nicht, die Zähflüssigkeit war Ritual. Es gab Vorkontrollen, Nebenkontrollen, Hauptkontrollen und einen Nachschlag. Und ob es nun Werners Outfit war oder die Isetta, die das Interesse der Grenzer auf sich zog, was machte das schon. Richtige Schwierigkeiten gab es mit dem Geld, denn davon hatten sie noch eine Menge übrig. Werner sollte die abgegriffenen Banknoten zurückzutauschen. Der Vollblutbeamte im Abfertigungsgebäude war da anderer Ansicht: höchstens zwanzig Prozent der Summe; schließlich ging es um Devisen. Wie ein schwerhöriger Großvater verstand er nur das, was er verstehen wollte.

Auf Werners arglose Frage, was er denn mit dem restlichen Geld machen solle, da doch die Ausfuhr strengstens verboten sei, zuckte der Beamte zunächst die Achseln und verwies ihn schließlich auf den Souvenirladen des staatlichen Reisebüros.

Na servus! Eine Müllhalde staatlichen Kitsches! So was hatte Werner noch nie gesehen! Von der feurig bestickten Bluse bis hin zum feinziselierten Aschenbecher in Ziehbrunnenform. Und so weiter. Nicht mal Mentholzigaretten für Säntimäntl, von Veilchenpastillen ganz zu schweigen. Und was überhaupt das Schönste war: die eigene Landeswährung akzeptierten die sowieso nicht. Nur Devisen!

Die haben ein Rad ab!

Säntimäntl fror einstweilen im Wagen.

Ohne zu zögern, jedoch nicht ohne eine ordentliche Portion Kribbeln, die Flucht nach vorne: Werner handelte quasi unter den Augen eines Beamten. Unter den Paukenschlägen niedersausender Stempel gelang es ihm, bei einem der Wartenden in der Schlange vor dem Wechselschalter, sein Geld zu einem horrenden Kurs schwarz zu tauschen. Dabei glitzerten ein paar Schweißperlen auf seiner Stirn.

Mit klopfendem Herzen fuhr er auf den letzten Grenzwächter zu, der regungslos wie ein Mahnmal des »Unbekannter Soldaten« vor der letzten Sperre stand.

Wenn man ihn nun beobachtet hatte? Sein unerhörtes Devisenvergehen weitergemeldet hatte?

Es wunderte Werner, daß sein Herzschlag nicht die Scheiben zum Vibrieren brachte. Mit Mühe brachte er ein relativ unschuldiges Gesicht zustande, ein Kommunionkind mit Pappflügeln am Kleid.

Ein Trupp Soldaten in dicken Wintermänteln und griesgrämigen Pelzmützen überholte die Isetta von rechts. Sie waren schnell. Blankgeputzte Gewehrläufe stachen Löcher in die Luft.

Jetzt war alles aus!

Werner sah die Isetta bereits umstellt, wozu ein halbes Dutzend Soldaten lässig reichte! Die dachten gar nicht daran. Sie marschierten einfach weiter.

Das Denkmal vor ihnen wurde lebendig und winkte sie anstandslos durch. Wie ein mißtrauischer Hase hoppelte die Isetta unter dem letzten Hochsitz vorbei. Erst im Niemandsland traute sich Werner sein Abenteuer zu erzählen.

Säntimäntl wurde schlagartig wütend und ballte die Faust in Richtung Stacheldraht. Aber im Niemandsland nahm das niemand zur Kenntnis.

»Ich hätte das Geld zerrissen, in tausend kleine Fetzen, das können Sie mir glauben!«

»Dafür wären Sie in den Knast gewandert!« sagte Werner.

»Wieso?«

»Weil die Kohle Eigentum des Staates ist. Deshalb!«

»Aber zurückhaben wollten sie sie doch nicht!«

»Es ist ja noch einmal gut gegangen!«

»Gottlob!« sagte Säntimäntl und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn. »Es geht auch ohne Abenteuer!«

Es geht auch ohne Leben, dachte Werner und »He’s a real nowhere man« geisterte durch seinen Kopf. Ein Leben von geradezu sensationeller Sensationsarmut.

Dieser Mensch bevorzugt Niemandsländer. Cafés, Hotels, Autobahnen. Da geht am wenigsten an ihn ran, da ist die Anonymität Regel, ein Glücksfall für ihn. Da läuft das Leben nur in Anführungszeichen ab, da greift noch nicht mal sein ewiger Pessimismus. Alles rausgefiltert. Und falls doch mal, nun, dann hat er immer noch mich.

Side-Kick nennt man Burschen wie mich im Branchenjargon. Ob er das weiß? Ob er sich auskennt – so richtig? Sancho Pansa war ein Side-Kick. Mein Don Quixote rennt gegen Kaffeemühlen an. Das Helferlein von Daniel Düsentrieb, Adjutanten, Sekretäre, Helfershelfer. Die werden im Film immer der Hauptrolle beigegeben. Schönen Frauen stellt man eine häßliche an die Seite, damit die Schönheit noch mehr strahlt. Aber wieso Säntimäntl? Schön ist er nicht. Seinen Modestil muß er aus diesen existentialistischen Filmen der Fuffis haben – ist ihm nicht aufgefallen, daß man so nicht mehr rumläuft?

Die Helden und die Helfer. Wir Side-Kicks sind allerdings gar nicht so ohne. Nancy Reagan zum Beispiel, die hat bestimmt überall ihre Griffel drin. Jäger stehen ohne Treiber ganz schön blöd da. Vielleicht bin ich sein Treiber bei der Jagd nach dem grünen Diamanten. Komisch, immer spricht er nur von der Kladde, vom Inhalt hat er wenig erzählt bisher – typisch! Etwas von Lubitsch. Ich weiß nicht, ob viel oder wenig, hingesaut oder fein säuberlich auf einer alten Underwood getippt, und ob sie einwandfrei von Lubitsch ist. Könnte auch von irgendwem sonst sein. Ein Irrtum. Original oder Fälschung, finden Sie die acht Unterschiede. Ob der Text wohl was taugt? Hat er sich darüber vielleicht schon mal Gedanken gemacht? Grün ist die Kladde, – okay, das weiß unser Verpackungskünstler, und das scheint einiges bei ihm ausgelöst zu haben. Als Filmkritiker wäre er einer von denen, die sich mit der zweiten und fünften Rolle eines Filmes zufrieden geben, aus Zeitgründen und manischer Oberflächlichkeit. Möglicherweise ist dieses grüne Ding unser Treiber, unser Psycho-Trip. Ich möchte wissen, was passiert, wenn er es tatsächlich in die Finger kriegt.

II. Love Parade

Der Weg vom Wunsch bis zur Wirklichkeit ist manchmal so weit, daß die Erfüllung schließlich den falschen trifft.

 – Thommie Bayer

Ihre Hände sehe ich zwar nicht, merke aber doch genau, was sich da abspielt. Der Träger des Kleides ist gerade abgerutscht, sie versteht ihre Schultern zu bewegen. Auf Bewegungen versteht sie sich ohne Frage, gerade in diesem Kleid. Habe ich Ihnen schon gesagt, wie gut Ihnen dieses Kleid steht, Madame? Ich weiß nicht, wie der Abend verlaufen wäre, wenn Sie nicht ausgerechnet dieses Kleid gewählt hätten – Sie beziehungsweise die Leute hinter Ihnen.

Jetzt hat sie den Träger wieder hochgezogen. Ihre Hände, Madame.

Wunderbar – jetzt ist der andere unten. Ob ich in diesem Leben jemals noch dazu kommen werde, an dieser Zigarre zu ziehen? Ich liebe Zigarren! Sie glimmen ja nicht weiter, wenn man sich eine Weile nicht mit ihnen beschäftigt. Und was eine gute Brasil angeht … Eine kleine Erfrischung wäre jetzt auch nicht schlecht. Ob ich sie einfach bitte, mal kurz mit dem Siphon meine Stirn … das würde allerdings das schöne Bild zerstören.

Pardon? Ich soll Ihren Reißverschluß …? Madame!

Sie wird ihr Ziel erreichen, soviel scheint sicher. Ich habe nicht mehr allzuviel Vertrauen in meine Widerstandskraft. Ich stehe bis zu den Knien in Testosteron. Aber sie soll sich – mit Verlaub – etwas einfallen lassen.

Hhmm, etwa in der Art: Aber nicht so rasch, bitte, ich muß an meine Gesundheit denken.

Nein, es ist keineswegs nur das Kleid, oh Verzeihung, hoffentlich gibt das keinen blauen Fleck. Sie ist wirklich sehr talentiert, kommt geschickt vom Eigentlichen auf das Wesentliche, wenngleich ich diese Szene ein klein wenig anders inszeniert hätte. Nuancen, aber gerade die sind wichtig.

Nein, das Kleid allein kann es nicht sein.

Ihre Ohrläppchen sind angewachsen! Das hätte mir gleich auffallen müssen! Am Telefon hat sie gar nicht danach geklungen. Sie war eher schüchtern. Vielleicht ist sie professionell schüchtern.

Jetzt hat sie tatsächlich … Meine Verehrung, Madame. Ich habe ja bisher nur Augen für Ihr bezauberndes Kleid gehabt. Ein wunderschönes Nichts, wie es Travis kaum besser hätte entwerfen können. Jetzt bleibt mir gar nichts mehr – doch: das Gesicht, das aber ist auch nicht immer da.

Gerade ist sie wieder untergetaucht. Ich will keineswegs, daß es so schnell zu Ende geht. Manchmal genügt es, die Augen zu schließen, um über gewisse Dinge hinwegzusehen.

Beinahe hätte sie mich erwischt!