Schaden in der Oberleitung - Arno Luik - E-Book

Schaden in der Oberleitung E-Book

Arno Luik

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Beschreibung

Das Desaster der Deutsche Bahn ist kein Versehen. Es gibt Täter. Sie sitzen in Berlin. In der Bundesregierung, im Bundestag. Und seit Jahren im Tower der Deutsche Bahn. Kritik an der Deutschen Bahn bleibt oft stehen bei lustigen Englischfehlern, falschen Wagenreihungen oder ausfallenden Klimaanlagen. Doch die Malaise liegt im System: Seit der Bahnreform im Jahr 1994, nach der die Bahn an die Börse sollte, handeln die Bahn-Verantwortlichen, als wollten sie die Menschen zum Autofahrer erziehen. Arno Luik, einer der profiliertesten Bahn-Kritiker, öffnet uns mit seinem Buch die Augen. Konkret geht es um Lobbyismus, Stuttgart 21, um Hochgeschwindigkeitszüge, um falsche Weichenstellungen, kurz: um einen Staatskonzern, der außer Kontrolle geraten ist. 10 Milliarden jährlich pumpen wir Steuerzahler in die Deutsche Bahn - dafür ist sie dann in 140 Ländern der Welt im Big Business tätig. Aber hierzulande ist die Bahn eine echte Zumutung: Die Züge fahren immer unpünktlicher, oft fahren sie gar nicht und manchmal sind sie ein Risiko für unser Leben. "Ich würde Sie ja gerne hauen. Aber Schläge bringen nichts, Sie bleiben ja doch bei Ihrer Meinung." Bahnchef Hartmut Mehdorn zu Arno Luik, 2007

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Seitenzahl: 416

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Ebook Edition

Arno Luik

Schaden in der Oberleitung

Das geplante Desaster der Deutschen Bahn

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-754-2

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2019

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Der kleine Bahnhof
1 Das Symbol für den Niedergang: Stuttgart 21
»Eine Katastrophe mit Ansage!«
Das Staatsverbrechen
Der Wahnsinn
Der Zynismus
Die Verzweiflung
Die Feuerwehr-Bahre
Dreck. Lärm. Lastwagen.
»Keine Ahnung von der Eisenbahn«
»Ich habe mit der Bahn gebrochen«
»Von der Politik vergewaltigt«
»Dann ist das der Todesstoß«
Bahn von der Tunnelindustrie infiltriert
Der Todesstoß
Tunnel ohne konventionelle Signalanlagen geplant – um Platz zu sparen
Zwei Antworten des Verkehrsministeriums – die sich widersprechen
Zukunft für Pendler: am Stadtrand umsteigen, um zum Hbf zu kommen
Schweiz: Lokführer klagen über Kapazitätsverluste durch ETCS
Bestenfalls 29 Züge pro Stunde im Tiefbahnhof?
Wie fallen Entscheidungen über Milliardenprojekte?
Rückblende: Ein Erklärungsversuch, Stuttgart 2010
Lust am Macht-Ausüben
Nichtwissen als Macht
Egogetriebene Manager
Der Arm von Daimler-Benz
Der Große Amerikanische Straßenbahnskandal
Verschweigen. Vertuschen. Lügen
Rückblende, Frühjahr 2011: Ein Dossier des Projektleiters Hany Azer, bestimmt für den Bahnvorstand, wird mir zugespielt
Eine Art schwäbisches Versailles
Dem Bürger eine Lektion erteilen
Ein Architekt redet Unfug
Ein anderer Architekt leidet
»Wie ein U-Boot aus dem Meer«
Der Herr über die Tunnel und sein Knecht
Historische Figur und Verfassungsbrecher
Das Damoklesschwert
Der Justizskandal
Ungesund im Untergrund
Zufällige Begegnung mit Bahnchef Rüdiger Grube, Dezember 2017
Das größte Sicherheitsrisiko
Desillusionierung in Sachen Demokratie
Infantile Argumentationen
»Die Mafia steckt dahinter!« »Die Nato steckt dahinter!«
Am Anfang war ein Hubschrauber
Die Strippenzieher im Weinberghäusle
Medien: Mitmacher oder 4. Gewalt?
»Vom trommelnden Volksstamm zur 4. RAF- Generation«
Brand im Schacht
Experten im Sondereinsatz
»Ihr hattet recht!«
Der Totengräber kommt an die Macht
2 Mehdorns Weltmachtphantasien
Ein Azubi in der Chefetage
Unheilvolles Gieren nach Boni
DB-Regionalisten gegen DB-Nationalisten
»Etwas fürs Vaterland tun!«
Die Leiden des Eisenbahn-Idealisten
»Wir erobern die Welt!«
Rückblende: Aktion Größenwahn, Januar 2007
Die Bahn im Einkaufsrausch
DB-Krankentransporte in Großbritannien
Ausplünderung der Bahn
Die Parlamentarier haben die Auslandsgeschäfte nie abgesegnet
Rückblende: Berlin, 2008, Konzernzentrale der Deutschen Bahn: »Wenn wir jetzt nicht in England angreifen, dann …«
»Mehdorns radikaler Vernichtungswillen«
Am Rande des Rechts
Verluste, Korruption, Flops
3 Die Kunst der Selbstbereicherung
Der nette Herr Grube. Professor Doktor Grube h. c.
Der Böse mit menschlichem Antlitz
2,3 Millionen Euro – für 30 Tage Arbeit
4 Die Botschaft von Eschede
Brücken marode. Material kaputt
Die Bahn schaut ihrem Zerfall zu
Klotüren schließen, Bremsen abschalten
Stationen des Zerfalls
Das schwerste Eisenbahnunglück
Eine Rückblende in die Jahre 2009/2010: »Die haben aus Eschede nichts gelernt«
Schleichend schleichender
Ein Sternekoch leidet an der Bahn
Bahnchef Lutz kann strampeln, wie er will – er hat keine Chance
5 Ohren zu im Weltkulturerbe
Die Hölle im Paradies
Eine Technik aus dem 19. Jahrhundert, nein, aus dem Mittelalter
Den Bürgern helfen? Die Bahn hat es da nicht eilig
Aggression liegt in der Luft
Ein Bürger kämpft gegen den Moloch Bahn
Ein Pfarrer hofft, dass es im Jenseits keine Züge gibt
Der Tod am Bahnsteig
Der Tod am Bahnübergang
6 Der wichtigste Strippenzieher
Pofalla. Warum Pofalla? Warum bloß?
7 Die Pofalla-Wende
Eine pitoyable Deutsche Bahn, spotten Schweizer Zeitungen
Auf der schwäbsche Eisebahne
Ein Mitarbeiter fällt aus und alle Räder stehen still
Ein kleiner Einschub: Darf ich mal zurückschauen?
Europa. Mobilität. Digitalisierung. Deutsche Bahn
Die trickreiche Bahn
Ein Zug, der nicht fährt, ist ein guter Zug
»Wowig« soll nun das Bahnfahren werden
Man reist nicht, man wird transportiert
Die neue Unbequemlichkeit
Der Wackeldackel-Zug
Der Fahrgast als Störung
Ein wirres Preissystem
Ticket nicht abgestempelt: Kontrolleurin wirft Schulklasse aus dem Zug
Klasse nimmt an Projekt »Courage zeigen in Bus und Bahn« teil
Rauswerfen. Demütigen. Beleidigen
Der Zug soll im Bahnhof halten? Mach winke, winke!
Zufriedene Bahnmitarbeiter? Im Businessplan der DB-Aktiengesellschaft nicht vorgesehen
8 Von wegen Güter auf die Schiene
Die Bahnmanager mühen sich, keinen Erfolg zu haben – vor allem im Güterverkehr. Aber nicht nur da
Ein Tankwagen der Bahn ersetzt vier LKW
Eine Stadt kämpft gegen die Bahn für die Bahn
USA und Schweiz zeigen, wie es geht
Giraffen gucken aus dem Zug
Es fehlt an allem: Loks, Schienen, Menschen
Das Gute wird abgeschafft
9 Der Mythos vom Öko-Champion
Diesel, Atomstrom, Glyphosat, Vollgas im Tunnel und sehr viel Beton: Die Bahn ist ein Umweltfrevler – unnötigerweise
Stinkende Dieselloks
Die Giftspritzer
Tempo 300 ist Ökofrevel
Die Bahn heizt das Klima an
Im Griff der Betonmafia
Das Teuerste muss es sein
Das ist keine Übertreibung
Ein Maulwurf beklagt sich nicht
Teurer Beton statt günstigem Schotter
Profit auf Kosten der Umwelt
576 665 Quadratmeter für 780 000 Euro – plus jede Menge Eisen
Bahnhöfe werden verramscht
Dreist wie die amerikanischen Räuberbarone
Der große Eisenbahnraub
10 Das Teuerste muss es sein
ICE-Trassen dank Tricksereien
»Die Bahn ist eine Scheinverkehrsfirma«
Die Güterzuglüge
Fast im Minutentakt rattern Güterzüge nachts durch Städte
Ein Ministerpräsident, der sich seine Macht was kosten lässt
Unnötig wie Pyramiden
Der Schwabenstreich
Schwabenstreiche in München, Schwabenstreiche hoch im Norden
»Es riecht nach Korruption«
Ein Tunnel tief unter der Ostsee für ein paar Autos und ein paar Züge
11 Protz in Metropolen, Bahnhofs-Ruinen auf dem Land
Eine verblüffende Liebeserklärung an Bahnhöfe
Wer gerne rennt, mag diesen Bahnhof
Milliarden für ein gefährliches Gedrängel
Gerichte müssen die Bahn aufklären
12 Unfähige Verkehrsminister
Ein Benzinkanister auf zwei Beinen
Konsequente Antiklimapolitik
Wenn so jemand wie Scheuer Verantwortung trägt, kann es keine vernünftige Verkehrswende geben
Deutschland muss weniger Treibhausgase ausstoßen
13 Die Einflussagenten
Beraterverträge für Ex-Politiker und Gewerkschafter
14 Endlich ein Eisenbahner
Ein Eisenbahner?
Versprechungen, Versprechungen, Versprechungen
15 Neue Mitspieler und die Folgen
Ein Erfolg wird mit Verwirrung erkauft
16 Verkehrswende? Nicht mit diesen Leuten
Wer eine ökologische Verkehrspolitik will, darf zum Kapitalismus nicht schweigen
Das Denken von Auspuffrohren befeuert
Eine gute Bahn wäre möglich
Von der Schweiz lernen, heißt Bahnfahren lernen
Wenn ein Wolf kommt, werden Gewehre durchgeladen. Und: Wenn ein LKW einen Radfahrer überfährt, dann ist das halt so
Ausblick: Ist diese Bahn noch zu retten? Und wenn ja: wie?

»Sie haben es wahrscheinlich schon gemerkt, dass alle unsere Klos defekt sind. Ich weiß auch nicht, warum das so ist. Aber auf Gleis 3 steht ein Zug, dort funktionieren die Klos. Wenn Sie also unbedingt müssen – gehen Sie durch die Unterführung rüber, wir warten auf Sie!«*

Der kleine Bahnhof

Ich bin schon immer gerne Zug gefahren, schon als Kind und auch als Jugendlicher. Manchmal habe ich spöttisch gelacht über die Bahnhöfe bei uns auf der Schwäbischen Alb, damals in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, etwa über den Bahnhof in Königsbronn, wo ich losfuhr, erst in die Schule, später zum Studium – wie diese Bahnhöfe rausgeputzt waren, mit Rosen, die an Wänden hochkletterten, mit Geranien, die aus alten Schubkarren blühten, mit Blumengebinden, die an Zäunen hingen oder an der Bahnhofsuhr. Und habe auch gegrinst über die Beamten mit ihren roten Mützen und ihren blauen Uniformen, die mit Trillerpfeife und grünen Täfelchen die Züge abfahren ließen – und danach persönlich die Blumen gossen. Ich fand das spießig.

Mein Vater war übrigens Bahnhofsvorsteher von Königsbronn. Er hatte die rote Mütze auf, und er hatte die Geranien gepflanzt. Die Vorhänge in seinem Bahnhofsvorsteherzimmer hatte meine Mutter genäht und gewaschen, sie hängen noch immer dort, nach über 50 Jahren – jetzt wehen sie über Trümmern im total ramponierten Bahnhof, der kein Bahnhof mehr ist.

Heute, im Blick zurück, erinnert all das daran, dass für viele Eisenbahner damals ihr Beruf mehr war als bloß ein Job – es war ein Zeichen dafür, dass sie ihre Bahn liebten. Und die Reisenden spürten das. Wenn der Zug drei Minuten zu spät kam, dann schämte sich der Schaffner. So habe ich das erlebt.

Die nach 1980 Geborenen wissen gar nicht mehr, was noch vor knapp 30, 40, 50 Jahren selbstverständlich war in jeder Stadt, in fast jedem Dorf auch auf dem Land. Dass die Bahnhöfe wirklich noch Bahnhöfe waren – mit Wartesälen (im Winter beheizt und jedem zugänglich), mit ordentlichen Sitzbänken, mit Fahrkartenschaltern und echten Menschen, bei denen man spontan Fahrkarten selbst zu Zeiten des Kalten Kriegs bis nach Wladiwostok kaufen konnte, falls man das wollte. Probieren Sie das heute mal im Netz oder an einem Service-Point in den wenigen Bahnhöfen, in denen Sie als Reisender noch persönlich bedient werden!

Kurz: Es war ein heute unfassbarer Komfort, der aus dem kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung nahezu komplett verschwunden (worden) ist.

Heute bietet der Bahnhof in Königsbronn, ein wuchtiger, stolzer Bau aus dem 19. Jahrhundert, der Aufbruchszeit der Bahn, einen traurig-trostlosen Anblick: Der Warteraum – geschlossen. Die Schalterhalle – verrammelt. Viele Scheiben – eingeschlagen. Die Eingangstür – mit einem »Baufreigabeschein« von 2011 versehen, der für recht befindet, dass aus diesem Bahnhof ein Spielcasino werden soll. Aber das ist auch schon wieder Geschichte.

2005 versprach der damalige Bahnchef Hartmut Mehdorn in einer Sonderausgabe »Eisenbahn-Atlas Deutschland«: »In den nächsten Jahren liegt besonderes Augenmerk auf der Verschönerung der kleineren Stationen«, dafür stelle der Bund (also nicht die Bahn) in den kommenden Jahren 50 Millionen Euro zur Verfügung.

Und was ist dabei herausgekommen? Zum Beispiel in der kleinen Station in Königsbronn? Alles ist hier nur noch trist, versifft, mit Graffiti besprüht, der Bahnsteig ist vollgespuckt, verdreckt, überall Zigarettenkippen. Der Fahrkartenautomat ist in einem zugigen Glasverschlag, bei Sonnenschein erkennt man kaum die Tasten, im Winter muss man das Bedienfeld von Eis freikratzen, wenn es regnet. wird man nass, oft funktioniert der Apparat nicht.

Vor ein paar Jahren traf ich den Bahnchef Hartmut Mehdorn zu einem Gespräch, und ich sagte ihm, dass meine 80-jährige Mutter nicht mehr mit dem Zug von Königsbronn in die nahe Kreisstadt fahren kann, weil sie den Automaten nicht beherrscht und sich nicht traut, schwarzzufahren. »Muss sie auch nicht«, knurrte der Bahnchef, »sie kann doch ihre Fahrkarte im Internet bestellen!«

Dieser verkommene Halt, inzwischen gibt es Tausende seiner Art in Deutschland – ist nicht bloß ein verkommener Bahnhof. Er ist ein Symbol. Er steht, Pars pro Toto, für den Zustand des gesamten Landes.

Dafür, dass sich der Staat von seiner Fürsorgepflicht zurückzieht. Es verschwinden der Bahnhof, die Post – Orte der Begegnung, an denen man lebende Menschen traf, die miteinander redeten. Vorbei. Diese staatlich verordnete Vernachlässigung sagt viel aus über dieses Land. Wie die Verantwortlichen in Berlin mit ihren Bürgern, im Politjargon »den Menschen draußen auf dem Land«, umspringen. Roh. Kalt.

Wer an einem so rohen Ort im Winter auf einen Zug wartet, der muss abgehärtet sein und duldsam, wer an einem so kalten Ort, wo alles schäbig und verkommen ist, auf einen Zug wartet, der häufig gar nicht kommt, der spürt sehr konkret, was die Regierenden bei der Bahn und der Politik in Berlin von ihm halten. Erschreckend wenig.

Der weiß: Ich bin ein Abgehängter und soll dies ruhig fühlen.

Von diesem Gefühl der Unbehaustheit ist es nur ein kurzer Schritt zur Politikverdrossenheit. Nur ein kleiner Sprung zur AfD und dem Ruf: Ihr kotzt mich an, ihr alle, ihr Politiker dort in Berlin, aber wirklich alle!

Dieser kleine Bahnhof, er sagt auch, dass die Bahn gar nicht wirklich will, dass Sie Zug fahren. Zwei Gleise hat es heute in Königsbronn, früher waren es acht, als es den Güterbahnhof samt Industriegleisen noch gab.

Wenn Ihr Zug heute in Königsbronn auf Gleis 1 abfährt, haben Sie Pech. Sie müssen durch eine verdreckte Unterführung, um auf Gleis 2 am Automaten eine Fahrkarte zu lösen. Sind Sie behindert und auf einen Rollstuhl angewiesen, dann wird der Kauf der Fahrkarte zum Projekt: Sie müssen erst 200 Meter zur Ortsmitte mit dem Rollstuhl fahren, dort über den Bahnübergang, dann 200 Meter zurück nach Gleis 2 rollen, dort Ihre Fahrkarte lösen, dann wieder 200 Meter zurück zum Bahnübergang in der Dorfmitte, dann die 200 Meter wieder zurück zum Gleis 1 – übrigens über einen holprigen Schotterpfad, eine Tortur.

Was da geschieht, man kann es nicht anders sagen, ist ein staatlich toleriertes, ein staatlich gefördertes Umerziehungsprogramm mit der klaren Botschaft: Fahren Sie Auto, ist doch viel bequemer.

Ein Auslöser, dieses Buch zu schreiben, war ein Lachanfall.

Es war im Januar 2018 auf der Fahrt von Königsbronn nach Ulm, auf der Brenztalstrecke. Beim Halt in der Kreisstadt Heidenheim krächzte es aus den Lautsprechern, der Zugchef meldete sich, um im breiten Schwäbisch dies zu sagen: »Sie haben es wahrscheinlich schon gemerkt, dass unsere Klos defekt sind. Ich weiß auch nicht, warum das so ist. Aber auf Gleis 3 steht ein Zug, dort funktionieren die Klos. Wenn Sie also unbedingt müssen – gehen Sie durch die Unterführung rüber, wir warten auf Sie!«

Es ist ja ein Volkssport geworden, über die Bahn zu spötteln, zu höhnen, zu lachen. Früher in der DDR spotteten die Bürger über ihre runtergekommene Reichsbahn so: Vier Feinde hat sie – Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Und das, genau das, gilt seit einigen Jahren auch für die Bahn AG.

Sie fährt – wie die DDR-Reichsbahn damals – heute auf Verschleiß. Und sie hat noch einen weiteren, einen überaus mächtigen Feind: die Bahnchefs. Aber dazu später.

Laut Grundgesetz ist die Bahn ein besonderer Betrieb – sie hat einen klaren, einen grundgesetzlich vorgeschriebenen Auftrag: den Bürger mit einem günstigen Transportmittel zu versorgen. Jeden Bürger, egal wo. Die Bahn soll agieren »zum Wohl der Allgemeinheit«, so steht es in Artikel 87e des Grundgesetzes. Und sie soll – auch aus ökologischen Gründen – dafür sorgen, dass mehr Personen- und vor allem auch mehr Güterverkehr auf die Schienen kommt und runter von der Straße. So sagen es die Politiker seit Jahrzehnten.

Beides funktioniert nicht. Bei beidem versagt die Bahn. Es ist absurd, konstatierte die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«, »wenn ein Konzern, der zu 100 Prozent im Staatsbesitz ist, sich nicht um die Gesetze des Staats kümmert«.

Die Deutsche Bahn hat sich verselbstständigt. Sie ist – auch unter tätiger Mithilfe vieler Politiker – zu einem Staat im Staate geworden. Die Bahn macht, was sie will.

Nein, übrigens: Das ist keine Polemik.

Es stellen sich viele Fragen: Wie konnte es passieren, dass dieser Staatskonzern dermaßen aus dem Ruder läuft? Der jährlich weit über zehn Milliarden Euro an Steuergeldern bekommt – aber seinen Bürgern, den tatsächlichen Besitzern dieser Bahn, immer weniger bietet, schlimmer noch: sogar rücksichtslos ihnen gegenüber ist? Der aus Kostengründen an Bahnschranken spart – und so Tote in Kauf nimmt. Der aus Kostengründen auf Bahnsteigen Durchsagen einspart – und so Tote in Kauf nimmt.

Der, wie der Bundesrechnungshof im Januar 2019 scharf kritisierte, keines, aber auch wirklich keines der Ziele verwirklicht hat, die mit der Bahnreform 1993/94 (also mit der Abschaffung der Deutschen Bundesbahn) hätten verwirklicht werden sollen: etwa Ausbau und Erhalt des Schienennetzes, finanzielle Konsolidierung.

Der stattdessen in über 140 Ländern agiert, einfach so, keine Regierung hat ihn dazu beauftragt, aber dieser imperiale Größenwahn bringt den Bürgern hierzulande nichts – außer Zerfall und Ärger. Der ökonomisch so mies wirtschaftet, dass er, um den Verkehr irgendwie noch aufrechtzuerhalten, ständig nach mehr staatlichen Mitteln ruft. Und sie auch bekommt – ohne an der desaströsen Strategie etwas ändern zu müssen, die dazu geführt hat, dass der Konzern heute mit über 20 Milliarden Euro verschuldet ist. Im Grunde pleite ist.

Der aber seinen Chefs, Vorständen (und Aufsichtsräten) hohe Millionengehälter bezahlt, obwohl die seit Jahrzehnten unverantwortlich handeln und gegen das Aktienrecht verstoßen – eigentlich ein Fall für Gerichte.

Stattdessen darf dieser Konzern weiterhin – ungerührt und ungestraft – Milliarden Euro in so gigantische wie unnötige Großprojekte verschleudern, etwa in Stuttgart 21, in Münchens zweite Stammstrecke, in Hamburg-Diebsteich – alles unfassbar teure Megaprojekte, die den Verkehr behindern, die Reisenden ärgern, aber die Beton-, Stahlindustrie- und die Tunnelbohrmaschinenunternehmen erfreuen.

Ein Staatskonzern, der so konsequent wie frech das politisch-offizielle Mantra des Staats konterkariert, nach dem mehr Verkehr auf die Schiene soll – der seit Jahrzehnten Schienen rausreißt, Weichen abbaut, Bahnhöfe stilllegt, die Infrastruktur sträflich verkommen lässt, der, so muss man es leider sagen, sich im Autoland Deutschland, offenkundig sehr anstrengt, den Bahnverkehr zu behindern, nein, ihn auf Dauer zu zerstören.

Ist das in diesem Autoland ein Zufall?

Vielleicht.

Vielleicht aber auch nicht?

Und so muss dieses Buch mit Stuttgart beginnen, mit dem dortigen Bahn- und Immobilienprojekt Stuttgart 21. Einem milliardenschweren Mega-Unterfangen.

S21 ist längst zur Chiffre geworden für den strukturellen Irrsinn der Bahn: wie überehrgeizige Bahnmanager und ignorante Politiker sich ein unfassbar teures Denkmal setzen wollen. Auf Kosten des Bahnverkehrs. Auf Kosten der Bürger. Auf Kosten der Sicherheit. Auf Kosten der Umwelt.

Bei S21 findet sich alles, was den Bahnverkehr zerstört. S21 ist der Meilenstein im Niedergang der Bahn.

Wie konnte das alles bloß geschehen? Wie konnte die Bahn, Deutschlands größter Staatskonzern, bloß so verkommen?

Für dieses Bahndesaster gibt es Verantwortliche, gibt es Täter. Es ist Zeit, sich mit den Tätern anzulegen.

Toter Bahnhof im Heimatort des Autoren: Kein Wartesaal mehr, kein Schalter, kein Mensch, der einen berät, Foto: Markus Brandhuber

»Ich weiß nicht, ob ich es zu euch zum Abendessen noch schaffe. Ich glaube nicht, dass ich heute noch nach Hamburg komme. Irgendwas ist an der Lok kaputt, heißt es. Wir ruckeln jetzt rückwärts nach Göppingen.«

1 Das Symbol für den Niedergang: Stuttgart 21

»Eine Katastrophe mit Ansage!«

Sind Sie Vater oder Mutter und haben kleine Kinder? Sind Sie behindert und auf den Rollstuhl angewiesen? Sind Sie gebrechlich, nicht mehr schnell zu Fuß? Oder jung und gut trainiert, aber Sie haben sich beim Sport den Fuß verstaucht?

Dann lesen Sie weiter. Es geht hier um Sie. Konkret geht es um Stuttgart 21, dieses Mega-Tiefbahnhofprojekt in der baden-württembergischen Landeshauptstadt, das unendlich teuer wird. Schlimmer noch: Es wird gefährlich. Aber die Bauherren behaupten: Es wird gut.

Das wird es nicht. Dies ist der eindeutige Befund nach Gesprächen mit gut einem Dutzend Fachleuten, mit Ingenieuren, mit Feuerwehrleuten und Spezialisten für Rauchentwicklung in Tunneln und Fluchtwegen über das Ende März 2018 vorgelegte Brandschutzkonzept zu S21. Manche wollen ihre Namen in dieser Geschichte nicht sehen, weil die Bahn ein mächtiger Auftraggeber ist, aber ihr Urteil ist eindeutig: »Es ist Wahnsinn, was die da machen! Das darf man nicht bauen!«

Einer sagte: »Es ist ein Staatsverbrechen, was hier geschieht.«

Hans-Joachim Keim war das. Er ist ein international renommierter Brandschutzexperte, der gerufen wird, wenn passiert ist, was eigentlich nie hätte geschehen dürfen – etwa die Tunnelkatastrophe von Kaprun. Damals, am 11. November 2000, kamen in der Kitzsteinhorner Gletscherbahn 155 Menschen ums Leben. Keim hat das Brandschutzkonzept zu S21 für mich analysiert: »Es ist eine Katastrophe mit Ansage. Im Fall eines Unfalls haben Sie die Wahl: Will ich ersticken? Oder zerquetscht werden? Oder verbrennen?«

Dieses neue Brandschutzkonzept, meint hingegen der inzwischen zurückgetretene S21-Chef Manfred Leger, sei »ein großer Gewinn für die Sicherheit und die Ästhetik«.

S21, das sagen die Verantwortlichen bei der Bahn und der Politik noch immer, sei ein sehr gutes, ein sehr sinnvolles und überaus wichtiges Werk. Kanzlerin Angela Merkel machte S21 zur Chefinnensache, als sie im Herbst 2010 vor dem Bundestag erklärte, dass sich an S21 »die Zukunftsfähigkeit Deutschlands« entscheide.

Hans-Joachim Keim sagt: »Zukunftsfähigkeit? Es ist menschenverachtend, was die da machen. Was hat denn das mit Zukunftsfähigkeit zu tun, wenn man am dafür ungeeignetesten Ort einen lebensgefährlichen Bahnhof baut?«

Dies macht den Bahnhof so überaus gefährlich: Er liegt im Talkessel, die Züge erreichen ihn nur durch lange, steile Tunnel; die Halte­station selbst liegt in zwölf Meter Tiefe, und weil unter und über ihr S- und U-Bahnen verlaufen, liegt dieser Bahnhof auf einem sehr schiefen schmalen Betontrog, in den acht Gleise eingezwängt werden – mit fatalen Folgen für die Sicherheit aller Reisenden: »Dort unten ist alles so beengt«, sagt Keim, »dass man da nie und nimmer ordentliche Fluchtmöglichkeiten hinbekommen kann, das ist technisch komplett unmöglich.«

Das Staatsverbrechen

Man trifft den Brandschutzexperten an einem heißen Frühsommertag in seinem Stuttgarter Ingenieursbüro. Vom Balkon aus hat er einen unverstellten Blick auf die riesige S21-Baustelle mitten in der City. Keim ist ein nachdenklicher Mensch, einer, der analysiert, bevor er formuliert. Aber vor ihm liegt das S21-Dossier, und er hat viele Passagen darin unterstrichen, und es bricht nun in Ausrufesätzen aus ihm heraus: »Wenn ich das lese, bebe ich! Es ist ein Staatsverbrechen!«

Meinen Sie das im Ernst, Herr Keim? Staatsverbrechen?

Ich wäre froh, wenn ich übertreiben würde, das tue ich aber nicht. Schreiben Sie: Staatsverbrechen. Die Leute, die so etwas planen, für die habe ich kein Verständnis. Sie haben kein Gefühl für Paniksituationen, sie können sich nicht vorstellen, wie Personen unter Stress und Angst reagieren.

Was halten Sie denn für besonders gefährlich?

Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll?

Zum Beispiel bei den Tunneln.

Die sind unterdimensioniert, ziemlich eng und oft recht steil. Im Brandfall breitet sich Rauch daher besonders schnell aus. Außerdem gibt es in den Tunneln viele Engstellen. Die Fluchtwege sind an diesen Stellen gerade mal 90 Zentimeter breit. Ein Fluchtweg ist aber nur so gut wie an der engsten Stelle. Wie wollen Sie da, vor allem wenn Sie aufgeregt sind, mit einem Rollstuhl durchkommen? Es wird dort Staus geben, Panik. Sie werden zerquetscht.

Die Bahn sagt: Was wir hier machen, entspricht den Normen, wir erfüllen die geforderten Sicherheitsstandards!

Ja, ja, ich weiß, dass die das sagen. Aber bei diesem Bau bewegt sich sicherheitstechnisch vieles unverantwortbar am äußersten Rand des Erlaubten. Manches wurde ja auch nur durch Sondergenehmigungen möglich – und noch unter das Vertretbare gedrückt! Es ist bizarr.

Die Bahn weist das zurück. Alles sei genehmigt, alles sei durch Gutachten abgesichert. Immer wieder hat sie außerdem auf Kritik reagiert und Dinge nachgebessert. Deshalb sind beispielsweise nun in den Tunneln Löschleitungen vorgesehen, die ständig mit Wasser gefüllt sind, also schnell einsatzbereit.

Züge mit Wasser löschen zu wollen, ist schlichtweg irre. Im Unglücksfall läuft Öl aus, heißes Öl. Wenn das mit Wasser in Berührung kommt – gute Nacht! Außerdem: Die modernen ICE-Loks sind fahrende Chemiefabriken, wissen das die S21-Macher nicht? Wenn die Triebköpfe der Züge im Brandfall mit Wasser besprüht werden, entsteht ein unheimlicher, ein hochtoxischer Cocktail: unter anderem Senfgas, Phosgen, Blausäure. Und so einen brennenden Zug im Tunnel löschen zu wollen, das dauert Tage. Da hat keiner eine Chance zu überleben.

Was Sie hier sagen – das übersteigt meine Vorstellungskraft.

Ich verstehe ja auch nicht, warum ein Staatsunternehmen so agiert. Es ist kriminell. Die obersten Maximen unseres Staats, grundgesetzlich garantiert, sind: Schutz von Gesundheit und Leben. Dagegen wird aber bei S21 prinzipiell verstoßen! Schauen Sie sich doch mal die Situation im geplanten Tiefbahnhof an: Die Belüftungsmaschinen, die sie jetzt dort zur Entrauchung einbauen, erzeugen im Brandfall einen Kamineffekt wie der Schmied in der Esse! Sie blasen riesige Mengen Sauerstoff ins Feuer, sodass selbst ein kleiner Brand blitzschnell ein richtiger, ein hochenergetischer Brand wird, das hat dann ganz rasch 1000 Grad! Stellen Sie sich mal vor, da fliehen Tausende. Wohin?

In die Sicherheit, hoffe ich.

Ins Verderben! Die Fluchtwege führen nach oben – also genau dahin, wo Rauch und giftige Gase am schnellsten hingehen! Im Ernstfall müssen sich fast 1800 Personen durch einen 90-Zentimerer-Engpass neben den Zug zwängen, während der Rauch in zwei, drei Minuten den gesamten Zug einhüllt. Sie werden ersticken. Die Fluchtwege müssten aber nach unten gehen – weg vom Rauch. S21 hat das Potenzial, Europas größtes Krematorium zu werden.

Nochmals: Die Bahn erklärt, sie habe die Sache im Griff. Gerade »dieses Entrauchungskonzept« berücksichtige die besondere Lage des Bahnhofs »inmitten des Tunnelsystems«, eine »sichere Entfluchtung« sei gewährleistet.

Die Bahn geht nur von kleinen Bränden oder kleinen Unfällen aus, das zeigen ihre Simulationen. Aber: Man muss immer vom schlimmsten anzunehmenden Unfall ausgehen. Loks können brennen. Ein Verrückter kann in der Rush-Hour »Allahu Akbar!« schreien, wild rumfuchteln, und schon ist die totale Panik da. Und an den Engstellen auf den Bahnsteigen, neben den Treppenaufgängen, spätestens bei den viel zu eng konzipierten Fluchttreppen werden sie sich gegenseitig zerdrücken – wie bei der Love-Parade!

Neulich hat eine Baumaschine in einem S21-Tunnel gebrannt und …

Das war eine kleine Maschine mit 300 Litern Öl! 300 Liter! Großeinsatz der Feuerwehr. Und die Feuerwehr hat sechs Stunden gebraucht, um den Brand zu löschen, sie war mit ihrem schwerem Gerät ziemlich lange unterwegs, um an die Brandstelle zu kommen. Dass keine Bauarbeiter verletzt wurden, erklärt sich so: Die hatten Atemschutzmasken bei sich. Wenn aber ein ICE brennt, ist das Inferno vorprogrammiert: Haben die Reisenden Atemschutzmasken dabei? Außerdem, was noch keiner öffentlich thematisiert hat: Die Bahn will ja mit ihrem ETCS-Leitsystem die Züge in sehr dichter Reihenfolge in den Tiefbahnhof fahren lassen, das wird dann richtig gefährlich! Wenn da ein Zug in einem Tunnel brennt, sind die Reisenden in den nachfolgenden Zügen verloren. Der Kamineffekt wird den giftigen Rauch zu ihnen treiben, sie werden chancenlos sein. Das einzig Gute an ihrem Tod: Sie werden schmerzfrei sterben.

Wenn es stimmt, was Sie sagen: Bei der Bahn sind doch keine gewissenslose Ingenieure am Werk, die bewusst Gefahrenherde schaffen.

Es macht mich ja selbst fassungslos. Schauen Sie, die Bahn geht – nur ein Beispiel von vielen Ungeheuerlichkeiten – davon aus, dass ein Quadratmeter Fläche für vier fliehende Personen ausreichend ist. Stellen Sie sich jetzt mal neben mich! Wir haben kein Gepäck, wir sind entspannt, niemand um uns herum drängelt – aber ein Quadratmeter, gut, ich bin ein wenig kräftig gebaut, ist schon für uns zwei zu eng! Das geht einfach nicht, was die da machen. Die dürfen das nicht bauen.

Reden wir, Herr Keim, eigentlich vom gleichen Bahnhof? Der ehemalige S21-Chef Manfred Leger ist sehr glücklich über das, was da gebaut wird: »Keine Frage«, sagt er, »wir bauen einen Bahnhof, auf den die Welt blicken und auf den Stuttgart stolz sein wird.«

Er hat recht. Die Welt wird auf Stuttgart schauen – bei einem Unglück.

Es klingt zynisch, was der Brandschutzexperte Keim hier sagt.

Aber wer die 33 Seiten des Dossiers durchliest, ist erstaunt über den dort vorherrschenden Ton: Lakonisch, ja, selbstherrlich wischt die oberste Prüfbehörde der Bahn, das Eisenbahn-Bundesamt (EBA), grundlegende Sicherheitsanforderungen zur Seite.

Der Wahnsinn

Da heißt es beispielsweise einfach, dass »die erforderliche Fluchtweg-Mindestbreite von 1,20 Meter für Tunnel unterschritten werden muss«. Dass »vereinzelt keine Fluchtwege angeordnet werden« können. Dass die »seitens mehrerer Behindertenverbände geäußerten Bedenken und Forderungen hinsichtlich der Fluchtwege und Fluchtwegbreiten (…) zurückzuweisen« sind.

Behindertenverbände hatten unter anderem moniert, dass es in dem Bahnhof keine barrierefreien Fluchtwege geben wird. Dazu heißt es nun in dem Dossier: »Eine Selbstrettung von rollstuhlgebundenen Personen (…) ist ohne die Unterstützung von Mitreisenden oder Zugpersonal ohnehin nicht möglich.«

Menschen, die in Panik sind, sollen also die Gelassenheit und Empathie aufbringen, Menschen in Rollstühlen, die sie vielleicht gar nicht kennen, auf den Rücken zu nehmen, um sie in Sicherheit zu schleppen? Werden sie das tun?

Plötzlich klingt Keims Zynismus gar nicht mehr zynisch.

Wenn man sich in den Text vertieft, fällt auf, dass bei kritischen Dingen immer wieder das Kürzel UIG steht, zu Deutsch: unternehmensinterne Genehmigungen. Im Klartext: Die Bahn definiert ihre eigenen Sicherheitsstandards – und die Prüfbehörde, das EBA, akzeptiert das.

Keim hat viele Brandunfälle analysiert, aber hier in Stuttgart, sagt er, »kulminiert der Wahnsinn«. Er könne es nicht »im Ansatz verstehen, wie meine Ingenieurskollegen so fahrlässig mit dem Leben der Reisenden umgehen«. Er sieht nur zwei Möglichkeiten für die Realisierung von S21: Wenn er so, wie er geplant ist, gebaut wird, »dann gibt es Sicherheit nur, wenn möglichst wenige Züge mit nur wenigen Reisenden in den Bahnhof fahren«.

Weit über acht Milliarden Euro für einen Bahnhof, den man nicht richtig benutzen kann? Wenn man ihn aber richtig, also mit voller Auslastung und vollbesetzten Zügen, benutzen möchte, muss man ihn, meint Keim, auf die heute üblichen Sicherheitsstandards bringen: »Das heißt, man müsste ihn fundamental umplanen. Die Tunnel verbreitern, die Fluchtwege anders legen, das ganze Brandschutzkonzept neu denken«. Die Kosten würden explodieren. Keim schätzt: »auf gut 20 Milliarden Euro«.

»Wird Stuttgart 21 zu einer Todesfalle?«, fragte der SWR in einer TV-Sendung vor ein paar Jahren. Konfrontiert mit dem Vorwurf, dass man nicht alle Menschen im Brandfall rechtzeitig evakuieren könne, erklärte der Brandschutzbeauftragte der Bahn, Klaus Jürgen Bieger: Man könne »nicht automatisch« davon ausgehen, »dass alle Züge voll sind.« Eine bemerkenswerter Satz, denn: Rettungskonzepte müssen immer vom denkbar schlimmsten Fall ausgehen, dem Gau.

Dass Menschen auch aus vollen Zügen gerettet werden müssen – das ist eine grundlegende Brandschutzvorgabe. Wie ist das also in der Rush Hour? Bei Spielen des VfB Stuttgart? Beim Stuttgarter Volksfest?

Da darf halt kein Unfall passieren, so einfach ist das!

Nicht nur Keim, auch die Stuttgarter Feuerwehr und das Regierungspräsidium Stuttgart, das geht aus dem aktuellen Dossier hervor, sehen das Ganze kritisch. Man spürt, sie würden es gerne ablehnen, aber das wagen sie nicht. Wegen des politischen Drucks der Kanzlerin? Wegen der Staatsräson?

Die Bedenken der örtlichen Feuerwehr werden vom EBA mal abgebügelt, mal zurückgewiesen, mal wird versprochen, sie zu überprüfen oder in die weitere Planung miteinzubeziehen. Die Lösung von strukturellen Problemen wird immer wieder in die Zukunft verschoben, schließlich heißt es lapidar: »Die Funktionsfähigkeit der Anlagen wird vor Inbetriebnahme durch einen Praxistest (…) geprüft«.

So wie beim Berliner Großflughafen BER? Kurz vor der Fertigstellung merkte man dort: Der Brandschutz funktioniert nicht. Jetzt sollen die BER-Gebäude eventuell abgerissen werden.

Brandschutzexperte Keim erwartet für S21 ein noch düsteres Szenario: »Es wird weiter gebuddelt, obwohl alle wissen, dass sie S21 nie in den Griff bekommen. Kurz vor Inbetriebnahme wird es dann heißen: Ja, der Brandschutz ist nicht optimal, aber wir haben jetzt schon so viel Geld da reingepumpt, Milliarden. Wir können nicht mehr zurück. Es wird dann, wie so oft bei S21, wieder Sonder- oder Ausnahmegenehmigungen geben und alle werden hoffen: Es wird schon nichts passieren. Und falls irgendwas passiert, dann bin ich nicht mehr im Amt!«

Der Zynismus

Und wenn es zu einem fürchterlichen Katastrophenfall käme, müsste wohl kaum einer der an S21-Beteiligten eine Verurteilung fürchten. Es würde wohl ausgehen wie beim Love-Parade-Prozess. Der zog sich ewig lange hin, dann wurde er eingestellt. 21 Jugendliche starben bei der Love-Parade in Duisburg, aber das Gericht konnte keinem der Angeklagten eine wirkliche Handlungsschuld nachweisen. Zu viele hatten eine Kleinigkeit falsch gemacht. Zu viele der Verantwortlichen am Unglück waren plötzlich nur noch unbedeutende Rädchen in einem riesigen Räderwerk, das zu dem Unfall führte. Zurückblieben Angehörige in ihrer Trauer, Verzweiflung und ihrer Wut.

Und so, das wissen auch die S21-Macher, würde es im Ernstfall auch bei ihnen ablaufen, davon können sie ausgehen. Viele der direkt am Bau Beteiligten und der Entscheidungsträger sind seit Jahren intensiv damit beschäftigt, intern auf etwaige Fehler, die fatale Auswirkungen haben könnten, hinzuweisen, sich gerichtsfest abzusichern. Da verschwindet projektintern viel Energie, aber diese Leute, sehr weitsichtig in ihrem Ego-Zynismus, legen sehr viel Wert auf individuelle Absicherung. Wenn es dann zur Katastrophe kommt, können sie sagen: »Wir haben ja auf alle möglichen Gefahren hingewiesen!«

Und dann wird man ein kleines Opfer, einen traurigen Täter finden, man wird, wie so häufig in diesen Fällen, von »menschlichem Versagen« sprechen – und vermutlich einem Lokführer die Schuld geben.

Vielleicht ist so das Denken der Verantwortlichen bei der Bahn, beim Eisenbahn-Bundesamt? Man weiß es nicht, sie sagen dazu nichts.

Sie verweisen nur auf das sehr kleine Dossier mit dem imponierend langen Titel »Änderungsplanfestellungsbeschluss gemäß § 18 AEG i. V. m. § 76 Abs. 3 VwVfG und § 18d AEG für das Vorhaben ›Großprojekt Stuttgart 21, PFA 1.1, 18. Planänderung – Änderung Fluchtwege‹ in Stuttgart Bahn-km-0442 bis 0,432 der Strecke 4813 Feuerbach – Stuttgart Hbf tief – Ulm Hbf.«

Es ist dies der 18. Versuch, die Dinge in Stuttgarts Untergrund irgendwie in den Griff zu bekommen. Er ist genauso absurd wie alle davor: Galten bisher Fluchthäuser mitten auf den engen Bahnsteigen als perfekte Lösung im Katastrophenfall – das EBA hatte sie gegen alle Kritik genehmigt –, so ist jetzt wieder alles verworfen. Jetzt sind Fluchttreppen am Ende der Bahnsteige die Lösung.

»Ein normaler Unternehmer, der den Behörden so ein Brandschutzkonzept von seiner Firma vorlegen würde, würde für verrückt erklärt werden«, sagt Johannes Frank. Frank hat jahrzehntelang Feuerwehrleute ausgebildet, Firmen und Konzerne in Sachen Brandschutz beraten und bei der Bundeswehr Sicherheitskonzepte für gefährliche Anlagen entwickelt. Sein Urteil über das S21-Brandschutzkonzept: »Unverantwortlich. Nicht zu genehmigen«.

Frank ist kein Exot, kein übervorsichtiger Fachmann, der auf Grund seiner Erfahrung mit Katastrophen überall Unheil wittert. Auch Klaus Heydemann ist das nicht. Er gehört zu einer Gruppe von Ingenieuren, die sich zum Teil schon seit über 25 Jahren mit dem Projekt beschäftigen, und viele von ihnen sind sicherlich besser in der komplexen Materie drin als viele S21-Führungskräfte.

Diese Ingenieure sind längst, gegen ihre Absichten, zu einer Art unbezahltem Außenbüro für die Bahn geworden. Ihre Kritik hat schon mehrfach dazu geführt, dass die Bahn ihr Baukonzept modifizieren musste. Jetzt also schon wieder. Aber auch das neue, sagt Heydemann, bringt überhaupt nichts: »Es ist so stümperhaft wie gefährlich«.

Man trifft Heydemann und einige seiner Mitstreiter am Rande der Baugrube im zerstörten Schlossgarten. Vor ein paar Jahren standen dort noch jahrhundertalte Bäume. Jetzt ist da ein riesiges Loch, geschützt von Bauzäunen, Stacheldraht, überall sind aufgeständerte Wasserleitungen, über allem der Lärm von Baumaschinen und LKWs, die Schutt abtransportieren.

Die Verzweiflung

Die Ingenieure haben Folien mitgebracht, Computeranalysen, Entrauchungsanimationen, Zahlen, Regelwerke – und ihr Urteil ist ähnlich harsch wie das von Keim: »Nicht machbar. Eine Gefahr für Leib und Leben«.

Sie monieren dieselben Dinge wie Keim – und weisen auch auf für Laien leicht zu verstehende Unzulänglichkeiten hin:

Die Fluchttreppen am Ende der Bahnsteige: Im schlechtesten Fall sind die Fluchtwege dorthin 400 Meter lang. Heydemann: »Das dauert, bis Sie dort sind. Da hat Sie der Rauch längst überrollt«.

Die Fluchttreppen sind mit 36 Grad Neigung extrem steil, mit neun Metern sehr hoch, die Treppenstufen sind – Verstoß gegen Vorschriften – ein paar Zentimeter zu hoch und auch zu schmal, gerade mal 26 Zentimeter tief. Auch damit verstößt die Bahn gegen ihre eigenen Richtlinien, wonach Treppen eine Tiefe von 31 Zentimeter haben sollen. Heydemann: »Bei diesen Treppen sind Stürze vorprogrammiert. Wie kriminell das Ganze ist, zeigt sich schon daran: Die Länge eines Schuhs der Größe 41/42 liegt bei 30 Zentimetern, Erwachsene können auf solchen Ministufen nicht mal richtig auftreten!« Stolpert einer, reißt er andere mit.

Die Fluchttreppen sind nur 240 Zentimeter breit, gerade mal drei Personen können da nebeneinander hochrennen, aber im Ernstfall müssen da Tausende hoch – innerhalb von Minuten. Heydemann: »Ein sträflicher Engpass. Die Menschen werden in ihrer Angst durchdrehen. Sie werden sich zusammentrampeln«.

Das Fluchttreppenhaus ist gerade mal zwei Meter hoch: Große Menschen müssen, wenn sie sich den Kopf nicht anschlagen wollen, gebückt fliehen. Heydemann: »Diese bedrückende Enge schürt noch die Panik.«

Warum verstößt die Bahn bei solch einem teuren Bau, der für die Zukunft, die Moderne stehen soll, so eklatant gegen die Sicherheitsvorschriften? Sie kann nicht anders – hielten sich die S21-Macher an Recht und Ordnung und würden sie regelkonforme Treppen bauen, endeten die Fluchttreppen mitten auf der vielbefahrenen Heilbronner Straße.

Und noch etwas:

Für Rollstuhlfahrer sind die Treppen komplett unüberwindlich: Für sie sind – bis Rettungskräfte zu ihnen gelangen – auf den Bahnsteigen sogenannte »Rollstuhlwarteplätze« vorgesehen, zwei auf der Nordseite, drei auf der Südseite der Bahnhofstiefhalle. Heydemann: »Viel zu wenige, wenn Tausende fliehen«. Aber was den Ingenieur zusätzlich ärgert: Diese eng bemessenen Warteplätze sind für die Feuerwehrleute Orte, an denen sie im Katastrophenfall das Löschwasser entnehmen.

Kaum ein Detail dieses sogenannten Brandschutzkonzeptes illustriert erschreckender, wie fehlerhaft und stümperhaft, vielleicht auch überfordert-hilflos bei diesem Projekt gearbeitet wird. Man muss sich das mal vorstellen: Es brennt, Rauch, Lärm, Schreie, schlechte Sicht, alle sind vor Angst am Durchdrehen – und dann kämpfen die Feuerwehrleute mit ihrem schwerem Gerät genau dort um Löschwasser, wo die Rollstuhlfahrer in ihrer hilflosen Verzweiflung auf Evakuierung hoffen.

Ein Stuttgarter Feuerwehrmann, einer an der Spitze, sagte mir vertraulich: »Ich schick meine Leute da im Katastrophenfall nicht runter! Ich kann das nicht verantworten.«

Da die Bahn erkannt hat, dass Behinderte im Katastrophenfall nicht rechtzeitig aus der Tiefhalle entkommen können, will sie nun Aufzüge auch im Katastrophenfall fahren lassen. Eine aberwitzige Idee, die gegen sämtliche Sicherheitsvorschriften verstößt – und auch gegen die geplante Architektur.

Panoramaaufzüge möchte der Architekt Ingelhoven einsetzen, ist vielleicht schön, aber deren Schächte sind nach oben hin offen. Im Brandfall ziehen sie den Rauch, wenn die Aufzüge nach unten fahren, wie in einer Pumpe nach unten, und wenn sich dann die Türen öffnen, quillt der tödliche Rauch auf die Schutzsuchenden heraus.

Der Diplomingenieur Hans Heydemann hat im Juni 2018 wegen all dieser eklatanten Mängel gegen die Verantwortlichen der Bahn AG und ihrer Aufsichtsbehörde EBA eine umfängliche Klage eingereicht. Das Verfahren ist noch beim VGH Mannheim anhängig, die Bahn hat – natürlich – empfohlen, die Klage zurückzuweisen.

In seiner Klage setzt sich Heydemann auch für »mobilitätseingeschränkte Personen« ein.

Was für ein kalter Konzern die von den Bürgern finanzierte Bahn AG ist, dokumentiert sich in einem Schreiben des DB-Anwaltes Dr. Schütz vom 11. September 2018, mit dem die Bahn gegenüber dem VGH Mannheim zu begründen versucht, Heydemanns Klage zurückzuweisen. Um die Klage zu verhindern, forschte sie auch das Privatleben des Klägers aus:

»Selbst wenn der Senat – was freilich nach den Ausführungen in unserem Schriftsatz vom 25.06.2018 nach hier vertretener Auffassung nicht in Betracht kommt – die Klage im Übrigen für zulässig halten sollte, so scheidet dies jedenfalls insoweit aus, als der Kläger die Belange mobilitätseingeschränkter Personen geltend macht. Er trägt nicht vor, zu diesem Personenkreis zu gehören. Eine entsprechende Beurteilung drängt sich auch nicht auf: Zwar ist der Kläger bereits betagt, doch nimmt er ausweislich der im Internet unter www.youtube.de einsehbaren Videoaufnahmen regelmäßig aktiv an öffentlichen Veranstaltungen gegen das Projekt Stuttgart 21 (z. B. an den so genannten ,›Montagsdemonstrationen‹) teil und hält dort auch Reden. Die Prüfung der Belange mobilitäts- eingeschränkter Personen kann er daher nicht verlangen (VGH Bad.- Wtirtt., Urt. v. 24.03.2010 – 12 S 515/09 -, juris; Schútz, in: Ziekow, Handbuch des Fachplanungsrechts, 2. Aufl.2014, S I Rn.52).«

Heydemann erklärt sich dieses Verhalten »mit dem ungeheuren Rechtfertigungsdruck, unter dem die Bahn steht«.Er hätte es überdies nie für möglich gehalten, dass ein Staatskonzern ein so schludriges Bau- und Brandschutzkonzept vorlegt. Er ist, sagt er, »maßlos enttäuscht vom Staat«. Er habe auf seine alten Tage, er ist 79, wegen S21 Dinge erfahren, die er nie für möglich gehalten habe: »Ich dachte, es ist ein Rechtsstaat. Aber nun erlebe ich seit Jahren, dass, wenn die Politik unbedingt etwas durchsetzen will, getrickst und gelogen wird. Auch wenn sie damit Katastrophen provoziert.«

Die Feuerwehr-Bahre

Eine Grundfrage im Katastrophenfall ist: Wie viele Menschen müssen dann aus dem Bahnhof gebracht werden?

Die Bahn sagt: 4 041 Personen aus zwei Zügen pro Bahnsteig. Und die ließen sich, sagt die Bahn, rechtzeitig in Sicherheit bringen – das hätten Simulationen gezeigt und Gutachter bestätigt.

Aber: Die Bahn wird, so ist es geplant, die Gleise oft mit zwei Zügen belegen, also mit insgesamt vier Zügen pro Bahnsteig – anders ließe sich der Verkehr auch gar nicht bewältigen. Dann sind fast doppelt so viele Menschen zu retten. Und das dauert, weil viel mehr Personen an den Engstellen eingezwängt werden, mehr als doppelt so lange. Für diesen realistischen Fall gibt es merkwürdigerweise keine Simulationen.

»Diese Simulationen gibt es nicht«, sagt Christoph Engelhardt, »denn sie würden allen offenbaren, dass der Bahnhof aus Sicherheitsgründen nicht gebaut werden darf.«

Engelhardt, promovierter Physiker, ehemals Analyst bei Siemens, ist einer der besten Kenner von S21. Seit 2011 quält er Bahn und Politik mit seinem Wissen. Er ist in Archive gegangen, hat sämtliche Dokumente, Gerichtsurteile, Gutachten, Analysen zu S21 ausgewertet, ein kühler Analytiker, der alles akribisch seziert wie ein Naturwissenschaftler Organismen.

Dass die Sicherheit der Reisenden keine Priorität bei S21 ist, das zeigt sich auch noch an anderen Dingen. Alle 500 Meter wird es in den Tunneln in Stuttgarts Untergrund Rettungsstollen (sogenannte Querschläge) geben.

Dass man sich im Ausland deutlich mehr um seine Bürger kümmert, zeigen einige Vergleiche: Im spanisch-französischen Perthus-Tunnel gibt es alle 200 Meter Querstollen, im spanischen Guadarrama-Tunnel alle 250 Meter, im St.-Gotthard-Basistunnel alle 325 Meter.

Für Engelhardt, der die Pläne zahlreicher Eisenbahn-Tunnelbauten im europäischen Ausland durchforstet hat, die meist deutlich breitere, manchmal sogar zwei Fluchtwege haben, sind »die S21-Tunnel die gefährlichsten Tunnelneubauten Europas«. Denn bei allen wichtigen Sicherheitsparametern schneidet S21 am schlechtesten ab.

Ende April 2018 konfrontiere ich das Stuttgarter Regierungspräsidium, die Stuttgarter Feuerwehr und die amtliche Prüfbehörde der Bahn, das EBA, in einem umfangreichen Fragenkatalog mit all den Unzulänglichkeiten und Widersprüchlichkeiten.

Das EBA reagierte schnell, aber bockig. Es beantwortete keine einzige Frage, erklärte nur begründungslos, die Bahn habe nun das Baurecht. Das Regierungspräsidium teilte mit, man kommentiere »keine Entscheidungen anderer Behörden«. Und auch die Feuerwehr meldete sich: Sie habe »keine brandschutztechnischen Bedenken, die eine grundsätzliche Umsetzbarkeit und Machbarkeit in Frage stellen würden«. Die konkreten Fragen etwa nach den Engstellen, den steilen Fluchttreppen, den schmalen Treppenstufen, der Überprüfung des Brandschutzkonzepts erst bei Inbetriebnahme – sie alle blieben unbeantwortet.

Wie die Behörden über die Anlagen im Untergrund tatsächlich denken, zeigt eine Anmerkung des Regierungspräsidiums am 6. Juli 2012 über die Sicherheitsmängel im geplanten Fildertunnel: »Wenn im Havariefall ein brennender Zug im Tunnel liegen bleibt (…), muss mit einer hohen Schadensintensität gerechnet werden. Dem steht eine nur sehr geringe Eintrittswahrscheinlichkeit gegenüber.« Erschreckend pragmatisch sieht das Regierungspräsidium die Sicherheitsfrage: »Das maximal Mögliche kann von der Vorhabenträgerin (der Bahn, Anm. d. Verf.) aber nicht gefordert werden.« Im Klartext: Es ist zu teuer, das Menschenmögliche zu tun, um das Leben der Reisenden zu schützen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwann zu einem Zugbrand in den langen Tunneln unterhalb von Stuttgart kommt, ist real. Die Bahn weiß das – seit Langem. Am 30.1.2012 erklärte Richard Lutz, damals Finanzvorstand der Bahn, heute Bahnchef, dass »ein solches Ereignis niemand ausschließen« könne.

Eine recht lässige, eine unverantwortliche Sichtweise. Mögliche Unglücksfälle nimmt man bei anderen Transportunternehmen ungleich ernster.

Eine wichtige Voraussetzung für die Betriebserlaubnis bei einem Flugzeug zum Beispiel besteht darin, dass die Evakuierung einer vollbesetzten Maschine innerhalb von 90 Sekunden möglich ist. Diesen Test, durchgeführt am 26. März 2006 in Halle 212 des Airbus-Werkes in Hamburg-Finkenwerder, bestand zum Beispiel der A 380 problemlos: Innerhalb von nur 78 Sekunden gelang es 853 Passagieren und 20 Besatzungsmitgliedern, das Flugzeug zu verlassen. Dann waren die »Fluggäste« im Freien – und in Sicherheit. Wenn es zu einem Notfall in einem Stuttgart-21-Tunnel kommt, wird es wohl Stunden dauern, bis auch der letzte den Tunnel verlassen hat – vermutlich als Toter auf einer Feuerwehr-Bahre.

Dreck. Lärm. Lastwagen.

Im Frühsommer 2018 treffe ich für ein »Stern«-Gespräch die Schauspielerin und Kabarettisten Christine Prayon, die als Birte Schneider in der »heute-show« gegen den allgemeinen Wahnsinn aufschreit. Weil S21, diese Baustelle mitten in der City, die ganze Stadt lebensunfreundlich macht, will Prayon wegziehen – nach Berlin.

Na, Herr Luik, Sie sind doch mit dem Zug nach Stuttgart gekommen – wie war’s da unten am Hauptbahnhof?

Puuh, Frau Prayon, mein Gott, das sieht ja fürchterlich aus – diese aufgerissene Innenstadt! Man will sofort wieder wegfahren.

Warum so negativ? Man könnte auch sagen: Industrieromantik. Zäune. Dreck. Lärm. Lastwagen. Vielleicht ist es ja eine Laboranordnung, was hier in Stuttgart passiert, ein Großversuch: Was geschieht mit Menschen und ihrem Bewusstsein, wenn sie sich jeden Tag, ob sie es wollen oder nicht, eine Feinstaub-Line ins Gehirn reinziehen müssen? Vielleicht kommt so doch noch der Erkenntnisgewinn, dass Stuttgart 21 irgendwie zu etwas gut ist?

»Keine Ahnung von der Eisenbahn«

Erinnern wir uns: »Das neue Herz Europas« sollte Stuttgart dank S21 mal werden, ein Musterbeispiel deutscher Ingenieurskunst. »Das am besten geplante Projekt«, wie es unter dem ehemaligen Bahnchef Rüdiger Grube hieß. In seiner Zeit als Bahnchef hat er sich vehement für das Projekt eingesetzt. Jetzt ist Grube nicht mehr Bahnchef. Jetzt ist er Berater für die Firma Herrenknecht. Die bohrt mit ihren Maschinen das gigantische Tunnelsystem für S21 und die dazugehörende Neubaustrecke nach Ulm, alles in allem gut 60 Kilometer Tunnelröhren – und verdient damit noch sehr viele Jahre lang sehr viel Geld.

Nun gibt es seit gut zwei Jahren einen anderen Bahnchef, Richard Lutz heißt er, und an seinem ersten Arbeitstag erklärte Lutz, er sei »finster entschlossen«, S21 fertig zu bauen. Dass er finstere Entschlossenheit braucht, weil er gegen jede Vernunft agiert, gibt er selbst zu: Mit dem Wissen von heute, sagt er nun, »hätten wir das Projekt nicht gemacht«.

Finster entschlossen. Das passt. Nur: Was er da sagt, stimmt so nicht. Denn bei S21 wussten die Verantwortlichen (also auch Lutz) sehr genau, was passieren würde. Die Bahnmanager, die Bahnaufsichtsräte, die Verkehrspolitiker aller Parteien – sie alle wussten, dass die Kosten explodieren, dass die Zeitpläne durcheinander kommen, dass der Bau im tückischen Stuttgarter Untergrund für die Reisenden gefährlich wird, der Brandschutz wahrscheinlich nicht machbar ist. Dass S21, rational betrachtet, ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Es gab Warnungen zuhauf, von Anfang an. Schon in der ersten Planungsphase, schon 1992, nannte Eberhard Happe, damals Bahndirektor, »Dezernent für Zugförderung«, in einer Fachzeitschrift die abnorme Gleisneigung »kriminell«. Bahnchef Heinz Dürr, der diesen Tiefbahnhof aber unbedingt wollte, regte das schwer auf. Er verhängte dem pflichtbewussten und daher besorgten Beamten einen Maulkorb, der Kritiker bekam ein Disziplinarverfahren an den Hals, der Bahnchef wollte ihn abmahnen, strafversetzen, loswerden – vergebens. Das Recht auf freie Meinungsäußerung wog höher als die merkwürdigen Interessen der Bahn AG. »Ach, der Dürr«, sagt Happe heute, »der hatte doch überhaupt keine Ahnung von der Eisenbahn. Das ist doch das Problem bis heute: Dass Leute bei der Bahn das Sagen haben, die Schiene und Schwelle nicht im Blut haben, die die Eisenbahn gar nicht kennen!«

Aber die brachialen Einschüchterungen des Bahnchefs zeigten eine nachhaltige Wirkung: Bis heute gibt es keine bahnwissenschaftliche Diskussion über das immense Sicherheitsrisiko durch die außergewöhnliche Neigung der Gleise. Es existiert nicht einmal ein offizielles Schaubild, keine Längszeichnung, nichts.

Man trifft den ehemaligen Bahndirektor Eberhard Happe in seinem Haus bei Celle, gutbürgerliche Wohngegend, schwere Möbel im Wohnzimmer, überall Bahnbücher. Der alte Beamte redet sich schnell in Rage, über 400 000 Kilometer ist er in seinem Leben auf Lokomotiven gefahren, Happe weiß, was es heißt, schwere Züge bei ungünstigen Bedingungen, Matsch, Schnee, Eis, Kälte zu fahren, zu bremsen. Er ist wütend: »Man agiert bei S21 im technischen Grenzbereich. Jeder Lokführer wird Schiss haben, diesen schiefen Bahnhof anzufahren. Hundertmal mag es gutgehen, aber dann kommt der Unfall. Und dann wird es heißen: menschliches Versagen!«

Dieses »menschliche Versagen« sieht er, der Staatsbeamte a. D., aber nicht bei den Lokführern, er sieht es bei der Führungsspitze des Konzerns: »Die haben keine Ahnung, sie haben kein technisches Verständnis vom Bahnverkehr.« Und auch er, ähnlich wie die Brandschutzexperten Keim und Frank, ist fassungslos und regelrecht geschockt, dass ein Staatsunternehmen Milliarden in einem Bahnhof verbaut, »um absehbar eine Katastrohe herbeizuführen«. Happe: »Es ist der totale Wahnsinn.«

»Ich habe mit der Bahn gebrochen«

In Düsseldorf sitzt ein älterer Herr an seinem Schreibtisch, und auch er ist tief verzweifelt. Er sagt: »Ich habe mit der Bahn gebrochen.« Für Sven Andersen ist dies ein schrecklicher Satz. Er war Bahndirektor, Spezialist für Hochgeschwindigkeitsverkehr, Planer von Hoch­geschwindigkeitsstrecken, und sein Job bei der Bahn war für ihn eine Lebensaufgabe, für die Sicherheit der Reisenden fühlte und fühlt er sich besonders verantwortlich. »Wenn Sicherheit eine Rolle spielen würde«, so Andersen, »dürfte S21 nicht gebaut werden.« Für ihn ist die Schieflage des Tiefbahnhofs »zwingend ein K. O.-Argument« für das Projekt.

»Von der Politik vergewaltigt«

In keinem Land der Welt werden schräge Bahnhöfe gebaut. Nicht in der bergigen Schweiz, nicht in China. Im chinesischen Hochgeschwindigkeitsverkehr müssen die Gleise absolut horizontal liegen, nur im gut begründeten Ausnahmefall sind allenfalls ein Promille erlaubt. Der Grund: Die modernen Züge haben, wie es in der Fachsprache heißt, kaum noch »einen Rollwiderstand«. Eine moderne Lokomotive kann ein Mensch ohne große Anstrengung wegschieben, sie rollt sofort los, mit dem Auto geht das nicht.

Aber plötzlich losrollende Züge – gibt es das überhaupt? Ja, und zwar ziemlich häufig. Einige Gleise im Kölner Hauptbahnhof sind steiler als empfohlen: Immer wieder kommt es dort zu Unfällen, auch mit Verletzten, zwischen 2010 bis 2018 gab es dort 22 Unfälle. Das ist die offizielle Zahl, vermutlich kam es zu mehr Unfällen, die nicht gemeldet wurden, Kenner dieses Bahnhofs gehen jedenfalls von einer hohen Dunkelziffer aus. Dabei weichen die Kölner Gleise – anders als in Stuttgarts Untergrund – nur ganz wenig vom Richtwert ab und auch nur auf kurzen Abschnitten.

Dass das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) »diesen Murks und ewiges Sicherheitsrisiko« in Stuttgart abgenickt hat, ist für den Beamten a. D. Andersen unfassbar. Er erklärt sich das so: »Das EBA ist von der Politik vergewaltigt worden, das abzusegnen.«

Das Ganze geschah auch mit einem Trick: Die Bahn degradierte den geplanten S21-Tiefbahnhof zur »Haltestelle«. Kleine Dörfer haben »Haltestellen«, und die dürfen tatsächlich ein Gleisgefälle haben. Nur: Züge dürfen da nicht abgestellt werden, sie dürfen nur kurz stoppen, sie dürfen nicht (was bisher für Stuttgart als Kopfbahnhof immens wichtig und kundenfreundlich war und – Taktverkehr! – weiterhin auch so sein sollte) wenden. Dafür ist eine Bremsprobe zwingend vorgeschrieben, und die ist in Stuttgarts unterirdischem Steilhang gesetzlich verboten.

8,2 Milliarden Euro, mindestens, für einen Bahnhof in einer Großstadt, der gar kein Bahnhof ist, sondern nur: eine Haltestelle.

Hielte man sich, was für einen Staatskonzern selbstverständlich sein sollte, an alle Gesetze und Vorschriften und Versprechungen: S21 wäre am Ende. Ist es aber nicht.

Als Andersen in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts die ersten Pläne von S21 sah, wollte er nicht glauben, was da im Untergrund Stuttgarts gebaut werden sollte. Er ignorierte die Entwürfe, denn er hielt sie für einen Scherz. Sie verstießen, das sah der Experte sofort, gegen essentielle Sicherheitsvorschriften der Bahn. Dass seine Bahn überhaupt so etwas andenken könnte, schließlich tatsächlich bauen würde, hielt er für unmöglich.

»Dann ist das der Todesstoß«

Aber die Verantwortlichen in Berlin und in Stuttgart sahen und sehen das anders.

Und deshalb blieb Andersen, was ihm erst schwerfiel, nichts anderes übrig, als gegen das Projekt zu argumentieren. Erst leise, vorsichtig und nur intern im engsten Kollegenkreis – aus Loyalität zum Arbeitgeber, das entsprach seinem Ethos als Staatsdiener. Dann schrieb Andersen Artikel in Fachzeitschriften, dass die Gleisneigung unverantwortlich sei, Unfälle geradezu provoziere – doch seine Mahnungen wurden: ignoriert. Dann schrieb er an die Bahnchefs, erst an Hartmut Mehdorn, dann an Rüdiger Grube, er schrieb oft – und wurde: ignoriert.

Im Dezember 2012 verfasste er, schon ziemlich verzweifelt, einen fünfseitigen Brief an Bahnchef Grube: »Es geht bei dem Projekt Stuttgart 21 letztendlich um den Tatbestand, ob man bei einem großen Eisenbahninfrastrukturprojekt die anerkannten Regeln der Technik aufgeben darf, nur weil deren Einhaltung es zu teuer machen würde und es so finanziell nicht realisierbar wäre. Genau diesen Punkt müssen nun alle Entscheidungsträger bei der Bahn für sich sorgfältig bewerten und entscheiden. Auch die Befürworter des Projekts Stuttgart 21 wissen sehr wohl um diese Problematik, wenn Frau Gönner (2010/11 Verkehrsministerin von Baden-Württemberg, Anm. d. Verf.) am 18.11.2010 in einem Zeitungsinterview hierzu ausführt: ,Ein weiteres Thema ist das Gefälle auf dem Bahnsteig, das per se zwar kein Problem darstellt, das man aber ändern kann. Das würde allerdings ziemlich viel Geld in Anspruch nehmen.’«

Eine bemerkenswerte Aussage einer Ministerin, die kälter kaum sein könnte: Geld ist ihr wichtiger als die Sicherheit, also letztendlich das Leben ihrer Bürger. Rund 250 000 Reisende werden (falls er genehmigt werden sollte) täglich in dem Tiefbahnhof sein, von dem alle Bahnexperten, so sie nicht im Sold der Bahn AG sind, sagen: Er ist lebensgefährlich.