"Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna." - Arno Luik - E-Book

"Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna." E-Book

Arno Luik

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Beschreibung

Arno Luiks Interviews beginnen oft mit provozierenden Fragen, schon mit der ersten Antwort wird der Leser in diese Gespräche hineingezogen – und liest Dinge, die er anderswo nicht gelesen hat. Arno Luik verführt seine Gegenüber von Beginn an zu einer erstaunlichen Offenheit und schafft es, Brisantes aus ihnen herauszukitzeln. Dieser Gesprächsband ist eine faszinierende Zeitreise, in der sich Geschichte auf eine mitreißende Weise entfaltet: anekdotisch, politisch, intim. Sie zeigt, warum wir wurden, wer wir sind: eine zerrissene, eine verstörte, manchmal trotzdem schöne Welt – um die es sich lohnt, zu kämpfen.

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Seitenzahl: 358

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Ebook Edition

Arno Luik

»Als die Mauer fiel,war ich in der Sauna«

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-857-0

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2022

Redaktion: Viviane Richarz

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

Inhalt

Titel

Vorwort von Markus Lanz

Angela Merkel

Yanis Varoufakis

Christine Prayon

Jean Ziegler

Markus Lanz

Nathalie Todenhöfer

Ferdinand von Schirach

Thomas Buergenthal

Ina Müller

Inge und Walter Jens

Roland Kaiser

Gisela Getty und Jutta Winkelmann

Oswalt Kolle

Sahra Wagenknecht

Günter Thews

Eric Hobsbawm

Gore Vidal

Angelika Schrobsdorff

Harry Mulisch

Barbara Schöneberger

Hans-Ulrich Wehler

Nachwort

DANKE!

Orientierungspunkte

Titel

Inhalt

Vorwort von Markus Lanz

»Ich wusste, was mir blühte«

Ich bin in meinem Berufsleben schon das eine oder andere Mal interviewt worden. Aber keines dieser Gespräche war wie das mit Arno Luik vom stern, für den er rund 20 Jahre gearbeitet hat. Ich war krank an dem Tag, so richtig, mit Fieber und so. Doch es stellte sich heraus: Die Grippe war mein kleineres Problem. Das deutlich größere hatte einen schwäbischen Akzent und hieß Arno.

Als die Anfrage kam, wusste ich schon, was mir blühte. Ich kannte ja seine harten Interviews, und ich mochte sie. Von Luik interviewt zu werden war sicher kein Vergnügen, aber in gewisser Weise ein Ritterschlag. Und nun war ich also selbst dran.

Luik hat mich nicht enttäuscht. Gut drei Stunden Attacke. Freundlich im Ton, hart in der Sache. Von der Frau, die das Gespräch später abtippte, ist der Ausruf überliefert: »Da ging es ja ab. War wie ein Hörspiel!«.

Das Gespräch begann mit irgendeiner Unverschämtheit über einen sprachlichen Tick von mir. Ich erinnere mich nicht mehr so genau. »Unsinn. Sie weichen aus!«, würde Luik jetzt einwerfen. Der Mann hat mich gegrillt. Ich weiß noch: Nach dem Interview war ich richtig fertig. Nass geschwitzt. Und das lag nicht nur an meinem Fieber.

Trotzdem hat es Spaß gemacht. Luiks Botschaft war immer klar: Wir können uns hinterher immer noch sympathisch finden. Aber vorher habe ich einen Job zu tun!

Seine Vorbereitung war stets grandios, seine Technik virtuos. Man konnte davon viel lernen. Luik konfrontierte einen mit Gedanken, die man sich gelegentlich auch selbst schon mal gemacht haben sollte. Ja, ich glaube sogar, der tiefere Sinn seiner Attacken war eigentlich nur die Suche nach ein bisschen Wahrhaftigkeit. Wer so hart angegangen wird, lässt irgendwann die Maske fallen. Dann wird aus Entertainment ein echtes Gespräch. Keine Floskeln mehr, kein Showgrinsen mehr. Der eine früher, die andere später: Irgendwann in einem Luik-Interview war jeder weich und bettelte um Gnade. Man war nur noch ein »Schwarzes Loch an Liebesbedürftigkeit«, wie jemand in der Süddeutschen mal wunderbar formuliert hat.

Wer seine Interviews kennt – ich würde sie eher Duelle nennen – weiß, dass Luik ein Linker alter Schule ist.

Kompromisslos auf der Seite der Schwachen. Oder die, die er dafür hält. Ich war oft nicht seiner Meinung. Aber ich fand es immer gut, dass er eine hatte. Sich mit den Mächtigen anzulegen – das tat und tut er gern. Er hat sich, so hört man aus der stern-Redaktion, eine Viertelstunde nonstop vom Unternehmer Wolfgang Grupp (der mit dem Affen in der Werbung) anbrüllen lassen, während hinter ihm sein Diener stand und mit weißen Handschuhen das Mittagessen servierte. Und Ex-Bahnchef Mehdorn ist ihm im Berliner Bahn-Tower, so konnte man es im stern lesen, mit diesen Worten mal fast an die Gurgel gegangen: »Ich würde Sie ja gerne hauen. Aber Schläge bringen nichts, Sie bleiben ja doch bei Ihrer Meinung«.

Da hatte Herr Mehdorn sicherlich recht. Auch mit Martin Walser, so wird kolportiert, soll sich Luik neun Stunden Wein trinkend gezankt haben. Der Dichter hat das Gespräch dann aber leider nicht freigegeben. Schade. Ich hätte es gern gelesen.

»Arno hat oft genervt«, erzählte mir einer seiner stern-Kollegen. »Aber es war verdammt gut, dass wir ihn hatten. Ohne ihn wäre der stern zahnloser gewesen.«

Das unterschreibe ich sofort!

Markus Lanz

Hamburg, im Januar 2022

Angela Merkel

»Mit 18 wurde es mir zu eng in der Kleinstadt. So ab der zehnten Klasse bin ich immer auf Tour gegangen. Prag, Budapest, Bukarest, Sofia. Meist sind wir mit dem Zug gefahren, haben wild gezeltet, sind mit dem Rucksack ins Gebirge. 1986 war ich in Armenien, Aserbaidschan, Georgien. Da war ich mit zwei Freunden, wir sind getrampt.«

© Arno Luik

Abbildung oben: Von Merkel/Büro Merkel redigiertes Interview: Als mein Gespräch, das ich zum Autorisieren nach Berlin geschickt hatte, ein paar Tage später aus dem Fax nach Hamburg zurückkam, war ich geschockt – es war ein dadaistisches Gesamtkunstwerk geworden. Ganze Passagen waren gestrichen, etliche Fragen waren verschwunden, viele Antworten waren abgeschwächt, neu formuliert. Voller Frust lief ich zwei Stunden an der Elbe auf und ab – danach begann ein Ringen um jedes Wort.

»Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna«

(Berlin, 2000)

Als ich Angela Merkel im Frühjahr 2000 zum Gespräch in Berlin treffe, ist sie seit knapp hundert Tagen Parteichefin, die erste Frau an der Spitze der CDU. Sie residiert nun ganz oben in der Parteizentrale, in einem großen, hellen Büro – sie, die Frau aus dem Osten, hat sich gegen Helmut Kohl durchgesetzt, gegen Wulff, Oettinger, Koch, Merz, gegen all die CDU-Männer mit Ambitionen; für die CDU-Machos war sie nur ein »Mädel«, ein »Aschenputtel«, nicht wirklich ernst zu nehmen. Allerdings, was kaum einer in der Partei damals ahnte: ein Aschenputtel mit Kohlscher Machtlust. Und damit verbunden: mit dem Drang zur perfekten Kontrolle – was sich auch an der schwierigen Autorisierung meines Gesprächs zeigte. Gleichwohl, so der Deutschlandfunk, »eines der wenigen Interviews, das Einblicke gab, wie Angela Merkel wirklich tickt.«

Frau Merkel, die einen verspötteln Sie als »bieder«, »mausgrau«, »trantütig« gar. Andere bejubeln Sie als »blitzgescheit«, »selbstbewusst«, sogar als »überheblich«.

Ich finde es nicht schlimm, ein Rätsel zu sein. Das erhält die Spannung.

Aber wer, zum Teufel, sind Sie nun?

Moment. Ich habe viele Facetten – wie jeder Mensch. Es verblüfft mich immer wieder, mit welcher Schnelligkeit abschließende Urteile gefällt werden. Und noch mehr verblüfft mich, mit welcher Selbstverständlichkeit Journalisten manchmal die Urteile voneinander abschreiben – oft ohne mit mir zu sprechen. Dann gibt es wichtige Ereignisse, und plötzlich hat man ein anderes Image. Gestern war ich mausgrau, plötzlich bin ich brutal und herzlos. Und morgen? Manchmal denke ich, vielleicht runden sich all diese Sichtweisen irgendwann zu einem Gesamtbild.

Wer also sind Sie?

Ich bin ein Mensch. Eine Frau. 46 Jahre alt. Interessant finde ich, dass die Distanz zwischen dem eigenen Wunschbild und dem Erleben der eigenen Person immer geringer wird.

Sie sind mit sich einverstanden?

Ich bin auf gutem Weg. Mit sich selbst Frieden zu schließen, das ist ja ein lebenslanger Prozess, aber ich finde den Vorgang interessant. Man hatte ja als Kind so Ideale. Ich wollte mal Eiskunstläuferin werden. Oder auch Balletttänzerin.

Sie waren doch, O-Ton Merkel, ein »Bewegungsidiot«.

Ja eben! Aber da war die Sehnsucht nach genau dem, was ich eben nicht konnte oder nicht hatte. Ich wollte dickere Haare. Ich wollte blass aussehen, das war für mich wunderbar, denn ich hatte immer so rote Wangen!

Und mit fünf Jahren konnten Sie noch keinen Berg runtergehen.

Man musste mir das rational erklären. Ich hatte da Angst. Mein Vater musste mir sagen, was ich tun muss: »Du musst ein Bein vorsetzen und noch ein Bein, und wenn es zu steil wird, dann musst du die Ferse aufsetze.« Ich hab das brav nachgemacht, und dann ging es. Dann war die Angst weg.

In einem sind sich alle einig: Sie haben einen starken Willen, Sie sind ehrgeizig.

Was soll ich dazu sagen? Mit Sicherheit bin ich nicht unehrgeizig. Sonst hätte ich mir einen anderen Job ausgesucht, wo ich am Freitag um 14 Uhr zu Hause bin und nicht mit Ihnen hier sitze.

Ulrich Merkel, Ihr erster Mann, hat Sie so beschrieben: »Sie ist eine Kämpfernatur.«

Ist doch nicht schlimm, oder? Ich empfinde das als ein Kompliment. Ein Politiker muss machtbewusst sein. Er muss ehrgeizig sein. Er muss sich selber etwas abverlangen können.

Und er muss kämpfen können?

Ich glaube, dass ich kämpfen kann, aber ich gehe nicht jeden Kampf ein. Ist der Kampf erfolgversprechend? Reichen die Kräfte? Man kann nicht an allen Fronten gleichzeitig kämpfen. Manche Kämpfe muss man delegieren, manche muss man verschieben.

Aber Mitte Dezember 1999 wussten Sie: Jetzt muss ich den Brief in der FAZ schreiben und die CDU auffordern, sich von Kohl zu lösen. Da wussten Sie: Jetzt kann ich den Kampf führen!

Nicht: kann. Sondern: muss! Um der Zukunft der CDU willen.

Waren Sie beim Schreiben des Briefs aufgeregt?

Erstens war es kein Brief, sondern ein Aufsatz, zweitens haben Sie einen Hang zum Theatralischen …

Ich bitte Sie: Mit diesem Schreiben legten Sie sich mit dem Übervater der CDU an. So etwas macht man nicht jeden Tag.

Nein. Zuerst ordnet man da seine Gedanken. Dann ringt man mit sich, ob man es macht oder nicht. Die Haderphase. Und dann ist es entschieden.

Ein Bein vor, noch ein Bein vor – es ist wie beim Berg-Runtergehen.

Wenn man sich entschieden hat, ist es durch. Dann ist es ein Point of no return, und dann ist es gut.

Egal, wie Sie sich mühen: Sie haben keine Chance, Sie sind eine Vorsitzende auf Abruf, Ihr alter politischer Ziehvater zieht weiterhin die Fäden und …

Moment, ein Vorsitzender ist immer ein Vorsitzender auf Zeit, auf Abruf. Ich habe ein schönes Amt in einer schwierigen Zeit. Ich muss mich bewähren. Die Amerikaner würden es »challenge« nennen, und ich nehme die Herausforderung an.

Sie stehen auf der Kommandobrücke eines Tankers, und vorn am Bug brennt es. Sie sehen Leute rumrennen, aber Sie wissen nicht, ob die wirklich löschen oder Öl ins Feuer gießen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Ihnen der Laden um die Ohren fliegt.

Das glaube ich nicht. Ich habe einen guten Überblick über den Laden, und der fliegt uns nicht um die Ohren. Im Gegenteil, er macht Rot-Grün wieder Dampf.

Die Regierung Schröder hat Sie mit der Steuerreform elegant aufs Kreuz gelegt.

Na ja. Unser Weg in der Sache war richtig. An den Nachbesserungen sehen Sie ja, dass die Regierung die Schwächen ihrer Reform kannte. Jetzt trägt sie in vielen Teilen die Handschrift der Union.

Doch ausgeknockt liegt Ihr Fraktionschef Friedrich Merz da.

Friedrich Merz ist ein guter Fraktionsvorsitzender. Um in der Boxersprache zu bleiben: Die anderen haben einen Punkt gemacht. Aber der Kampf ist noch lange nicht entschieden.

Und der wird hart – auch parteiintern. Im Bundestag sitzt Helmut Kohl, seine Getreuen kommen zu ihm, streicheln ihn, berühren ihn, tuscheln mit ihm. Das sind doch Machtdemonstrationen gegen Sie.

Was? Sie brauchen gar nicht so eine dramatische Sprache zu wählen. Die Sache ist nämlich sehr nüchtern und sachlich zu sehen: Die CDU ist in einer Umbruchphase. Und die politische Zukunft dieser Partei wird nicht mehr von Helmut Kohl bestimmt, sondern von der neuen Parteiführung. Aber die Zukunft wird auch dadurch bestimmt, wie sich die Partei zu ihrer Vergangenheit verhält. Wir müssen da eine gerechte Beurteilung hinbekommen.

Nach all dem, was über die CDU herauskam, den Lügereien, Betrügereien, den verschwundenen, verfälschten Akten, schwarzen Konten, Schweizer Konten – würden Sie heute nochmals in die CDU eintreten?

Ja, denn die CDU ist viel mehr als das, was Sie hier aufzählen. Ich gehe heute meinen Weg, so wie ich ihn gehe, weil ich überzeugt bin, dass die CDU sonst nur von bestimmten Leuten auf die Fehler reduziert würde. Damit wir aber auch über unsere Leistungen sprechen können, nenne ich auch die Fehler.

Gab es in den letzten Monaten Momente, in denen Sie sagten: »Verdammt! Was für einer Partei gehöre ich bloß an?«

Nein.

Ach, kommen Sie.

Es gab Stunden, da hat es mir die Sprache verschlagen.

Glauben Sie, dass Helmut Kohl beim feierlichen Akt zur Wiedervereinigung am 3. Oktober in der ersten Reihe sitzen wird?

Warten Sie es ab. Aber sagen Sie mal, worum geht es Ihnen eigentlich?

Es geht mir um Sie.

Ja?

Ja, aber Helmut Kohl hat Sie doch geprägt.

Zu einem Teil sicherlich. Ich habe viel von Helmut Kohl gelernt – die politische Beurteilungskraft, das Gefühl und das Gespür für politische Vorgänge, für Mehrheiten. Aber ich bin ich und gehe meinen Weg mit meinem Stil.

Sie werden als Chefin nicht so diktatorisch wie er regieren?

Was heißt »diktatorisch«? Diese Frage akzeptiere ich nicht bei einem demokratisch gewählten Parteivorsitzenden, ob er Helmut Kohl oder Merkel oder sonst wie heißt. Sie müssen als Chef in den Ring. Sie müssen Mehrheiten zusammenbringen. Was Helmut Kohl richtigerweise – sonst kann jemand auch nicht Parteivorsitzender sein – nicht geduldet hat, ist persönliche Illoyalität. Ein gesundes Misstrauen gehört zur politischen Arbeit.

Es ist ein hartes Geschäft?

Sicherlich. Aber auch ein Langstreckenlauf ist hart. Manager bei einem Großunternehmen zu sein ist hart. In Parteien geht es doch nicht anders zu als anderswo. Politik ist natürlich hart, wenn man an der Spitze ist. Dazu gehört auch Einsamkeit. Nun können Sie fragen, warum tun sich Menschen das an? Weil es Spaß macht. Weil es eine Herausforderung ist. Ich wurde mal gefragt, was der entscheidende Unterschied gegenüber dem Leben in der DDR ist. In der DDR war es fast unmöglich, seine Fähigkeiten auszuleben und an die eigenen Leistungsgrenzen zu stoßen. Aber daran habe ich Freude.

Die Grüne Antje Radcke hat den Drang in die Politik mal so begründet: »Es macht Spaß, wichtig zu sein!«

Ich denke nicht darüber nach, ob es schön ist, wichtig zu sein. Es ist schön, an die eigenen Leistungsgrenzen zu stoßen, und das heißt in der Politik: Mehrheiten gewinnen, neue Antworten für neue Aufgaben finden. Was ist »wichtig«? Dieser Satz ist merkwürdig. Man merkt doch in der Politik, wie kurzlebig die Erfolge sind, wie schnell die Stimmungen wechseln. Der Glanz des einen Tages kann schon wieder der Niedergang des zweiten sein. Alles ist stimmungsabhängig.

Der Journalist Rolf Zundel …

Ach, mein erstes Weihnachtsbuch nach der Wende war von Zundel. Es war interessant, es ging um Politik und Psychologie.

Er schrieb: »Die Politik ist erbarmungslos, sie deformiert alle mehr oder weniger.«

Tja, das Leben ist überhaupt erbarmungslos, und es deformiert jeden bis zum Tod.

Das Leben ist Kampf?

In gewisser Weise, ja. Ich war bis 35 Physikerin, ich habe heute zehn Jahre Berufserfahrung als Politikerin hinter mir. Aber was deformiert mehr? Der Drang, immer neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen? Als Wissenschaftler großem Ruhm nachzujagen? Und wie ist es bei den Managern internationaler Konzerne? Ich glaube nicht, dass Politiker etwas Besonderes sind. Sie haben doch immer die Chance, ihren eigenen Stil zu bewahren und mit sich im Reinen zu sein.

Und das sind Sie?

Ich denke ja.

Sie haben die steilste Karriere hingelegt in der bundesdeutschen Parteiengeschichte.

Glauben Sie das?

Ja. Und sind Sie stolz auf das Erreichte?

Ich bin verwundert. Ich muss aber erst mal überlegen, was das heißt: »steilste Karriere«.

Vor zehn Jahren erst traten Sie in die CDU ein.

Gut, aber ich habe zu viel zu tun, um staunend dazustehen. Mein Weg ist wahrscheinlich bemerkenswert, aber Gott sei Dank fühle ich das nicht so.

Aber manchmal, abends vor dem Spiegel, denken Sie da nicht: »Huch, wer bin ich? Was habe ich geschafft?«

Nein, mir wird manchmal eher mulmig, wenn ich durch die Welt gehe und all die Menschen nicht kenne, die mir begegnen – und die meinen alle, dass sie mich kennen, dass sie von mir alles wissen. Das gibt mir ein Gefühl der Unbalance. Ich habe aber gern Balance. Das beklemmt mich manchmal. Nimmt mir Freiheit.

Sie stehen unter ständiger Beobachtung, werden seziert, analysiert, interpretiert.

Ich bin völlig überrascht, wenn ich mal was über mich lese, wo ich das Gefühl habe: Das bin ich! Das passiert nicht oft. Manchmal, selten, gibt es Porträts von Journalisten, die einen sogar noch auf etwas bringen. Einer hat mal geschrieben, ich sei eine Wanderin zwischen den Welten und dass ich mich keiner total verschrieben hätte. Das ist ein interessanter Gedanke, darin ist wohl ein bisschen Wahrheit. Und das berührt mich dann.

Kennen Sie eigentlich den Witz, der in PDS-Kreisen über Sie kursiert?

Nein.

»Wenigstens eine von uns hat es geschafft!«

Was ist daran der Witz?

Sie waren ja mal in der FDJ, »der Kampfreserve der SED«.

Ach so. Ja, das ist richtig, das ist Teil meines Lebens. Aber der PDS-Witz zeigt doch nur, dass diese Partei auch heute noch in der Kontinuität der alten Zeit steht, nichts dazulernt.

Sie hingegen haben schnell gelernt, Sie sind nun Vorsitzende der CDU. Ist doch irgendwie wahnsinnig?

Das ist eine westdeutsche Sicht. Aus Ost-Sicht ist das viel weniger beachtlich. Wahnsinn ist eher, dass der Kalte Krieg überwunden, dass die Mauer gefallen ist! Die meisten Mitglieder der CDU kommen im Übrigen aus den alten Bundesländern, und für sie ist meine Biografie bis zum 35. Lebensjahr etwas Besonderes. Deshalb muss ich mich viel stärker legitimieren, also immer wieder erzählen: Ich bin in Hamburg geboren, im Osten aufgewachsen, war in der FDJ, habe dennoch keine Jugendweihe, sondern bewusst nur die Konfirmation. Darauf bin ich stolz. Dass ich heute Parteivorsitzende bin, ist ein echtes Stück deutscher Einheit.

Einen Großteil der CDU-Geschichte haben Sie nicht persönlich erlebt. Wie haben Sie sich die Geschichte, den Jargon angeeignet? Büffelt man das alles wie eine Fremdsprache?

Bei mir heißt es ja heute noch, dass ich nicht wie ein Politiker spreche. Ich spreche meine Sprache, und ich kann auch zuhören. Dabei lerne ich etwas, und ich denke, man kann auch etwas von mir lernen. Ansonsten bekomme ich viel durch Erzählungen mit, durch das Befragen von Leuten, Zeitungsartikel. Wenn das Kabinett etwa Weihnachtsessen hatte, dann habe ich einfach zugehört. Und das sind schon interessante Geschichten, wie Strauß und Kohl ihre frühen Kämpfe ausgefochten haben. Dass ich einen Teil der Geschichte nicht erlebt habe, hat auch Vorteile, man hat eine größere Unbefangenheit. Auch einen klareren Blick auf manchen Wildwuchs in Deutschland. Mit dieser Unbefangenheit können Sie auch Dinge anders machen. Ich glaube zum Beispiel, dass kaum jemand aus der CDU zu den Kernkraftgegnern nach Gorleben gefahren wäre wie ich, aus dem Osten kommend, um mit ihnen zu diskutieren.

Frau Merkel, Sie sind schon ein bisschen anders als die üblichen Politiker. Sie sind Olympiasiegerin und …

Ja, ich habe mal die Russisch-Olympiade gewonnen. Das war 1970, ich war in der neunten Klasse. Mit der Mannschaft unseres Bezirks war ich bei der DDR-Olympiade in Berlin. Lenin hatte gerade seinen hundertsten Geburtstag, dazu musste man was schreiben, und die Lenin-Biografie auf Russisch erzählen: Ленинродилсяв22-огоапредя1870годувгоролеУльяновск

Aha.

Ja, »Lenin wurde am 22. April 1870 in Uljanowsk geboren«. Russisch ist eine schöne Sprache, ganz gefühlvoll, ein bisschen wie Musik, ein bisschen melancholisch. Ich habe immer sehr gern Russisch gesprochen. Eines der schönsten russischen Worte ist терпение, und es klingt wie das, was es heißt: Leidensfähigkeit. Nicht so zu sein wie wir, sich aufzulehnen und zu rebellieren, sondern die Dinge auch hinzunehmen und zu akzeptieren. Das schafft eine höhere Gelassenheit dem Leben gegenüber.

Die hätten Sie gern.

Der Gedanke gefällt mir, wahrscheinlich wegen meiner Unfähigkeit, selber so zu leben.

Sie haben geschafft, was dem Osten im Kalten Krieg mit dem Westen nie gelang, obwohl es Erich Honecker so verzweifelt wollte: »Überholen, ohne einzuholen!«

Na gut, ich habe durch die deutsche Einheit einfach unheimliches Glück gehabt.

Ulrich Schoeneich, der SPD-Bürgermeister Ihres Heimatortes Templin, ist sehr stolz auf Sie, denn Ihr Erfolg zeige, »dass wir im Osten nicht nur das grüne Männchen auf der Ampel haben!«.

Ja, das stimmt. Ich bin eine Projektionsfläche, klar, natürlich, für viele Menschen aus den neuen Bundesländern. Es gibt ja nicht so viele, die an die Spitze gekommen sind.

Sie sind nun sogar, lobt die FAZ, eine »Lichtgestalt: Kein anderer hätte die CDU »so schnell aus dem tiefen Schatten wieder ans Licht bringen können«.

Na ja.

So nüchtern sehen Sie das? Sogar einem Heiner Geißler wird es ganz elegisch bei Ihnen. Sie seien »eine herbe Schönheit« mit »melancholischem Blick in einem zuweilen von Traurigkeit umflorten Gesicht«.

Ich sehe aus, wie ich aussehe, und fertig.

Waren Sie eigentlich gern ein Mädchen?

Ja, ich hatte eine schöne Kindheit. Das wird ja im Westen oft übersehen, dass das Leben in der DDR nicht nur aus Politik bestand. Die Uckermark als Landschaft ist wunderschön, wir sind im Wald rumgerannt, haben Blaubeeren gepflückt, Pilze gesammelt. Ich hatte mein Gartenstück, im Sommer bin ich jeden Tag baden gefahren. Abends auf dem See schwimmen war schön. Weihnachtslieder singen mit Echo. Ich habe viel mit russischen Soldaten geplaudert, weil bei uns ja doppelt so viele Russen im Wald waren wie Deutsche.

Ihre Eltern waren nicht sehr streng?

Ja und nein. Es war ein sehr geregeltes Elternhaus. Aber es war auch ein sehr offenes Haus, wir haben viel diskutiert. Mein Vater hatte eine klare Meinung. Er ist sehr gründlich, ich bin ein bisschen pfuschig. Das hat mir manchmal als Kind Pein bereitet, aber daraus habe ich natürlich auch was gelernt. Ich durfte nie auf dem Moped mitfahren. Darunter habe ich gelitten. Und ich musste beizeiten zu Hause sein. Aber mit 18 wurde es mir zu eng in der Kleinstadt. So ab der zehnten Klasse bin ich immer auf Tour gegangen. Prag, Budapest, Bukarest, Sofia. Meist sind wir mit dem Zug gefahren, haben wild gezeltet, sind mit dem Rucksack ins Gebirge. 1986 war ich in Armenien, Aserbaidschan, Georgien. Da war ich mit zwei Freunden, wir sind getrampt.

Das war eine gute Zeit?

Ja, von 16 bis 26 war es in Ordnung, aber dann hatte man alles durch, rauf und runter. Und dann finden Sie es zunehmend dumm, dass man nur 30 Mark pro Tag umtauschen darf. In Budapest hat der Campingplatz schon 20 Mark gekostet, und dann musste man irgendwie sehen, dass man zur Suppe noch ein bisschen Salat kriegt. Irgendwann reichte es. Irgendwann hatte man es auch satt, mit Konservenbüchsen im Rucksack durch die Welt zu reisen.

Wie sind Sie erzogen worden?

Man hat mir wie Millionen anderer Kinder beigebracht, dass man zu Ende bringt, was man anfängt. Es war auch so, dass meine Mutter oft sagte: »Ihr seid Pfarrerskinder! Ihr müsst immer noch etwas besser sein als die anderen.«

Und am Mittagstisch wurde gebetet?

Ja, sicher. Ich bin auch zur Christenlehre gegangen, zum Gottesdienst, und ich habe mir wie alle die Frage nach Gott gestellt.

Glaube – ist das auch heute für Sie noch wichtig?

Ja. Warum schauen Sie jetzt so skeptisch? Der Mensch ist nicht die letzte Instanz, und das, finde ich, ist etwas sehr Erleichterndes, auch für die Politik. Dass man Fehler machen kann, dass man irrt, dass man sich nicht überhöht, dass es Gemeinschaften gibt, die das Gleiche glauben, ohne dass man sich ständig rechtfertigen muss. Und der christliche Glaube ist eine Sicht aufs Leben, die darin besteht, dass man sich nicht als das Wichtigste nimmt. Es hat auch etwas mit Vergebung zu tun, damit, dass der Mensch ein Sünder ist.

Sie sind wahrscheinlich die erste Parteivorsitzende der CDU, womöglich das einzige Mitglied der CDU, das je in einer besetzten Wohnung gelebt hat.

Das mag sein, das weiß ich nicht.

Aber geräumt worden sind Sie nicht?

Nein, dem bin ich knapp entgangen. Aber ich war unheimlich froh, in Berlin in den 80er-Jahren eine Wohnung gefunden zu haben.

Und dann, Sie waren 30 Jahre alt, kam Ihr Vater zu Besuch und sagte: »Weit hast du es noch nicht gebracht!«

Ja, ich bestätige die Richtigkeit des Zitats. Ich war gerade umgezogen in eine nicht legale Wohnung, die war in keinem guten Zustand.

Wie war das für Sie, als die Mauer fiel?

Wunderbar. Ich war in der Sauna. Da bin ich immer donnerstags hingegangen mit Freundinnen, im Thälmann-Park hier in Berlin. Und dann hörte ich die Pressekonferenz von Schabowski, und nach der Sauna bin ich dann zur Bornholmer Straße und bin rüber. Mit meiner Mutter hatte ich mir immer ausgemalt, was wir als Erstes machen würden: ins Kempinski gehen, Austern essen. Aber da waren wir bis heute nicht. Ich habe bis jetzt noch keine einzige Auster gegessen!

Aber in der DDR hatten Sie keiner Dissidentengruppe angehört?

Ich hatte Mühe mit deren Stil. Ich habe Bahro gelesen, Solschenizyn, und mich mit Freunden darüber unterhalten. Im Blick zurück würde ich sagen: zu alternativ.

Lothar de Maizière hat Sie damals so empfunden: Typ Studentin, selbst geschnittener Bubikopf, Jesuslatschen.

Man kann wirklich nicht sagen, dass ich nur bieder war und zwischen Gummibaum und Robotron-Fernseher lebend mich abends nicht aus dem Haus bewegt hätte. Es hat mich fasziniert, was passiert ist. Ich bin zu Rainer Eppelmann gegangen, und wenn der Stefan Heym gelesen hat, dann bin ich da hin. Aber mich hat das zu lange Diskutieren gestört. Ich hatte mit dem Sozialismus abgeschlossen. Diese Mischung aus Alternativität und einer anderen Form von Sozialismus hat mich nicht gereizt.

Aber Sie hätten doch, wie Kohl sagen würde, ein »Soz« werden können.

Nein. Quatsch! Ich bin ein sehr individualistischer Typ, ich mag das Kollektivistische nicht. Ich habe mir ja die SPD angeschaut mit meinem damaligen Chef. Er ist dann gleich dort geblieben. Er ist heute der Bürgermeister von Köpenick. SPD? Nein! Für mich war das nichts. Ich bin dann weiter zum Demokratischen Aufbruch. Das hatte etwas sehr Unkoordiniertes, das hat mir gefallen. Da standen unausgepackte Computer rum.

Da wurden Sie gebraucht?

Ich wurde gebraucht und hab zugepackt. Und die Ziele des demokratischen Aufbruchs – die Einheit, Währungsunion, soziale Marktwirtschaft: Das hat mir gut gefallen.

Lothar de Maizière meint, Sie wären durch Zufall in der CDU gelandet.

Das kann Lothar de Maizière nicht einschätzen.

Wohin wollen Sie die CDU führen? Sie sind die Chefin, Sie haben das letzte Wort.

Ich kenne den Punkt, dass in bestimmten Fragen die Chefs das letzte Wort haben. Ich war sieben Jahre Landesvorsitzende, war Ministerin. Jetzt so eine große, bundesweite Volkspartei zu führen ist eine neue Aufgabe.

Und das Ziel ist klar: Sie wollen an die Macht.

Ich will, dass die CDU2002 die Regierung übernimmt, und sie dazu inhaltlich voranbringen. Was zum Beispiel ist die Aufgabe der CDU nach der Beendigung des Kalten Kriegs? Nachdem die Grünen die Nato anerkannt haben? Mit der deutschen Einheit hat sich die ganze Nachkriegsordnung verändert. Und ich möchte, mit den alten Werten vom christlichen Menschenbild und unserem Verständnis von Freiheit und Gerechtigkeit, von Solidarität, Antworten auf die zukünftigen Fragen finden.

Das sind Schlagworte.

Vielleicht für Sie, aber sie umschreiben die Aufgabe, deutlich zu machen, was soziale Marktwirtschaft unter internationalen Marktbedingungen bedeutet.

Glauben Sie, dass die Welt gerechter wird?

Ich habe nicht dieses deterministische Geschichtsverständnis, nach dem sich die Menschheit in einer ständigen Höherentwicklungsspirale befindet. Ich glaube, dass die Welt sich ruiniert, wenn sie es nicht schafft, mit den großen sozialen Unterschieden fertig zu werden.

So ähnlich würde es Kanzler Schröder auch sagen. Und das ist doch Ihr Problem: Überall wo Sie hinwollen, sitzt er schon – und macht quasi CDU-Politik.

Nein, dem würde er genauso widersprechen wie ich. Schröder hat eine große Schwäche. Er denkt nicht zu Ende. Er interessiert sich eigentlich für die Sachen nicht. Das ist sein ganz großes Manko. Er ist ein Augenblicksmensch.

Aber das ist doch eine Vision, die Sie treibt: die erste Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland zu sein.

Mir wurde schon gesagt, ich hätte keine richtigen Visionen. Das ist wahrlich keine. Sie haben Ihr Gespräch damit begonnen, dass ich zum Scheitern verurteilt bin. Es geht schnell bei Ihnen: Jetzt fragen Sie mich nach der Kanzlerschaft, sehen Sie mich als Kanzlerin?

Und Sie? Als was sehen Sie sich?

Ich bin Parteivorsitzende, bin gerade mal hundert Tage im Amt. Darauf konzentriere ich mich. Ich habe das letzte Wort, Sie nun die letzte Frage.

Was werden Sie dereinst dem alten Mann da oben sagen – so es ihn denn gibt –, wenn er Sie fragt, was Sie Gutes für die Menschen getan haben?

Ich bin noch nicht so weit, dass ich mich mit solchen Gedanken beschäftige. Ich weiß auch nicht, ob der liebe Gott so fragt. Ich habe gerade die Mitte meines Lebens erreicht. Ich habe in der DDR gelebt, ich lebe mein Leben jetzt im geeinten Deutschland. Ich habe gute Sachen gemacht: Ich war eine ordentliche zweite Regierungssprecherin, ich habe den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz eingeführt, eine schöne Klimakonferenz in Berlin geführt. In einer entscheidenden Phase der CDU habe ich nicht Unwichtiges getan. Und privat bin ich geborgen. Und das ist doch in Ordnung, dass man ab und zu einen kleinen Stein gesetzt hat. Sie können doch nicht ewig auf Achse sein, und zum Schluss blicken Sie zurück und fragen: Was habe ich eigentlich gemacht?

Ihr Kollege Edmund Stoiber hat auch fürs Jenseits große Pläne. Er möchte dort oben Karl Marx fragen, ob ihm eigentlich klar sei, »was er mit seiner Ideologie alles angerichtet hat«.

Für den Himmel habe ich keine Pläne. Ich will da oben meine Ruhe. Sonst nichts.

Angela Merkel wird am 17. Juli 1954 in Hamburg geboren, wächst in Templin (DDR) auf, wo ihr Vater Pfarrer ist. Sie studiert Physik, ist auch in der FDJ. Nach dem Fall der Mauer engagiert sie sich beim Demokratischen Aufbruch, wird stellvertretende Sprecherin der Regierung de Maizière. 1990 wechselt sie zur CDU, kommt in den Bundestag, Helmut Kohl ernennt sie zur Frauen- und Jugendministerin. Rasant steigt sie auf: 1991 Vize-Vorsitzende der CDU, 1994–1998 Umweltministerin, danach CDU-Generalsekretärin. Im April 2000 wird Angela Merkel Parteichefin, 2005 Bundeskanzlerin – 16 Jahre lang, bis zum Herbst 2021, regiert sie in Koalitionen mit der SPD, der FDP, zuletzt wieder mit der SPD.

Yanis Varoufakis

»Sie hielten Tsipras, unserem Regierungschef, die Pistole an die Schläfe – und so verhandelt es sich schlecht. Wie soll man da frei entscheiden, wenn einem gesagt wird, klipp und klar: »Wenn du nicht zustimmst, bleiben die Banken zu. Wir zerquetschen dich!«

Ein gestresster Autor, ein entspannter Politiker.

© Arno Luik

»Dr. Schäuble sagte zu mir: Wir können uns den Sozialstaat nicht mehr leisten!«

(Athen, 2015)

Kurz vor meinem Abflug nach Athen meldet sich Yanis Varoufakis, der ein paar Tage zuvor noch griechischer Finanzminister war, am Telefon. Es seien »hektische, harte Zeiten«, es fänden ständig Sitzungen, Konferenzen, kurzfristig anberaumte Parlamentsdebatten statt, Zeit für ein »substanzielles Gespräch« habe er kaum. Um sicherzugehen, dass es überhaupt zu einem ernsthaften Gespräch komme, solle ich doch zu ihm in die Wohnung kommen, das sei die einzige Möglichkeit.

Drei Tage war ich in Athen, und es war dann, wie Varoufakis gesagt hatte: hektisch. Mal war er in seiner Wohnung, dann im Parlament, er war hier, er war dort, kaum greifbar. Unser Gespräch (das im stern in einer stark gekürzten Version erschien, hier nun die Originalfassung) fand in neun Etappen statt. Mal nur für ein paar kurze Augenblicke, mal für eine, mal für zwei Stunden, mal für 30 Minuten; mal trafen wir uns kurz vor Mitternacht, nach Mitternacht, mal mittags, mal in der Küche bei einem schnellen Kaffee, oder spätabends im Restaurant – wonach wir dann, er mit seinem Motorrad vorneweg, seine Frau mit ihrem Motorrad hinterher und mit mir auf dem Soziussitz, durch Athen zu seiner Wohnung bretterten.

Nur fünf Monate lang war Yanis Varoufakis griechischer Finanzminister der sozialistischen Partei Syriza. Aber das hat gereicht, um seine Kollegen, Europas Finanzminister und Präsidenten und Kanzler, fast in den Wahnsinn zu treiben – und seine Fans in Ekstase.

Wer ist dieser Yanis Varoufakis? Der unter Beschuss war und ist, national, international – der umstrittenste Politiker in Europa, der mich in seine Wohnung ließ, einfach so, einen Fremden? »Feel at home«, hatte er bei der Begrüßung gesagt.

Ein Gespenst geht um in Europa, Herr Varoufakis, das Gespenst von Syriza. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet, die Troika und die Eurogruppe, Merkel, Schäuble und Gabriel, Finnlands Regierung und die Investoren von Goldman-Sachs.

Jetzt muss ich doch lachen, dass einer aus Deutschland, dem Land, dessen Regierung uns hier so quält, mit einer Variation von Marx’ Kommunistischem Manifest daherkommt. Aber es ist natürlich hinterhältig, mir so zu kommen, also Syriza mit Kommunismus gleichzusetzen. Das machen unsere Gegner, die uns diskreditieren wollen.

Das ist nicht mehr nötig: Das Gespenst, Syriza, ist ja mit dem letzten Abkommen gezähmt, gedemütigt.

So kann man es sehen.

Sie haben Auflagen der Eurogruppe akzeptiert, unter anderem drastische Kürzungen bei Renten und eine dramatische Erhöhung der Mehrwertsteuer – lauter Dinge, gegen die Sie vehement waren, jahrelang.

So ist es. Und ich bin immer noch dagegen. Ich habe ja in der Regierung gegen dieses sogenannte Rettungspaket, das noch mehr Elend, aber garantiert kein Wirtschaftswachstum bringen wird, gekämpft. Aber ich würde nicht von einer Niederlage oder einem Betrug am Volk sprechen wollen. Es ist vielleicht fast noch schlimmer: Wir haben uns selbst betrogen.

Ich habe Ihnen ein Bild mitgebracht, das Wolfgang Schäuble und den Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem zeigt – kurz nachdem Ihr Ministerpräsident Alexis Tsipras das Hilfspaket akzeptiert hat.

Es ist kein Hilfspaket! Es ist ein Diktat. Zeigen Sie mal das Bild. Mein Gott! Das habe ich noch nie gesehen, ich muss das abfotografieren. Das ist ja unglaublich, wie die sich freuen! Es ist Montag, der 13. Juli. Griechenland hängt am Galgen.

Sie alle aber feiern den größten Angriff auf die europäische Demokratie seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie lachen, in dem Moment, in dem sie die Werte und Ideale und Prinzipien der europäischen Demokratie beerdigen.

Das geht ein bisschen weit, was Sie hier sagen. Es geht um ein Rettungspaket …

Nein!

… um Hilfe für Ihr Land!

Nochmals: Nein!

Es werden wieder einmal zig Milliarden Euro nach Griechenland gepumpt.

Lasst uns allein mit dieser Hilfe, die uns nur in ewige Knechtschaft zwingt! Mit dem Hilfsprogramm wurde Griechenland faktisch zu einem Protektorat. Die Eurogruppe, die demokratisch überhaupt nicht legitimiert ist, eigentlich ein informelles Forum ohne Machtbefugnisse, erteilt Völkern Befehle: Sie wollen Untertanen, die den Kopf beugen, nicken, demütig sind und tun, was ihnen befohlen wird. Diese Eurogruppe agiert ohne jede Kontrolle – und trifft Entscheidungen über Leben und Tod. Als die Eurogruppe gegründet wurde, starb die Demokratie. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek hat neulich davon geredet, dass es bei diesem Kampf um Griechenland um Fundamentales geht, nämlich »die Leitkultur«. Wer hat das Sagen in Europa? Die Banken? Die Völker?

Ihr Volk hat Syriza gewählt.

Das ist ein großes Problem. Ich habe mal mit dem ehemaligen US-Finanzsekretär Larry Summers gesprochen, er sagte zu mir: »Yanis, Sie haben einen großen strategischen Fehler gemacht.« Was denn? »Sie haben die Wahlen gewonnen.« Die Wut auf Syriza war von Anfang an riesengroß, denn wir stellten ein Programm infrage, das seit Jahren die herrschende, nicht zu hinterfragende Doktrin in Europa ist: Austerität. Eine Sparpolitik, die seit Jahren versagt, aber unsere Bevölkerung systematisch verarmt. Und hoffnungslos macht. Die Jugend. Die Alten. Wir haben eine epidemische Explosion von Selbstmorden, die Kindersterblichkeit steigt. Wir reden über den ökonomischen und mentalen Zusammenbruch eines Volkes. Was wir erleben, ist der totale Triumph des Neoliberalismus. Das Ende der Menschlichkeit.

Wenn es so ist, warum, verdammt noch mal, hat dann Ihr Freund Tsipras diesen Vereinbarungen zugestimmt.

Aber was konnte er denn tun? Ich will Ihnen nicht ausweichen, Herr Luik, aber ich muss jetzt schnell rüber ins Parlament! Bis später, tschüss Danae!

***

Danae Stratou, Ehefrau von Varoufakis: Unser Leben hat sich in den letzten sechs Monaten radikal geändert. In Amerika, in Austin, wo mein Mann an der Uni unterrichtete, lebten wir wie Studenten. Wir waren viel zusammen, er arbeitete zu Hause an seinen Büchern und Studien, ich an meiner Kunst. Wir kamen Anfang Januar zurück nach Athen, im letzten Moment kam mein Mann auf die Wahlliste, plötzlich war er im Parlament, plötzlich war er Finanzminister, plötzlich war er mitten im Wirbelsturm. Ich bin ja nicht die klassische Hausfrau, ich hatte mit 30 eine Ausstellung auf der Biennale in Venedig, aber jetzt habe ich versucht, ihm hier zu Hause einen Rückzugsort von der Hektik zu geben.

***

Herr Varoufakis, ich war vorhin am Parlament: Tausende demons­trierten gegen Sie und Ihre Regierung, das waren verzweifelte, verbitterte, enttäuschte Menschen.

Haben Sie auch gegen mich demonstriert? Das glaube ich kaum, denn ich bin ja auch gegen das uns auferlegte Spardiktat. Was fragten Sie vorher, bevor ich ging?

Tsipras hätte mit »Nein« gegen das Rettungspaket stimmen können!

Es war quälend für ihn. Sie hielten ihm die Pistole an die Schläfe – und so verhandelt es sich schlecht. Wie soll man da frei entscheiden, wenn einem gesagt wird, klipp und klar: »Wenn du nicht zustimmst, bleiben die Banken zu. Wir zerquetschen dich!« Tsipras, als Regierungschef, muss an die Rentner denken, die Geld brauchen, an die vielen Menschen, die weiter in die Armut absinken würden oder sogar verhungern.

Sie sind mit großen Worten in den Wahlkampf gegangen, Ihr Spruch war: »Die Hoffnung kommt!«

Ja.

Und die Menschen glaubten Ihnen.

Die Lage war so verzweifelt, dass sie uns wählten. Trotz der brutalen Propaganda in den Oligarchen-Medien. Ende 2014, kurz vor der Wahl, hieß es, der Aufschwung sei da. Dieser Aufschwung war aber nur ein Wunderwerk der Statistiken, er hatte nichts mit der Realität zu tun. Die Menschen wussten genau, dass es ihnen nicht besser geht. Sie wussten, dass das alles Lügen sind. Das war ihnen schon fünf Jahre lang gesagt worden. Sie stimmten für uns, obwohl vorher in den Medien eine Katastrophen- und Untergangsstimmung inszeniert worden war. Die amtierende Regierung, so etwas hat es noch nie gegeben, hat noch kurz vor der Wahl einen politisch motivierten Bankrun herbeigeführt. Die Botschaft: Wenn ihr Syriza wählt, dann seid ihr endgültig verloren!

Aber dann, vor sechs Monaten, stand der triumphierende Wahlsieger Tsipras vor seinen Anhängern, er tanzte, er sang, und er rief: »Für Griechenland beginnt ein neues Kapitel! Wir lassen die zerstörerische Sparpolitik hinter uns!«

Ja. Das war der Traum und die Hoffnung.

Der Traum ist nun ein Albtraum.

Ja.

Ich versteh das nicht: Sie machen ein Referendum über die Sparpolitik. Sie gewinnen dieses Referendum eindeutig, aber dann …

Was dann?

Dann macht Ihre Regierung, die sich ja dem Volk angeblich verpflichtet fühlt, genau das, was das Volk überhaupt nicht will: Sie knicken vor Brüssel ein.

Die Kehrtwende von Tsipras war, wie soll ich sagen: bemerkenswert. Ich habe ja in den vergangen Monaten viel erlebt, mehr als ich wollte. Das Schönste für mich war eine Veranstaltung zwei Tage vor dem Referendum. Ich hielt eine Rede vor zigtausend Leuten, und da war so eine wunderbare Stimmung, die einem Kraft gab. Und mit dieser Stimmung, wie auf einer Wolke, ging ich in den Regierungssitz. Dort war aber eine ganz andere Stimmung, fast alle waren bedrückt. Ich hatte fast das Gefühl, sie hatten auf ein »Ja« beim Referendum gehofft – als Fluchtweg aus der Regierungsverantwortung. Da war kein Kampfgeist mehr. Das hatten auch die in Brüssel gemerkt, sie hatten unsere Angst gerochen, spätestens im Juni. Und als dann Tsipras sich dem Diktat beugte – das war für mich der traurigste Moment.

Als Sie am 6. Juli dann zurücktraten, mit dem Motorrad davonbrausten – was war das für ein Gefühl?

Ein Mischmasch. Ich war ja für weitere Verhandlungen, ich wäre nicht eingeknickt. Aber es war auch ein Moment, der gut für mich war. Die letzten fünf Monate hatte ich nachts kaum mehr als zwei Stunden geschlafen. Ständig gab es Verhandlungen, Sitzungen, Konferenzen, Flüge, Reisen, Kampf mit der Bürokratie, mit dem und das, Vorlagen schreiben, Presseattacken aushalten, Contenance bewahren. Sie haben kaum Zeit, ihre Batterien aufzuladen, die Gefahr, dass man in diesem ständig überdrehten Polit-Getriebe verblödet, ist ziemlich groß.

 ***

Danae Stratou: Als mein Mann dann zurücktrat, vor dem Ministerium auf sein Motorrad stieg, losfuhr, bin ich einfach hinten draufgesprungen. Er wusste gar nicht, dass ich mitfahren wollte. Ein paar andere Motorräder wurden von Journalisten und allen möglichen Leuten umgeworfen, eine Masse Menschen, wie eine Welle, kam auf uns. Es war lebensgefährlich. Diese Zeit als Minister hat ihn fast verschlungen, es war einfach mörderisch. Deswegen bin ich froh, dass er zurückgetreten ist. Ich will ja noch lange mit ihm zusammenleben. Politisch gesehen bedaure ich seinen Rücktritt. Aber ich weiß auch: Er muss weitermachen. Er ist ein politisches Tier durch und durch. Er will den Menschen in Griechenland einfach helfen.

***

Irgendwie, Herr Varoufakis, kommt mir vieles von dem, was Sie erzählen, naiv vor: Sie mussten doch wissen, dass es nicht nur Kräfte gab, die Sie politisch erledigen, sondern die auch Griechenland aus dem Euro werfen wollten.

Klar. Das hat mir Schäuble von Anfang an gesagt. Und wir hatten ja auch, von Januar an, ein Kriegskabinett, fünf, sechs Leute, die sich mit dem Szenario des Grexits beschäftigten. Wir mussten über alles Mögliche nachdenken, wir standen ja mit dem Rücken zur Wand. Was passiert als Nächstes? Ich habe immer versucht, einen Schritt weiterzudenken als unsere Gegenspieler. Mir war klar, dass sie früher oder später unsere Banken schließen würden, um uns zu erpressen und einem Abkommen zuzustimmen, das nicht funktionieren kann.

Sie reden, als ob Sie sich im Krieg befunden hätten.

Es war ein Krieg. Und es ist immer noch ein Krieg. Ein Finanzkrieg. Aber die Ziele sind die gleichen wie bei einer militärischen Eroberung. Heute brauchen sie keine Panzer, um einen zu besiegen. Sie haben ihre Banken, um einen zu besiegen.

Sie hören sich an wie ein Klassenkämpfer der alten Schule.

Ach, was! Wir sind im Jahr 2015, aber es ist, und das ist das Tragische, wie es in Brechts »Dreigroschenroman« heißt: »Die grobe Gewalt hat ausgespielt. Man schickt keine Mörder mehr aus, wenn man den Gerichtsvollzieher schicken kann.«

Sie wollten mithilfe eines Hackers in die oberste Steuerbehörde eindringen, um ein paralleles Bankensystem aufzubauen. Sie wollten an die Gelder in der Zentralbank, um Renten zu bezahlen, Sie wollten …

Was? Wir haben nie an so etwas wie einen Einbruch gedacht. Wir sind keine Abenteurer! Wir haben in diesem Kriegskabinett allerdings alle möglichen Szenarien angedacht, durchgespielt und dann auch verworfen.

Ja, was denn zum Beispiel? Etwa die Einführung einer Parallelwährung?

Ja, klar! Auf diesem Thema habe ich ja auch meine wissenschaftliche Karriere aufgebaut. Aber die Einführung einer Parallelwährung ist nicht einfach, das geht nicht hopplahopp. Auch im hocheffizienten Deutschland kam die D-Mark nicht über Nacht in die DDR. Das dauert. Auch im Irak war es mühsam, das ging nur mit der massiven handwerklichen, technischen und logistischen Unterstützung der USA, das hat über ein Jahr gedauert. Man braucht dazu alle möglichen Ressourcen. Know-how. Hat Griechenland dafür überhaupt die notwendigen Spezialisten? Und dann wäre es noch ein Vabanquespiel: Man weiß nicht, wann und ob überhaupt das Ganze positive Effekte hat!

Sie sprechen über ein Land der Eurozone, das über eine Alternativwährung nachdenkt – irre.

Es ist nicht irre, obwohl es verrückt scheint. Es ist Notwehr. Es ging bei diesen Gedankenspielen immer darum, unsere Verhandlungsposition zu stärken. Mir war ja klar, dass sie früher oder später unsere Banken schließen würden, um uns zu erpressen. Für mich wäre das ein aggressiver, feindlicher Akt. Eine Kriegshandlung.