Schäm dich! - Judith Sevinç Basad - E-Book

Schäm dich! E-Book

Judith Sevinç Basad

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Beschreibung

Judith Sevinç Basad empört sich – und stemmt sich vehement gegen die sich aufgeklärt wähnende Meinungsmache, gegen Denkverbote und Unschärfen in den Argumenten einer selbsternannten kulturellen Elite. Ist es denn, genau betrachtet, wirklich so, dass die "Privilegierten" den sozialen Aufstieg von Migrantenkindern verhindern? Kann nur eine Frau wissen, wie man Politik für Frauen macht? Ist "MeToo" eine durchgängig lautere Bewegung? Ist es im Kampf gegen Rassismus mit der Entmachtung des "alten weißen Mannes" getan? Tatsächlich wird es fast schon modisch, dass man Andersdenkenden ein "Schäm dich" zuruft und ihnen damit den Mund verbietet.

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Ebook Edition

Judith Sevinç Basad

Schäm dich!

Wie Ideologinnen und Ideologen bestimmen, was gut und böse ist

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-820-4

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2021

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Titel
Widmung
Die Lernerfahrung
Lassen wir John Lennon einfach träumen
»Narrativ«, »Diskurs« und »dekonstruieren« – alles nur harmlose Trends?
Die Social-Justice-Warriors
Fehler in der Matrix: Es gibt keine Hautfarben
Aber wie können Hautfarben »sozial konstruiert« sein?
So eine Weltsicht ist vor allem eines: rassistisch
Weiße Privilegien: Wer ist das größte Opfer?
Fakten-Check: Es gibt keine »rassistische Struktur«
Mythos: Gender Pay Gap
Die 50-Prozent-Ideologie
Der Weg in die Knechtschaft: das »Othering«
Extremismus mit Hautfarben bekämpfen …
… oder indem man Weißen die Jobs wegnimmt
Von Spätz*innen und Gäst*innen
Gesetze nur für Frauen
Ich lege Schere in Schublade
»innen! innen! innen!«
Virtue Signalling
Schäm dich!
Staatlich geförderter Rassismus
Unterwerfungszeremonien
Die Suche nach dem cooleren Christentum
Dein Kind ist rassistisch
… und auch deine Gefühle
Big Brother is watching you
Mit Islamisten kuscheln
Hass gegen Frauen und Queers
Das Kopftuch – ein Zeichen der Emanzipation?
Ein Blick in die Forschung: Genitalverstümmelungen verteidigen …
… und Selbstmordattentate
Clan-Kriminalität
Das ist die Realität der arabischen Clans im Jahr 2020
Israel-Hass
»Du bist ein Nazi!«
Schweigen über Islamismus
Doch der Reihe nach
Wenn sich Journalisten mit Aktivisten verwechseln
Schweigespirale
»Nachrichten« beim ZDF
Infizierte Gedanken: Kontaktschuld
Berichten über Hatespeech
Fake News
Schluss: Wohlstandsverwahrlosung oder der Narzissmus der Bildungseliten
Dank
Anmerkungen

Für Gisela und Ali Yalcin Basad (R.I.P.)

Die Lernerfahrung

Deutschland im Jahr 2014. Der Sender ZDFneo strahlt die Dokumentation »Der Rassist in uns«1 aus, in der ein Diversity-Workshop begleitet wird. Die Teilnehmer sollen hier anhand des »Blue-Eyed«-Konzepts lernen, wie Rassismus und Diskriminierung in der Gesellschaft entstehen. Das Vorgehen: Menschen mit blauen Augen bekommen einen Kragen um den Hals und werden von dem Coach systematisch schlechter behandelt. Das Ziel: Menschen mit weißer Hautfarbe sollen »spüren«, wie sich der Alltag für Menschen mit dunklerer Hautfarbe anfühlt, und somit für Rassismus »sensibilisiert« werden.

Die Menschenverachtung, die in diesem Film vorgeführt wird, hält man als Zuschauer nur schwer aus. So werden die »Blauäugigen« wie Kriminelle einzeln abgeführt, für längere Zeit in einen Raum eingesperrt und von einer Videokamera überwacht. Während die Teilnehmer mit braunen Augen in einem anderen Raum mit Getränken und Essen versorgt werden, müssen die »Blauäugigen« hungern. Die isolierte Gruppe weiß nicht, was mit ihr passiert. Stattdessen kommen immer wieder Security-Männer in den Raum und schüchtern einzelne Teilnehmer ein, gehen aggressiv auf sie zu, starren sie an oder werden handgreiflich.

Nach einer Weile werden die »Blauäugigen« auf eng nebeneinander gestellte Stühle in die Mitte eines anderen Raumes gepfercht. Um sie herum, teilweise auf einem höher liegenden Podest, sitzen die »Braunäugigen«, die der Coach, Jürgen Schlicher, nach eigenen Angaben Trainer für »Diversity-Management, Nicht-Diskriminierung und Interkulturalisierung«, zuvor gegen die »Blauäugigen« aufgehetzt und in das Experiment eingeweiht hat: Es sei ihre Pflicht, die »Blauäugigen« mit ihm zusammen fertig zu machen – also das Spiel mitzuspielen –, weil weiße Menschen nur so »eine Lernerfahrung« machen könnten.

Und diese »Lernerfahrung« hat es in sich. So werden die »Blauäugigen« von Schlicher gezwungen, rassistische Sprüche von Plakaten vorzulesen, in denen Menschen mit blauen Augen erniedrigt werden. »Wir können nicht zulassen, dass Blauäugige in Deutschland unsere Sozialsysteme ausnutzen«, »Blauäugige sind total undemokratisch«, »Kennst du einen Blauäugigen, kennst du alle«, steht dort. Zuvor erzählte Schlicher den »Braunäugigen«, dass Menschen mit blauen Augen dümmer seien, weil zu viel Licht in ihr Gehirn eintrete, was die Gehirnzellen schädige.

Permanent geht Schlicher Menschen aggressiv an, lacht sie aus, beleidigt sie oder schnippt ihnen mit der Hand vor dem Gesicht herum. Schnell wird klar: Menschen sollen hier anhand ihrer Augen- und Hautfarbe gebrochen werden. Mit Erfolg. Denn am Ende des Workshops hält die Kamera minutenlang auf die Gesichter einiger »Blauäugiger«, die mit den Tränen kämpfen.

Doch es wird noch schlimmer. »Hast du einen nervösen Tick, der dich irgendwie zwingt, mich so blöd anzugrinsen?«, herrscht Schlicher die junge weiße Teilnehmerin Nele an. »Liegt mir in der Natur«, entgegnet sie frech. »Das ist mir scheißegal. Hör auf, mich so dämlich anzugrinsen, wenn ich dich ansehe. Ich könnte das persönlich nehmen, und das möchtest du nicht. Verstanden?« Einige Zeit später fordert Schlicher die junge Frau auf, sich auf den Boden zu setzen. Doch Nele protestiert. Sie wehrt sich gegen den Coach, der sie dann aus dem Seminar schmeißt.

Als sie geht, wird Nele von Schlichers Kollegin verfolgt und zur Rede gestellt: »Ist dir klar, was das bedeutet, wenn du das Seminar verlässt? Ist dir klar, dass es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die diskriminiert werden? Ist dir klar, dass das Leute sind, die so aussehen wie der Mann, der neben dir steht?«, fragt die Frau und zeigt auf den schwarzen Moderator Amiaz Habtu. »DU kannst deinen Kragen abnehmen. ER kann das nicht. Willst du nicht wissen, wie sich Diskriminierung anfühlt?«, schnauzt sie Nele an.

Es ist mehr als deutlich: Weil Schwarze im Alltag Rassismus erfahren, soll Nele diesen Schmerz jetzt auch erfahren. Und Nele soll sich dafür schämen, dass sie zu den Weißen gehört, die in Deutschland Schwarzen das Leben schwer machen. Nele wird also nicht nur wegen ihrer Hautfarbe ein schlechtes Gewissen eingeredet, ihr wird auch vorgeworfen, dass ihr das Leid von Schwarzen egal sei und dass sie zur ignoranten, rassistischen Masse der Weißen gehöre. Nele muss also leiden, weil sie nur durch diesen Schmerz ein besserer Mensch werden kann.

Kein Zweifel: In Deutschland werden dunkelhäutige Menschen, Muslime und LGBTQs2 diskriminiert und ausgegrenzt. Natürlich ist das ein Missstand, über den man aufklären und mit dem sich die Gesellschaft beschäftigen muss. Aber rechtfertigt das Vorhandensein von Rassismus, dass man Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe und dann auch noch vor Kameras derart fertigmacht?

In der Doku wird auch das schon genannte »Blue Eyed«-Konzept vorgestellt, das die US-amerikanische Lehrerin Jane Elliott in den 70er-Jahren an ihrer Grundschule entwickelt hat. Es werden Viertklässler gezeigt, denen man einen Kragen umbindet. Dann wird die Lehrerin eingeblendet, die ein Bild eines traurigen Schülers in der Hand hält: »Die Fotos zeigen, was aus einem glücklichen Kind wird, wenn man ihm einen Kragen um den Hals bindet und ihm sagt, dass es minderwertig ist – und es damit in ein ängstliches, verletzliches, eingeschüchtertes Kind verwandelt«, erzählt die Antirassismus-Aktivistin.

Diesen Satz muss man auf sich wirken lassen: Um Rassismus in der Gesellschaft zu bekämpfen, sollen Grundschulkinder herabgesetzt, verängstigt und verletzt werden. Die Doku selbst wirbt damit, dass man mit diesen Methoden eine »diskriminierungsfreie Atmosphäre« schaffen könne. Oder anders gesprochen: Psychischer Schmerz, Rassismus und Psychoterror scheinen hier ein notwendiges Übel zu sein, um den Weg in eine bessere Gesellschaft zu ebnen.

Nun könnte man Jane Elliott und ihre Fans vom ZDF auch als Spinner bezeichnen, als nicht ernst zu nehmende Einzelfälle, die es in jeder politischen Bewegung gibt. Wäre es doch so. Denn Jürgen Schlicher wurde nicht nur von Elliott ausgebildet. Er leitet auch eine Diversity-Initiative, mit der er große Konzerne wie Ikea, Vodafone und L’Oréal, aber auch Bund und Länder in Sachen Diskriminierung berät.3 Er bietet den Workshop auch in Deutschland an und mindestens eine Schule, die Teil des Netzwerks »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage ist«, führte den Workshop unter Schlichers Leitung auch in Deutschland durch.4 Nach eigenen Angaben holte er das Projekt »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« nach Deutschland.5 Der Verein Aktion Courage e.V. widerspricht dem und sagt, der Verein habe das Projekt 1995 nach Deutschland geholt.

All diese Fakten sind im Netz frei zugänglich und werden in der Doku dargelegt. Dennoch feiern auch die deutschen Feuilletons den Film. Spiegel Online lobt die Sendung etwa, in der es »tatsächlich aufrüttelnde Momente«6 gebe, die Süddeutsche spricht von einem »erhellenden Psychoterror« und einer »beeindruckenden Folter«7, der man sich besser unterziehen solle, um Rassismus »mit allen Konsequenzen« zu begreifen. Der Tagesspiegel findet das Format gut und empfiehlt, es weiter auszubauen8. »Ein Fall für das Hauptprogramm«, schreibt der Stern.9 Im Jahr 2016 wurde ein solcher Workshop zudem vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Modellprojektes »Demokratie leben!« finanziert.10

Wie kann es sein, dass fast 60 Jahre nachdem Martin Luther King von einer Zukunft träumte, in der Menschen nicht mehr nach ihrer Hautfarbe bewertet werden, genau das Gleiche wieder geschieht? Wie kann es sein, dass die autoritären Erziehungsmethoden der Generation unserer Großeltern nicht nur wieder salonfähig, sondern auch als »progressiv« gefeiert werden? Und wie kann es sein, dass sich kein politischer oder medialer Widerstand regt?

Lassen wir John Lennon einfach träumen

Stell dir eine Welt vor, in der es keinen Besitz, keine Gier, keinen Hunger und keine Grenzen gibt. Nichts mehr, wofür wir töten oder sterben müssten, und auch keine Religionen. Stell dir vor, alle Menschen könnten in Frieden leben. Kannst du das überhaupt?

Das sind Zeilen aus dem Lied »Imagine«, mit dem John Lennon in den 70ern einen Welthit landete. »Du magst vielleicht denken, dass ich ein Träumer bin, aber ich bin nicht der einzige«, heißt es dort weiter. Und der Beatle hat Recht. Denn der Traum von einer perfekten Welt ist nicht nur so romantisch und schön wie Lennons Musik. Er ist auch sehr alt.

Platon war der Erste, der in der Antike einen Dialog schrieb, in dem er sich Gedanken über den idealen Staat machte. Der Engländer Thomas Morus, Staatsmann und katholischer Märtyrer, übernahm dann im frühen 16. Jahrhundert ein paar von Platons Motiven und verarbeitete sie in einer Geschichte. Dort erzählt Morus von dem Seemann Raphael Hythlodeus, der nach einem Schiffbruch an einer versteckten Insel mit dem Namen »Utopia« strandet.

Der Staat und die Gesellschaft, die der Seemann hier kennenlernt, sind perfekt: Denn die Utopia geht so gut auf die Bedürfnisse und das Wohlergehen der Bürger ein, dass alle in absoluter Harmonie miteinander leben. Gleichzeitig betreibt der Staat eine derart progressive und moderne Politik, dass der durch den Feudalismus geprägte Engländer mit offenem Mund herumsteht und sich wie ein Hinterwäldler vorkommt.

Mit dieser Geschichte gab Morus der Idee der vollkommenen Welt ihren Namen: die Utopie. Einige Autoren aus der frühen Neuzeit schrieben dann weitere Utopien, die aber alle an Morus’ Geschichte angelehnt waren. Da gab es etwa die »Nova Atlantis« von Francis Bacon, in der die Bewohner neue Pflanzenarten züchten, unvorstellbare Experimente durchführen und an sagenhaften Erfindungen arbeiten. Auch in der Utopia berichtet Hythlodeus von feuerfesten Häusern und modernen Waffen. Kurz: Die Utopien gehen immer mit der Sehnsucht nach Innovation, Fortschritt, Zukunft und neuer Technologie einher, weswegen Utopia auch die Vorlage für die moderne Science-Fiction bot.

Und auch in der Popkultur findet man die Utopie wieder. Im Film »The Beach« entdeckt Leonardo DiCaprio auf einer thailändischen Insel eine Community, die ein paradiesisches Leben ohne Sorgen führt. Und die linke Rap-Gruppe »K. I. Z.« erzählt in dem Lied »Hurra, die Welt geht unter«, wie sich Berlin nach einem Atomkrieg in eine pazifistische Idylle verwandelt.

Aber kann die Utopie auch umgesetzt werden? Nehmen wir mal an, es wäre möglich. Dann würden wir auf folgende Probleme stoßen:

Erstens: Wie soll der perfekte Staat genau aussehen? Man bräuchte nicht nur ein besseres politisches System, sondern auch eine neue Kultur, neue Normen, Rituale und Bräuche, neue politische und gesellschaftliche Mechanismen, die so aufeinander abgestimmt sind, dass niemand benachteiligt wird und keine Armut, Kriege und Ungleichheiten entstehen. Aber wie soll das funktionieren? Ist der Staat eine Demokratie? Eine Monarchie? Ist er kapitalistisch oder sozialistisch organisiert?

Das zweite Problem: Wer besitzt das Wissen über das perfekte System, das die Aufgabe unserer bestehenden Ordnung lohnenswert machte? Und wie können wir sicher sein, dass der neue Staat nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Realität funktioniert? Und: Wer entscheidet über den Systemwechsel? Das ganze Volk, seine politischen Vertreter oder nur eine kleine Gruppe besonders intelligenter Wissenschaftler?

Diese Probleme werden in den Geschichten von Morus bis K. I. Z. einfach gelöst: Es wird beobachtet, was in der Gesellschaft schiefläuft und warum die Menschen leiden. Dann werden die Gründe für das Leid auf simple Ursachen verkürzt – die man danach ganz einfach aus der Welt schafft.

Und egal, ob es sich um Geschichten aus der frühen Neuzeit oder Musikhits handelt – es sind immer dieselben Gruppen, die für das gesamte Leid der Welt verantwortlich gemacht werden: »die Reichsten« oder »das Establishment«. Sind es bei Morus der Adel und die gierigen Kaufleute, die die Armut im England des 16. Jahrhunderts verursachen, sind es bei K. I. Z. die großen Konzerne wie Nestlé, McDonald’s oder die Deutsche Bank, die dem Glück der Menschheit im Weg stehen.

Die Kernbotschaft der Utopien ist also über Jahrhunderte gleich geblieben: Man muss nur das Privateigentum abschaffen und die Reichsten enteignen, um im absoluten Glück zu leben. Aber damit nicht genug. Es müssen auch eine neue Kultur, neue Normen und – vor allem – eine neue Moral her, die sich gegen das Besitzdenken stellt. So sind in Utopia Würfel- und Glücksspiele verboten, weil sie die Menschen zu Gier und Völlerei anregen könnten. Und Reichtümer sind derart verpönt, dass Kinder mit Gold und Edelsteinen spielen, weil sie keine Ahnung haben, was Luxus bedeutet. Auch bei K. I. Z. haben die Kids das Verständnis für die kapitalistische Warenlogik verloren: »Ein Goldbarren ist für uns das Gleiche wie ein Ziegelstein«. Und: »Ein Hundert-Euro-Schein? Was soll das sein? Wieso soll ich dir was wegnehmen, wenn wir alles teilen?«

Auch dem nervigsten Leid unseres Alltags geht es in den Utopien an den Kragen: der Lohnarbeit. Schon Morus ließ seine Utopier nur sechs Stunden am Tag arbeiten, weil sein perfektes System mehr nicht braucht. Kurz: Die Dinge, die in der Gegenwart zu massiven Ungerechtigkeiten führen wie das kapitalistische System, die Lohnarbeit oder die allgegenwärtige Staatsmacht, werden in den Utopien einfach abgeschafft, damit sich das Glück – wie magisch – von selbst einstellt.

So einfach ist das natürlich nicht – was auch Thomas Morus wusste. Deswegen nannte er die Utopie auch so, wie er sie nannte: »Ou«-»Topos« bedeutet auf Altgriechisch »Nicht-Ort«. Für den Engländer war also klar, dass der perfekte Ort nur in einer erfundenen Geschichte oder in einer weit entfernten Welt, etwa auf einer verlassenen Insel, existieren könnte. Und nicht innerhalb der herrschenden Gesellschaft.

Man kann die Utopie auch mit einem Perpetuum mobile vergleichen: Eine Fantasie-Maschine, in der Ursache und Wirkung so genau berechnet sind, dass sie ohne äußere Einflüsse funktioniert. Sie treibt sich also selbst an. Das Perpetuum mobile ist nach physikalischen Gesetzen nicht nur unmöglich. Es ist auch ein geschlossenes System, das sofort in sich zerfallen würde, wenn man in die sich greifenden Zahnräder, Pumpen oder Wasserfälle eingreifen würde.

Das bedeutet: Utopien sind komplett abgeriegelte Systeme, in denen es weder politische noch kulturelle Veränderungen geben darf. Die Utopie muss nicht nur von der Außenwelt abgeschottet, sondern auch vor demokratischer Willensbildung beschützt werden. Denn unterschiedliche Parteien, Meinungen und Weltbilder könnten das fein ausgerechnete, perfekte System aus dem Gleichgewicht bringen.

Und diese Tendenz zeigt sich auch in den Geschichten über den idealen Staat. So gibt es in der Utopia keine Sprachen, Sitten oder Gesetze, die sich voneinander unterscheiden. Alle Städte sind gleich angelegt, alle Acker gleich verteilt und alle Häuser gleich gebaut. Je nach Handwerk tragen die Utopier dieselbe Kleidung, gehen denselben Freizeitbeschäftigungen nach oder werden vom Staat wie Spielfiguren von der einen Familie in die andere, von der Stadt aufs Land oder von der Insel auf Kolonien ins Festland verschoben.

Der Staat kontrolliert also alles: die Demografie, die Wirtschaft, Sitten und Bräuche, die vorherrschende Moral, ja sogar die Sexualität und die Partnerwahl der Bürger. Und obwohl sich die Utopier mit ihrer fortschrittlichen Moral schmücken, zeigen sie kein Erbarmen, wenn Einzelne gegen die Gesetze verstoßen. So werden Gesetzesbrecher in der Utopia entweder versklavt oder mit dem Tod bestraft.

Nun mag man an dieser Stelle zu Recht einwenden, dass sich das vormoderne Bewusstsein der Frühen Neuzeit an einer anderen Auffassung von Humanität orientiert, da sich der Mensch erst im Zuge der Aufklärung als gesellschaftliches Individuum begreifen kann. Der Absolutismus galt zu dieser Zeit – angesichts der zersplitterten Territorialstaaten und der Feudalherrschaft – als politische Errungenschaft. Vor diesem historischen Hintergrund mutet die oben beschriebene Politik der »Utopia« tatsächlich modern an.

Mir geht es aber um einen allgemeinen Wesenszug der Utopie: darum, dass aus dem utopischen Denken zwangsläufig eine Monokultur resultiert, in der es keine Demokratie, Freiheit und Vielfalt geben kann. Denn der perfekte Ort kann nur dann perfekt bleiben, wenn alles auf ewig genau so bleibt, wie es ist: vermeintlich »perfekt«.

So schön die Utopie in unseren Träumen, in Literatur, Kunst und Musik also aussieht, so innovativ und modern die Vision einer perfekten Welt daherkommen mag – eines ist leider immer sicher: Würde man die Utopie in die Realität umsetzten, würde unsere Gesellschaft sofort in die Knechtschaft führen. Genauer: in eine gleichgeschaltete Gesellschaft, in der es keine politische Vielfalt und keine Freiheit für den Einzelnen geben kann.

»Narrativ«, »Diskurs« und »dekonstruieren« – alles nur harmlose Trends?

Vielleicht sind Sie in letzter Zeit beim Fernsehen, Zeitunglesen oder bei Diskussionen über folgende Begriffe gestolpert: »Narrativ«, »Diskurs«, »konstruiert« und »dekonstruiert«. Der Fraktionsvorsitzende der Thüringer CDU, Mike Mohring, erzählte etwa im Sommer 2019, dass man »das Narrativ, die AfD sei im Osten überall vorn, in Thüringen durchbrochen«1 hätte. In Zeitungsartikeln ist häufig von »sozial konstruierten Identitäten« die Rede oder davon, dass man rassistische Ideologien »dekonstruieren« solle.

Es ist fraglich, ob alle Menschen, die diese Wörter verwenden, tatsächlich wissen, was sie genau bedeuten. Der Verdacht liegt nahe, dass sich viele wie die Menschen verhalten, die sich gerne schicke Brillen mit Fensterglas auf die Nase setzen, obwohl sie keine Sehschwäche haben: Sie wollen besonders gebildet rüberkommen und ihren Aussagen Gewicht verleihen.

Und wie es so ist mit Trendwörtern: Man übernimmt sie relativ unreflektiert. Plötzlich spricht man nicht mehr von einer »Diskussion«, sondern von einem »Diskurs«, sagt nicht mehr »Argument«, sondern lieber »Narrativ«. Wenn etwas »entstanden ist«, kann man auch »konstruiert« sagen, oder man schafft etwas nicht ab, sondern »dekonstruiert« es. Das klingt erheblich schlauer.

Doch klären wir hier erst einmal, woher diese Begriffe kommen. In den 60er-Jahren gab es eine Gruppe von Philosophen, die sich Gedanken darüber machten, wie Macht in unserer Gesellschaft entsteht und wie sie unser Denken und Handeln beeinflusst. Diese Denker gehörten zu einer philosophischen Strömung, der Postmoderne.

Wie etwa der Franzosen Michel Foucault. »Macht ist überall«, ist einer seiner berühmtesten Sätze. Damit meinte er, dass Macht nicht nur durch den Staat ausgeführt wird, wenn er etwa Gesetze beschließt oder Straftäter ins Gefängnis sperrt. Macht ist also nicht etwas, was eine einzelne Person, eine Gruppe, eine Institution oder eine Klasse besitzt und dann auf andere ausübt. Vielmehr zeigt sich Macht in der Art und Weise, wie wir über Dinge sprechen: durch »Diskurse«. Oder stark vereinfacht: durch soziale Normen, die bestimmen, was »gut« und »schlecht«, was erlaubt oder was nicht erlaubt ist und was gesagt oder was nicht gesagt werden darf.

Diese Normen sind niemals absolut, sondern befinden sich im Wandel, behauptete Foucault. So wurde in Deutschland vor einiger Zeit die Homo-Ehe legalisiert, während Homosexualität zu Foucaults Zeiten noch illegal war und als Krankheit verteufelt wurde. Ähnliches gilt für die Rolle der Frau: Für unsere Großmütter gehörte es sich nicht, alleine zu leben, keine Familie zu haben, finanziell unabhängig zu sein oder eine Firma zu leiten. Frauen gehörten zu dieser Zeit an den Herd. Nur dieses Leben galt damals für eine Frau als »normal«, als ihre »natürliche« Bestimmung. Wer gegen solche Normen verstieß, wurde von der Gesellschaft moralisch gemaßregelt. Genau diese Entstehung von sozialen Regeln und das Abstrafen derjenigen, die sich nicht an diese Stereotypen anpassen, bedeutete für Foucault »Macht«.

Wichtig ist bei seiner Theorie aber eines: Die »Diskurse«, die entscheiden, was wir als »gut« und »schlecht« ansehen, werden niemals von einer Gruppe oder einzelnen Personen dominiert. Macht zeigt sich für den Franzosen in einem »System«, das von allen getragen wird. Alle Stereotype, die etwa über Frauen, Männer oder Homosexuelle kursieren, haben keinen Erfinder. Vielmehr entstehen sie einfach dadurch, dass einzelne Mitglieder einer Gesellschaft untereinander Wissen austauschen. Jeder kann also durch Diskurse Macht ausüben, Menschen aus der Norm ausgrenzen und entweder Täter oder Opfer sein.

Foucaults Fazit: Nicht nur die Normen sind ein Ergebnis von Machtverhältnissen – sondern auch das gesamte Wissen, das in einer Gesellschaft über Menschen kursiert. Das geht mit einer Konsequenz einher: der Absage an die objektive Wahrheit.

Ähnliches formulierte Foucaults Kollege, Jean-François Lyotard. Auch er behauptete, dass Wissen nicht als objektiv wahr gelten kann, weil es unter gewissen Machtkonstellationen und politischen Einflüssen entstanden ist. Die Wissensformen nannte Lyotard »Narrative« oder »große Erzählungen«, zu denen er etwa die Aufklärung zählte. Kurz: Auch ganze Denkströmungen und Wissenschaften wie die Schulmedizin oder die Physik verlieren im postmodernen Weltbild ihre Allgemeingültigkeit, weil auch sie nur eine »Konstruktion« historischer Machtausübung sind.

Diese radikale Infragestellung von Wahrheit, Realität, Normen und Wissen fand nicht zufällig in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt. Der Glaube an die menschliche Vernunft und das rational denkende Individuum war nach den Genoziden und den Gräueln der Nationalsozialisten und Stalinisten erschüttert. Die Postmoderne wurde deswegen nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Kunst von einer politischen Motivation angetrieben, die eigentlich einer radikal anarchistischen Logik folgt: Man wollte Autorität, Hierarchien, starre Strukturen, traditionelles Wissen und überholte Werte überwinden, indem man bekannte Erzählformen und Kunstgattungen, ja den gesamten Sinn und die Bedeutung von Sprache, Bildern und Wissen zerstörte. Das Ziel: Es sollte die absolute Freiheit der Kunst, der Ideen und des Individuums erreicht werden, indem man die komplette Sinnlosigkeit und das Chaos regieren ließ. Die meisten postmodernen Künstler und Philosophen waren also radikale Punks, die besonders mit einer Idee ein großes Problem hatten: der Idee der einen, absoluten Wahrheit.

Doch dann kam der Philosoph Jacques Derrida, sozusagen der Spielverderber unter den Postmodernen. Denn er brachte in den anarchischen Freiheitsgedanken wieder eine absolute Regel hinein: Er behauptete – stark vereinfacht –, dass es in einer Gesellschaft immer eine herrschende Gruppe gibt, die alle anderen Gruppen ausgrenzt und unterdrückt. Diese Unterdrücker-Gruppe ist so dominant, dass sich die Spuren ihrer Herrschaft über die vergangenen Jahrhunderte so sehr in der Sprache festgesetzt haben, dass wir die Wirklichkeit überhaupt nicht mehr erkennen können. Diese Machtverhältnisse in der Sprache kontrollieren somit alles: die Rituale, die Gesetze, die Moral, die Wissenschaften, Kunst, Literatur, Musik, die Ästhetik, die Politik, also die gesamte Realität, in der wir leben.

Manche postmoderne Philosophen, allen voran Derrida, gaben aber den Glauben an die Erkennbarkeit der Realität nicht auf und erfanden eine spezielle Methode, mit der man sich von dem Einfluss der Herrschenden befreien kann: die Dekonstruktion. Diese Methode ist so etwas wie eine Spurensuche. Ihr Motto: Wir müssen erst die »Diskurse« entlarven, also herausfinden, wer in der Gesellschaft Sprache, Normen und Alltagshandlungen dominiert, um danach die »wahre Bedeutung« der Dinge von dieser Herrschaft freizuschaufeln.

Die Dekonstruktion von Sprache, Wissen und Normen kann durchaus eine Methode sein, um die Auswirkung von Macht während der vergangenen Jahrhunderte zu durchleuchten. Wieso hat sich etwa die männliche Form als generisches Maskulinum durchgesetzt und nicht die weibliche? Wieso spricht man aufwertend davon, »seinen Mann zu stehen«, aber abwertend von »Milchmädchenrechnung«? Wieso gab es während der vergangenen Jahrhunderte so gut wie keine berühmten Bücher, Kompositionen oder Kunstwerke von Frauen? Wieso ist es selbstverständlich, dass Frauen bei der Heirat den Nachnamen ihres Mannes annehmen und nicht umgekehrt?

Das alles sind wichtige Fragen, mit denen sich in den 60ern und 70ern feministische Philosophinnen wie Hélène Cixous oder Julia Kristeva beschäftigten. Sie alle bezogen sich auf postmoderne Philosophen, hielten aber einen wichtigen Grundsatz ein: Sie betrieben Wissenschaft. Das heißt, sie analysierten die Gesellschaft und arbeiteten dabei mit Begriffen, Ansätzen und Methoden der Postmoderne – die sich in ihrem theoretischen und politischen Kern aber vehement gegen jede absolute Wahrheit stellt.

Die Social-Justice-Warriors

In den 90er-Jahren fingen jedoch einzelne Wissenschaftler in den USA an, Teile der postmodernen Theorien in die Praxis umzusetzen. Ihnen ging es nicht mehr darum, die Gesellschaft nur zu »dekonstruieren« und sie so zu beschreiben. Sie wollten die Gesellschaft auch verändern, um die Machtgefälle in ihr zu zerstören und soziale Gerechtigkeit herzustellen. Und das geschieht, indem sie kontrollieren, was gemäß der postmodernen Theorien für soziale Ungleichheit verantwortlich ist: die Diskurse2. Also die Produktion von Wissen, die Sprache, die Normen und Alltagshandlungen einer Gesellschaft.

An den amerikanischen Unis entstanden seitdem ganze Forschungszweige, die sich der Durchsetzung der »Social Justice« – der sozialen Gerechtigkeit – verpflichtet haben. Zu diesen zählen bis heute mehrere Disziplinen, wie die »Gender Studies«, »Postcolonial Studies«, »Cultural Studies«, »Queer Studies«, »Fat Studies« oder einzelne Ansätze wie die »Critical Race Theory«, die »Critical Whiteness«, »White Privilege«, »White Fragility« oder die »Intersektionalität«. Im Zentrum dieser neuen Disziplinen steht nicht mehr der Anspruch, aufzuzeigen, wie die Welt ist, sondern wie die Welt zu sein hat. Diese »Social-Justice-Disziplinen« haben nichts mehr mit klassischer Wissenschaft zu tun. Vielmehr wurde hier aus einzelnen Bausteinen der Postmoderne eine neue Theorie gebastelt, die dann in Politik und Gesellschaft als absolute Wahrheit gelten soll.

Die Vertreter dieser Ansätze werden in den USA auch »Social-Justice-Warriors«, also Krieger für soziale Gerechtigkeit genannt, wobei der Begriff »Social Justice« nichts mehr mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zu tun hat, die ab den 50er-Jahren für die Rechte von Schwarzen, Frauen und Homosexuellen kämpfte. Vielmehr bekam der Begriff in den 2010er-Jahren eine neue Bedeutung, weil Aktivisten an den amerikanischen Unis immer aggressivere Methoden anwandten, um ihre Theorien in die Praxis umzusetzen. So wurden Veranstaltungen mit unbeliebten Rednern gesprengt, Kritiker niedergebrüllt, Events organisiert, bei denen man Menschen nach Hautfarbe trennte oder Professoren als Menschenfeinde diffamierte und deren Entlassung forderte345, wenn sie sich gegen die Theorien und Methoden dieser »Krieger« aussprachen.

Auch bei uns ist dieser in erster Linie akademische Trend angekommen. Es gibt heute mehrere Universitäten in Deutschland, die das Fach »Gender Studies« oder Geschlechterstudien anbieten. Aber auch in den Geisteswissenschaften, der Soziologie und der Pädagogik werden Theorien aus dem Social-Justice-Bereich gerade als besonders innovativer Trend aus den USA gefeiert. Viele glauben, dass man mit Hilfe dieser neuen Theorien eine ganz neue Wissenschaft betreiben könne, die sich aktiv gegen Rassismus, Ausgrenzung und Diskriminierung stellt. Und mehr noch: Die Aktivisten sind überzeugt, dass sie unsere Gesellschaft mit ihren Theorien in eine Utopie verwandeln können, in der kein Mensch mehr ausgegrenzt oder diskriminiert wird.

Besonders nach dem schrecklichen Tod von George Floyd waren in allen Medien immer wieder die Ansätze aus diesen Social-Justice-Disziplinen präsent. Es war und ist von »rassistischen Strukturen« die Rede, von »weißen Privilegien«, einer »weißen Vorherrschaft«, von »Intersektionalität« und »Postkolonialismus«.

Und obwohl niemand weiß, woher diese Begriffen eigentlich kommen, klammern sich immer mehr staatliche Institutionen, Politiker, Mitarbeiter in Ministerien und Landesregierungen, Universitäten, Schulen, aber auch anerkannte Zeitungen und Medien an diesen Social-Justice-Ansätzen fest. Doch diese Ansätze haben nichts, was ich im Folgenden nachzuweisen versuche, mit Ergebnissen seriöser Wissenschaft zu tun, sondern fußen auf einer Ideologie, die sich Aktivisten aus einzelnen Theorien der Postmoderne zusammengereimt haben. Und sie werden von den Aktivisten so dogmatisch verfolgt, dass sich die gesamte Gesellschaft dieser Ideologie zu unterwerfen hat.

Der Grund dafür liegt in dem utopischen Versprechen, das mit den Social-Justice-Ansätzen einhergeht: Denn wie bei Morus und K. I. Z. glauben die Social-Justice-Warriors tatsächlich, die eine ultimative Ursache, die eine Unterdrückergruppe gefunden zu haben, die für das gesamte Leid in der Welt verantwortlich ist, die unsere Verhaltensweisen, unsere Kultur, unsere Sprache und unser Denken unbewusst kontrolliert und die man entmachten, moralisch abwerten und verteufeln muss, um die absolute Gerechtigkeit herzustellen: weiße heterosexuelle Männer.

Fehler in der Matrix: Es gibt keine Hautfarben

Vielleicht kennen Sie den Science-Fiction-Film »Matrix«. Das Szenario: In der Zukunft bricht ein Krieg zwischen Menschen und Maschinen aus, die von den Menschen selbst erschaffen wurden. Die künstliche Intelligenz gewinnt den Krieg und missbraucht daraufhin alle Menschen als lebendige Energiequelle. Um die Menschen ruhigzustellen, werden sie an ein Computerprogramm angeschlossen, das ihnen eine normale Welt vorgaukelt: die Matrix – ein ausgeklügeltes System der Knechtschaft, das Menschen daran hindert, die Realität zu erkennen. Quasi ein Gefängnis für den Verstand. Eine kleine Gruppe von Rebellen konnte sich aber aus dieser Lage befreien und versucht nun – zusammen mit Neo, »dem Auserwählten« –, die Matrix zu zerstören und die Menschheit somit aus der »falschen« Welt aufzuwecken.

Die Social-Justice-Warriors glauben, dass unsere Gesellschaft so wie die Matrix ist: ein ausbeuterisches, rassistisches System, an dessen Spitze die Herrschaft des weißen Mannes steht und das so wirkmächtig und ausgeklügelt ist, dass es selbst die tiefsten Ebenen unseres Verstandes manipuliert. Denn »der Westen« habe in der Vergangenheit nicht nur die Gräuel des Kolonialismus zu verantworten, sondern auch die Unterdrückung der Frau. Die ganzen Stereotype, Vorurteile, aber auch die Gewalt, mit der während der letzten Jahrhunderte Schwarze, Frauen, Homosexuelle und Queers ausgegrenzt und unterdrückt wurden, seien aber mit der Zeit nicht verschwunden, sondern lebten bis heute in der Gesellschaft als postmoderne Diskurse weiter. Das bedeutet: Die Herrschaft des weißen Mannes ist tief in unserer Sprache, in unserem Denken, in unserer Kultur verankert.

Alle Menschen, so glauben die Social-Justice-Warriors, werden von dieser rassistischen Matrix geknechtet. Und nur die Aktivisten wissen, wie dieses System funktioniert. Nur sie wissen – weil sie sich an der Uni mit den »richtigen« Theorien beschäftigt haben –, was in der Gesellschaft schiefläuft, und sind in der Lage, ihre Mitmenschen aus der mörderischen Knechtschaft zu befreien. In der USA hat sich für diese Geisteshaltung sogar ein spezielles Wort etabliert: »woke«. Das bedeutet, dass Menschen, die die Matrix erkannt haben, nun buchstäblich »erwacht« sind.

Um eine gerechtere Welt zu erreichen, muss also die Herrschaft des weißen Mannes den Menschen zunächst bewusst gemacht werden, um sie dann ein für alle Mal aus den Köpfen der »Geknechteten« und somit aus unserer Kultur zu verbannen.

Allerdings ist die Matrix, die von den Social-Justice-Warriors heraufbeschworen wird, voller Fehler und Widersprüche. Um einen Eindruck davon zu bekommen, reicht ein Blick in ein paar Bücher, die in der letzten Zeit als Bestseller in Sachen Antirassismus gefeiert wurden.

»Wir sind in einer Welt aufgewachsen, der seit über dreihundert Jahren Rassismus tief in den Knochen steckt. So tief, dass es keinen Raum gibt, in dem er nicht zu finden ist. Und einfach nur dadurch, dass Du in dieser Welt lebst, wurdest Du Teil dieses Systems«6, schreibt etwa die Antirassismus-Expertin Tupoka Ogette in ihrem Buch »Exit Racism«. Und: »Du bist rassistisch sozialisiert worden. So, wie viele Generationen vor Dir, seit über dreihundert Jahren«7.

Auch Alice Hasters erzählt in ihrem Buch »Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten« von einem »System«8, ja von einer ganzen »Weltordnung«, die nur eine Logik kennt: »Weiße ganz oben, Schwarze ganz unten.«9