Scham - Micha Hilgers - E-Book

Scham E-Book

Micha Hilgers

4,8

Beschreibung

Shame is a feeling that occurs daily and is always embarrassing but never harmful. A moderate feeling of shame can lead to better performance, development of autonomy and self-criticism. Only traumatic and chronic feeling of shame has a devastating effect: violence, self-damaging behaviour, addiction or suicide, withdrawal or destructive actions in psychotherapeutic therapy can be the consequences of chronic shame.In the 3rd revised and extended edition Micha Hilgers depicts the dynamics of shame conflicts in everyday life and during the treatment of psychotic and somatic disorders. Different types of shame (existential shame, falling short of the values of an ego-ideal and competence shame) are put into a comprehensive theoretical concept. Furthermore, possible verbal interventions in therapeutic settings are introduced. Healthy feelings of shame are considered and results of neuroscience are integrated into the concept. Several examples from medicine and psychotherapy illustrate the text and give practical guidance.In terms of social policy shame is discussed in connection with violence in family settings, migration, anti-social behaviour, right-wing extremism and the role of shame and shamelessness in modern media.

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Seitenzahl: 567

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Meinen Söhnen Leon und Lukas

Micha Hilgers

Scham

Gesichter eines Affekts

Mit einer Tabelle

4., erweiterte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-525-46251-5ISBN 978-3-647-46251-6 (E-Book)

Umschlagabbildung: Eric Peters, Ling-Tao (II), 2005Öl- und Wasserfarben auf Papierhybrid, 65 x 47 cm

© 2012, 2006, 1996 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.Printed in Germany.

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenDruck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort zur vierten Auflage

Vorwort zur dritten Auflage

Einleitung oder »Das Fischgesicht«

Phänomenologische Aspekte von Scham

Der soziale Aspekt der Scham

Die Gruppe der Schamaffekte

Rollenkonflikte

Historische Gründe für das Fehlen einer Theorie der Schamaffekte

Biologische und wissenschaftstheoretische Grundlagen affektiven Erlebens

Modelle menschlichen Verhaltens und Erlebens in den Humanwissenschaften

Biologische Befunde affektiven Erlebens

Psychotherapie und neuronale Plastizität

Scham im klinischen Alltag

Probatorische Sitzungen, Indikation und Behandlungsbeginn

Schamkonflikte in Erstkontakten

Vorbereitung, Aufklärung und Transparenz

Indikation

Risiken und Nebenwirkungen

Die Rolle der Angehörigen

Schamaffekte bei einzelnen psychischen Störungen

Sekundäre Scham bei schweren Störungen

Soziale Phobie

Körperdysmorphe Störung (Dysmorphophobie)

Derealisations-, Depersonalisationserscheinungen und Grimassieren

Schizophrenie

Zwangsstörungen

Suizidale Syndrome

Hypochondrische Ängste

Depression

Borderline-Störungen

Gegenübertragungsscham bei der Behandlung von Borderline-Patienten

Essstörungen

Hysterischer Modus

Posttraumatische Belastungsstörung

Psychophobische Haltungen

Schamkonflikte bei somatischen Erkrankungen

Besondere Schamkonflikte bei Krebspatienten

Schamreduzierende Behandlungsgesichtspunkte bei Krebspatienten

Schamkonflikte im Alter und bei Demenz

Schamkonflikte bei stationären Behandlungen

Technischer Umgang mit Schamkonflikten

Psychotherapeutische Behandlung als dosierte Abfolge maßvoller Schamerlebnisse

Setting: Couch oder Sitzen?

Negative therapeutische Reaktion als Folge von Schamkonflikten

Iatrogene Schamquellen

Antwort oder Spiegel?

Zuspätkommen und Nichtbezahlen

Müdigkeitsreaktionen des Therapeuten

Sexualisierung und erotische Übertragungsbeziehungen

Das Geschenk in der Psychotherapie

Schamkonflikte und körpertherapeutische Verfahren in der Psychoanalyse

Typische Schamszenen in der Gegenübertragung

Schamkonflikte bei stationärer und ambulanter Gruppenpsychotherapie

Unterschiedliche Schamaffekte in einer Gruppe

Unterschiedliche Gruppensettings und ihre Indikation

Offene Gruppen

Halboffene Gruppen

Geschlossene Gruppen

Indikation bei Patienten mit ausgeprägten Schamkonflikten und Minderwertigkeitsgefühlen

Typische Schamkonflikte in einer Gruppentherapie

Schamreduzierende Rahmenbedingungen, Technik und Therapeutenvariable

Technische Überlegungen zur Handhabung von Schamkonflikten zu Beginn der Gruppenbehandlung

Schamkonflikte im weiteren Verlauf einer Gruppenpsychotherapie

Spaltung und projektive Identifikation bei Schamkonflikten in Gruppentherapien

Schamkonflikte bei Beendigung einer gruppenpsychotherapeutischen Behandlung

Spezielle Schamkonflikte bei stationären Gruppenbehandlungen

Überlegungen zur Prognose und zu Behandlungszielen

Spezielle Schamkonflikte in Ausbildungs- und Supervisionsgruppen

Schamkonflikte in Supervisionsgruppen

Supervision im Team

Supervision in einer zufällig zusammengesetzten Gruppe

Scham und Dissozialität

Antisoziale Persönlichkeiten in verschiedenen Behandlungssettings

Exhibitionismus als Abwehr gegen Scham

Sadistisch-sexuelle Handlungen als Demütigung

Spezielle Gegenübertragungsreaktionen bei dissozialen Patienten

Entwicklungspsychologische und familiendynamische Aspekte von Schamkonflikten

Entwicklungspsychologische Aspekte von Scham und Schamkonflikten

Säuglings- und Affektforschung

Neugierde und Kompetenzerfahrungen gegenüber Scham und Zweifel

Scham, Narzissmus und soziale Interaktion

Entwicklung von Verlegenheit und Scham

Scham und Identitätsentwicklung

Scham und sexuelle Intimität

Scham und familiäre Gewalt

Transkulturelle und gesellschaftspolitische Aspekte von Scham

Scham und Innovation

Die Elias-Duerr-Kontroverse – Scham, Zivilisation und kulturelle Differenzen

Migration und Scham

Die infrarote Schamlosigkeit – Der Umgang mit Scham in den elektronischen Medien

Exhibition und Voyeurismus

»Fremdscham« und die Veränderung von Schamquellen

Ressentiments, Scham und rechte Gewalt

Dank

Literatur

Index

Erste Rosen erwachen,und ihr Duften ist zagwie ein leisleises Lachen;flüchtig mit schwalbenflachenFlügeln streift es den Tag;

Und wohin du langst,da ist alles noch Angst.

Jeder Schimmer ist scheu,und kein Klang ist noch zahm,und die Nacht ist zu neu,und die Schönheit ist Scham.

Rainer Maria Rilke

 

Vorwort zur vierten Auflage

Wer um Himmels Willen liest eigentlich mehrere Vorworte nacheinander? Sie, liebe Leserinnen und Leser, wahrscheinlich nicht und ich auch nicht.

Also, was ist neu oder ergänzt? Ich habe ein ausführliches Kapitel über soziale Phobie eingefügt. Diese Thematik hatte ich bisher eigentümlicherweise gar nicht so sehr vor Augen. Vielleicht, weil ich bis zum Erscheinen der dritten Auflage des Buches nur recht wenige Patienten mit ausgeprägten sozialen Ängsten gesehen hatte und erst in den letzten Jahren in Supervisionen vorgestellt bekam. Und – thematisch passend – ich stellte mit Verlegenheit fest, dass mir so etwas Wesentliches bisher entgangen war, da die soziale Phobie eine sehr häufige psychische Erkrankung ist.

Das Eingestehen von Fehlern, Irrtümern oder Unterlassungen gehört leider nicht zu den vornehmlichsten Eigenschaften von uns Psychotherapeuten. Obwohl wir, würden wir mehr über scheiternde Behandlungen miteinander sprechen, bestimmt sehr viel mehr lernen würden, als wenn wir bei einschlägigen Tagungen nur andachtsvoll staunend jenen lauschen, denen offenbar alles gelingt. Vielleicht wäre überhaupt ein Reader ausschließlich über misslingende Behandlungen oder unbefriedigend verlaufende probatorische Stunden ein befreiendes Vorhaben. Wir brauchen mehr Mut, uns auch mit peinlichen Behandlungsvignetten zu zeigen. Tatsächlich ist mir in der dritten Auflage ein »dicker Hund« im Kapitel über Dissozialität unterlaufen: Statt zu betonen, dass man sich bei der Diagnostik ausschließlich auf die aktuelle Symptomatologie und Kriminalanamnese konzentrieren sollte, betonte ich umgekehrt die Rolle der Ätiologie. Genau das aber führt dazu, dass Dissozialität häufig nicht erkannt oder als Borderline- oder narzisstische Störung fehldiagnostiziert wird. Ich bitte die Leser um Nachsicht.

Ein Abschnitt über Essstörungen ist neu hinzugekommen und ein weiterer über so genannte Fremdscham. Als ich dieses Buch erstmals schrieb, kannte kein Mensch den Ausdruck »Fremdscham«. Man fand einfach eine Situation oder einen darin Beteiligten peinlich. Vor ein paar Jahren rief mich eine Journalistin eines Privatsenders an, um sich aufgeregt zu erkundigen, ob ich in ihrer Sendung etwas zu Fremdscham sagen könne. Ich gebe zu, dass ich etwas entnervt zurückfragte, was denn nach ihrer Meinung eigentlich Fremdscham sei und ob man sich nicht immer selbst schäme. Die Dame stellte augenblicklich fest, dass sie da noch einen anderen kompetenten Gesprächspartner auf ihrer Liste habe. Mir blieb die Unsicherheit, ob ich mich mit meiner Frage nicht ordentlich blamiert hatte. Immerhin hatte die Journalistin offenbar einen guten Riecher gehabt, denn schon bald erwies sich, dass Fremdscham Einzug in den allgemeinen Sprachgebrauch hielt.

Zweifel an meinem etwas verbohrten, antiquierten Festhalten an dem alleinigen Begriff der Peinlichkeit kamen mir jedoch angesichts der Schamlosigkeit, mit der sich der ehemalige Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg angesichts seiner Plagiatsaffäre um seine Doktorarbeit verhielt. Den Ausschlag, einen Abschnitt über Fremdscham einzufügen, gab mein zunächst fast grenzenloses Erstaunen über die selbstgefälligen und damit peinlichen Auftritte des nach quälenden Wochen endlich zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff. Ob der Begriff »Fremdscham« gegenüber jenem der »Peinlichkeit« jedoch den entscheidenden Erkenntnisvorteil birgt, bezweifele ich weiterhin.

Nach wie vor fehlen Bemerkungen über Stottern, das regelmäßig Fremdschämen auslöst, ebenso wie der Umgang mit komplexen Behinderungen. Hier fehlen mir die konkreten Erfahrungen als Behandler oder Supervisor. Gerade erst beginne ich Erfahrungen bei der Rehabilitation psychisch Kranker in das Berufsleben zu sammeln.

Ich bin weiterhin dankbar für Hinweise, was ich alles nicht berücksichtigt habe. Einerseits. Andererseits erscheint mir das Thema Scham immer komplexer und nicht mehr in einem einzigen Buch zu bewältigen. Ich versuche daher im Wesentlichen Verständnis zu wecken für das komplexe Beziehungsgeschehen von Schamkonflikten innerhalb und außerhalb von Therapie und dabei Anregungen für Handlungskompetenz zu liefern.

Micha Hilgers

Vorwort zur dritten Auflage

Unmittelbar vor Fertigstellung der Überarbeitung dieses Buches traf ich unverhofft alte Freunde auf der Straße. Auf ihre Frage, was ich denn so mache, entgegnete ich, ich sei mit dem Abschluss eines Buches über Scham beschäftigt. Sofort fiel ihnen eine Vielzahl von Themen ein. Zu meinem Entsetzen auch solche, die ich nicht oder kaum bearbeitet hatte. Etwas verlegen antwortete ich, ich wolle ja auch kein Konvolut über Scham verfassen, ging dann aber doch mit einem etwas unkomfortablen Gefühl nach Hause: Fehlten nicht wesentliche Themenkomplexe? Recht lebendig und spontan hatten sie von einem Besucher aus den USA berichtet, der sich weigerte, mit ihnen in die Sauna zu gehen. Von da kamen wir auf Nationalstolz zu sprechen und die großen Unterschiede zwischen zum Beispiel Deutschen, Amerikanern oder Franzosen. Hatte ich das nicht viel zu knapp abgehandelt? Und was ist mit Opfern von Folter oder realem Inzest? Müsste ich diese Themen nicht viel grundsätzlicher – eventuell in einem ganzen Kapitel – behandeln?

Eine Stimme in mir sagte, Micha, das ist Scham. Stimmt, dachte ich. Ein Buch abzuschließen, eine Examensarbeit abzugeben oder auch einen Brief an einen geliebten Menschen abzuschicken, konfrontiert sofort mit der Frage, was alles fehlt, was man noch hätte sagen oder schreiben sollen. Man hat sich in seiner Unvollständigkeit und Unvollkommenheit gezeigt. Ein gemeinsamer Abend ist zu Ende gegangen und es wurde nicht alles gesagt. Man trennt sich auf dem Bahnsteig oder am Flughafen für längere Zeit, und es wäre noch so viel zu sagen gewesen. Doch eben darum ist der andere weiter präsent, auch wenn er nicht da ist. Wir beschäftigen uns mit ihm und den Dingen, die wir teilten und mit denen wir nicht fertig sind. Wenn wir mit jemanden »fertig« sind, dann verliert der andere seinen Zauber.

Ich bin mit diesem Buch nicht »fertig« geworden. Aber vielleicht ist dies ja gar kein Mangel. Der Reichtum des Themas, seine Facettenvielfalt und oft auch seine Uneindeutigkeit bereichern mich, auch und gerade, wenn ich bemerke, was alles noch hätte geschrieben werden können. Darin liegt auch ein Teil der positiven und kreativen Bedeutung von Scham – jedenfalls, solange man sie erträgt: Anerkenntnis und Akzeptanz eigener Grenzen öffnen die Tür für neue Entdeckungen und den faszinierenden Reichtum, den Themen wie dieses bieten, oder ganz einfach den Zauber, der von dem immer auch unbekannt bleibenden anderen ausgeht.

Ich wünsche mir und Ihnen, den Leserinnen und Lesern, dass es Ihnen mit dem Thema dieses Buches ebenso geht. Wenn Sie bemerken, was Ihnen – wie meinen Freunden auf der Straße – noch einfällt und wo Scham eine Rolle spielt, hat das Buch seinen eigentlichen Zweck erfüllt.

Micha Hilgers

Einleitung oder »Das Fischgesicht«

Als ich einmal mit meinem damals fünfjährigen Sohn über sein gelegentliches Beleidigtsein sprach, meinte er etwas verschmitzt: »Wenn ich beleidigt bin, mache ich ein Fischgesicht.« Tatsächlich: Die Ausdruckslosigkeit des Fischgesichts (das Fehlen des Facialis-Gesichtsnervs bei Fischen ist der Grund für die Unmöglichkeit mimischen Ausdrucks) ist eine treffende Beschreibung für den Versuch, einfach nicht mehr dazusein, nicht mehr zu kommunizieren und keinerlei mimische Information über das eigene Innenleben geben zu wollen. Wer sich schämt oder »beleidigt« ist, will sich verbergen, womöglich im Erdboden versinken und sich den Blicken entziehen. Dieses Verschwindenwollen und das Verbergen eigenen Gefühls- und Innenlebens charakterisiert zahlreiche schamvolle Erlebnisse. Das »Fischgesicht«, die mimische Ausdruckslosigkeit als Mittel der Verteidigung gegen peinliches Gesehenwerden ist jedoch bereits eine Reaktion auf Schamempfinden. Die gewitzte Antwort hat bereits Mittel zum Inhalt, sich der ärgsten Nöte des Schamerlebnisses zu erwehren, nämlich des wehrlosen Ausgeliefertseins an die Blicke der anderen und damit der Preisgabe intimer Geheimnisse. Scham ist ein Gefühl, welches zumeist nur in der Verhüllung, der Maskierung erscheint, selten jedoch offen und unverkleidet. Dieses Verbergen bezieht sich allerdings nicht bloß auf umstehende Teilhaber der Schamszene, sondern mindestens ebensosehr auf den eigenen, den inneren Blick. Das »Fischsein« signalisiert nach außen das Incommunicado, wie es nach innen den Versuch darstellt, nicht zu fühlen und nicht zu wissen: So gibt es keine peinlichen Blicke, weder von anderen noch seitens des inneren Auges. Deshalb tritt Scham in so vielen Gestalten oder Masken (Wurmser 1990a) auf.

Schüchternheit oder Kränkung können unmittelbarer Ausdruck von Scham sein, wie Arroganz, sozialer Rückzug oder die Flucht in Suchtmittel und Gewalttätigkeit Formen ihrer Abwehr sein mögen. Erröten und das Senken von Blick und Haupt können ebensogut Anzeichen von Schamgefühlen sein wie der gegenteilige Ausdruck, nämlich das Vorschieben von Kinn und das Zurückwerfen des Kopfes: »Mir macht das nichts aus, mich triffst du nicht«, scheint der Betreffende zu sagen. Schamgefühle begleiten den Menschen von frühester Kindheit an – und verlassen ihn nicht mehr. Bis ins hohe Alter hinein stimulieren schmerzliche oder sanfte Schamgefühle die Regulation des Selbstwertgefühls, ob mit negativem Ausgang, etwa indem auf Scham Gewalttaten folgen, oder in einem konstruktiven Sinn, wenn das Selbstbild der Realität angepasst wird und illusionäre Vorstellungen aufgegeben werden müssen. Deshalb ist auch keine Psychotherapie und erst recht kein aufdeckendes Verfahren ohne Schamgefühle vorstellbar. Die Fähigkeit, mittels Scham zu einem Anreiz zu kommen, eigenes Verhalten, Erleben und Denken zu modifizieren, ist Voraussetzung gelingender Psychotherapie.

Die beiden ersten Hypothesen dieses Buches lauten daher auch: Scham ist weder ein primär pathologisches Gefühl, noch ist Scham an eine bestimmte Lebensphase gebunden – weder entwicklungspsychologisch hinsichtlich seiner Entstehung noch hinsichtlich seiner Auslöser. Vielmehr kennt jede Altersstufe – teilweise spezifische – Schamkonflikte, ohne dass etwa ihre Vorläufer unwirksam würden. Parallel zur Entwicklung des Selbstsystems empfinden wir Scham – als Säugling, wenn erste Kontaktwünsche unbeantwortet bleiben oder umgekehrt, wenn das Bedürfnis, in Ruhe gelassen zu werden, missachtet wird; als Kinder und Erwachsene gegenüber unerreichten Idealen, Vorstellungen und Wünschen; schließlich als alte Menschen angesichts des neuerlichen Verlustes eigener Autonomie und der zurückgehenden Beherrschung von Körperfunktionen; auch als Mitglieder einer Kultur, deren Unvollkommenheit zahlreiche destruktive und gewaltsame Konflikte eigen sind: Angesichts der Opfer von Gewalt – seien es Leidtragende kriegerischer Auseinandersetzungen, von Folter oder Fremdenfeindlichkeit – entsteht Scham (neben Schuld) bei jenen, die all das nicht haben verhindern können und sich als mitverantwortlich erleben. Keine menschliche Entwicklung ist ohne begleitende und regulierende Gefühle von Scham und Stolz denkbar. Für jede Psychotherapie kommt es daher auf einen angemessenen Umgang mit Schamkonflikten an – bei Strafe von Abbruch, schwerem Agieren oder Suizid.

Weil es entwicklungspsychologisch keine »Schamphase« gibt und keinen Selbstzustand, der spezifisch für Scham verantwortlich zu machen wäre, gibt es auch nicht das Schamgefühl schlechthin.

Die dritte These dieses Buches lautet, dass es eine Reihe von unterschiedlichen Affekten gibt, die sich zur Familie der Schamgefühle zählen lassen: Verlegenheit, Schüchternheit, Scham angesichts abbrechender Kompetenz, Abhängigkeitsscham, Intimitätsscham, Scham als ausgeschlossener Dritter (ödipale Scham), Scham gegenüber der Diskrepanz zwischen einem (Selbst-)Ideal und dem Istzustand. Schließlich entstehen Schamgefühle in Zusammenhang mit empfundener Schuldhaftigkeit, was sich oftmals unauflösbar zu einer Scham-Schuld-Spirale entwickelt, und Scham kann auch infolge von Demütigung und Erniedrigung auftreten.

Scham ist also zunächst kein pathologisches Gefühl, sondern gegenteilig ein wichtiger Regulationsmechanismus des Selbst wie auch der Beziehungen zwischen dem Selbst und den anderen. Schamgefühle fordern dazu heraus, Selbstkonzepte wie auch Konzepte von anderen und umgebender Realität zu überprüfen. Erst ihre überwältigende Qualität – wenn Schamaffekte das Ich überschwemmen – führt zu destruktiven Entwicklungen: Größengefühle als Abwehr von Scham, Gewalt, Suchtmittelmissbrauch oder depressive Verstimmungen mit extremer Verletzbarkeit sind Beispiele solcher pathologischer Konsequenzen. Wenn Scham aber primär kein pathologischer Affekt ist und sich das Selbstsystem demnach auch lebenslang mit Schamgefühlen auseinander zu setzen hat, so gibt es auch keine ausgesprochenen Schamkrankheiten. Die vierte Hypothese dieses Buches unterstellt, dass Schamgefühle – oder ihre Abwesenheit – bei allen psychischen und wohl auch in den meisten körperlichen Erkrankungen eine Rolle spielen. Wegen der Prominenz der Schamgefühle bei der sozialen Phobie ist diesem Störungsbild ein besonderer Abschnitt gewidmet, der der vorliegenden 4. Auflage hinzugefügt wurde.

Welche Bedeutung Scham in einer psychischen Störung hat, insbesondere welche Gefühle aus der Gruppe der Schamaffekte eventuell über- oder unterrepräsentiert sind, untersucht der Hauptteil des Buches an zahlreichen praktischen Beispielen. Zugleich werden jeweils technische Überlegungen angestellt, wie mit Schamkonflikten in Therapien umgegangen werden kann. Dargestellt werden sowohl stationäre wie ambulante Behandlungssituationen in Einzel- und in Gruppensettings. Großer Raum wird auch schambesetzten Gegenübertragungsreaktionen von Therapeuten und Behandlungsteams gewidmet. Das »Fischgesicht« des Patienten mag tatsächlich zu einer ebensolchen Erstarrung auf Seiten des Therapeuten führen, häufig mit destruktiven Konsequenzen für die Therapie, besonders wenn Schamkonflikte auf beiden Seiten unerkannt bleiben. Hinsichtlich Indikation und Prognose kommt es auf die Verfügbarkeit und die Steuerbarkeit einzelner Schamaffekte an, die über Gelingen oder Scheitern mitentscheiden – bei Patient wie Therapeut.

Einzelnen Störungsbildern wird größerer Raum eingeräumt: Sozialphobische, dissoziale Patienten und Patienten mit Borderline-Störungen werden ausführlich behandelt. Ein längerer Abschnitt ist speziell den häufig so wenig beachteten Schamkonflikten im Alter gewidmet, ein Exkurs Schamgefühlen bei körperlichen Erkrankungen, ein Abschnitt den meines Erachtens problematischen Folgen der Kombination von Körpertherapie und Psychoanalyse. Die Dynamik von Schamkonflikten und familiärer Gewalt wird untersucht. Da Scham ein sozialer Affekt ist, der das Verhalten und Erleben von Menschen in Interaktion regelt (und sei es auch durch Rückzug oder gegenteilig lärmendes, kontraphobisches Verhalten), geht es immer auch um die Gegenübertragungsreaktionen von Therapeuten und Teams. Zahlreiche heftige Konflikte, oft mit dem Ausgang, dass ein Patient gehen »muss«, haben – zum Teil unerkannte – Schamkonflikte zwischen Behandlern und Patient zum Inhalt, ebenso wie negative therapeutische Reaktionen aus unerkannten Schamkonflikten entstehen können.

Schamkonflikte und die Frage der persönlichen Würde spielen auch in einem nichttherapeutischen, gesellschaftlichen Rahmen eine bedeutsame Rolle. Die Eskalation von Gewalt, zum Beispiel bei rechtsorientierten Jugendlichen, und Konflikte um Minderheiten werden von schweren Schamkonflikten auf Seiten aller Konfliktparteien begleitet. Die Beachtung von Scham oder hier der persönlichen Würde kann durchaus deeskalierend wirken. Ein weiterer Abschnitt geht auf die Missachtung von Intimitätsgrenzen durch das Zurschaustellen von Katastrophen- oder Gewaltopfern in den Medien ein.

Jedes Buch ist eine Reise. Manches, was anfangs klar und übersichtlich erschien, stellt sich während des Schreibens als komplexer und uneindeutiger heraus, als der Autor zu glauben hoffte. Der Erkenntnis, dass gemäß dem Thema vieles verhüllt bleibt und sich dem forschenden Blick entzieht, versuche ich Rechnung zu tragen, indem ich meine Vorstellungen über transkulturelle und gesellschaftsspezifische Scham in einem Schlusskapitel darlege. Als Reisebericht gewissermaßen, ohne dass die Reise selbst damit zu Ende wäre.

Phänomenologische Aspekte von Scham1

Schamszenen sind alltäglich: Der freundliche Gruß gegenüber einer sich plötzlich als fremd erweisenden Person, Verlegenheit angesichts großen Lobes, ungewolltes Erröten, das unerwiderte Liebesgeständnis oder die unfreiwillige Komik beim Ausrutschen, peinlich-enthüllende Versprecher oder Hänseleien. So häufig Scham ist, so verschiedenartig sind ihre Auslöser. Man schämt sich für eine wahrgenommene Schwäche, einen Fehler, einen Defekt, einen Makel, und zwar vor den realen oder den verinnerlichten anderen. Scham zeigt in diesem Fall eine Spannung zwischen Ich und Ideal an – im Gegensatz zur Schuld, die eine Spannung zwischen Ich und Über-Ich bezeichnet. Schuldgefühle beziehen sich auf die Verletzung des anderen, Schamgefühle auf die Verletzung des Selbst (Wurmser 1981, S. 15), was häufig verwechselt wird:

»So mancher persönliche oder soziale Konflikt wird unbefriedigend angepackt, da ein Schamproblem angegangen wird, als ob es ein Schuldproblem wäre …« (Wurmser 1987, S. 169). »Man wird sich also fragen, was ist es wirklich, dieses Gefühl von Scham? Es ist das Gefühl von Angst und Schmerz, das man empfindet, wenn man sich in irgendeiner Art von Schwäche, von Versagen oder Beschmutzung den Blicken eines anderen (oder dem ›inneren‹ Auge des eigenen Gewissens) preisgegeben sieht und die Antwort in Form von Missachtung, Entwertung oder Hohn erwartet oder fühlt« (Wurmser 1987, S. 170).

Bloßstellung, Schande oder Verletzung der Intimität gehen mit einer Herabsetzung des Selbstwertgefühls einher.

Doch kann Scham nicht nur eine Diskrepanz von Ich-Ideal und Ich signalisieren (Piers und Singer 1971), sondern auch entstehen, wenn intime Bereiche plötzlich und ohne eigene Kontrolle sichtbar werden. »Der sich Schämende nimmt an, dass er rundherum allen Augen ausgesetzt ist, er fühlt sich unsicher und befangen. Er ist den Blicken der Welt noch dazu höchst unvorbereitet ausgesetzt« (Erikson 1961/1982, S. 246 f.). Eventuell gewünschte Nähe, die jedoch wegen ihrer Intensität das Ich mit den damit verknüpften Affekten überschwemmt, löst Verlegenheitsreaktionen aus. Großes Lob kann milde Verlegenheit aber auch heftige Schamgefühle bewirken, obwohl erfreulicherweise gerade Ideal (was man zu sein wünschte) und Ich (wie man sich selbst und wie andere einen wahrnehmen) wenig diskrepant sind. Die entstehende sichtbare Freude bewirkt Verlegenheit oder kann sogar zur Flucht veranlassen.2

Ein Guck-Spiel mit einem Kleinkind kann den gleichen Effekt haben: Wenn nämlich das eigentlich gewünschte Gesehen- und Betrachtet-Werden zu heftige euphorische Gefühle auslöst und die Selbst- und Intimitätsgrenzen hierdurch in Gefahr geraten, sorgt die entstehende Verlegenheit oder Scham für deren Wiedereinsetzung und Schutz.

Plötzliches Sehen wie auch Gesehen-Werden hebt die Schranke zwischen den intimen Bereichen zweier Personen für einen Moment auf. Die dabei entstehenden Schamgefühle von Betrachter und Objekt sorgen für die Wiedereinsetzung der Grenze zwischen den Beteiligten.

Scham ist demnach keineswegs ein in seinen Auswirkungen vorrangig negativer oder pathologischer Affekt, obgleich das Erleben von Scham grundsätzlich negativen Charakter besitzt. Scham hütet aber auch die Selbst- und Intimitätsgrenzen, wie sie Ansporn für Leistung, Entwicklung und Autonomie darstellt. Denn das Gefühl, auf Lob und Anerkennung anderer, auf andere überhaupt allzu sehr angewiesen zu sein, ist Quelle für Abhängigkeitsscham – mit der Folge verstärkter Anstrengungen, sich mittels größerer Eigenständigkeit oder Kompetenzen aus beschämender Abhängigkeit zu befreien.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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