Schatten des Kaiserreichs - Eckart Conze - E-Book

Schatten des Kaiserreichs E-Book

Eckart Conze

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Beschreibung

150 Jahre Reichsgründung am 18. Januar 2021 Am 18. Januar 1871 wurde im Spiegelsaal von Versailles das Deutsche Kaiserreich proklamiert. Deutung und Erbe des damals gegründeten Nationalstaats sind heute umstritten. In welchem Verhältnis steht die Berliner Republik zum Reich Bismarcks und Wilhelms II.? Wie demokratisch war der nationale Staat? Hat sich Deutschland damals auf einen "Sonderweg" in die Moderne begeben? War in der Reichsgründung der Weg zum Ersten Weltkrieg bereits angelegt. Was verbindet 1871 und 1933, was Versailles und Auschwitz? Die Debatten über "Die Schlafwandler" und die Hohenzollern zeigen, dass der Schatten des Kaiserreichs bis in die Gegenwart reicht. Ein neuer Nationalismus taucht das vergangene Reich in ein rosiges Licht und versucht, ein kritisches Bild seiner Geschichte zu entsorgen. Doch die Reichsgründung war eine Revolution von oben, das Kaiserreich ein autoritärer nationaler Machtstaat. Die Bundesrepublik steht nicht in seiner Tradition. 150 Jahre nach der Reichsgründung verbindet das Buch Geschichte und Gegenwart, historische Analyse und geschichtspolitische Intervention. Eckart Conzes scharf gedachte und brillant formulierte Darstellung gibt Antworten auf politisch virulente Fragen, leuchtet die Hintergründe geschichtspolitischer Debatten aus und bezieht engagiert Stellung: »Es gibt nichts zu feiern. Das Reich von 1871, es ist vergangen. Das Deutschland der Gegenwart steht nicht in seiner Tradition.« Nicht zuletzt der Sturm des Reichstags vonDemonstranten mit Reichs- und Reichskriegsflaggen hat das Thema dieses Buches in den Mittelpunkt einer erbittert geführten öffentichen Debatte gerückt. "Die nationale Einheit 1871 wurde erzwungen, mit Eisen und Blut, nach Kriegen mit unseren Nachbarn, gestützt auf preußische Dominanz, auf Militarismus und Nationalismus. Ich selbst war erst vor wenigen Tagen im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden – ein große, eine gute Ausstellung – und von der Decke, in einer Ecke des Saales, hingen an langen Fäden zahllose Kinderbücher aus jener Zeit. In ihnen, kleine Jungen, die kaum über die Tischkante gucken konnten, aber bereits stolz die Soldatenuniform tragen und begeistert die Kriegstrommel schlagen. Diese Glorifizierung des militanten Nationalismus, diese Verherrlichung des Krieges, des Heldentodes, selbst von Kindesbeinen an, das war der unselige Geist der damaligen Epoche. Es war ein kurzer Weg von der Gründung des Kaiserreiches bis zur Katastrophe des Ersten Weltkrieges." Frank-Walter Steinmeier

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Über das Buch

Am 18. Januar 1871 wurde im Spiegelsaal von Versailles das Deutsche Kaiserreich proklamiert. Deutung und Erbe des damals gegründeten Nationalstaats sind heute umstritten. In welchem Verhältnis steht die Berliner Republik zum Reich Bismarcks und Wilhelms II.? Wie demokratisch war der nationale Staat? Hat sich Deutschland damals auf einen »Sonderweg« in die Moderne begeben? War in der Reichsgründung der Weg zum Ersten Weltkrieg bereits angelegt? Was verbindet 1871 und 1933, was Versailles und Auschwitz?

Die Debatten über »Die Schlafwandler« und die Hohenzollern zeigen, dass der Schatten des Kaiserreichs bis in die Gegenwart reicht. Ein neuer Nationalismus taucht das vergangene Reich in ein rosiges Licht und versucht, ein kritisches Bild seiner Geschichte zu entsorgen. Doch die Reichsgründung war eine Revolution von oben, das Kaiserreich ein autoritärer nationaler Machtstaat. Die Bundesrepublik steht nicht in seiner Tradition. 150 Jahre nach der Reichsgründung verbindet Eckart Conzes Buch Geschichte und Gegenwart, historische Analyse und geschichtspolitische Intervention.

Conzes scharf gedachte und brillant formulierte Darstellung gibt Antworten auf politisch virulente Fragen, leuchtet die Hintergründe geschichtspolitischer Debatten aus und bezieht engagiert Stellung: »Es gibt nichts zu feiern. Das Reich von 1871, es ist vergangen. Das Deutschland der Gegenwart steht nicht in seiner Tradition.«

 

 

 

 

Den Freunden in TorontoHelen Graham und James Retallack

EinleitungReichsgründung und Nationalstaat: In weiter Ferne, so nah

»Hohenzollernwetter« herrschte in Berlin, als am 2. September 1873 auf dem Königsplatz vor dem Palais Raczynski, das wenige Jahre später dem Reichstag weichen musste, die Siegessäule in Anwesenheit des Kaisers feierlich eingeweiht wurde. »Eine Sommersonne, so lachend und unverhüllt wie vor drei Jahren über dem weiten Blutfelde von Sedan, strahlte über dem Plan«, berichtete die Vossische Zeitung, »und ließ … die goldene, schöne Riesengestalt der Victoria-Borussia auf der Höhe der Säule in blendendem Glanze schimmern.«1 Die von dem Architekten und Oberhofbaurat Johann Heinrich Strack, einem Schinkel-Schüler, entworfene Säule war das erste Nationaldenkmal des am 18. Januar 1871 in Versailles proklamierten Deutschen Reiches. In der Säule selbst sowie dem Bildprogramm der monumentalen Reliefs am Denkmalsockel und des Glasmosaiks in der Säulenhalle spiegelte sich ein nationales Geschichtsbild. »In diesen Bildern«, so formulierte es die für das Denkmal zuständige Baukommission, »kann die Erinnerung an die Macht und den Glanz des ehemaligen Deutschen Reiches und zugleich die Notwendigkeit der gegenwärtigen staatlichen Entwicklung aus der Vergangenheit der deutschen Geschichte zur Anschauung gebracht werden.« Für Kaiser Wilhelm I. war das Monument, wie er in der Einweihungsansprache betonte, ein »Zeugnis der Taten der Armee«. Vergoldete Kanonen aus dem Deutsch-Dänischen Krieg von 1864, dem Preußisch-Österreichischen Krieg von 1866 und dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 schmückten die drei Trommeln der über fünfzig Meter hohen Säule. Auf ihr steht, fast neun Meter hoch, die von dem Berliner Bildhauer Friedrich Drake gegossene Siegesgöttin Viktoria mit dem Lorbeerkranz, die zugleich, am Adlerhelm und dem Feldzeichen mit dem Eisernen Kreuz unschwer zu erkennen, eine Borussia darstellt – die Kriegsgeburt des Deutschen Reiches als Triumph Preußens und seines Militärs.

»Das dankbare Vaterland dem siegreichen Heer« lautete 1873 die Inschrift am Sockel des Denkmals, nicht »König Wilhelm seinem siegreichen Volk«, wie ursprünglich vorgesehen. Auch dadurch brachte die Siegessäule den kleindeutsch-preußischen Bellizismus der Reichsgründungszeit zum Ausdruck. Soldaten aus den drei »Reichseinigungskriegen«, wie sie nun retrospektiv genannt wurden, gehörten zu den Ehrengästen bei der Einweihung und sogar einige greise Veteranen aus den Befreiungskriegen 1813/14. Auch der Kaiser erinnerte an die Kriege gegen das napoleonische Frankreich. Für das von Anton von Werner entworfene Mosaik in der Säulenhalle hatte er selbst das Thema vorgegeben, die »Rückwirkung des Kampfes gegen Frankreich auf die deutsche Einigung und die Schaffung des Deutschen Kaiserreiches«. Die Siegessäule feierte den deutschen Nationalstaat nicht als Werk der deutschen Nationalbewegung, sondern als militärischen Erfolg. Eine »monumentale Zeit« erfordere »monumentale Kunst«, hatte der Maler und Kunstkritiker Anton Teichlein 1871 geschrieben. Das »nationale Selbstgefühl« verlange ein Siegesdenkmal, und der Dank der Nation gebühre Krieg und Krieger: »Nicht auf der Tribüne, sondern auf dem Schlachtfelde ist die Einheit Deutschlands erfochten worden, … der Parlamentarismus hat, bei allen seinen Verdiensten, nicht das erste Anrecht auf monumentale Verherrlichung.«

Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg wurde die Säule von den Nationalsozialisten im Zuge der Umgestaltung Berlins zur Reichshauptstadt »Germania« von ihrem ursprünglichen Standort entfernt und weiter westlich, am Großen Stern im Tiergarten, wiederaufgebaut und dabei um eine Trommel erhöht. Im Krieg nur leicht beschädigt, entging sie Zerstörungsabsichten der Siegermächte, vor allem Frankreichs, nach 1945. Verkehrsumtost steht sie heute weder für die neue deutsche Einheit seit 1989/90 wie das Brandenburger Tor noch für die freiheitliche Demokratie und den Parlamentarismus der Bundesrepublik wie der Reichstag mit der Kuppel von Norman Foster. Aber sie ragt als Geschichtszeichen in den Himmel über Berlin und in unsere Gegenwart hinein. Sie erinnert an den 1871 begründeten ersten deutschen Nationalstaat, das Kaiserreich, dessen Schatten bis in die Gegenwart reicht.

»Durch Kriege entstanden, konnte das unheilige Deutsche Reich preußischer Nation immer nur ein Kriegsreich sein. Als solches hat es, ein Pfahl im Fleische der Welt, gelebt, und als solches geht es zugrunde.«2 Was Thomas Mann im amerikanischen Exil am 29. Mai 1945, wenige Tage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, in seiner Rede über »Deutschland und die Deutschen« formulierte, gilt es nicht auch schon für das deutsche Kaiserreich? Die Kriegsgeburt von 1871, sie versank nach nicht einmal fünf Jahrzehnten im Ersten Weltkrieg. Kriegsniederlage und Revolution fegten sie hinweg. Doch der Schatten des Kaiserreichs lag über der Weimarer Republik, eine schwere Belastung, die zum Scheitern der ersten deutschen Demokratie entscheidend beitrug und ihre Zerstörung sowie die Machtübernahme der Nationalsozialisten begünstigte. Zwölf Jahre später lag der 74 Jahre zuvor in Versailles gegründete deutsche Nationalstaat – und mit ihm weite Teile Europas – in Schutt und Asche, durch den von Deutschland begonnenen Krieg und die von Deutschen begangenen Verbrechen auch moralisch ruiniert.

Begann 1871, was zwischen 1933 und 1945 so katastrophal endete? War im Kaiserreich das »Dritte Reich« bereits angelegt? Generationen von Deutschen haben diese Fragen nach 1945 beschäftigt. Die Überwindung der deutschen Teilung im Jahr 1990 hat die Aufmerksamkeit erneut auf den ersten deutschen Nationalstaat gelenkt. Im Juni 1991 entschied der Deutsche Bundestag, den Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland von Bonn nach Berlin zu verlegen, in die Hauptstadt des Landes. In der Debatte, die der Abstimmung vorausging, spielten historische Argumente eine wichtige Rolle. Für die einen war Berlin als Hauptstadt des Deutschen Reiches durch dessen imperiale Ambitionen und Großmachtansprüche, vor allem aber durch den Nationalsozialismus und seine Verbrechen diskreditiert. Für die anderen ergab sich die Entscheidung für Berlin zwingend aus der deutschen Einheit und aus der durch sie gewonnenen neuen Nationalstaatlichkeit.

Drei Jahrzehnte später ringt die »Berliner Republik«, wie sie der Publizist Johannes Gross Anfang der 1990er Jahre nannte, mit einer Renationalisierung, ja einem neuen Nationalismus, der außenpolitische Bindungen, nicht zuletzt in Europa, infrage stellt und innenpolitisch und gesellschaftlich einer völkisch bestimmten nationalen Identität das Wort redet. Was verstehen die Deutschen der Gegenwart unter Nation? Und wie sehen sie damit sich selbst? Ein freiheitliches und demokratisches Nationsverständnis, wie es sich in den Jahrzehnten nach 1945 entfalten konnte, wird heute wieder herausgefordert. Es wird infrage gestellt von politischen Kräften, für die Nation nicht auf Freiheit, Demokratie und der Würde des Menschen beruht, sondern auf einer in erster Linie ethnisch begründeten Zusammengehörigkeit und auf einem Verständnis von Nation, das auf der Vorstellung der Abstammungsgemeinschaft basiert. Das ist der Kern der neuen nationalen Frage, die sich vor diesem Hintergrund zwangsläufig auch darauf bezieht, welches Bild ihrer nationalen Geschichte die Deutschen haben, wie sie diese Geschichte deuten. Und dabei geht es auch um das Kaiserreich.

Anderthalb Jahrhunderte nach seiner Gründung und mehr als hundert Jahre nach seinem Untergang ist uns dieses ferne Reich wieder näher gerückt. 2014 stritten die Deutschen über den Beginn des Ersten Weltkriegs und die Verantwortung des Kaiserreichs. Mit seinem Buch Die Schlafwandler löste der Historiker Christopher Clark eine Debatte aus, die an die berühmte »Fischer-Kontroverse« der 1960er Jahre erinnerte. Aber es ging nicht nur um die Vergangenheit. Das Kaiserreich, so war 2014 zu vernehmen, werde in ein schlechtes Licht gerückt, es werde als autoritär und aggressiv charakterisiert, um das Deutschland des 21. Jahrhunderts zu treffen und es an einer selbstbewussten nationalen Politik zu hindern. Die 2017 erstmals in den Bundestag gewählte AfD plädiert für eine Außenpolitik, die sich an Bismarck orientiert, und beklagt in einem Parlamentsantrag, dass die »gewinnbringenden Seiten der deutschen Kolonialzeit erinnerungspolitisch keinen Niederschlag finden«. Zugleich wird darüber gestritten, ob der deutsche Völkermord an den Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 Entschädigungsleistungen rechtfertigt. Auch der Umgang mit Kunst und Kultur aus kolonialen Kontexten ist umstritten. Das zeigt nicht zuletzt die Diskussion über das im wiedererrichteten Berliner Stadtschloss der Hohenzollern beheimatete Humboldt Forum und seine Ausstellung.

Auch durch solche Bauten rückt uns das preußisch-deutsche Kaiserreich wieder näher. Die historische Rekonstruktion prominenter Gebäude hat Debatten ausgelöst nicht nur über die symbolische und geschichtspolitische Botschaft, die von solchen Wiederaufbauten ausgeht, sondern auch über die selektive Aneignung von Architektur und Architekturgeschichte in der Berliner Republik. Warum musste der Palast der Republik, herausragendes Objekt politischer Architektur der späten DDR, abgerissen werden, um an seiner Stelle und am historischen Ort das alte Stadtschloss der Hohenzollern wiedererstehen zu lassen? Auch in Potsdam wurde die Fassade des im 18. Jahrhundert errichteten Stadtschlosses rekonstruiert. Es beherbergt heute den brandenburgischen Landtag. Und einen Steinwurf entfernt wächst der Turm der Garnisonkirche, im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt und 1968 gesprengt, in die Höhe. Streit begleitet auch dieses Rekonstruktionsprojekt von Anfang an. Es geht dabei um die preußisch-deutsche Geschichte, denn weit über den »Tag von Potsdam« hinaus, als Nationalkonservative und Nationalsozialisten dort im März 1933 ihren Schulterschluss öffentlich inszenierten, steht die Garnisonkirche für den Militärstaat Preußen, den Militarismus des preußisch-deutschen Kaiserreichs, darüber hinaus steht sie als Versammlungsort des nationalen Lagers nach 1918 für Republik- und Demokratiefeindschaft. Das stellt den Wiederaufbau vor große Herausforderungen, die dadurch nicht geringer werden, dass auch heutige Gegner unserer liberalen Demokratie die Rekonstruktion begrüßen und – öffentlich – unterstützen.

Sogar über die Hohenzollern selbst, das preußische Königs- und deutsche Kaiserhaus, diskutiert die Öffentlichkeit. Den Anlass dafür bilden weitreichende Entschädigungsforderungen der Familie des letzten deutschen Kaisers. Vordergründig geht es dabei um den Anteil der früheren Herrscherdynastie und insbesondere des ehemaligen Kronprinzen Wilhelm, des ältesten Sohns Wilhelms II., am Aufstieg und an der Machtübernahme des Nationalsozialismus. Haben die Hohenzollern, hat der Kronprinz der Diktatur Vorschub geleistet? Tatsächlich aber geht es um das Bild der Hohenzollern in der deutschen Geschichte, um das Bild Preußens und das Bild des Kaiserreichs. Warum, so fragt man sich, vertreten die Nachkommen des letzten Kaisers ihre Forderungen seit einiger Zeit mit so großem Selbstbewusstsein? Glauben sie die Öffentlichkeit auf ihrer Seite? Verspüren sie durch den Zeitgeist, das politische und gesellschaftliche Klima Rückenwind? Zu den Dynamiken einer Renationalisierung, die seit einiger Zeit in Europa und weltweit zu beobachten sind – und von denen sich die Bundesrepublik lange verschont glaubte – gehört in Deutschland fraglos ein veränderter Blick auf das Kaiserreich.

In diese Entwicklung fällt – am 18. Januar 2021 – der 150. Jahrestag der Reichsgründung von 1871. Jahrestage kommen ungerufen. Das hat Bundespräsident Gustav Heinemann 1971 festgestellt, als sich die Gründung des deutschen Kaiserreichs zum 100. Mal jährte. Weil die nationale Frage gerade jetzt wieder schärfer, zum Teil aggressiver gestellt und intensiver diskutiert wird und weil in dieser Auseinandersetzung Geschichtsbilder und Geschichtsdeutungen eine wichtige Rolle spielen, wird in diesem Buch der Versuch unternommen, die Reichsgründung von 1871 und den damals errichteten deutschen Nationalstaat, das Kaiserreich, im Licht der Gegenwart zu betrachten. Es ist historische Darstellung und geschichtspolitische Intervention. »Das, was war«, so hat es der Historiker Johann Gustav Droysen einst formuliert, »interessiert uns nicht darum, weil es war, sondern weil es in gewissem Sinne noch ist und wirkt.«3 Wirkt das deutsche Kaiserreich anderthalb Jahrhunderte nach seiner Gründung noch auf die Bundesrepublik von heute nach? Wie blicken wir vom Beginn des 21. Jahrhunderts auf den deutschen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts? Wie verhalten sich der 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles begründete deutsche Nationalstaat und der Nationalstaat Bundesrepublik Deutschland zueinander?

Es ist die Geschichte des 1871 gegründeten Nationalstaats selbst, jenes Reiches, das nach einem »Höllensturz« (Ian Kershaw) in Krieg und Gewalt versank, die das Deutschland der Gegenwart von der Reichsgründung des Jahres 1871 trennt – und das nicht nur staatsrechtlich. Das schließt historische Erinnerung nicht aus – im Gegenteil. Im Sinne kritischer Reflexion ist diese Erinnerung heute wichtiger denn je. Aber es verbieten sich simple nationalhistorische und nationalpolitische Kontinuitätspostulate und ein Jubiläumsgedenken, das den deutschen Nationalstaat der Gegenwart als Fortsetzung des Nationalstaats von 1871 ansieht und versucht, ihn in dessen Tradition zu stellen. Alles, was uns das Reich von 1871 heute noch zu sagen hat, unterstreicht Distanz und Diskontinuität, und das gilt nicht nur für den Nationalsozialismus, es gilt auch für das Kaiserreich. Allein die Weimarer Republik kann einen Platz im Demokratiegedächtnis der Bundesrepublik beanspruchen. Die historische Vergegenwärtigung der Reichsgründung und ihrer Folgen wird durch diese Distanz erleichtert und erschwert zugleich. Erleichtert, weil Distanz einen weiteren Blick und klarere Urteile ermöglicht. Erschwert, weil Distanz und retrospektives Wissen oftmals zu einer Urteilsbildung führen, in der die Zukunft der Vergangenheit nicht als offen begriffen wird, sondern als geschlossen und determiniert. Für das Kaiserreich heißt das: Sosehr der Nationalsozialismus – implizit oder explizit – Fluchtpunkt und Frageperspektive jeder Auseinandersetzung mit der Geschichte des 1870/71 gegründeten Nationalstaats ist, ja sein muss, so wenig waren sein Aufstieg, seine Machtübernahme, seine Herrschaft und seine Verbrechen im Jahr 1871 vorherbestimmt.

Vor diesem Hintergrund liegt dem Buch ein doppeltes Verständnis der Reichsgründung zugrunde. Die Reichsgründung, das waren zum einen jene Ereignisse der Jahre um 1870, in denen sich unter preußischer Führung und vor dem Hintergrund des Deutsch-Französischen Krieges der deutsche Nationalstaat formierte, eine Abfolge von Ereignissen, die ihren symbolhaften Höhepunkt in der Proklamation des Deutschen Reiches in Versailles am 18. Januar 1871 fand. Aber als Nationalstaatsbildung war die Reichsgründung ein längerer Prozess, der sich aus politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Dynamiken speiste, die zum Teil viele Jahrzehnte zurückreichten: in die Zeit der Französischen Revolution, der napoleonischen Herrschaft, des Vormärz und der Revolution von 1848. Und diese Dynamiken, am mächtigsten die der Nationalisierung und des Nationalismus, endeten nicht mit der Ausrufung des Reiches, sondern setzten sich fort weit über 1871 hinaus. In den Jahrzehnten nach 1871 nahm der Nationalstaat Gestalt an, er entwickelte und veränderte sich. Ein autoritärer Nationalstaat ist das Kaiserreich freilich bis zu seinem Ende geblieben. Das bestimmte und begrenzte die Möglichkeiten des Wandels.

Von den Schatten des Kaiserreichs handelt dieses Buch. Es erhebt nicht den Anspruch einer Gesamtdarstellung. Politikgeschichtlich akzentuiert wird das Kaiserreich als ein autoritärer Nationalstaat charakterisiert, ausgestattet zwar mit liberalen und demokratischen Potentialen, aber doch bis zu seinem Ende beherrscht von einer politischen Ordnung und von politischen Interessen, die den Durchbruch zu einer parlamentarischen Demokratie verhinderten. Was immer möglich gewesen sein mag, es ist nicht geschehen. Das demokratische Wahlrecht der Männer wurde durch die Schwäche des Reichstags konterkariert, eine vitale Zivilgesellschaft und ein reiches kulturelles Leben blieben autokratisch gedeckelt. Das Kaiserreich war ein funktionierender Rechtsstaat, es verfügte über eine effiziente Verwaltung. Sein Sozialversicherungssystem war fortschrittlich und begründete ein bis in die Gegenwart wirksames Modell von Sozialstaatlichkeit. Doch Sozialstaat und Sozialistengesetze gehörten zusammen, waren zwei Seiten einer repressiven Politik der Bedrohungsabwehr. Dass die Reichsgründung als Revolution von oben erfolgte, überschattete das Kaiserreich bis zu seinem Untergang.

Zur Rechtfertigung und Stabilisierung des autoritären Staates, jenes »Machtstaats vor der Demokratie«,4 trug der Nationalismus entscheidend bei. Auch sein Schatten lag über dem Nationalstaat. Abgrenzung und Ausgrenzung waren konstitutive Elemente des deutschen Nationalismus lange vor 1871. Und das verstärkte sich nach der Reichsgründung noch. Feindbilder und Gegensatzkonstruktionen im Innern wie nach außen sollten nationale Zusammengehörigkeit und – ex negativo – nationale Identität stiften. Später wirkte auch eine aggressive Weltpolitik daran mit, eine imperiale Machtentfaltung, zu welcher der deutsche Kolonialismus gehörte, dessen Folgen bis heute spürbar sind. Angelegt schon in der Ära Bismarck, radikalisierte sich der Nationalismus in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Für den Weg in den Krieg und den Entschluss zum Krieg im Sommer 1914 war dieser radikale, völkisch aufgeladene Nationalismus von entscheidender Bedeutung. Antisemitismus charakterisierte ihn von Anfang an.

Im Vorfeld des 150. Jahrestags der Reichsgründung treten an die Stelle kritischer Distanz immer häufiger affirmative Bekenntnisse zur preußisch-deutschen Nationalgeschichte und zu einer nationalstaatlichen Kontinuität. Als sei mit der deutschen Vereinigung 1990, die politisch, rechtlich und historisch alles andere als eine Wieder-Vereinigung war, das 1945 untergegangene Deutsche Reich wieder erstanden. Historikerinnen und Historiker haben einen Anteil an dem als »normale« Nation weich gezeichneten Kaiserreich. Nicht alle verfolgen dabei eine neonationalistische Agenda. Aber auch ein Nationsverständnis, das mit Blick auf das Kaiserreich primär auf Demokratisierung und Egalisierung abhebt, übersieht die Schattenseiten des Nationalismus, das Ausgrenzende, die Exklusion derer, die nicht zur Nation gehören sollten, den Imperativ der politischen, kulturellen und nicht zuletzt ethnischen Homogenisierung. Geschichtsbilder, die die Modernität, die Fortschrittlichkeit und die kulturelle Dynamik des Kaiserreichs und seiner Gesellschaft betonen, überdecken die Persistenz autoritärer Strukturen, die anhaltende soziale Fragmentierung, den aggressiven Militarismus, einen brutalen, zum Teil völkermörderischen Kolonialismus und die sozialdarwinistisch unterfütterte Ideologie nationaler Machtstaatlichkeit.

Nach 1945 hat es lange gedauert, bis das Kaiserreich zur historisch abgeschlossenen Epoche werden konnte. In der frühen Nachkriegszeit zeichneten Historiker ein Bild des Kaiserreichs, das vor allem dem Zweck diente, angesichts der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und ihrer Verbrechen sowie angesichts der deutschen Teilung die Idee der Nation und des deutschen Nationalstaats zu retten. Kritisch war dagegen das Kaiserreichbild deutscher Emigranten, aber auch das des Hamburger Historikers Fritz Fischer. Dieser sorgte mit seinen Thesen zur Entstehung des Ersten Weltkriegs und zur Verantwortung des Kaiserreichs und seiner Eliten in Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit für scharfe Kontroversen, fand aber großen Widerhall gerade in einer jüngeren Generation. In der Denkfigur des deutschen »Sonderwegs« bündelte sich diese kritische Deutung. Weit über die Geschichte des Kaiserreichs hinaus lag die Bedeutung der Sonderwegsthese darin, dass sie Kontinuitätslinien über das Jahr 1918 hinaus postulierte und 1871 mit 1933 verband. Durchgesetzt hat sich die Sonderwegsthese am Ende nicht, auch weil sie die deutsche Geschichte am Standard einer westlichen Normalentwicklung maß und die Geschichte der westlichen Nationen idealisierte und verklärte. Aber das entwertet nicht die Ergebnisse der von der Sonderwegsthese ausgehenden Forschung, und vor allem macht es nicht die Frage nach den Verbindungen von Kaiserreich und Nationalsozialismus obsolet, nach jenen Schattenlinien, von denen der Historiker Thomas Nipperdey gesprochen hat.

Je stärker man das Kaiserreich vom »Dritten Reich« trennt, desto mehr erscheint der Nationalsozialismus wieder als »Betriebsunfall« der deutschen Geschichte, wie der deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern schon vor mehr als fünfzig Jahren auf dem Berliner Historikertag feststellte.5 Wenn man das Scheitern der Weimarer Republik, ihre Zerstörung sowie den Aufstieg und die Machtübernahme der Nationalsozialisten erklären will, dann muss man frei von jedem Determinismus den Blick auch auf die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts und auf das Kaiserreich richten. Der Hinweis allein auf den Ersten Weltkrieg, die Kriegsniederlage und ihre Folgen reicht nicht aus, weil er nicht zuletzt die Dispositionen ausblendet, welche die Wahrnehmung von Niederlage, Revolution und Republikgründung bestimmten.6 Diese Dispositionen entstanden im Kaiserreich. Und auch der Weltkrieg selbst ist nicht zu erklären, wenn man nicht auch nach seinen tieferen, weiter zurückliegenden Ursachen fragt, beispielsweise nach jenem nationalen Bellizismus, der mit der Kriegsgeburt Kaiserreich untrennbar verbunden ist.7 Wer sowohl mit Blick auf den Ersten Weltkrieg als auch mit Blick auf den Nationalsozialismus die Frage nach dem Warum nicht völlig ausblendet, der muss sich mit der Geschichte des Kaiserreichs auseinandersetzen. Der 150. Jahrestag der Reichsgründung bietet dafür einen Anlass.

I Der Weg zum Nationalstaat

Vordergründig ging es nur um die Gründung des Deutschen Zollvereins 1834. Aber für Heinrich von Treitschke (1834–1896), den Hofhistoriker des preußisch-deutschen Machtstaats, fügte sich in seiner zwischen 1879 und 1894 erschienenen Deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts dieses Ereignis in eine längere Entwicklung, in der schon 1834 die Reichsgründung von 1871 nicht nur abzusehen, sondern angelegt war: »Dann kam jene folgenschwere Neujahrsnacht des Jahres 1834, die auch den Massen das Nahen einer besseren Zeit verkündete. Auf allen Landstraßen Mitteldeutschlands harrten die Frachtwagen hochbeladen in langen Zügen vor den Mauthäusern, umringt von fröhlich lärmenden Volkshaufen. Mit dem letzten Glockenschlage des alten Jahres hoben sich die Schlagbäume; die Rosse zogen an, unter Jubelruf und Peitschenknall ging es vorwärts durch das befreite Land. Ein neues Glied, fest und unscheinbar, war eingefügt in die lange Kette der Zeiten, die den Markgrafenstaat der Hohenzollern hinaufgeführt hat zur kaiserlichen Krone. Das Adlerauge des großen Königs blickte aus den Wolken, und aus weiter Ferne erklang schon der Schlachtendonner von Königgrätz.«1

Die Reichsgründung von 1871 war keine historische Notwendigkeit. Sie war nicht alternativlos. Aber Generationen von – deutschen – Historikern haben den Weg zum kleindeutsch-preußischen Nationalstaat so dargestellt, und sie haben damit Generationen von Deutschen ein Geschichtsbild vermittelt, das die deutsche Geschichte der ersten siebzig Jahre des 19. Jahrhunderts auf die nationale Einigung unter preußischer Führung zulaufen ließ; ein Geschichtsbild, das in der Nationalstaatsbildung den historischen Fortschritt schlechthin und im Nationalstaat, in einer nationalstaatlichen Ordnung die Normalform politischer Existenz erkannte. Ironisch hatte der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt schon 1871 festgestellt, dass es nun nicht mehr lange dauern werde, »bis die ganze Weltgeschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen und auf 1870/71 orientiert sein wird«.2 Heinrich von Treitschke wirkte daran entscheidend mit. Er wurde nicht müde, jenes nationalistische, kleindeutsch-borussische Geschichtsbild auszuarbeiten und zu popularisieren, in dessen Zentrum die schon lange vor 1871 von dem Historiker Johann Gustav Droysen entwickelte These von Preußens »deutschem Beruf« stand.3 So begann die Geschichtsschreibung zum Kaiserreich lange vor seiner Gründung. »Deutsche« Geschichte wurde nicht nur als nationale Geschichte konzipiert, sondern als eine Geschichte, die in die Errichtung eines deutschen Nationalstaats unter preußischer Führung münden musste. Als das dann tatsächlich eingetreten war, ging es darum, den nationalen Staat als Ergebnis der Geschichte zu rechtfertigen und ihn »siegesdeutsch« als den gleichsam vorherbestimmten End- und Höhepunkt preußischer und deutscher Geschichte darzustellen. Nationale Geschichte wurde so gut wie ausschließlich als preußisch-kleindeutsche Geschichte gedacht und auf die Reichsgründung hin geschrieben. Nur marginalisierte Außenseiter – welfisch-hannoversch, süddeutsch, österreichisch, katholisch, die Verlierer der Reichsgründung, wenn man so will – vertraten andere Sichtweisen. Doch gerade sie erinnern uns daran, dass man die deutsche Geschichte der Jahrzehnte vor 1871 nur bedingt als nationale Geschichte erzählen kann und man sich der Sogkraft von 1871 zu entziehen versuchen muss.4

Deutscher Nationalismus zwischen Krieg und Revolution

Vom Alten Reich zum Deutschen Bund

Am Beginn des 19. Jahrhunderts sprach kaum etwas für die Entwicklung eines deutschen Nationalstaats und für den Aufstieg Preußens zur deutschen Kaisermacht. Preußen, unter Friedrich II. zur europäischen Großmacht geworden, erlitt im Oktober 1806 bei Jena und Auerstedt eine demütigende Niederlage gegen die französischen Truppen. Am 26. Oktober 1806 zog Napoleon in Berlin ein, der preußische König Friedrich Wilhelm III. und seine Familie mussten nach Ostpreußen fliehen. Im Frieden von Tilsit (Juli 1807) verlor Preußen seine gesamten westelbischen Gebiete, mehr als die Hälfte seines Territoriums und seiner Bevölkerung. Dem Land wurden gewaltige Kriegskontributionen auferlegt, und es kam unter französische Besatzungsherrschaft.

In der Auseinandersetzung mit der französischen Herrschaft und dem französischen Nationalismus politisierte sich das Verständnis von »Volk« und »Nation« auch in Deutschland. Der frühe deutsche Nationalismus lud sich immer stärker antifranzösisch auf und gewann angesichts der französischen Okkupation und eines wachsenden Hasses auf die französische Besatzungsmacht eine enorme Breitenwirkung. Neben der Idee der Nation und Begriffen wie »Volk«, »Vaterland« und »Einheit« wurde auch »Freiheit« zu einer häufig gebrauchten politischen Vokabel. Das meinte in den Jahren seit 1800 vor allem die Befreiung von Fremdherrschaft und Unterdrückung, nicht innenpolitische Liberalisierung durch Verfassungen und politische Mitsprache. Und schon gar nicht zielte die nationale Bewegung der Jahre vor 1815 auf einen nationalen Staat, wie er Jahrzehnte später entstand. Für die Nationalbewegung jener Zeit war zunächst die Befreiung von der französischen Herrschaft das Hauptziel.

Dass beispielsweise der preußische König am 17. März 1813 an sein Volk appellierte, nunmehr »Preußen und Deutsche« zu sein, und zum Kampf gegen den »fremden Herrscher« aufrief, wirkte mobilisierend und entfaltete eine enorme Popularität, auch wenn die Zusammensetzung der Freiwilligenverbände sozial begrenzt blieb und viele Angehörige der Unterschichten zum Kriegsdienst gezwungen werden mussten. Dass »der König rief und alle, alle kamen«, ist eine schon zeitgenössische, aus den Freiwilligeneinheiten stammende Verklärung, der Versuch, den antinapoleonischen Krieg zum Volkskrieg zu stilisieren und ihm dadurch – später – eine nationaldemokratische Bedeutung zu geben.

Die antinapoleonische Mobilisierung und die Siege über Frankreich, die ihr folgten, nicht zuletzt in der »Völkerschlacht« bei Leipzig im Oktober 1813, stabilisierten den nationalen Enthusiasmus und steigerten die Erwartungen vor allem derer, die als Freiwillige in den Krieg gezogen waren, um für die Nation und ihre Freiheit zu kämpfen. Nun standen preußische, russische und britische Truppen in Paris, und in Wien trafen sich Europas Monarchen und ihre leitenden Minister, um Europa nach 25 Jahren Krieg eine neue Ordnung zu geben. Voraussetzung einer stabilen und friedlichen Ordnung war es, revolutionäre Potentiale einzudämmen und Revolutionen nach französischem Muster zu verhindern. Denn Revolution, das war die Erfahrung der Zeitgenossen, bedeutete Krieg. Dieser Imperativ bestimmte die Wiener Ordnung und in ihrem Zentrum die Neugestaltung Deutschlands.

Durch die Konstruktion des Deutschen Bundes wurden die überschießenden politischen Erwartungen der Nationalbewegung bitter enttäuscht. Diese Enttäuschung spiegelt sich in der späteren Geschichtsschreibung. Insbesondere in den Augen der kleindeutsch-borussischen Historiker diente die in Wien geschaffene europäische Ordnung ausschließlich dem Zweck, die liberale und die nationale Bewegung zu unterdrücken. Auch deswegen waren diese Historiker nie in der Lage, die friedensstiftende beziehungsweise friedenserhaltende Funktion des Wiener Systems zu untersuchen, geschweige denn anzuerkennen. Sie zeichneten das Bild eines im Innern wie nach außen unfreien Deutschlands und waren überzeugt, dass nur ein Ende der Zersplitterung und ein starker und geschlossener Nationalstaat diese doppelte Unfreiheit überwinden könnte.

Janusköpfigkeit der Nationalbewegung

In den Jahren nach dem Wiener Kongress legte sich das System Metternich wie ein eiserner Deckel über den Deutschen Bund. Auf der Wartburg, wo Angehörige der 1812 gegründeten deutschen Burschenschaften im Oktober 1817 den 300. Jahrestag von Martin Luthers Thesenanschlag in Wittenberg als nationales Ereignis begingen und damit auch den Protestantismus als Religion nationaler Befreiung – von römischer Dominanz – darstellten, wurden nicht nur Bücher verbrannt, »Schandschriften des Vaterlands«, wie es hieß – darunter der napoleonische Code Civil –, sondern auch ein hessischer Zopf, ein preußischer Ulanenschnürleib und ein österreichischer Korporalstock als Symbole der antiliberalen und antinationalen Repressionspolitik des Deutschen Bundes. In den Feuerreden wurden Freiheit und nationale Einheit gefordert und den Fürsten vorgeworfen, ihre Versprechen von 1813 gebrochen zu haben. Zwei Jahre später ermordete der Jenaer Student Karl Ludwig Sand den Dichter August von Kotzebue, der als russischer Agent galt. Der Deutsche Bund und seine einzelnen Staaten reagierten mit den Karlsbader Beschlüssen: Verbot der Burschenschaften und der Turnbewegung, Zensur, Entlassung von Professoren, die der nationalen Bewegung nahestanden. Oberflächlich kehrte daraufhin Ruhe ein, doch die nationale Bewegung fand Mittel und Wege, den nationalen Gedanken wachzuhalten. Vor allem der Philhellenismus, die Unterstützung des griechischen Freiheitskampfs gegen die türkische Herrschaft, bot dafür in den 1820er Jahren eine Möglichkeit.

Mit der französischen Julirevolution von 1830 endete diese Phase. Mit ihr wurde klar, dass eine Politik der Repression politischen und gesellschaftlichen Wandel auf Dauer nicht verhindern konnte. Freiheit als Nation und Freiheit in der Nation, das gehörte seit 1830 immer stärker zusammen. Dieser doppelte Imperativ bestimmte auch das Hambacher Fest von 1832, das bis heute einen wichtigen Platz in der deutschen Demokratiegeschichte einnimmt. In Hambach wurde auch deutlich, dass die deutschen Entwicklungen Teil einer größeren, europäischen Dynamik waren. Neben den schwarz-rot-goldenen deutschen Farben war die französische Trikolore im Publikum ebenso zu sehen wie die weiß-rote polnische Fahne, mit der die Teilnehmer ihre Solidarität mit den polnischen Aufständischen zum Ausdruck brachten, denen es 1830 zumindest für kurze Zeit gelungen war, die russische Herrschaft abzuschütteln. Vom europäischen »Völkerfrühling« war die Rede, und damit verband sich die Vorstellung eines friedliebenden, völkerverbindenden Nationalismus, eines Europas freier – befreiter – Völker, zwischen denen es keine Gegensätze, keine Feindschaft mehr geben würde.

Aber wenn man die Hambacher Reden genau liest, dann relativiert sich dieses Bild, dann wird die Ambivalenz auch schon des frühen Nationalismus erkennbar, zu dem die Idee des Völkerfriedens und der Solidarität der Nationen ebenso gehörte wie die Betonung nationaler Gegensätze und Dominanzansprüche. Johann Georg August Wirth, einer der Organisatoren des Festes, zweifelte nicht daran, dass auch das Elsass und Lothringen in ein freies und geeintes Deutschland zurückfinden würden. Und Johann Jacob Siebenpfeiffer, neben Wirth die zweite Hambacher Führungsfigur, sprach von der »erhabenen Germania …, in der einen Hand die Fackel der Aufklärung, welche zivilisierend hinausleuchtet in die fernsten Winkel der Erde, in der anderen die Waage des Schiedsrichteramtes, streitenden Völkern das selbsterbetene Gesetz des Friedens spendend«.5 Dahinter verbarg sich, durch die Rede von der Zivilisierungsmission und der Rolle des Schiedsrichters kaum kaschiert, ein deutscher Macht- und Superioritätsanspruch, der sich auch in Hambach mit der Abgrenzung von allem »Undeutschen« verband, so wie schon 1817 die Burschen und Turner auf der Wartburg aus ihrem Hass auf Frankreich und alles Französische kein Hehl gemacht hatten und auch den Juden das Recht abgesprochen hatten, Teil der nationalen deutschen Gemeinschaft zu sein.

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hat die Geschichtsschreibung das Bild eines zunächst friedliebenden, von Gleichberechtigung, Völkerverständigung und transnationaler Solidarität geprägten deutschen Nationalismus gezeichnet, der erst später im 19. Jahrhundert, nach der Gründung des Kaiserreichs, machtstaatlich und aggressiv geworden sei. Das entsprang auch dem Versuch, die deutsche Nationalbewegung und das gleichsam liberale nationale Denken des frühen 19. Jahrhunderts zu trennen von den späteren Entwicklungen des Nationalismus und seiner Bedeutung für die Dynamiken von Krieg und Gewalt im 20. Jahrhundert und so die Diskreditierung des nationalen Gedankens zu verhindern. Bei näherer Betrachtung freilich findet diese Vorstellung einer Transformation des Nationalismus in der historischen Entwicklung keine Bestätigung. Von Anfang an wohnten dem nationalen Gedanken – nicht nur in Deutschland – illiberale Potentiale inne, Vorstellungen von Überlegenheit, von Abgrenzung und – nationaler – Feindschaft. Zutreffender ist es daher, von einer Janusköpfigkeit des Nationalismus auszugehen. Und das gilt nicht nur im Hinblick auf die internationale Ordnung und die Beziehungen zwischen einzelnen Nationen. Es gilt auch für die Idee der Nation als politische Gemeinschaft und soziale Ordnung, der zwar einerseits ein auf den Einzelnen bezogenes Freiheits- und Gleichheitsversprechen innewohnt und damit ein gewaltiges demokratisches Potential, für die aber andererseits auch Vorstellungen von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, von Andersartigkeit und Ungleichheit konstitutiv sind, ganz gleich ob diese nun kulturell, sprachlich, historisch, religiös oder ethnisch begründet werden.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Deutsche Bund auf die Hambacher Forderungen und auf die neue Welle nationaler und liberaler Kundgebungen reagierte. Die Politik der Repression gewann wieder die Oberhand. Das hatten manche Liberale befürchtet und deswegen auch die weitgehenden Forderungen des Hambacher Fests kritisiert. Zu ihnen gehörte der Historiker und Staatswissenschaftler Karl von Rotteck, ein badischer Liberaler, der aus zwei Gründen vor einem radikalnationalen Kurs warnte: zum einen weil ein solcher Kurs nur zu massiven Gegenmaßnahmen führen würde, wie es dann auch geschah; zum anderen weil der gemäßigte südwestdeutsche Abgeordnete nicht die nationale Einheit um jeden Preis wollte. »Ich will die Einheit nicht anders als mit Freiheit, und ich will lieber Freiheit ohne Einheit als Einheit ohne Freiheit.« Mehr Freiheit sei auch in den bestehenden Strukturen möglich, und zwar durch eine Politik moderater Liberalisierung in den Einzelstaaten des Deutschen Bundes. »Ein Staatenbund ist … zur Bewährung der Freiheit geeigneter als die ungeteilte Masse eines großen Reiches.«6

Doch die Macht der nationalen Bewegung war nicht zurückzudrängen, weder durch die Politik der Repression noch durch die Vorbehalte gemäßigter Liberaler wie Rotteck. Das zeigte sich zehn Jahre nach der Julirevolution in der Rheinkrise des Jahres 1840, die zur Eruption eines Massennationalismus führte, was weder Wien noch Berlin verhindern konnten. Die Rheinkrise entstand, als die französische Regierung angesichts einer außenpolitischen Niederlage im Nahen Osten, die von vielen Franzosen als nationale Demütigung wahrgenommen wurde, den Rhein als »natürliche« französische Ostgrenze zu propagieren begann. Das sollte die Regierung entlasten und den nationalen Druck in eine andere Richtung ableiten. In der französischen Gesellschaft begann der politische Schachzug rasch eine eigene, so nicht vorhergesehene Dynamik zu entfalten: Krieg lag in der Luft. Der Deutsche Bund reagierte zurückhaltend. Vor allem Metternich war sich des nationalen und nationalisierenden Potentials der Problematik bewusst. Aber im Westen und Südwesten des Deutschen Bundes, in den an Frankreich grenzenden Gebieten, herrschte eine andere Stimmung. Die französische Herrschaft und die napoleonischen Kriege lagen erst eine Generation zurück. Bedurfte es da nicht einer nationalen Reaktion, zumal es mit dem Rhein beziehungsweise der Rheingrenze um eine zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Franzosen und Deutschen hoch aufgeladene Frage ging?

Aus dieser Situation entstand im Herbst 1840 die Rheinliedbewegung, durch die der deutsche Nationalismus, bis dahin noch gedeckelt durch Zensur und rigide Einschränkungen der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, sich nicht nur stark emotionalisierte, sondern – zum Teil durch diese Emotionalisierung – auch eine bis dahin ungekannte Massenwirkung erlangte. Mit einem Schlag waren die Erinnerungen an 1813 wieder da, nicht nur in Gestalt der Kriegsangst und der Erfahrung von Leid und Zerstörung, sondern auch in der Revitalisierung des deutsch-französischen Gegensatzes, der durch die französische Rheinpolitik gleichsam neue Nahrung erhielt. »Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein«, dichtete Nikolaus Becker, ein Gerichtsschreiber aus der Nähe von Aachen, und in Windeseile verbreitete sich sein Lied in unzähligen Vertonungen in ganz Deutschland. Auch Max Schneckenburgers »Wacht am Rhein«, später die inoffizielle Nationalhymne des Kaiserreichs, entstand in diesen Monaten zusammen mit vielen anderen Liedern, darunter nicht zuletzt das »Deutschlandlied« des Dichters Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Der Rhein wurde zum politisch aufgeladenen Nationalsymbol, und der Kampf um den Rhein zum Ausdruck der deutsch-französischen Feindschaft, jener in ferne Jahrhunderte zurückprojizierten »Erbfeindschaft«, von der nun immer häufiger die Rede war.7 Die ostentative »Nationalgesinnung« des gerade auf den Thron gekommenen preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. machte dann in den Jahren nach 1840 insbesondere in Preußen den Weg frei für eine Vielzahl nationaler Vereinsgründungen. Nicht nur die Turnbewegung wurde wieder zugelassen, innerhalb weniger Jahre entstanden auch weit über Preußen hinaus national orientierte Gesangvereine – »Germania« –, die durch ihr Liedgut die nationale Sache voranzubringen trachteten. Der Nationalismus gewann auf diese Weise eine Massenbasis, der freilich die antifranzösische Haltung gleichsam genetisch eingeschrieben war. Die Rheinkrise schuf darüber hinaus stärker als je zuvor eine nationale Öffentlichkeit, in der politische Fragen und Forderungen diskutiert wurden. Dahinter gab es kein Zurück mehr. Dazu trug auch die Verbesserung von Verkehrswegen und Kommunikationsmöglichkeiten bei, die die Grenzen der Einzelstaaten überschritten und nationale Verbindungen sowie den nationalen Austausch ermöglichten. Der am 1. Januar 1834 errichtete Deutsche Zollverein leistete dazu einen entscheidenden Beitrag.

Die Zollvereinsbewegung, maßgeblich vorangetrieben durch den württembergischen Ökonomen Friedrich List, hatte bis Ende der 1820er Jahre zunächst nicht zu einem einheitlichen Zollgebiet geführt, sondern zu verschiedenen kleineren Zusammenschlüssen, die das Wirtschaftsgebiet des Deutschen Bundes eher fragmentierten als vereinheitlichten. Erst in mühsamen Verhandlungen, in denen Preußen sein wachsendes ökonomisches Gewicht zur Geltung brachte, in denen aber auch die süddeutschen Staaten erkannten, dass kleinräumige Zusammenschlüsse ihren Interessen nicht dienten, sie aber durch eine Zollunion von Preußens dynamischem Wirtschaftswachstum profitieren würden, schälte sich 1831/32 der Deutsche Zollverein als große Lösung heraus. Österreich, dessen Regierung sich der nationalisierenden Wirkung eines zoll- und handelspolitischen Verbunds bewusst war und klar erkannte, dass vor allem Preußen von einem einheitlichen großen Zollgebiet profitieren und – auch politisch – gestärkt werden würde, konnte den Zollverein nicht verhindern.

So entstand Anfang 1834 der Deutsche Zollverein, durch den unter preußischer Führung zunächst 18 Staaten, die jedoch fast das gesamte Territorium Nord- und Süddeutschlands abdeckten, eine handels- und zollpolitische Einheit bildeten. 23 Millionen Menschen von den etwa 29 Millionen Einwohnern des gesamten Deutschen Bundes gehörten zu diesem neuen Wirtschaftsgebiet. Eine Vorentscheidung jedoch für den kleindeutsch-preußischen Nationalstaat von 1871 war der Zollverein nicht, auch wenn das zu betonen die spätere kleindeutsch-borussische Geschichtsschreibung mit dem eingangs zitierten Heinrich von Treitschke an der Spitze nicht müde wurde. Preußen mochte im Zollverein sein wirtschaftliches Gewicht in die Waagschale werfen können, aber ein automatischer politischer Dominanzanspruch war daraus nicht abzuleiten. Das zeigt nicht zuletzt der Krieg von 1866, als wichtige Staaten des Zollvereins nicht auf preußischer, sondern auf österreichischer Seite standen. Von der wirtschaftlichen Stärke Preußens konnte man profitieren, den politischen Machtzuwachs Berlins betrachtete man aber gerade in Süddeutschland skeptisch, ja ablehnend.

Deutsche Einheit, deutsche Freiheit, deutsche Macht: 1848

In den Jahren vor 1848 verbanden sich Hungerunruhen und sozialer Protest mit den politischen Forderungen der liberalen und der nationalen Bewegung. Waren die Regierungen in den deutschen Einzelstaaten in der Lage, diesem Druck und den sich wechselseitig verstärkenden Unzufriedenheitspotentialen zu begegnen? Wieder einmal nahm die revolutionäre Dynamik, die binnen Kurzem fast ganz Europa erfasste, Ende Februar 1848 von Paris ihren Ausgang. Doch schon wenige Tage später erreichte das »Schmettern des Gallischen Hahns«, wie es Karl Marx einige Jahre zuvor formuliert hatte, auch Deutschland. In Wien fegte die Revolution die Regierung Metternichs hinweg, aber auch in den anderen deutschen Staaten erhob die liberale und demokratische Opposition mit dem Rückenwind aus Frankreich, wo der König gestürzt und die Republik ausgerufen worden war, ihre Forderungen: Konstitutionalisierung, Liberalisierung, Demokratisierung, Nationalisierung. Aus Angst um ihre Throne gaben die deutschen Fürsten den »Märzforderungen« bereitwillig nach. In Preußen veröffentlichte König Friedrich Wilhelm IV. am 21. März 1848 einen »Aufruf an mein Volk und an die deutsche Nation«. In bewusster Anknüpfung an 1813 kündigte er darin nicht nur eine Verfassung und andere Reformen an, sondern erklärte auch: »Preußen geht fortan in Deutschland auf.«

Von etwa achtzig Prozent der volljährigen Männer teils in direkter, teils in indirekter Wahl gewählt, trat am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche eine deutsche Nationalversammlung zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen. An ihrer Aufgabe und Verantwortung, eine deutsche Verfassung und damit den ersehnten Nationalstaat zu schaffen, zweifelten die Abgeordneten nicht. Die Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung und vor allem die Geschichte ihres Scheiterns ist oft erzählt worden. Dass es den Abgeordneten gelang, eine freiheitliche deutsche Verfassung zu entwerfen, die einen Grundrechtekatalog in der Tradition der amerikanischen Verfassung und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte enthielt und den Föderalismus festschrieb, tritt demgegenüber oftmals in den Hintergrund. Zwar war der Nationalstaat der Paulskirche keine parlamentarische Demokratie, die Frage der Verantwortung der Regierung gegenüber dem Parlament blieb offen, aber der Reichstag mit seinen zwei Kammern – Volkshaus und Staatenhaus – hatte das Budgetrecht, er kontrollierte die Regierung und war die zentrale Gesetzgebungskörperschaft. In den Augen der gemäßigten Liberalen, die in der Paulskirche die Mehrheit stellten, war das ein gewaltiger Fortschritt, der alles in den Schatten stellte, was auf einzelstaatlicher Ebene bis dahin erreicht worden war. Doch der im Laufe des Jahres 1848 langsam Gestalt annehmenden Paulskirchenverfassung erwuchsen starke Gegner. Im Habsburgerreich schlug die Armee unter den Marschällen Windischgrätz und Radetzky zunächst die nationalen Aufstände in Ungarn, Böhmen und Oberitalien nieder, in Ungarn dabei unterstützt von russischen Truppen, bevor sie gegen die radikalen Revolutionäre in Wien vorging. In Preußen ließ der König das verfassunggebende Parlament aus Berlin jagen, bevor es wenige Wochen später aufgelöst wurde und der Monarch eine Verfassung oktroyierte.

Mit diesem doppelten Sieg der Gegenrevolution, in Wien und in Berlin, büßte die Frankfurter Nationalversammlung massiv an politischem Gewicht ein. Und über eine eigene, insbesondere militärische Macht verfügte sie nicht. Das war schon im Sommer 1848 in der Schleswig-Holstein-Frage deutlich geworden. Mit Beginn der 1840er Jahre hatte sich ein an Heftigkeit zunehmender und überdies national aufgeladener Konflikt über die beiden Herzogtümer Schleswig und Holstein entwickelt, die vom dänischen König in Personalunion regiert wurden, wobei Holstein aber zum Deutschen Bund gehörte. Die Frage hatte enormes nationalpolitisches Potential, und als sich die Spannungen im Frühjahr 1848 verschärften, war es wenig überraschend, dass sich die Nationalversammlung in der Paulskirche das Ziel der politischen Unabhängigkeit der Herzogtümer mit ihrer mehrheitlich deutschen Bevölkerung von Dänemark zu eigen machte. Dafür war man sogar zum Krieg bereit, zu einem nationalen Krieg, den mangels einer Nationalarmee preußische Truppen führen mussten.

Die Schleswig-Holstein-Frage reichte in ihrer Bedeutung über die beiden Elbherzogtümer und ihre Zugehörigkeit zum Deutschen Bund weit hinaus, denn hier flackerten Vorstellungen nationaler Macht und deutscher Größe auf, die zeigen, wie stark sich die Idee eines deutschen Nationalstaats inzwischen machtstaatlich aufgeladen hatte und wie stark dieser Nationalstaat, seine Begründung und seine Zukunft von der überwiegenden Mehrheit der Frankfurter Abgeordneten in Kategorien machtpolitischer Konfrontation gedacht wurden. Von Anfang an, so der Bonner Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, ein gemäßigter Liberaler, angesichts von Interventionsdrohungen der europäischen Großmächte, solle »die neue deutsche Macht … in ihrem Aufkeimen beschnitten (werden), sie soll, wenn es möglich wäre, nach allen Seiten hin zerfetzt und endlich zerbrochen werden! Unterwerfen wir uns bei der ersten Prüfung, welche uns naht, den Mächten des Auslands gegenüber …, dann, meine Herren, werden Sie Ihr ehemals stolz erhobenes Haupt nie wieder erheben!«8

Aber nicht nur in der Schleswig-Holstein-Frage wurde erkennbar, dass die Frankfurter Nationalversammlung den deutschen Nationalstaat nicht innerhalb der europäischen Ordnung des Wiener Kongresses zu etablieren trachtete, sondern gegen diese Ordnung, der man keine andere Absicht unterstellte, als Deutschland auf Dauer in einer Position der Schwäche, Abhängigkeit und Inferiorität zu halten. Fast 200 Jahre später taucht das gleiche Argument wieder im Hinblick auf die Europäische Union auf. Es gehört zum Kernarsenal des deutschen Nationalismus.9 1848/49 wurde dies ganz besonders da deutlich, wo das Parlament über die Grenzen und damit die territoriale Ausdehnung des künftigen Nationalstaats debattierte. Neben Schleswig im Norden ging es dabei um die preußische Provinz Posen im Osten, die nicht zum Deutschen Bund gehörte, ferner um Böhmen und Mähren, im Süden um das als »Welsch-Tirol« bezeichnete italienischsprachige Trentino, im Westen schließlich um das Herzogtum Limburg.10 Es waren Grenzgebiete mit gemischten Bevölkerungen, in denen neben Deutsch auch andere Sprachen gesprochen wurden und in denen auch die geschichtliche Entwicklung eine klare Bestimmung nationaler Zugehörigkeit erschwerte, wenn nicht unmöglich machte. Die Mehrheit der Frankfurter Abgeordneten kümmerte das nicht. In ihrem Bestreben, einen starken und mächtigen Nationalstaat zu errichten, gingen sie noch über Ernst Moritz Arndt hinaus, der in seiner Antwort auf die Frage »Was ist des Deutschen Vaterland?« schon 1813 die deutsche Nation jenseits politischer Grenzen oder historischer Gegebenheiten als Sprachnation bestimmt hatte: »So weit die deutsche Zunge klingt / Und Gott im Himmel Lieder singt / Das soll es sein! / Das, wackrer Deutscher, nenne Dein!«

Hatten die Teilnehmer des Hambacher Festes noch polnische Fahnen geschwenkt und das Vorparlament, das die Frankfurter Nationalversammlung vorbereitete, sich im Frühjahr 1848 für die »Wiederherstellung Polens« ausgesprochen, so waren in der Paulskirche ganz andere Töne zu hören. Für einen »gesunden Volksegoismus« plädierte in der Polendebatte der Paulskirche Ende Juli 1848 der liberale ostpreußische Abgeordnete Wilhelm Jordan. Einem unabhängigen polnischen Staat zuzustimmen, war für ihn »eine kurzsichtige, eine selbstvergessene Politik, eine Politik der Schwäche«. Er sprach von der »Übermacht des deutschen Stammes gegen die meisten slawischen Stämme«, die er zu einer »naturhistorischen Tatsache« erklärte, und bezeichnete die »deutschen Eroberungen in Polen«, nicht zuletzt durch die Polnischen Teilungen, die im späten 18. Jahrhundert den polnischen Staat von der Landkarte tilgten, als »Naturnotwendigkeit«. Es sei ein »Naturgesetz«, dass »ein Volkstum durch seine bloße Existenz noch kein Recht hat auf politische Selbständigkeit, sondern erst durch die Kraft sich als Staat unter anderen zu behaupten«. Das war Sozialdarwinismus avant la lettre. Recht war, so Jordan wörtlich, das »Recht des Stärkeren«. Durch Regeln und Verträge »den Völkern ihre Bahnen vorzuzeichnen«, hieß für Jordan, »Spinnengewebe auszuspannen, um darin Adler zu fangen«.11

Auch wenn nicht alle Abgeordneten so extrem argumentierten wie Jordan, wurde in den Debatten der Paulskirche doch deutlich, dass die noch mit liberalem und demokratischem Potential versehene Forderung nach nationaler Selbstbestimmung ihren universellen Charakter verlor, als man sich 1848 an die konkrete Umsetzung machte. Nun ging es um die Selbstbestimmung der Deutschen, um die Macht und die Überlegenheit der deutschen Nation und des deutschen Nationalstaats. Von der Vorstellung eines »Völkerfrühlings«, gar eines »Völkerbunds«, eines Bundes der Völker gegen die Kräfte der Reaktion und eine Politik der Repression war bald nicht mehr viel übrig. Im Gegenteil: Die Idee eines nationalen Machtstaats führte de facto zu einem Bündnis der Nationalversammlung beziehungsweise ihrer Mehrheit mit den Kräften der Reaktion – sei es mit der preußischen Regierung, die im Juli 1848 einen polnischen Aufstand in der Provinz Posen gewaltsam niedergeschlagen hatte, sei es mit dem österreichischen Militär, das gegen die italienischen Aufstände in Oberitalien vorging und dadurch auch den Verbleib des Trentino, also »Welsch-Tirols«, in den Grenzen des künftigen deutschen Nationalstaats sicherte. Während man im Falle Schleswigs und der Provinz Posen ethnisch und kulturell argumentierte, schien diese Begründung nationaler Zugehörigkeit für das Trentino nicht zu gelten. »Wir besitzen Südtirol und somit behalten wir es; das ist mein Völkerrecht«, erklärte ein österreichischer Abgeordneter in der Paulskirche.12