Schatten über dem Großen Arber - Friederike Schmöe - E-Book

Schatten über dem Großen Arber E-Book

Friederike Schmöe

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Beschreibung

Die Sportjournalistin Kaja überwirft sich mit ihrer Redakteurin. Sie hat noch eine letzte Chance, die Scharte auszuwetzen: Beim Berglauf am Großen Arber soll sie die Ultratrailläuferin Almut porträtieren. Die prominente Sportlerin will sich allerdings nur interviewen lassen, wenn Kaja selbst an dem Lauf teilnimmt. Die Journalistin merkt schnell, dass sie der Herausforderung nicht gewachsen ist, doch um ihren Job zu retten, wirft sie alles in die Waagschale. Als es einen Temperatursturz gibt und sie sich verläuft, macht Kaja eine schreckliche Entdeckung …

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Seitenzahl: 185

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Friederike Schmöe

Schatten über dem Großen Arber

Kriminalroman

Zum Buch

Tod am Arber Die Sportjournalistin Kaja überwirft sich mit ihrer Redakteurin. Sie hat noch eine letzte Chance, die Scharte auszuwetzen: Beim Ultraberglauf am Großen Arber soll sie die bekannte Trailrunnerin Almut porträtieren. Die prominente Sportlerin will sich allerdings nur interviewen lassen, wenn Kaja selbst an dem Lauf teilnimmt. Die Journalistin willigt ein, obwohl sie noch an einer alten Verletzung laboriert. Als sie am Arber eintrifft, stellt sie fest, dass offenbar mehrere Reporter eine ähnliche Verabredung mit Almut getroffen haben. Kaja ahnt schon beim Probelauf, dass sie den sportlichen Herausforderungen dieses Mega-Ereignisses kaum gewachsen ist. Doch um ihren Job zu retten, wirft sie alles in die Waagschale. Als es einen Temperatursturz gibt und sie sich verläuft, macht sie eine schreckliche Entdeckung, denn Kaja ist nicht die einzige, die durch den Nebel irrt …

Geboren und aufgewachsen in Coburg, wurde Friederike Schmöe früh zur Büchernärrin – eine Leidenschaft, der die Universitätsdozentin heute beruflich nachgeht. In ihrer Schreibwerkstatt in der Weltkulturerbestadt Bamberg verfasst sie seit 2000 Kriminalromane und Kurzgeschichten, gibt Kreativitätskurse für Kinder und Erwachsene und veranstaltet Literaturevents, auf denen sie in Begleitung von Musikern aus ihren Werken liest. Ihr literarisches Universum umfasst unter anderem die Krimireihen um die Bamberger Privatdetektivin Katinka Palfy und die Münchner Ghostwriterin Kea Laverde.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © / iStock.com

ISBN 978-3-7349-3300-4

Vorbemerkung

Der hier beschriebene Ultratrail am Großen Arber ist eine Erfindung, ebenso sind sämtliche Figuren und Handlungen sowie Sender und Magazine Resultate intensiver Fantasiearbeit.

Prolog

Dunst sickert durch Wald, umschmeichelt Bäume, Felsen. Kriecht ein Stück den Boden entlang. Im Wind reiben Äste aneinander. Eine Krähe gleitet heran, landet. Beäugt die Leiche mit ihren kalten Augen. Eine zweite schießt herbei, kreischt laut und anhaltend. Ein Fichtenzapfen knallt zu Boden. Vom Ameisenhaufen hinter dem nächsten Felsen machen sich Kohorten schwarzer Insekten auf den Weg. Wieder zerschneidet der Schrei der Krähe die Geräusche des Waldes. Der nächste Windstoß schleudert Nässe herab. Kurz hüllt Nebel die Szenerie ein, bevor sich die Sicht wieder lichtet.

Jemand kommt zwischen den Bäumen hervor. Die Krähen heben synchron die Köpfe, aufmerksam. Sie beobachten, wie die Person sich der Leiche nähert, zu Boden sinkt, dann aufspringt und davonrennt, zwischen die Bäume, ehe sie außer Sicht gerät. Die Vögel hüpfen näher an die potenzielle Futterquelle. Sie sind nicht furchtsam, nur vorsichtig. Der Wald ist heute erfüllt von Menschen. Hunderte jagen den Hang hinauf, winden sich den schmalen Pfad zwischen den Felsen entlang.

Die Leiche liegt auf einem weichen Bett aus Fichtennadeln. Ein unbedarfter Beobachter könnte meinen, dass dort ein Mensch einen Ruheplatz für einen kurzen Schlaf gesucht hat. Nur die Nässe spricht dagegen, die Kälte. Der Nebel, der sich nun ausdehnt, weiße Schlieren zwischen den Baumstämmen. Und die Kopfwunde. Blut ist zwischen Haaren hervorgesickert. Schon haben kleine Lebewesen die Nahrungsquelle entdeckt.

Die Ameisen rücken heran. Nun wollen auch die Krähen ihren Anteil haben. Lautes Krächzen über den Wipfeln kündigt weitere Profiteure an.

Sanft legt sich der Nebel über die Szenerie. Als würde sich ein Vorhang schließen.

Die Wochen vor dem Lauf

1.

Ein Abend. Mein Abend. Eine Frau nicht ohne Schwierigkeiten, aber mit Potenzial. Schön anziehen, schminken, ausgehen, feiern. Trotz allem. Auf dem Parkplatz haben die Dickschiffe alles belegt, sie fährt wieder weg, kurvt im Viertel umher, bis sie eine Parklücke an der Straße entdeckt. Geht zurück zum Hotel.

»Guten Abend, Ihr Name bitte …«

Mit einem gewissen Stolz zeigt sie den QR-Code auf ihrem Handy dem Mann im Anzug, dem Herrn über die Gästeliste, vergewissert sich mit einem Blick in den Spiegel am anderen Ende der Eingangshalle, dass alles sitzt: Kleid, Make-up, Schmuck. Nur ein Armreif und die Perlenohrringe. Understatement. Nichts übertreiben.

Grün steht ihr, stellt sie fest. Sie wird durchgewunken.

Langsam spaziert sie durch das Foyer. Genießt jeden Moment. Jeden Schritt. Selten genug, dass sie nicht in Sportklamotten unterwegs ist. Sie ist 34, fühlt sich frei, hat ein paar Träume, davon einen großen. Nach Frankreich, das wäre toll. Für ein Jahr oder so. Nicht als Sabbatical. Um zu arbeiten! Sie hat womöglich Chancen, eine Schwangerschaftsvertretung zu übernehmen. Heute Abend will sie nachfassen. Sie ist fest entschlossen, zwei, drei Gespräche zu führen, Kontakte zu suchen, sich ins Spiel zu bringen. Sie ist Journalistin geworden, weil es ihr nie schwerfiel, mit Menschen in Kontakt zu treten. Sie findet immer einen Anknüpfungspunkt, irgendetwas, das sie mit einer Person verbindet. Neugier, Offenheit, Fröhlichkeit auf Knopfdruck. Professionalität.

Im Saal schäkert, smalltalkt, flirtet die Prominenz. Was Rang und Namen hat in München, ist eingeladen. Sie auch, also ran an den Speck. Entschlossen greift sie nach einem Glas Prosecco vom Tablett eines Kellners. Auf der Bühne jammt eine kleine Jazzcombo. Der Saxofonspieler biegt seinen Oberkörper weit nach hinten und reckt sein Instrument in die Luft. Eine bluesige Version von »Les feuilles mortes«. Frankreich.

»Frau …«, spricht ein Mann im Anzug sie an, noch bevor sie Witterung aufnehmen kann.

»Herr Adler, wie schön, Sie heute hier zu treffen!« Sie lächelt so strahlend, wie sie es früher anscheinend immer tat. Deswegen sind die Männer auf sie geflogen. Manches ist verweht, aber das Lächeln anknipsen, das geht noch immer. »Wie geht es Ihnen? Und Ihrer Frau?«

»Danke der Nachfrage, alles wunderbar. Bei Ihnen auch alles in Ordnung? Ich habe Sie lange nicht gesehen.«

»Ich bin bei Sport&Berg.«

»Ach, immer noch.«

Jens Adler ist ein hohes Tier in dem Zeitschriftenverlag, zu dem Sport&Berg gehört. Seine Bemerkung lässt sie kurz ihre gute Laune vergessen. Immerhin hat er gewusst, dass sie schon eine Weile dort arbeitet.

»Kann sein, dass ich mich nach Größerem strecke«, gesteht sie augenzwinkernd.

»Sie haben das Zeug dazu. Sie können doch nicht immer nur Rucksäcke und Zelte testen, wie?« Er grinst.

Sie nippt am Prosecco und tut so, als müsste sie ein Lachen unterdrücken. Dabei zieht ihr diese Bemerkung beinahe den Boden unter den Füßen weg. Wie es anderen gelingt, den Finger genau in die Wunde zu legen …

»Nicht doch, Herr Adler. Von wegen Zelte und Rucksäcke! Im vorigen Herbst habe ich ein paar Klettersteige in den Bayerischen Alpen ausprobiert. Die Reportage erscheint im nächsten Heft.«

»Sie sind wirklich eine Sportskanone. Melden Sie sich doch einmal, wenn Sie im Stammhaus sind!« Adler winkt, dreht sich um und spricht die nächste Frau an, die der Abend allein hereingeweht hat.

Sie hat den Rundumblick aktiviert. Ihr Glas ist bereits halb leer. Sie bremst sich, nur nicht zu viel Alkohol, sie muss fit bleiben. Bei einer Kellnerin stellt sie ihr Glas ab und bittet um einen alkoholfreien Drink. Sie ist Sportlerin. Fitness, Gesundheit, Laufen, Yoga, Trainieren. Themen, die sie gewohnheitsmäßig beackert. Wenn Jutta ihr das Okay gibt, darf sie im September ins Engadin und die Wanderreportage machen.

Sofern sie nicht nach Frankreich geht.

Der Punkt ist, dass sie bald für nichts anderes mehr taugt als für Sport. Man legt sich zu früh im Leben fest, denkt sie bedauernd, während sie in Richtung Bühne schlendert, hier und da ein Lächeln absendet. Sie ist gern offensiv. Meistens fragen sich andere dann, ob sie sie kennen müssten, und es fällt ihr leicht, ein Gespräch zu beginnen. Die Musik wird lauter. Am hinteren Ende des Saales wird ein Büffet aufgebaut. Ihr knurrt der Magen, sie ist heute schon eine große Runde gelaufen. Wird Zeit, dass sie ihrem stets hungrigen Körper ein wenig Energie anbietet. Sie muss grinsen. Der Sport kann zur Sucht werden. Sie hat lernen müssen, besser mit ihren Kräften zu haushalten. Seit dem Unfall …

Noch ist sie nicht bei ihrer alten Leistungsfähigkeit. Obwohl sie proaktiv trainiert, sogar für einen Monat einen Coach verpflichtet hatte. Der Fuß will noch nicht, die Schmerzen kommen noch zu häufig, vor allem anderen muss sie sich vor Überlastung hüten. Eine Sache des Alters … Vor zehn Jahren hätte sie sich schneller erholt.

Eine junge Frau spricht sie an.

»Hey, wie läuft es bei Sport&Berg?«

Sie hat den Namen des jungen Hüpfers nicht mehr parat.

»Ich war vor drei Jahren Praktikantin bei euch. Jetzt arbeite ich bei …«

Ihre Aufmerksamkeit driftet weg von dem steten Redefluss dieser blonden temperamentvollen Frau mit den Sommersprossen. Dieser Job ist einer, der einen nie lang an einem Ort lässt. Nur sie selbst hockt bei Sport&Berg. Seit … einer gefühlten Ewigkeit.

»Das freut mich für dich. Amüsiere dich gut!« Sie kann sich an den Namen immer noch nicht erinnern.

Der Abend plätschert so dahin. Sie macht Konversation, prüft die Menge nach bekannten Gesichtern, tanzt mit ein paar Kollegen, alten und aktuellen, achtet darauf, stets weiterzuziehen, keine Chance auszulassen, bei den wichtigen Leuten anzudocken. Small Talk ermüdet. Sie will darauf achten, noch ein paar Stunden munter auszusehen.

Sie geht zur Toilette, frischt das Make-up auf. Stützt sich auf den Waschtisch, geht mit der Nase nah an den Spiegel. Fältchen um die Lippen und die Augen. Sie wird älter, gar keine Frage. Womöglich denkt sie zu viel da­rüber nach, das nimmt ihr den Spirit. Sie braucht einen Fuß in der Tür. Frankreich. Immer wieder Frankreich. Noch einmal einen richtigen Schritt nach oben auf der Karriereleiter machen. Die Tür zum Waschraum geht auf, zwei Frauen stolpern lachend herein.

Sie verlässt den Waschraum beinahe fluchtartig, geht zum Büffet, nimmt sich ein paar Teilchen und wandert weiter. Schlingt das Fingerfood herunter. Ihr Hals ist ganz trocken. Sie sieht eine Traube Leute bei der Theke stehen. Ein Bier wäre jetzt nicht schlecht. Oder ein Glas Chardonnay. Eiskalt. Etwas Erfrischendes, achtsam genossen. Ein bisschen Alkohol. Um die schädliche Negativität auszublenden, die sich über sie hermacht. Sorgen teilen sich mit und stoßen andere ab. Das hat sie oft in ihrem Job feststellen müssen. Geh ausgeschlafen und heiter zu einem Interview. Wenn du bekümmert bist, mach erst mal Sport, um deine Ausstrahlung auf andere zu klären. Hat sie genau das nicht damals dieser Praktikantin eingetrichtert, der Blonden, der mit den Sommersprossen?

Sie sieht sich suchend um.

»Auch allein hier?« Ein Typ dreht sich zu ihr um, ein Bierglas in der Hand. Groß, braun gebrannt. Sein Gesicht kommt ihr bekannt vor. Klar. TV. Diese Sportsendung auf …

»Ich habe meine Praktikantin aus den Augen verloren.« Sie strahlt ihn an.

»Was möchten Sie trinken?« Er winkt bereits dem Barmann.

»Einen Chardonnay. Eiskalt.«

Er wiederholt genau dies vor dem Barmann.

Fernsehen. Daran hat sie nie gedacht. Den Ehrgeiz hätte sie wohl, aber nicht die Traute. Sie mag keine Kameras. Nun ist sie doch nicht mehr sicher, ob sie sein Gesicht kennt.

»Helfen Sie mir auf die Sprünge. Woher kenne ich Sie?«

Er winkt grinsend ab. »Erzählen Sie lieber etwas über sich.« Schmeichlerisch beugt er sich vor. »Sie haben grüne Augen.«

Der Barmann schiebt das Glas über den Tresen. Sie greift danach.

»Noch nie grüne Augen gesehen?«

Er lacht. »Nicht allzu oft.«

»Sie moderieren diese Sportsendung bei …«

Er zuckt die Achseln. »Und Sie?«

»Magazin. Sport&Berg.«

»Da bewundere ich Sie.«

»Warum das?«

»Das geschriebene Wort flößt mir Respekt ein. Babbeln kann jeder.«

»Ich bin auf der Suche nach einer Veränderung.«

»Was schwebt Ihnen vor?«

Sie trinkt zu schnell vom Wein. Der Alkohol steigt ihr sofort zu Kopf. Sie hätte mehr essen sollen, für eine bessere Grundlage sorgen. Neben ihr drängen sich zwei Männer an die Theke. Es wird eng und laut.

»Frankreich«, sagt sie.

»Sportlich gesehen ein weites Feld.«

»Grenoble.«

Er unterbricht sofort.

»Alpen. Klar. Outdoor-Sport, wie? Berge, Klettern, Slalom?« Er lacht. »Noch ein Glas Wein?«

Sie starrt in ihr Glas, das sie geleert hat, hinter ihrer Stirn beginnt es zu pochen.

Er redet schon weiter:

»Ich war mal ein Jahr in Lausanne, habe dort noch ein paar Kontakte. Sprechen Sie Französisch?«

»Natürlich.«

Er hat ein neues Glas für sie bestellt. Sie greift danach, zwingt sich jedoch, noch nicht zu trinken.

»Was haben Sie in Lausanne gemacht?« Sie will nicht sofort nach den Kontaktdaten fragen. Nur nicht zu hungrig erscheinen, das macht einen scheußlichen Eindruck, wie ein Straßenköter, der sich auf ein Stück Schinken stürzt.

»IOC«, erwidert er lässig.

Sie werden ein Stück von der Theke abgedrängt, als zwei Paare eine Bestellung aufgeben. Eine der Frauen kommt ihr bekannt vor. Sie trägt das Haar locker hochgesteckt. Hat den klassischen Läuferkörper, dünn, ohne ein Gramm Fett am Leib. Die passende Figur für das dunkelrote Schlauchkleid.

»Sie wissen ja, Olympia ist ein gigantisches Geschäft. Zugleich muss man so tun, als ginge es ausschließlich um den Sport. Um Leistung, Fairness und Wettbewerb. Eine gewaltige Augenwischerei. Es gibt also viel zu tun für einen Journalisten in Lausanne.« Er betrachtet sein Bierglas.

Sie nippt nun doch am Wein. Es wird immer heißer, die Musik lauter. Der Schmerz hinter ihrer Stirn lässt sich kaum mehr ignorieren. Dabei hat sie das Gefühl, dass jemand sie anstarrt. Ihr Gegenüber kann es nicht sein, der scheint gerade eher nach innen zu blicken.

Come on, motiviert sie sich. Vielleicht wird es nicht Frankreich, sondern die Schweiz. Kontakte sind Kontakte. Meter für Meter werden sie von der Theke weggedrängt.

Sie findet sich auf den Polstern einer Sitzgruppe wieder. Fragt ihn über das IOC aus, ohne sich irgendetwas von dem zu merken, was er vom Stapel lässt. Ihr Kopf brummt, sie versteht ihn kaum. Unerwartet wendet sich ihr Gespräch Privatem zu. Er kann witzig sein und zugleich klug.

Von irgendwo kommt ein neues Glas Wein. Sie stoßen an. Sein Gesicht verschwimmt vor ihren Augen.

Die Wellen der Musik schlagen über ihr zusammen.

2.

… müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass das vorgesehene Interview nicht stattfinden kann.

Hochachtungsvoll …

Kaja starrt auf den Bildschirm. Der Text beginnt zu flimmern. Es kann nicht sein, was sie da liest. Das Interview hat sie fertig vorbereitet, in drei Tagen ist der Termin.

… nicht stattfinden kann …

Sie scrollt und scrollt, versucht, sich zu beruhigen, merkt, dass sie die Luft anhält. Atmet langsam aus. Das ist nicht wahr. Es gibt nicht einmal eine Entschuldigung. Keine noch so fadenscheinige Floskel. Matthias Burck, der Skiläufer mit dem Engagement für die Umwelt und den vielen Medaillen, lässt die Journalistin des renommierten Magazins im Regen stehen. Da steht nur etwas von Terminproblemen wegen Wettkampfvorbereitung.

Wettkampfvorbereitung? Es ist Juni. Aber gut, Leistungssportler bereiten sich immer auf irgendeinen Wettkampf vor.

Kaja stößt sich vom Schreibtisch ab, rollt mit dem rückenfreundlichen Bürostuhl über das Pseudoparkett. Jemand in der Liga, in der Burck mittlerweile mitspielt, hat Coaches, Berater, Agenten. Einen Verband im Rücken. Der entscheidet nichts mehr allein.

»Shit!«, brüllt sie in das leere Büro. Sie fühlt sich ausgepowert, als hätte jemand alle Energie aus ihr herausgesaugt, binnen Sekunden. Langsam sacken die Konsequenzen in ihr Bewusstsein. Es ist nicht nur eine Absage. Es ist ihr Ende. Kajas Job bei Sport&Berg steht auf wackeligen Beinen. Das Interview mit dem berühmten, angesagten Matthias Burck hätte ihr wieder einen gewissen Stand verschafft.

Sie schwächelt nicht nur beruflich. Auch psychisch. Die Verletzung am Fußgelenk macht immer noch Schwierigkeiten. Wenn sie ihr Trainingspensum steigert, melden sich die Schmerzen. Der Physiotherapeut hat sie gewarnt: Nicht übertreiben, man kann eine Steigerung der Belastung nicht erzwingen.

Sie will sich nicht zufriedengeben mit dem, was ist. Sie will mehr. Einfach immer mehr. Die Sache auf dem Presseball – sie ist immer noch nicht darüber hinweg. Irgendwas war da, sie kommt nicht drauf. Hat einen Filmriss. Ganz klassisch. Da ist nichts, an das sie sich erinnert, außer dass sie mit jemandem über Lausanne gesprochen hat. Woraus nichts wurde, weil sie nicht mehr weiß, mit wem sie dieses Gespräch geführt hat und was schließlich vereinbart wurde. Eine Kollegin hat Kaja nach Hause gebracht. Hat die Situation richtig eingeschätzt, Kaja zu ihrem Auto geschafft, irgendwann nach Mitternacht. Auch diese Heimfahrt ist Kaja aus dem Gedächtnis gerutscht wie ein glitschiges Etwas, das sie eben noch in der Hand hielt, um es im nächsten Moment davongleiten zu sehen. Die Erinnerung ist versackt in einem Chaos aus Dunkelheit und Brechreiz.

Die Kollegin hat Jutta informiert, und Jutta hat Kaja zur Rede gestellt: Wenn du dich auf dem Presseball besäufst, bist du ein Problem für die Redaktion, für das Magazin und für den ganzen Verlag. Jutta, ihre unmittelbare Vorgesetzte, die Matriarchin von Sport&Berg. Am Ende hat Kaja sich entschuldigt. Es fühlte sich falsch an. Sie kann sich nicht erinnern, sich betrunken zu haben. Sie ist Sportlerin, achtet auf sich, noch nie hat sie sich besinnungslos gesoffen.

… müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass das vorgesehene Interview nicht stattfinden kann.

Den berühmten Matthias Burck an Land gezogen zu haben, hat ihr Anerkennung bei Jutta eingebracht. Mit diesem Trumpf in der Hand ist Kaja wieder aus dem Sumpf gekrochen, in den der Presseball sie getunkt hat. Sie greift nach der Trinkflasche und nimmt einen großen Schluck Wasser, das sie mit einem dieser trendigen Würfel aus Frucht- und Pflanzenextrakten verfeinert hat. Angeblich ganz aus natürlichen Rohstoffen. Der Melonengeschmack ist ihr ein wenig zu durchdringend, aber wenigstens mal was anderes als nur Wasser. Die Sonne knallt zum Fenster herein. Noch ein Schluck aus der Flasche. Sie hat heute Morgen noch Eiswürfel hineingeworfen, die halten das Wasser wenigstens eine Weile kalt.

Ihr Blick gleitet aus dem Fenster, sie kann bis zu den Türmen der Frauenkirche sehen. Manche beneiden sie um ihren Arbeitsplatz. Sie kann hier konzen­triert schreiben, organisieren, telefonieren. Es ist toll in so einem Verlagshaus, hier arbeiten die, die es geschafft haben, einen attraktiven Job unter all dem Langweilerkram ergattert zu haben. Dafür bringen sie bereitwillig Opfer, vor allem die Frauen. Von Arbeitsterminen zerrissene Wochenenden, Ärger mit den Partnern, Anmache von den Männern aus den oberen Etagen, überbordende Kritik durch die weiblichen Chefs.

Im Prinzip mag Kaja ihren Job. Auch wenn der Lack ab ist. Und dennoch sehnt sie sich weg aus München. Sie hat die Fühler nach einer Schwangerschaftsvertretung in Grenoble ausgestreckt. Zwei Jahre könnte sie als Journalistin der Sport&Berg für die Westalpen und die Pyrenäen zuständig sein. Viel reisen, Expeditionen, Staub an den Schuhen. Oder auch Schnee. Wenn Jutta »ja« sagt und noch ein paar andere in diesem Überdruckkessel von einer Redaktion, in der Kaja als Rädchen im Getriebe funktioniert, eine Akkordarbeiterin, die das Gesicht kaum noch über Wasser halten kann. Frauenkirche hin oder her. Was hält sie noch in München, wo Jan nicht mehr da ist? Noch vor einem Jahr hätte sie nicht im Traum daran gedacht, ohne Jan zu leben. Noch dazu mit einem Fuß, der nicht so will wie sie. Es war nicht der Unfall, denkt sie, daran lag es nicht, dass Jan und ich …

Sie lässt die Jalousien herunter. Ihr angespanntes Gesicht spiegelt sich in der Scheibe. Sie greift nach ihrem Haar, dreht einen lockeren Knoten, den sie mit einem Bleistift feststeckt.

Es hilft nichts. Sie muss mit Jutta sprechen. Das Interview ist geplatzt. Was ihrer Bewerbung für die Schwangerschaftsvertretung nicht förderlich ist. Sie braucht eine neue Idee, ein Thema. Die Nummer für September/Oktober ist durchgeplant, für Matthias Burck waren zwei Seiten reserviert. Womit soll sie die füllen?

Entschlossen setzt Kaja sich an den PC. Sie wird schon ein Topic finden. Etwas, das sich lohnt. Etwas, das sogar Jutta überzeugt.

3.

Sie loggt sich aus. Der Blick auf ihr Girokonto ist zu frustrierend, als dass sie sich dem noch länger aussetzen kann. Verdammt! Die Idee schien ihr so gewaltig, so zwingend … Irgendwie hat sie das Risiko unterschätzt. Was ihr selten passiert. Im Outdoorsport muss man das Risiko jede Minute auf dem Schirm haben. Mit Skiern im Tiefschnee fahren, einen Bergtrail laufen, tauchen. Bei diesen Aktivitäten ist sie konzentriert und sich der Gefahren bewusst. Jedes Detail ist vorbereitet. Manchmal läuft etwas trotz 100-prozentiger Planung aus dem Ruder. Die Erfahrung hat sie Strategien entwickeln lassen, um mit Unwägbarkeiten zurechtzukommen.

Dabei hat sie sich eingebildet, sie hätte auch im Beruflichen ihre Skills aus dem Sport spielen lassen. Hat sie nicht Listen angelegt, Pro- und Contra-Argumente gesammelt, alles tausendmal durchdacht, einen Plan B erstellt? Wütend greift sie in die Tüte mit den Cranberrys. Sie braucht dringend Energie, sie braucht eine Idee, wie sie die nächste Monatsmiete bezahlen soll. Der ganze technische Schnickschnack, den sie bestellt hat! Ratenzahlung im Internet, so was sollte verboten werden. Sie steht mit dem Rücken zur Wand, und die Klicks auf ihrer Seite gehen auch nicht durch die Decke, so wie es zuerst den Anschein hatte. Als sie loslegte, stiegen die Followerzahlen rasant, doch sie kommt nicht über die magische Marke von 10.000. Im Gegenteil, die Zugriffe auf ihre Clips werden weniger. Da haben wohl manche ihren Kanal abonniert, schauen jetzt aber kaum noch auf ihre Seite. Sie kann nur hoffen, dass das bald anders wird.

Sie wirft die Tüte auf den Tisch. Tritt ans Fenster. Unten auf der dunklen Straße ist alles still, nur ein Mann führt seinen Dackel spazieren.

Sie braucht dringend Geld. Eine Finanzspritze, mit der sie ihre Pläne vorantreiben kann. Da ist ja der Ultratrail am Arber, der wird der Knaller. Wenn sie es schafft, diese Herausforderung geschickt mit den ganz harten Emotionen zu verbinden, werden die Klicks nur so hereinkrachen. Bis dahin hat sie noch eine Weile. Sie trainiert hart. Wobei das Training für sie nicht der Punkt ist. Ihr Körper tut, was sie will. Ihr Problem ist, dass sie ihren Job hingeschmissen hat für etwas vermeintlich Größeres, und jetzt steckt sie in der Scheiße.

Sie checkt ihr Handy. Legt es nachdenklich auf den Tisch. Steht auf, zieht die Laufschuhe an. Sie trainiert manchmal nachts. Vor allem jetzt im Sommer, wo es so heiß ist, dass man sich tagsüber kaum bewegen möchte. Und auf ihrer Trainingsrunde … Sie verzieht das Gesicht. Ist keineswegs siegesgewiss, doch was bleibt ihr für eine Möglichkeit?