Schatten über Südtirol - Friederike Schmöe - E-Book

Schatten über Südtirol E-Book

Friederike Schmöe

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Beschreibung

Vera hat ihren Job verloren, und die Wohnung wird ihr auch gekündigt. Um die Kaution für eine neue Wohnung aufzubringen, erklärt sie sich bereit, als Kurier eine Charge Kokain nach Südtirol zu bringen. Als die Übergabe scheitert und Vera nur knapp dem Tod entkommt, rettet sie sich in die vermeintliche Sicherheit einer Schutzhütte in den Bergen. Doch selbst dort ist ihr Leben in Gefahr. Verfolgt von Drogenkartell und Polizei bleibt ihr nur der riskante Fluchtweg über die Alpen …

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Friederike Schmöe

Schatten über Südtirol

Kriminalroman

Zum Buch

Die dunkle Seite der Berge Vera hat ihren Job verloren, die Wohnung wird ihr gekündigt. Finanziell steht sie total auf dem Schlauch. Um die Kaution für die neue Wohnung aufzubringen, erklärt sie sich bereit, als Kurier eine Charge Kokain nach Südtirol zu bringen. Ihre betagte Nachbarin Irma begleitet sie – ohne zu ahnen, dass diese Reise kein entspannter Urlaub wird. Als Vera die Ware übergeben will, wird auf sie geschossen. Nur knapp dem Tod entkommen, versucht sie, Irma in Sicherheit zu bringen, doch die ist spurlos verschwunden. Vera rettet sich in die vermeintliche Sicherheit einer abgelegenen Schutzhütte in den Bergen. Dort trifft sie einen einsamen Bergsteiger, der ihr seine Hilfe anbietet. Kann sie ihm trauen? Denn nicht nur ihr Leben, sondern auch das von Irma steht auf dem Spiel. Verfolgt von Drogenkartell und Polizei bleibt ihr nur der riskante Fluchtweg über die Alpen …

Geboren und aufgewachsen in Coburg, wurde Friederike Schmöe früh zur Büchernärrin – eine Leidenschaft, der die Universitätsdozentin heute beruflich nachgeht. In ihrer Schreibwerkstatt in der Weltkulturerbestadt Bamberg verfasst sie seit 2000 Kriminalromane und Kurzgeschichten, gibt Kreativitätskurse für Kinder und Erwachsene und veranstaltet Literaturevents, auf denen sie in Begleitung von Musikern aus ihren Werken liest. Ihr literarisches Universum umfasst unter anderem die Krimireihen um die Bamberger Privatdetektivin Katinka Palfy und die Münchner Ghostwriterin Kea Laverde.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Svenni / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7460-6

Prolog

Vera rennt. Ihr ganzer Körper kennt nur eins: weg!

Sie umrundet die Wandergruppe, die vor dem Eingang zur Bergstation unschlüssig herumsteht. Die automatischen Türen gleiten beiseite. Sie läuft in die Station. Hier drinnen sind kaum Leute. Verdammt! Sie hat auf den Schutz der Menge gehofft. Ein kurzer Blick zurück durch die Glastür. Die Männer aus dem Geländewagen stürmen heran. Außer Vera ist niemand hier drin. Kein Aufsichtspersonal. Kein Passagier, der ins Tal möchte. Auch keiner, der oben ankommt. Gondel um Gondel schaukelt leer an ihr vorbei.

Die Toilette!

Vera stößt die Tür auf. Erste Tür links: das Herrenklo. Sie rennt hinein, in eine Kabine. Kein Licht. Sie steigt auf den Klodeckel und zieht sich hoch, hockt sich auf die Trennwand, zieht den Kopf ein. Über ihr hängt das Gitter einer Belüftung halb aus der Wand. Sie reißt daran, zerrt, ein keuchender Laut entfährt ihr. Schon hält sie es in den Händen. Schnell kriecht sie in den Schacht dahinter, mit den Füßen voran, zieht den Kopf ein, rammt das Gitter in Position. Kriecht noch ein Stück weiter. Hinter sich spürt sie einen deutlichen kühlen Luftzug.

Jemand kommt herein. Vera stellt das Atmen ein.

»Verflucht, kein Licht, oder was?« Der Typ schlägt ein paarmal auf den Schalter. Nichts.

Eine Taschenlampe flammt auf, leuchtet in die Klokabine. Der Lichtstrahl wandert hoch, gleitet über das Gitter. Vera schließt die Augen, presst ihr Gesicht auf den staubigen Boden.

»Scheiße!«, flucht der Verfolger.

»Im Frauenklo nichts«, kommt es von draußen.

Vera blinzelt. Der Lichtschein kommt noch näher. Dann, abrupt, geht das Licht aus.

»Hier auch nichts.«

Ganz vorsichtig atmet Vera durch. Die Tür fällt zu.

1.

Vera starrt auf die Tüte, die Darius ihr in die Hand drückt. Es ist eine große Tüte aus dickem, reißfestem Plastik, wie man sie in Möbelhäusern bekommt, darin sind vier Päckchen, in Folie verpackt, mit breiten Klebstreifen umwickelt. Sie tastet über die Folie. Schätzt das Gewicht. Drei Kilo? Vier Kilo? Eher vier.

»Am Freitag bekommst du das Geld!«, unterbricht er ihre Gedanken.

»Ist das sicher? Ich muss es Freitagmorgen in Händen haben. Die Summe muss spätestens mittags bei der GWL eingehen.« Gesellschaft für Wohnen und Leben. Was für ein protziger Name! Nur leider ihre letzte Rettung.

»Bombensicher.«

Seine Unterarme sind behaart, sogar seine Hände. Der schmuddelige Bart macht sein zartes Gesicht unansehnlich. Er riecht nach Schweiß und nach etwas anderem, das sie nicht benennen kann, irgendwie chemisch, findet sie. Sein Blick ist unstet, die großen dunklen Augen geistern über den Parkplatz. Er atmet hektisch durch den Mund. Es ist Anfang Juli, kurz nach 22 Uhr abends. Ein leichter Wind fährt durch die dürren Birken, die den Parkplatz säumen, dahinter beginnt ein Wanderweg. Jenseits, vielleicht einen guten Kilometer entfernt, liegt ein Wald, im Zwielicht nur eine dunkle Masse, bewegungslos und still. Kein Vogel pfeift. Auf der schmalen Straße ist um diese Zeit kein Auto mehr unterwegs. Immer wieder sieht Darius sich um, nervös, hektisch, aber sein Gesichtsausdruck bleibt davon seltsam unberührt. Fast, als ginge ihn dieses Treffen nichts an.

»Du weißt, wie du fahren musst?«

»Natürlich.«

»Ich verlasse mich auf dich. Hast du das Handy?«

»Sicher.«

»Denk dran: Kontaktaufnahme nur, wenn etwas schiefgeht.«

Ihr krampft sich der Magen zusammen. »Meinst du, es ist riskant?«

»Alles ist immer irgendwie riskant. Aber du kannst eine Menge Geld verdienen.« Er sagt es herablassend. »Du brauchst doch Geld.«

Nie war es so eng. Selbst in den an Problemen reichen Zeiten als Alleinerziehende. Also nickt sie und schämt sich dabei.

»Okay. Dann wäre alles geklärt.« Es klingt fast so, als täte er ihr einen Gefallen.

Und so ist es auch, denkt Vera. Sie lässt sich darauf ein, weil sie nicht anders kann. Wenn es funktioniert, dieses eine Mal, dann hat sie die Summe, die sie braucht.

»Denk dran, wenn jemand fragt: Mein Name tut nichts zur Sache. Du weißt nicht, von wem du das Zeug hast, klar?« Seine Augen bohren sich in ihre, mit einem strengen, unbarmherzigen Ausdruck.

»Ja, natürlich. Das habe ich verstanden.«

Seit Jahren benutzt er einen anderen Namen.

»Du weißt nichts von mir. Du sagst auch deinen Namen nicht, kapiert? Zu niemandem.«

Vera nickt schweigend. Sie muss irgendwo übernachten, da muss sie sich ausweisen, schließlich ist Italien Ausland. Mag sein, dass Darius glaubt, sie würde im Auto schlafen. Über solche Details haben sie nicht gesprochen.

»Du brauchst nicht nervös zu werden«, sagt Darius mit einem scharfen Unterton in der Stimme. »Es gibt keine Kontrollen mehr. Nur auf dem Weg zurück an der bayerischen Grenze.«

Sie denkt, das Päckchen ist sie auf der Rückreise sowieso los, zwar wird sie Geld in der Tasche haben, viel Geld, doch wen sollte das interessieren, eine Frau Mitte 40 gehört nicht zur klassischen Zielgruppe, die der Zoll genauer unter die Lupe nimmt. Junge Männer mit behaarten Armen sind verdächtig, solche wie Darius. Solche mit unstetem Blick, mit Geisteraugen, mit einem schweißig-chemischen Geruch, der ihnen anhaftet, egal, wie viel Aftershave sie über sich drüber kippen. Vera versucht vergeblich, etwas Vertrautes in Darius’ Gesicht zu entdecken; ein Lächeln, das ihr Mut machen könnte, zum Beispiel. Wenn sie nur wüsste, wo er wohnt.

»Okay, ich muss dann.« Darius nickt ihr zu, wie man einer flüchtigen Bekannten auf der Straße zunickt. Dabei wippt sein dünner Pferdeschwanz. Sein Haar wird schütter, jetzt schon. Seine hübschen seidigen Wimpern sind verlorengegangen. Sie möchte sagen, warte, wie geht es dir, komm mich mal besuchen, trinken wir einen Kaffee zusammen, aber er sitzt schon in dem schmutzbespritzten Pick-up, lässt den Motor an. Wozu braucht er einen Pick-up, denkt sie, und womit hat er den bezahlt? Der schwere Wagen braust vom Parkplatz, wirbelt Split auf. Seit Jahren stellt sie ihm keine Fragen mehr, genau genommen, seit er 16 wurde. Müde geht sie zu ihrem Polo, schiebt die Tüte unter den Beifahrersitz und fährt nach Hause.

Es ist Samstag, der 4. Juli, 22.45 Uhr.

2.

Vera packt. Dazu lässt sie die CD mit den Bergliedern laufen, die Walter mal angeschafft hat. Die hat sie immer belächelt, sie mag keine Berge, die verstellen ihr die Sicht, nur jetzt ist sie genau dahin unterwegs. Wobei sie, genau genommen, bloß durchfährt. Hin, Auftrag erledigen, weg. Keine Zeit, mit einer Gondelbahn auf einen Gipfel zu fahren.

La Montanara, singt ein Chor. Der alte Hit von Vico Torriani. Gehört verboten, denkt Vera, so was von schmalzig. Aber irgendwie schön. Die Nacht ist mild. Die Straße liegt ruhig. In der Wohnung über ihr schrappt ein Möbel über den Boden.

Sie wird niemanden informieren. Oder doch – Irma Seliger vielleicht, die im Erdgeschoss wohnt. Die könnte ihre, also Veras, Post in ihre Wohnung legen. Nur damit nicht auffällt, dass Vera nicht da ist. Man kann nie wissen. Irma wird nichts fragen, die lebt auch allein mit ihren Geheimnissen, wie Vera eben.

»Von fern rauscht der Wasserfall«, singt der Chor.

Sie hat früher mit Walter gecampt, als Darius noch klein war. Das große Ziel war jeden Sommer die Adria. Sie hatten einen Anhänger mit Zelt, Feldküche, »ganz easygoing« nannte Walter das. Vera empfand diese Ferien trotz aller Freude über die Auszeit jedes Mal als Stress. Darius stolperte ständig über die Heringe und über die Seile, die das Zelt hielten, fiel hin und weinte. Er war ein empfindliches Kind, das wenig lachte. Schon als Säugling verspannt. Walters Geduld reichte nicht weit, wenn es darum ging, den Kleinen zu trösten und Pflaster auf die aufgeschlagenen Knie zu kleben. Anfangs dachte sie, das wäre eben die Aufgabe der Mutter. Bis sie herausfand, was nicht stimmte.

Jetzt hat sie das kleine Zweipersonenzelt neben sich gelegt, die Wanderschuhe, Regenzeug, Sportklamotten, Gaskocher. Es soll alles so aussehen, als wollte sie campen. Ein netter Urlaub in Italien. Sie könnte vielleicht weiterfahren, ans Meer. Aber halt – sie muss zurück. Freitag ist Stichtag. Wenn sie das Geld am Freitag nicht hat …

Sie sieht sich um.

Alles hier ist zu Ende. Nicht nur für sie, auch für das ältere Paar über ihr und Irma Seliger im Parterre.

»Und durch die grünen Tannen bricht silbern das Licht.«

Ihre erste gemeinsame Wohnung mit Walter. Nein, eigentlich die zweite. Als Darius geboren wurde, lebten sie in einer Mansarde. Glühend heiß im Sommer, zugig im Winter. Unmöglich mit einem Säugling. Dennoch waren wir glücklich, denkt Vera, während sie ans Fenster tritt. Sie blickt hinunter in den Vorgarten, wo blaue Hyazinthen, von Irma liebevoll gepflegt, wie bunte Zuckerwatte in all dem Grün sitzen.

»Und eine Wolke kommt einsam gezogen.«

Sie fährt am Montag und übergibt am Dienstag. Na gut. Dann hat sie noch zwei Tage. Vielleicht sieht sie sich Bozen an? Den Ötzi? Isst Strudel und trinkt Cappuccino? Besucht das Orchideenmuseum? Im Internet hat sie sich ein wenig schlau gemacht über ihr Ziel. Nur um glaubwürdig rüberzukommen, falls es nötig wird. Sie hat auch Adressen von Campingplätzen in der Gegend ausgedruckt und eine App heruntergeladen, die Wanderungen in Südtirol mitsamt Kartenmaterial und allem Pipapo enthält. Just in case.

*

»Irma?« Vera klopft leise an die Wohnungstür im Erdgeschoss.

»Ja? Wer ist da?«

»Vera, von oben.«

Die Tür geht auf. Irma Seliger lächelt Vera erwartungsvoll an. »Schön, Sie zu sehen. Kommen Sie doch rein.«

»Nein, danke, nicht nötig. Ich wollte ohnehin nicht lange stören, wissen Sie. Ich bin am Packen.«

»Ach. Sie verreisen?«

»Ja, nur kurz, ab morgen, ein paar Tage, nach Südtirol.«

»Südtirol, wie schön. Dort habe ich mit meinem verstorbenen Mann ein, zwei Mal Urlaub gemacht.«

»Tatsächlich? Kennen Sie die Gegend gut?«

»Es wird sich sicher viel verändert haben.« Irma blickt gedankenverloren vor sich hin. »Werner ist vor zwölf Jahren gestorben. Sie wissen ja …«

Vera weiß. Werner Seliger, der plötzlich und unerwartet an einem Kammerflimmern starb. Das Haus hat zusammengehalten, die Bewohner haben Irma Seliger zur Seite gestanden, Vera mit Darius und das Paar im zweiten Stock. Vera schätzt Irma auf um die 70. Sie ist eine, die es irgendwie geschafft hat, nach diesem Schock ihr kleines persönliches Lebensglück wiederzufinden. Sie trifft von Zeit zu Zeit Freundinnen, lädt zum Kaffeeklatsch ein, betreut den kleinen Kräutergarten hinter dem Haus.

Den es bald nicht mehr geben wird.

»Ich wollte Sie nur bitten, wenn es keine Mühe macht: Könnten Sie meine Post in meine Wohnung legen? Ich lasse Ihnen den Schlüssel da.«

»Natürlich. Wann kommen Sie denn wieder?«

»Am Donnerstag schon.«

»Ach, schade, das wird ja ein kurzer Aufenthalt.«

»Wegen der Arbeit«, sagt Vera. »Ich habe am Freitag eine wichtige Besprechung.« Irma weiß nichts von Veras Job.

»Wenn ich an all die schönen Ecken denke, die Werner und ich erkundet haben«, lächelt Irma träumerisch.

»Wirklich?«

»Aber ja.« Irma redet weiter, doch in Vera breitet sich eine neue Idee aus. Etwas, das niemand zu wissen braucht. Eine Abweichung vom Plan. Unbedeutend, wirklich nur ein Detail. Nichts, was sie Darius gegenüber auch nur erwähnen würde.

»Möchten Sie vielleicht mitkommen?«, unterbricht sie Irmas Schwärmen.

Irma starrt Vera an.

»Sie meinen – nach Südtirol? Spontan?«

»Warum nicht?« Vera denkt an die Ware, die sie in ihre Reisetasche ganz unten gepackt hat. Zwei Frauen, und dann noch eine davon in Irmas Alter, die erregen doch nie Verdacht. Plötzlich sehnt sie sich danach, Gesellschaft zu haben. Jemanden, mit dem sie reden kann. »Wenn Sie gern campen?«

»Campen?« Irma lacht. »Ich bitte Sie: Als wir jung waren, reisten wir immer mit dem Zelt. Nun gut, das ist wirklich sehr lange her. Ich weiß nicht …« Sie betrachtet interessiert den Hausflur hinter Vera, als fände sich dort eine Entscheidungshilfe. »Wissen Sie was? Wenn Sie auf Ihre Post pfeifen, komme ich mit.«

Es ist Sonntag, der 5. Juli, 17.30 Uhr.

3.

In einer Nacht wie dieser kann man sich viele Gedanken machen. Zu viele. Vera wälzt sich zwischen den warmen Laken hin und her.

Was habe ich falsch gemacht? Wo fing alles an, den Bach runterzugehen?

Sie hat diese Fragen schon so oft beackert. Letztlich fällt alles auf sie zurück. Denn nur sie, Vera, hat sich in der Lage befunden, an den Stellschrauben zu drehen. Wie auch immer. Das Schlimmste jedoch konnte sie nicht ändern.

Oder hätte sie doch …?

Dass Darius da steht, wo er steht, ist ihre Schuld. Sie und Walter – das funktionierte nicht. Es musste irgendwann eskalieren, trotz aller Hilfe von außen. Zuerst hatte sie geglaubt, es allein zu schaffen. Liebe heilt alle Wunden, sagt man. Doch schließlich ermunterten sie die Freunde, die manches mitbekamen von dem, was schieflief, sich Hilfe zu suchen. Professionelle. Eine unruhige, mit Zweifeln und Tränen belastete Zeit. Das klägliche Scheitern ihrer bescheidenen Lebensplanung. Und Darius bekam das ab. In der Schule war er immer der Kleinste, der Dünnste, der, den alle mobbten. Sie konnte ihm nicht helfen. Dann fand er Freunde. Starke Freunde.

Vera steht auf. Sie lehnt sich weit aus dem geöffneten Fenster. Ein leichter Wind kühlt ihr erhitztes Gesicht. Im Osten dämmert es bereits. Um 7 Uhr wollen sie losfahren. Hätte sie Irma nicht einladen sollen? Eine Unvorsichtigkeit im Hinblick auf das große Ganze? Darius jedoch weiß es nicht, und sie fühlt sich sicherer, wenn sie auf der langen Fahrt mit jemandem reden kann. Wenn da einfach noch jemand ist, der neben ihr atmet.

Woher hat Darius das Kokain?

Sie hat die Tüte gewogen. Vier Kilo.

Verdammt.

Was sie tut, kann sie in den Knast bringen. Wenn sie jedoch nichts unternimmt, sitzt sie auf der Straße. In genau einem halben Jahr.

Sie sinkt aufs Bett. Sie muss bald eine weite Strecke fahren, braucht den Schlaf, der sich nicht finden lässt, der vor ihr flieht. Wenn die Übergabe am Dienstag nicht klappt, muss sie bis Mittwoch warten. Sollte es dann auch noch Hindernisse geben, bis Donnerstag. Nach dem dritten vergeblichen Versuch hat sie unverrichteter Dinge heimzukehren. Mit dem Stoff. Doch das wäre extrem unwahrscheinlich. Sagt Darius.

Ihr bricht der Schweiß aus. Es wird alles klappen. Für unvorhergesehene Fälle hat sie ja das Prepaidhandy. Sie wird das Geld bekommen. Nur darum geht es. Wenn jemand fragt, dann hat sie es sich zusammengeliehen. Bei Freunden. Für den Neuanfang. Den sie so dringend braucht. Wobei Vera keine Freunde hat. Nach dem Desaster mit Walter war ihr komplettes Leben aus dem Ruder.

Wobei bestimmt niemand fragen wird. So ist die Welt. Keiner fragt wirklich nach.

Sie liebt diese Julinächte. Die Helligkeit, die über allem liegt, da bleibt so ein Glimmen in der Luft, selbst wenn es dunkel ist. Ein unerklärlicher Zauber, der sie in jedem Sommer neu betört. Vielleicht ist das, was Vera als »Glimmen« bezeichnet, lediglich eine Erwartung. Dass es schnell wieder hell wird. So schnell, dass man nicht mehr schlafen muss.

Sie wird es nur einmal tun.

Niemand wird sie verdächtigen. Es ist an alles gedacht. Eine Frau wie sie wird man nicht kontrollieren. Auch nicht bei einer Schleierfahndung an der Grenze. Sie wird einfach durchs Raster rutschen. Insbesondere, da sie Irma dabei hat. Die Nachbarin ist die perfekte Tarnung.

Es ist Montag, der 6. Juli, 5.15 Uhr.

4.

Die Büsche am Rand der Autobahn fliegen an ihnen vorbei. Wenige Autos sind unterwegs an diesem Montagmorgen. Die Ferienreisenden haben sich bereits am Wochenende auf den Weg gemacht. Die linke Spur ist frei, Vera überholt einen Lkw.

»Freie Fahrt für freie Bürger«, sagt Irma und lacht.

Vera lacht auch. Sie ist so froh, nicht allein im Auto zu sein. Nicht grübeln zu müssen. Irmas kleiner Koffer liegt neben Veras Reisetasche im Kofferraum, außerdem das Zelt und das ganze Campingzubehör. Sie sind nur zwei Frauen auf einer Urlaubsreise.

»Wollen Sie wirklich im Zelt schlafen?«, fragt Irma plötzlich.

»Es ist die günstigste Möglichkeit.«

Irma schweigt eine Weile. Schließlich fragt sie vorsichtig:

»Haben Sie schon eine Wohnung gefunden?«

»Ich bin dran«, weicht Vera aus. Sie ist dran, und deswegen sitzt sie in diesem Auto.

Ihre einsilbigen Antworten scheinen Irma nicht aus dem Takt zu bringen. »Wissen Sie, es ist so schwierig. Wann immer ich eine Wohnung ansehe, schnappt sie mir ein anderer vor der Nase weg. Ich bin Rentnerin, wer nimmt mich als Mieterin?«

»Sie sind zuverlässig und haben sicher eine prima Schufa-Auskunft.« Anders als ich, denkt Vera.

»Geld ist der nächste wunde Punkt. Nach den Yuppies. Natürlich habe ich Ersparnisse, aber die Mieten sind dermaßen gestiegen in den letzten Jahren, außerdem muss Kaution gezahlt werden … Meine Güte, ich habe über 30 Jahre in dieser Wohnung gelebt!«

Irma klingt wütend. Rasch wirft Vera ihr einen Blick zu.

»Es gäbe noch eine dritte Möglichkeit.«

»Gegen die Kündigung klagen?« Irma schnaubt. »Ich bitte Sie, Sie selbst haben das sofort abgelehnt. Und die Kassulkes im zweiten Stock ebenso. Wenn wir uns alle einig gewesen wären, hätte ich es womöglich gewagt, vor Gericht zu ziehen. Aber als Einzige?«

Vera nickt schuldbewusst. Das alte Stadthaus hat den Besitzer gewechselt. Der will generalsanieren. Die Kündigung wäre anzufechten, haben sie beim Mieterverein gesagt, aber es gäbe allerhand Ungereimtheiten. Was, wenn sie monatelange Bauarbeiten aushalten müssten, während sie im Haus wohnen? Vera hat sich sofort dagegen entschieden, den Immobilienhai herauszufordern, und die Kassulkes auch.

»Die Kassulkes haben jedenfalls eine Wohnung«, sagt Irma gedankenverloren. »Sie ziehen raus, aufs Land. In der Stadt können sie sich keine Wohnung leisten. Dabei waren die beiden Lehrer. Beziehen Beamtenpensionen. Verstehen Sie das, Vera? Es ist doch verrückt, oder? Gewissenhaftere Mieter kann man sich gar nicht vorstellen.«

Vera setzt den Blinker, um einen Milchlaster zu überholen. »Ich wusste gar nicht, dass die Kassulkes fündig geworden sind.«

»Nun, Sie haben einen anstrengenden Job und finden wenig Zeit zum Plaudern«, sagt Irma verständnisvoll.

Von wegen, denkt Vera. Bei mir laufen gerade eine Menge Schwierigkeiten auf. Wohnung, Job und diese eine blöde Sache mit den Schulden.

»Und Sie? Wie sieht es bei Ihnen aus? Haben Sie sich schon etwas Neues angesehen?«

Vera spürt Irmas Blick auf sich gerichtet.

»Wie gesagt, ich bin dran.« Es kann nicht schaden, wenn sie Irma von der Wohnung erzählt, die sie bekommt, sofern sie das nötige Geld bis Freitag überweist. »Ich habe eine Wohnung in Aussicht. Zentrumsnah, dennoch recht ruhig, mit Fahrstuhl, fünfter Stock, kleiner Balkon.«

»Wie haben Sie das denn geschafft?«

Die Wahrheit ist: Vera kennt einen der Makler bei der GWL, der die Wohnung gehört. Dieser Makler war Veras Klassenkollege, und sie hat ihn mal bei den Lehrern gedeckt. Als er ein Mädchen … na gut, sie ist nicht stolz darauf. Jedenfalls hat sie was gut bei dem Typen. Wobei er sehr deutlich gemacht hat: Sollte sie bis Freitag kein Geld bringen, ist die Wohnung weg. Dutzende Interessenten stehen ihm auf den Zehen, hat er durchblicken lassen, sein Chef erwartet, dass er Ende der kommenden Woche die Wohnung vermietet hat.

»Ein ehemaliger Klassenkamerad hat sich eingeschaltet. Der kennt sich in der Immobilienbranche aus«, antwortet Vera ausweichend.

»Ach, da haben Sie Glück. Also werden sich unsere Wege bald trennen. Schade.« Traurig wendet Irma den Blick ab und schaut aus dem Seitenfenster.

»Wir bleiben in Kontakt! Das ist doch selbstverständlich!«

»Natürlich, meine Liebe«, erwidert Irma, und sie sagt nicht, was Vera überdeutlich spürt. Dass es nicht dasselbe ist, in Kontakt zu bleiben, wenn man einmal den gemeinsamen Wohnort verlassen hat. Weil man nie in Kontakt bleibt. Die Entfremdung hat bereits mit dem Kündigungsschreiben begonnen. Ihnen beiden ist klar, dass diese kurze absurde Reise ein Abschied ist.

Es ist Montag, der 6. Juli, 7.30 Uhr.

5.

Sie sind in Österreich, Inntalautobahn. Vera steuert das Auto auf den Parkplatz einer Raststation. Zum ersten Mal machen sie eine größere Pause. Es ist später Nachmittag. Während der Fahrt haben sie die Sandwiches, die Irma mitgebracht hat, verzehrt, und den Kaffee aus einer bauchigen Thermoskanne getrunken.

»Sie müssen müde sein«, sagt Irma. Sie sieht selbst erschöpft aus.

»Sie auch. Sie waren lange nicht mehr so viele Stunden im Auto unterwegs, oder?« Vera parkt ein, stellt den Motor aus. Kurz ist sie versucht, die Stirn gegen das Lenkrad zu drücken, so zerschlagen fühlt sie sich.

»Ein halbes Leben, wenn Sie so wollen. Aber ich fahre ja nicht. Ich kann Sie nicht mal ablösen, ich habe keinen Führerschein.«

Vera denkt an die Wohnung und das Geld.