Schattenbruch - Tom Finnek - E-Book

Schattenbruch E-Book

Tom Finnek

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Beschreibung

Für Maik Bertram könnte es eigentlich kaum besser laufen: Kürzlich wurde er zum Hauptkommissar befördert, seine kleine Tochter ist gesundheitlich wohlauf und er hat eine leidenschaftliche Affäre mit der verheirateten Hannah Nachtweih. Doch als er eines Morgens verkatert aufwacht, liegt diese neben dem Bett am Boden - ermordet!

Der Mörder muss Bertram betäubt und Hannah erwürgt haben. Aber sein Chef glaubt ihm kein Wort. Obwohl es weitere Verdächtige gibt, ist er davon überzeugt, dass Bertram seine Freundin getötet hat. Um seine Unschuld zu beweisen, bleibt Bertram nur eine Chance: Er muss auf eigene Faust ermitteln. Zum Glück kann er sich dabei auf seinen Freund Heinrich Tenbrink und Hauptkommissarin Isa Rohmann verlassen ...

Im sechsten und finalen Fall der Münsterland-Krimis geraten die Ermittler selbst in die Schusslinie und müssen über sich hinauswachsen!

Alle Fälle für Heinrich Tenbrink und Maik Bertram:

GALGENHÜGEL
TOTENBAUER
SCHULDACKER
RAUCHLAND
TOTENSANG (Kurz-Krimi)
FINSTERBUSCH
Schattenbruch

Das sagen die vielen begeisterten Fans der Münsterland-Krimi-Reihe:

"Der ruhige Erzählstil, glaubhafte Figuren, eine komplexe Handlung und eine atmosphärische Schilderung ergänzen sich zu einem hervorragenden Werk." (Wampy, Lesejury)

"Ein spannender und stimmungsvoller Münsterland-Krimi mit gutem Plot und interessanten Ermittlern, deren Privatleben ebenfalls nicht zu kurz kommt. Kein lustiger, aber dennoch humorvoller Regionalkrimi, der passend zum Titel manchmal auch etwas düster ist." (Lucilla, Lesejury)

"Ein wunderbarer, mit dezentem Humor gespickter, spannender Regionalkrimi mit einem außergewöhnlichen Ermittlerduo, welches einem schnell ans Herz wächst." (Honigmond, Lesejury)

"Tom Finnek hat eine leichte und nette Art, das Wesen des Münsterlandes und seiner Bewohner einzufangen. Er hebt das Knurrige im Münsterländer hervor, der nicht durch Redseligkeit und Aufgeschlossenheit besticht, eher durch das genaue Gegenteil. Seine Menschen sind Originale, sie wirken lebensecht." (fredhel, Lesejury)

beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.




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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Einige Jahre später

Prolog

Gründonnerstag (14. April) 1

2

Erster Teil

Karfreitag (15. April) 1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Zweiter Teil

Karsamstag (16. April) 1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Dritter Teil

Ostersonntag (17. April) 1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

Vierter Teil

Ostermontag (18. April) 1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

Epilog

Einige Tage später Samstag (23. April) 1

2

3

Über den Autor

Weitere Titel des Autors

Impressum

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Über dieses Buch

Für Maik Bertram könnte es eigentlich kaum besser laufen: Kürzlich wurde er zum Hauptkommissar befördert, seine kleine Tochter ist gesundheitlich wohlauf und er hat eine leidenschaftliche Affäre mit der verheirateten Hannah Nachtweih. Doch als er eines Morgens verkatert aufwacht, liegt diese neben dem Bett am Boden – ermordet!

Der Mörder muss Bertram betäubt und Hannah erwürgt haben. Aber sein Chef glaubt ihm kein Wort. Obwohl es weitere Verdächtige gibt, ist er davon überzeugt, dass Bertram seine Freundin getötet hat. Um seine Unschuld zu beweisen, bleibt Bertram nur eine Chance: Er muss auf eigene Faust ermitteln. Zum Glück kann er sich dabei auf seinen Freund Heinrich Tenbrink und Hauptkommissarin Isa Rohmann verlassen ...

Im sechsten und finalen Fall der Münsterland-Krimis geraten die Ermittler selbst in die Schusslinie und müssen über sich hinauswachsen!

eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung!

Tom Finnek

Schattenbruch

Ein Münsterland-Krimi

Kriminalroman

»»Horch, welch Gesumm?Und wieder? Sterbemelodie!«

Annette von Droste-Hülshoff,»Am letzten Tag des Jahres«

Einige Jahre später

Prolog

Gründonnerstag (14. April)1

Severin konnte sein Glück kaum fassen und hatte Mühe, sich die Aufregung nicht anmerken zu lassen. Bloß jetzt nicht vorfreudig lächeln oder siegesgewiss grinsen! Oder irgendwas Dummes geschweige denn Verräterisches sagen! Wenn er sich noch ein wenig beherrschte und seine Gefühle im Zaum hielt, könnte dies der beste Tag seines Lebens werden.

»Am ehesten würden mich die Beatles-LPs interessieren, Herr Tenbrink«, sagte er möglichst beiläufig und betrachtete die gut vierzig Schallplatten im Regal, die er gerade durchgesehen hatte. Um es nicht zu auffällig wirken zu lassen, setzte er achselzuckend hinzu: »Und die beiden Scheiben von den Rolling Stones. Vielleicht noch das Woodstock-Album. Ich sammle vor allem Sachen aus den Sechzigern.«

»Oh«, erwiderte der etwa sechzig Jahre alte Nachbar seiner Schwester enttäuscht und wiegte den Kopf hin und her. »Ich hab gehofft, dass ich alles auf einen Schlag loswerde. Wie ich Nina schon auf dem Spielplatz erzählt habe: Die Schallplatten gehörten meiner verstorbenen Frau und nehmen nur unnötig Platz im Regal ein. Ich besitze ja nicht einmal mehr einen Plattenspieler.«

»Alles auf einen Schlag?« Severin fuhr sich durch die stoppeligen Haare und tat so, als wäre das eine nur schwer zu schluckende Kröte. »Ich weiß nicht, Herr Tenbrink. Vieles davon ist überhaupt nichts wert.« Er zog auf gut Glück eine Schallplatte aus der Sammlung, erwischte »Das deutsche Schlagerfestival der 70er Jahre« und schmunzelte. »Nichts gegen Roy Black und Bernd Clüver, aber das sind nicht gerade gesuchte Sammlerstücke.«

Ninas Nachbar machte abermals eine enttäuschte Miene. »Ich hab irgendwo gelesen, dass alte Schallplatten richtig wertvoll sein können. Sozusagen eine Geldanlage.« Er nahm die Brille von seiner Nase und putzte sie ausgiebig mit einem Stofftaschentuch.

»Das ist richtig«, bestätigte Severin und deutete auf die laut Untertitel »20 Super-Hits der 70er«, die er immer noch in der Hand hielt. »Aber Alter allein hat noch keinen Wert. Es muss auch eine Nachfrage geben. Und dann kommt es natürlich auf die Seltenheit und Beschaffenheit der Platte an. Das hier ...« Er schüttelte bedauernd mit dem Kopf und stellte die Schlager-Platte zurück ins Regal. »... ist leider kein kostbarer Schatz, sondern Massenware. Ich würde Ihnen die Sammlung ja ausnahmsweise komplett abnehmen, aber reich werden Sie damit leider nicht.«

»Schade«, erwiderte Tenbrink, lächelte traurig und setzte seine Brille wieder auf. »Wie viel würden Sie mir denn für alle zusammen geben wollen?«

Auf diese Frage hatte Severin gewartet, seitdem er die kleine und unscheinbare Plattensammlung durchgesehen hatte und dabei völlig unvermittelt auf den Heiligen Gral der Vinylsammler gestoßen war. Auf die Yesterday and Today-LP der Beatles, im berühmten und berüchtigten »Butcher-Cover«, das die vier lachenden Pilzköpfe in Metzgerkitteln zeigte. Mit blutigen Fleischstücken und Fragmenten von Babypuppen drapiert. Ein äußerst geschmackloses Cover, das von der Plattenfirma noch vor Erscheinen zurückgezogen oder mit einer harmloseren Version überklebt worden war.

Dies hier jedoch war eines der etwa sechzigtausend Werbe-Exemplare, die damals vorab an die Presse, Plattenläden und Radiostationen verschickt worden waren. Das Cover war nicht nachträglich überklebt, es handelte sich auch nicht um eine billige russische Raubkopie, wie Severin sie selbst besaß, sondern es war das amerikanische Original aus dem Jahr 1966. Bis zu zehntausend Euro war so eine Platte wert, je nachdem, wie gut sie erhalten war. Ein ungespieltes und noch eingeschweißtes Exemplar der LP war vor einigen Jahren für schlappe zweiundzwanzigtausend Euro verkauft worden.

Als Nina ihm vorhin am Telefon berichtet hatte, sie sei auf dem Kinderspielplatz mit einem Nachbarn aus der Von-Galen-Straße ins Gespräch gekommen, der einen Abnehmer für seine alten Schallplatten suche, hatte sich Severin nicht viel davon versprochen. Roy Black und Bernd Clüver eben. Doch nun hätte er seiner Schwester am liebsten auf den Knien dafür gedankt, dass sie den Kontakt zu dem durchaus netten und dankenswerterweise völlig ahnungslosen Herrn Tenbrink hergestellt hatte. Es kam ihm vor, als wäre ein Traum wahr geworden. Wie ein Sechser im Lotto.

»Normalerweise würde ich Ihnen hundertfünfzig Euro für die Platten anbieten«, sagte Severin und kam sich nicht einmal wie ein Lügner oder Betrüger vor. »Aber weil Sie ein Nachbar von Nina sind und Ihre Enkelin in den gleichen Kindergarten wie der kleine Robin geht ...«

»Ella ist nicht meine Enkelin«, unterbrach ihn Tenbrink, »sondern die Tochter meines Mitbewohners.«

»Wie auch immer ...« Severin räusperte sich und streckte seine Hand aus, von der er hoffte, dass sie nicht zu schweißnass war. »Was halten Sie von zweihundert Euro? Ein Freundschaftspreis. Mehr kann ich beim besten Willen nicht geben. Abgemacht?«

»Was ist abgemacht?«, kam es in diesem Moment von der Tür zum Flur, wo ein circa vierzigjähriger Mann mit geschorenem Schädel und Dreitagebart stand und die Stirn krauszog. »Machst du wieder krumme Geschäfte, Heinrich?«

»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Tenbrink und lachte. »Maik, das ist Severin Wigger. Er ist der Bruder von Nina aus dem Kindergarten und will mir die alten Schallplatten abkaufen.« Mit einem zufriedenen Lächeln setzte er hinzu: »Für zweihundert Euro.«

Severin versuchte, nicht triumphierend zu strahlen, und wiederholte: »Abgemacht?« Immer noch hielt er seine Hand ausgestreckt.

In diesem Moment kam ein schwarzer Pudel ins Wohnzimmer gerannt, gefolgt von einem kleinen, vielleicht dreijährigen Mädchen, das lautes Indianer-Geheul von sich gab und mit einem Flitzebogen bewaffnet war, mit dem es Jagd auf den Hund zu machen schien.

»Haltet den Büffel!«, rief die Kleine und stöhnte theatralisch auf, als der Pudel mit einem langen Satz über den Boden schlitterte und unter der Couch verschwand. »Männo, Locke! Unterm Sofa gildet nicht!«

»Unterm Sofa ist Klippo«, sagte der Mann namens Maik und schüttelte den Kopf. »Da darfst du ihn nicht fangen, Ella. Das weißt du doch.«

»Klippo ist doof«, erwiderte das Mädchen bockig.

»Außer wenn du selbst gefangen wirst«, konterte Tenbrink und wandte sich an den Vater des Mädchens: »Hast du ihren Koffer gepackt? Alles bereit?«

Der Mann in der Tür nickte. »Die Reisetasche ist schon im Wagen. Ich hab euch noch etwas Proviant eingepackt.«

»Proviant? Es sind doch nur achtzig Kilometer.«

»Du kennst ja Ella. Sobald sie im Auto sitzt, will sie was essen. Ich hab Reiswaffeln ins Handschuhfach gelegt. Bist du sicher, dass du nicht lieber meinen Wagen nehmen willst? Dein alter Audi ist ...«

»Gerade erst durch den TÜV«, erwiderte Tenbrink und schüttelte den Kopf. »Der ist nicht alt, der hat Charakter.«

Severin hielt immer noch die Hand ausgestreckt und kam sich in der Pose etwas blöd vor. Er räusperte sich und nahm einen dritten Anlauf: »Also, was sagen Sie? Abgemacht?«

»Was?«, antwortete Tenbrink verwirrt und zögerte kurz. »Ach so, ja, von mir aus.« Er wollte bereits einschlagen, doch sein Mitbewohner ging plötzlich dazwischen.

»Warte mal, Heinrich!«

»Was ist?«

»Das geht nicht!«

»Warum nicht?«

»Du hast doch gesagt, ich soll die Platten bei ebay-Kleinanzeigen einstellen. Das hab ich heute Morgen gemacht, und es hat sich bereits ein Interessent gemeldet.«

»Tatsächlich?«, staunte Tenbrink, und Severin spürte sein Herz rasen.

»Ein Händler aus Osnabrück will am Montagabend herkommen und sich die Platten anschauen. Er ist über Ostern in Holland und will auf dem Rückweg über Schöppingen fahren. Er klang sehr interessiert und hat darum gebeten, die Schallplatten für ihn zu reservieren.«

»Am Montag?«, fragte Severin und nahm seine Hand herunter. »Aber heute ist Donnerstag. Ich würde die Sammlung gleich mitnehmen. Dann sind Sie sie los.« Die letzten Worte richtete er an Tenbrink, der plötzlich verunsichert wirkte. »Warum so lange warten?«

»Wir müssen das ja nicht übers Knie brechen«, antwortete Tenbrink und strich dem kleinen Mädchen, das mit dem Flitzebogen im Anschlag lauernd vor dem Sofa stand, über das hellblonde Haar. »Ich bin über die Feiertage ohnehin nicht in Schöppingen. Ella und ich fahren gleich los und besuchen meine Tochter in Gladbeck.«

»Locke auch!«, rief das Mädchen.

»Ja, Locke kommt auch mit«, bestätigte Tenbrink und wandte sich an Severin: »Wir sind erst am Montagmittag wieder da. Dann können wir ja weitersehen.«

»Dreihundert Euro!«, rief Severin plötzlich aufgeregt und streckte, wie bei einem unkontrollierbaren Reflex, erneut die Hand aus. »Meinetwegen auch dreihundertfünfzig. Mein letztes Angebot. Weil Sie's sind, Herr Tenbrink.«

Als er die überraschten Blicke der beiden Männer sah, begriff Severin, dass das ein Fehler gewesen war. Er hatte seine Gefühle nicht im Zaum gehalten. Nun waren sie misstrauisch. Auf der Hut!

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Severin«, sagte Tenbrink, schaute dabei aber seinen Mitbewohner an und runzelte die Stirn. »Wir warten ab, was der Mann aus Osnabrück am Montag sagt, und wenn er nicht mehr als dreihundertfünfzig bietet, gehören die Schallplatten Ihnen. Was sagen Sie dazu?«

»Komm raus, Locke!«, rief die kleine Ella in diesem Moment und stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. »Klippo gildet nicht.«

Recht hast du, Kleine!, dachte Severin und versuchte sich an einem Lächeln. Klippo gildet nicht! Er nickte und sagte: »Einverstanden, Herr Tenbrink.«

Dabei hatte er längst einen Plan B.

2

Severin wusste nicht genau, wie lange er schon hinter dem Buchsbaum im dunklen Garten hockte und die Rückseite des Reihenhauses betrachtete. Vorsichtshalber hatte er sein Handy ausgeschaltet. Vermutlich war es längst nach Mitternacht. Nirgendwo brannte Licht, weder in dem Haus, in das er gleich einbrechen würde, noch in den Nachbarhäusern links und rechts. Auch der beinahe volle Mond über dem Dach war gerade hinter einer Wolke verschwunden. Alles ruhig, alles friedlich. Aber Severin wollte nichts überstürzen, er hatte Zeit.

Vor etwa einer halben Stunde war das Licht in dem Raum über dem Wohnzimmer gelöscht worden. Severin hatte Maik Bertram und eine dunkelhaarige Frau durch das Fenster erkannt. Erst hatte es so gewirkt, als hätten die beiden sich gestritten, doch dann hatten sie Sekt getrunken und sich geküsst. Einmal waren sie Arm in Arm auf den Balkon hinausgetreten, doch nun hatten sie das Zimmer verlassen. Vermutlich waren sie ins Schlafzimmer gegangen, dessen Fenster auf der Vorderseite des Hauses lag. Severin würde den beiden ausreichend Zeit geben. Für was auch immer.

Als er am späten Nachmittag in seine Wohnung zurückgekehrt war, hatte er sich gleich an den Computer gesetzt und alle wichtigen Informationen eingeholt. Über das Haus in der Von-Galen-Straße und dessen Bewohner. Und über das Inserat bei ebay-Kleinanzeigen.

Als Verkäufer wurde darin ein »M. Bertram« genannt, außerdem waren die Adresse in Schöppingen und eine Festnetznummer angegeben. Der Text der Anzeige war nicht besonders aussagekräftig und obendrein amateurhaft vage gehalten, es wurde lediglich eine kleine Plattensammlung mit dem Schwerpunkt auf den 60er- und 70er-Jahren zum Verkauf angeboten, ohne konkreten Festpreis, sondern mit dem Hinweis »VB«. Verhandlungsbasis. Allerdings hatte Maik Bertram einige der bekannteren Bandnamen und Plattentitel erwähnt, darunter auch die Yesterday and Today-LP. Was natürlich bedeutete, dass die Anzeige über Google zu finden war und entsprechend viele Interessenten anlocken würde. Außerdem waren der Kleinanzeige acht Fotos hinzugefügt, auf denen jeweils etwa sechs Schallplatten zu sehen waren. Zum Glück hatte sich Maik Bertram wenig Mühe mit den Bildern gemacht, sie waren ein wenig unscharf und unterbelichtet. Zwar konnte man die auffällige Vorderseite des »Butcher-Covers« erkennen, aber es war unmöglich zu sagen, um welche Ausgabe es sich handelte. Und genau darauf hatte Severin gehofft.

Er hatte seine Raubkopie aus dem Regal geholt, sie mit dem Foto im Internet verglichen und zufrieden genickt. Sein billiges Bootleg war zwar meilenweit vom Original entfernt, allein schon wegen des schlechten Farbdrucks und der kyrillischen Buchstaben auf der Rückseite, aber dem Vergleich mit dem unscharfen Foto würde es vermutlich standhalten. Heinrich Tenbrink würde am Montag den Unterschied bestimmt nicht bemerken. Schließlich waren es nicht seine Platten, sondern die seiner verstorbenen Frau. Er würde gar nicht mitbekommen, dass ihm über die Ostertage einige tausend Euro verloren gegangen waren.

Was Severin allerdings weniger gefallen hatte, war das, was er im Internet über Heinrich Tenbrink und Maik Bertram gelesen hatte. Der eine war ein Kriminalrat im Ruhestand und ehemaliger Kommissariatsleiter, der andere ein gerade erst zum Hauptkommissar beförderter Kriminalpolizist aus Münster. In das Haus einzudringen, erschien Severin ungefähr so, als würde er in eine Polizeiwache einbrechen. In die Höhle des Löwen. Aber Heinrich Tenbrink war ja nicht zu Hause, wie Severin wusste, und Maik Bertram befand sich mit der dunkelhaarigen Frau im Obergeschoss. Was sollte schon schiefgehen? Severin war schließlich kein blutiger Anfänger. Die Terrassentür war ein Klacks, da hatte er schon ganz andere Schlösser geknackt. Und der Tausch der beiden Schallplatten würde nur wenige Sekunden dauern. Ein Kinderspiel!

Severin fuhr aus seinen Gedanken auf und brauchte eine Weile, bis er begriff, wo er sich gerade befand. War er etwa im Sitzen eingeschlafen? Er schüttelte sich und schaute zum Haus. Alles unverändert. Nur der Mond war hinter den Wolken hervorgetreten und warf den Schatten des Hauses auf den rückwärtigen Garten. Severin nahm das kleine Werkzeugetui in die Hand, hängte sich die Stofftasche mit der Schallplatte über die Schulter und kam vorsichtig hinter dem Buchsbaum hervor. In geduckter Haltung schlich er über den Rasen zur Terrasse. Wieder horchte er und schaute sich um. Nichts zu hören, nichts zu sehen! Alles bestens.

Bei der verglasten Terrassentür handelte es sich um eine simple Nebeneingangstür mit beidseitiger Türklinke und einfachem Zylinderschloss. Es gab keine weiteren Sicherheitsvorkehrungen, keine lästigen Mehrfachverriegelungen. Nullachtfünfzehn!

Severin zog seine Handschuhe an, schaltete die winzige Fahrradlampe ein, die mit Kletthaftung an einem Stirnband befestigt war, suchte einen passenden Lockpicker und einen entsprechenden Spanner in seiner Werkzeugtasche und machte sich an die Arbeit. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis der Pick in der richtigen Position war. Jetzt nur noch den Spanner ansetzen und vorsichtig drehen, bis die Schlossfalle in den Rahmen zurücksprang.

Plötzlich bellte ein Hund in einem der Nachbarhäuser. Severin erschrak und rutschte mit dem Spanner ab, sodass das Metall über den Plastikrahmen kratzte. Das verräterische Geräusch war nicht sehr laut gewesen, aber der Kratzer war leider gut sichtbar. Wieder kläffte der Hund nebenan, und für einen Moment befürchtete Severin, der kleine schwarze Pudel könnte womöglich auf das Bellen antworten. Doch dann fiel ihm ein, dass Kriminalrat Tenbrink den Pudel mit nach Gladbeck hatte nehmen wollen. Es bestand also keine Gefahr! Auch der Hund im Nachbarhaus war inzwischen verstummt.

Severin atmete tief durch und unternahm einen zweiten Versuch. Diesmal ging alles glatt. Pick in den Zylinder, Spanner ansetzen, drehen, fertig! Das Schloss war ein Klacks, genau wie er es sich gedacht hatte. Severin drückte die Klinke herunter, schob vorsichtig die Tür auf, betrat das Wohnzimmer und ging schnurstracks zum Regal neben dem Wohnzimmerschrank. Die wertvolle Beatles-Platte sprang ihm sofort ins Auge, er verstaute sie in seiner Stofftasche und stellte stattdessen das Bootleg ins Fach. Dann schaltete er seine Stirnband-Lampe aus – und fuhr erschrocken zusammen.

Die Tür zum Flur hatte sich mit einem leisen Knarren geöffnet. Severin hielt den Atem an. Bis zur Terrassentür, die nur angelehnt war, waren es etwa drei Meter. Sobald das Licht anginge, würde er losrennen. Er klemmte die kostbare Platte unter den Arm und machte sich bereit. Doch nichts geschah, niemand betrat das Wohnzimmer, das Licht blieb aus. Da Severin direkt vor dem Wandregal stand, war ihm der Blick durch den wuchtigen Schrank neben der Tür versperrt, doch er hörte Schritte aus dem Flur. Schritte, die sich zu entfernen schienen.

Glück gehabt!, dachte Severin und holte vorsichtig Luft. Gleichzeitig kam ihm das Ganze seltsam vor, denn er bemerkte, dass durch die immer noch offene Tür kein Lichtschein aus dem Flur ins Wohnzimmer fiel. Das gesamte Erdgeschoss war stockfinster. Entweder brauchte die Person im Flur kein Licht, weil sie sich genau auskannte. Wie ein Blinder in der eigenen Wohnung. Oder die Person hatte ganz andere Gründe, im Dunkeln zu bleiben. Wie Severin.

Vernünftig wäre gewesen, schleunigst über die Terrasse zu verschwinden. Doch Severins Neugier war stärker als die Vernunft. Er schlich auf leisen Sohlen zur Tür, lugte vorsichtig um die Ecke und schaute in den Flur. Er erkannte die dunkle Silhouette eines Mannes vor der vom Mondlicht beschienenen Riffelglasscheibe in der Haustür. Der Mann war deutlich kleiner als Maik Bertram und hatte keinen so dicken Bauch wie Heinrich Tenbrink. Er stand am Fuß der Treppe, trug eine schwarze Sturmhaube mit Sehschlitz auf dem Kopf und schaute nach oben. Er trat auf die erste Stufe und hielt plötzlich inne. Severin befürchtete bereits, der Mann könnte ihn bemerkt haben, doch dann zog sich der Maskierte die Sturmhaube vom Kopf und rieb sich die offenbar juckende Nase. Anschließend setzte er die Mütze wieder auf, ging auf der Steintreppe nach oben und verschwand aus Severins Sichtfeld.

Irgendetwas an dem Gesicht des Mannes irritierte Severin. Er war sich vollkommen sicher, dem Kerl noch nie begegnet zu sein. Aber dennoch waren ihm die Gesichtszüge seltsam bekannt vorgekommen. Was natürlich gar nicht möglich und ein Widerspruch in sich war.

Severin glaubte zu wissen, was der Maskierte vorhatte und wonach er suchte. »M. Bertram« hatte es in der Kleinanzeige geheißen, und ein Bertram wohnte im Obergeschoss, wie draußen auf einem Schild neben der Türklingel zu lesen war: »Bertram OG 2x klingeln«. Der Einbrecher konnte nicht ahnen, dass sich der Heilige Gral unten im Wohnzimmer befand. Oder besser: befunden hatte.

Severin lächelte zufrieden, streichelte beinahe zärtlich über die Stofftasche und verließ das Wohnzimmer durch die Terrassentür. Er schloss leise die Tür, machte sich aber nicht die Mühe, sie wieder zu verriegeln. Dann lief er über den Rasen, kroch durch die angrenzenden Büsche, kletterte über den niedrigen Holzzaun, der das Grundstück umgab, und erreichte nur wenige Sekunden später sein Auto, das er auf dem nahegelegenen Aldi-Parkplatz abgestellt hatte.

Als er seinen Wagen aufschloss, durchfuhr ihn plötzlich ein seltsamer Gedanke. Wie war der maskierte Einbrecher überhaupt in das Haus gelangt? War er etwa auf der Straßenseite durch die Haustür eingedrungen, obwohl der Mond so hell leuchtete? Das klang ziemlich abenteuerlich. Oder hatte er sich bereits im Haus befunden, als Severin ins Wohnzimmer eingebrochen war? Auch nicht sehr wahrscheinlich. Und wo, zum Teufel, hatte Severin das Gesicht des Mannes schon mal gesehen? Kannte er es vielleicht aus dem Fernsehen oder der Zeitung? Sah der Mann womöglich einem Prominenten ähnlich? Er kam einfach nicht darauf.

Auch egal!, dachte er schließlich, legte den erbeuteten Schatz auf den Beifahrersitz und startete den Motor.

Erster Teil

Karfreitag (15. April)1

Maik Bertram hatte Mühe, die Augen zu öffnen. Und geöffnet zu lassen. Es kam ihm beinahe so vor, als würde er direkt in einen grellen Scheinwerfer schauen. Also schloss er die Augen wieder. In seinem Kopf dröhnte und hämmerte es, sein Nacken war steif und schmerzte. In seinem Magen rumorte es, und seine Zunge fühlte sich taub und aufgequollen an. Er hatte einen fürchterlichen Kater, dabei hatte er gestern gar nicht so viel getrunken. Zwei Gläser Weißwein zum Essen beim Italiener, einen Grappa als Absacker, und später ein bisschen Sekt, als sie wieder in der Wohnung gewesen waren. Zu wenig, um die heftigen Kopfschmerzen und das seltsame Unwohlsein zu erklären. Er überlegte, ob das vielleicht eine Nachwirkung der Corona-Auffrischungsimpfung war, die ihm vor vier Tagen verabreicht worden war. Schon möglich!

Als er schmerzhaft den Kopf drehte, die Augen erneut mühevoll öffnete und zum Wecker auf dem Nachttisch schaute, erschrak er. Es war fast Mittag. Deshalb war es auch so hell im Zimmer. Er hatte über zehn Stunden geschlafen.

»Hannah?«, fragte er mit einer Reibeisenstimme, die ihn selbst entsetzte, und tastete mit der linken Hand nach ihr. Doch ihre Seite des Bettes war leer und fühlte sich auch nicht mehr warm an. Sie war längst aufgestanden. Natürlich. Hannah war eine notorische Frühaufsteherin. Aber warum hatte sie ihn nicht geweckt? Eigentlich hatten sie vorgehabt, in einem Café am Rathausplatz zu frühstücken. »Die Sturmfreiheit ausnutzen«, wie Hannah mit neckischem Augenzwinkern gesagt hatte. Stattdessen war sie einfach aufgestanden. Vermutlich weil sie immer noch sauer auf ihn war. Sie hatten sich gestern Abend gestritten. Wie so oft in letzter Zeit.

Seit zweieinhalb Jahren ging das nun schon mit ihm und Hannah Nachtweih. Demnächst vermutlich geschiedene Nachtweih. Geborene Derksen, wie ihre jüngere Schwester Martina. Bertrams einstige Chefin und Geliebte – und Ellas verstorbene Mutter. Eine etwas komplizierte und konfuse Familienkonstellation. Und da war der gute »Opa Heinrich« noch gar nicht eingerechnet. Patchwork!

Anfangs war es nur eine sporadische Affäre gewesen. Hannah war Juristin und wohnte mit ihrem Mann Jörg und den beiden fast erwachsenen Söhnen in Bonn. Doch dann hatte sie einen Posten als Richterin am Oberverwaltungsgericht in Münster ergattert und kurz darauf eine Zweitwohnung im nahegelegenen Dorf Olthues bezogen. Seitdem pendelte sie zwischen Münster- und Rheinland hin und her. Mit gelegentlichen Abstechern nach Schöppingen.

Aus der sporadischen war mit der Zeit eine regelmäßige Affäre geworden. Nur die Heimlichkeit war geblieben. Dass sie sich lediglich wochentags und stets nur abends oder nachts sehen konnten, war Bertram eigentlich ganz recht gewesen. Auch wenn er stets das Gegenteil behauptete. So war nämlich ausgeschlossen, dass sich mehr daraus entwickelte. »Etwas Ernstes«, wie Heinrich Tenbrink es gern nannte und dabei vorwurfsvoll seine klobige Brille putzte.

Bertram wollte nicht, dass etwas Ernstes daraus wurde. Die Zeiten waren schließlich ernst genug. Nicht nur wegen der Corona-Pandemie mit ihren zwischenzeitlichen Beschränkungen und Lockdowns, die das ganze Land in eine seltsame Starre und Apathie versetzt hatten. Nein, Bertram musste sich zuallererst um seine Tochter Ella kümmern. Deren angegriffene Gesundheit und psychische Verfassung machten ihm genug zu schaffen. Zum Glück war der angeborene Herzfehler, der vor gut zwei Jahren diagnostiziert worden war, längst operativ und dauerhaft behoben. Aber Ellas geistiger Entwicklungsstand war nach wie vor ein wenig »retardiert«, wie die Kinderärztin es nannte. Früher hätte man vermutlich »zurückgeblieben« gesagt. Sie ließ sich eben nicht treiben, wie Tenbrink es netter und münsterländischer formulierte. Vermutlich eine Folge der Fruchtwasserembolie samt Sauerstoffmangels während der Geburt, die ihrer Mutter kurz nach der Geburt das Leben gekostet hatte.

Ella hatte vor Kurzem ihren dritten Geburtstag gefeiert, und auf den ersten Blick wirkte sie wie ein ganz normales kleines Mädchen. Sie war körperlich und motorisch gut entwickelt, unauffällig, altersgemäß. Doch sowohl Bertram als auch Tenbrink wussten, dass Ella anders war. Eigen und ein wenig wünnerlik, wie man im Münsterland sagte. Sie lachte selten und redete wenig, und wenn, dann schimpfte sie meistens. Als wäre sie die ganze Zeit wütend. Als könnte man es ihr nie recht machen. Immer mit einer grimmigen Flappe. Ohne erkennbaren Grund.

Bertram machte sich ständig Sorgen um Ella. Und deshalb war es ihm ganz recht, dass er sich nicht auch noch Gedanken um Hannah machen musste. Sie sahen sich etwa einmal die Woche, gingen essen oder ins Kino, hatten guten, niemals langweiligen Sex und vergeudeten keine Zeit mit Zukunftsplanungen oder lästigen Beziehungsfragen. So war es jedenfalls bis vor Kurzem gewesen. Bis Hannah ihrem Mann vor einigen Wochen mitgeteilt hatte, dass sie sich von ihm trennen wollte.

Vermutlich hatte Hannahs Entschluss, den sie vorher nicht mit Bertram besprochen hatte, unmittelbar mit ihren flügge gewordenen Söhnen zu tun. Hannah hatte ihrem Mann nichts von ihrer Affäre mit Bertram verraten, sondern ihm lediglich zu verstehen gegeben, dass sie nicht länger mit ihm zusammenwohnen wolle. Weil sie ein neues Kapitel aufschlagen müsse. Und weil er sie zu Tode langweile. Basta!

In dieser Hinsicht war Hannah ihrer Schwester Martina nicht unähnlich. Die hatte Bertram schließlich auch nicht gefragt, ob er Vater werden möchte, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt. Einsame Entscheidungen ohne Mitspracherecht. Eine Spezialität der Derksen-Schwestern.

Bertram hätte es letztlich egal sein können, und sein Mitgefühl für den etwas piefigen und vollends humorfreien Jörg Nachtweih hielt sich wahrlich in Grenzen. Aber zugleich hatte er geahnt, dass Hannahs Entschluss nicht ohne Folgen für ihn bleiben würde. Für ihre Beziehung. Für sein Leben. Und genauso war es gekommen.

Was ihm vorher so unkompliziert und angenehm anspruchslos erschienen war, entpuppte sich plötzlich als unbequem, fordernd und anstrengend. Während Hannah offensichtlich eine Last von den Schultern genommen war, fühlte sich Bertram mit einemmal eingeengt und in die Ecke getrieben. Hannah musste nun keine Rücksicht mehr nehmen und schien das sichtlich zu genießen. Doch Bertram kam sich vor wie der Leidtragende.

Erst gestern Abend waren sie wieder fürchterlich aneinander geraten, weil Hannah ihm plötzlich mitgeteilt hatte, sie werde das gesamte Osterwochenende in Schöppingen verbringen. Bei und mit Bertram! Schließlich müssten sie es ausnutzen, dass Ella mit Opa Heinrich in Gladbeck sei und erst am Montag zurückkomme. Sturmfreie Bude eben. Dabei hatten sie das vorher ganz anders besprochen.

Der eigentliche Plan war, dass Hannah am Samstagmorgen nach Bonn fahren wollte, weil sich ihr Sohn Billy aus Berlin angekündigt hatte. Doch der hatte seinen Besuch bei den Eltern aus irgendwelchen Gründen gestrichen, und so hatte Hannah die gemeinsamen Pläne kurzerhand über Bord geworfen. Dass Bertram am Samstagabend bereits mit Heide Feldkamp zum Kino verabredet war, hatte postwendend zum Streit geführt. Weil Hannah ihren Willen nicht bekommen hatte. Und offenbar eifersüchtig auf Heide war. Auch das eine Neuigkeit für Bertram.

Zwar hatten sie sich anschließend wieder versöhnt, und Hannah war bemüht so zu tun, als wäre ihre Planänderung nur ein spontaner und nicht ganz ernst gemeinter Einfall gewesen. Aber Bertram hatte sofort gewusst, dass die Sache damit nicht ausgestanden war. Auch wenn der anschließende Sex atemberaubend gewesen war und für den Ärger mehr als entschädigt hatte. Wie so oft nach einem Streit.

Bertram schlug die Bettdecke zurück, erhob sich ächzend und setzte sich auf die Bettkante. Er rieb sich den steifen Nacken und fühlte eine kleine Beule an der Seite. Wie ein Mückenstich, der allerdings nicht juckte, sondern brannte. Auch zwei blutige Kratzer auf seinem linken Oberarm brannten. Hannah liebte es, ihn beim Sex mit ihren langen Fingernägeln zu malträtieren. Oder mit ihren Zähnen. No pain, no gain.

Vor dem Bett lagen seine Sachen wüst auf dem Boden verstreut. Im Eifer des Gefechts vom Körper gerissen. Seine Boxershorts waren in der Birkenfeige neben dem Nachttisch gelandet. Er griff danach und roch daran. Geht noch, fand er und zog sie an.

»Hannah, bist du da?« Seine Stimme glich eher einem Krächzen. Er räusperte sich und setzte etwas lauter hinzu: »Warum hast du mich nicht geweckt?«

Keine Antwort.

»Hannah?«

Stille.

Dann eben nicht, dachte er, stand schwerfällig auf, schlurfte zum Fenster und öffnete es. Er schaute hinaus und sah Hannahs BMW an der Straße stehen, direkt hinter Bertrams Ford Focus. Früher hatte sie den Wagen immer auf dem Parkplatz bei Aldi abgestellt. Damals.

Bertram stellte das Fenster auf Kipp, wandte sich um, schaute zum Bett, das wie ein Schlachtfeld aussah – und erstarrte. Rechts neben dem vorderen Bettpfosten sah er Hannahs Füße auf dem Boden.

»Hannah?«, rief er verwirrt und lief zu ihr. »Was ist mit dir? Was hast du?«

Als er sie vor sich auf dem Boden sah, nackt und seltsam bleich, auf dem Rücken liegend, mit halb geöffneten Augen und heruntergeklapptem Kiefer, wusste er, was mit ihr war, und er musste gegen eine aufkommende Panik ankämpfen. Er beugte sich über sie, fühlte ihren Puls am Hals und fand keinen. An der Kälte ihres Körpers erkannte er, dass ihr Herz bereits vor mehreren Stunden aufgehört hatte zu schlagen. Ihren Atem zu kontrollieren, war also zwecklos.

»NEIN!«, schrie er, sank auf die Knie und streichelte über ihre kühlen Wangen. »Nein! Bitte nicht!« Er küsste sie auf den Mund, als könnte er sie dadurch aus dem todesähnlichen Schlaf holen. Nur dass Hannah nicht schlief. Was, zum Teufel, war hier geschehen?! Das konnte doch überhaupt nicht wahr sein. Das war alles so ... unmöglich.

Doch dann sah er die blutunterlaufenen Stellen an ihrem Hals. Dunkelrote, leicht bläuliche Hämatome. Spuren einer Strangulation. Nicht gerade und linienförmig wie von einer Schnur oder einem Tuch, sondern seltsam versetzt und ungleichmäßig. Wie riesige und unförmige Fingerabdrücke. Hannah war erwürgt worden. In der Nacht. Direkt neben ihm. Und er hatte nichts davon mitbekommen. Das war völlig ... – ihm fiel keine anderes Wort ein – ... unmöglich!

2

Heinrich Tenbrink war froh, dass er auf die Idee mit dem Osterwochenende in Gladbeck gekommen war. Aus gleich mehreren Gründen. Einerseits hatte er seine Tochter Maria und die beiden Enkeltöchter in den letzten Jahren, auch wegen der Corona-Beschränkungen, viel zu selten gesehen. Maria hatte in der Zwischenzeit, wie er erst vor wenigen Tagen erfahren hatte, einen neuen Freund, den er bei dieser Gelegenheit ebenfalls kennenlernen würde.

Andererseits hatte Tenbrink das Gefühl gehabt, dass Maik Bertram eine kleine Auszeit bitternötig hatte. Er hatte zuletzt häufig abgespannt, nervös und leicht reizbar gewirkt, und ein paar Tage ohne die kleine Ella würden ihm sicherlich gut tun. Um auf andere Gedanken zu kommen. Tenbrink verstand zwar, warum Bertram sich Sorgen um seine Tochter machte, aber man konnte es mit den Bedenken und Kümmernissen auch übertreiben. Ja, Ella war etwas eigen und verhielt sich nicht immer so, wie man es von einem dreijährigen Mädchen erwartete. Aber das war an sich nichts Schlimmes, fand Tenbrink. Eigenheit war im Münsterland nichts Ehrenrühriges. So kam zumindest nie Langeweile auf.

Ella war jedenfalls hellauf begeistert gewesen, als sie von dem Besuch bei ihren »Cousinen« Nelly und Jana erfahren hatte, auch wenn Tenbrinks Enkelinnen sieben bis acht Jahre älter waren als sie. Immerhin waren das »richtige Mädchen«, wie Ella mehrmals betonte. Was auch immer das heißen mochte.

Es gab aber noch einen weiteren Grund, warum Tenbrink froh über den Besuch in Gladbeck war. Seine Freundin Brigitte. Oder vielmehr das von ihr organisierte österliche Familientreffen der Pohlschröders, das Tenbrink vermutlich nicht ohne Wutanfall oder Nervenzusammenbruch überstanden hätte. Brigitte hatte über die Feiertage wieder einmal ihren Sohn aus Frankreich zu Gast und Tenbrink herzlich eingeladen, im Kreis der Familie dabei zu sein. »Gehörst ja fast dazu«, hatte sie gesagt und ihm zugezwinkert. »Genau wie Rainer.«

Dr. Rainer Hofmann, Doktor der Medizin und obendrein Psychiater und Sachbuchautor, der verlorene Sohn, einst als uneheliches Kind von Brigitte zur Adoption freigegeben und erst fünfzig Jahre später mit der leiblichen Mutter wiedervereint. Eigentlich eine rührende Geschichte, wenn »der liebe Rainer«, wie Brigitte ihn gern nannte, nicht solch ein anmaßendes, selbstgefälliges und arrogantes Ekelpaket gewesen wäre. Tenbrink hatte den gezierten Lackaffen mit seinem säuselnden Therapeuten-Singsang auf Anhieb unausstehlich gefunden. Und die Abneigung beruhte, wie Brigittes Sohn gar nicht erst zu verbergen suchte, auf Gegenseitigkeit.

Deshalb war Tenbrink so froh und gut gelaunt, als er nun mit Locke an der Leine die Mittagsrunde durch den Wittringer Wald drehte. Obwohl ausgerechnet der Pudel das einzige Problem bei seinem Besuch in Gladbeck war. Jener Pudel, den Maria vor vier Jahren für ihre Töchter gekauft hatte. Damals hatte der Hund noch auf den Namen Götz gehört und dummerweise für einen allergischen Asthmaanfall bei Nelly gesorgt. Nur deshalb war Tenbrink überhaupt in den Besitz des Hundes gekommen.

Tenbrink hätte Locke natürlich bei Maik Bertram in Schöppingen lassen können. Aber das hätte dessen Erholung womöglich geschmälert, und so hatte Tenbrink beschlossen, mit Locke, den er frisch geschoren und geduscht hatte, ein Pensionszimmer in der Nähe der Klopstockstraße zu beziehen, um den Kontakt in Marias Wohnung auf ein Minimum zu reduzieren. Ella blieb derweil mit den anderen in der Wohnung und freute sich diebisch darauf, mit ihren »Cousinen« in einem Zimmer zu schlafen. Mit richtigen Mädchen. Dass Ella nicht bei Tenbrink in der Pension wohnte, hatte er Bertram sicherheitshalber gar nicht erst erzählt.

Tenbrink war richtig stolz auf sich, weil er das alles so gut gedeichselt hatte. Eine Win-Win-Win-Situation. Außer für den armen Locke, der in Marias Wohnung nur die geflieste Küche betreten durfte, und dem es nicht erlaubt war, mit den Mädchen zu spielen. Aber die meiste Zeit würden sie ohnehin draußen sein, beim Gassigehen im Wittringer Wald oder auf diversen Ausflügen, die Maria für die nächsten Tage geplant hatte. Heute Nachmittag sollte es zum Beispiel nach Duisburg in den Zoo gehen. Freitags waren dort angeblich Hunde erlaubt. Hoffentlich auch am Karfreitag.

Tenbrinks Handy klingelte. Als er es aus der Hosentasche zog und Bertrams Namen auf dem Display las, zog er die Stirn kraus. Vermutlich machte Bertram sich bereits wieder Sorgen.

»Hallo, Maik«, meldete er sich mit einem betont aufgeräumten Tonfall. »Alles in bester Ordnung. Ella geht's gut. Wir wollen heute in den Zoo gehen.«

»Nichts ist in Ordnung, Heinrich!«, kam prompt die gestresst klingende Antwort aus dem Handy. »Hannah ist tot.«

»Was?« Tenbrink verstand nicht. »Was meinst du damit?«

»Was meine ich wohl damit! Sie ist tot.«

»Hannah Nachtweih?«

»Sie wurde ermordet. In meinem Schlafzimmer.«

»Wenn das ein Scherz sein soll, kann ich nicht darüber lachen!«, rief Tenbrink verwirrt und zog den Pudel von einem Fahrrad weg, das am Waldrand stand und gerade von Locke markiert wurde.

»Ich scherze nicht! Sie liegt vor mir auf dem Boden. Neben dem Bett. Mit Würgemalen am Hals.«

»Aber ...« Tenbrink suchte nach Worten. »Hast du sie ...?«

»Nein, natürlich nicht!«, fuhr Bertram ihn an. »Warum sollte ich sie töten? Nein! Ich hab sie so gefunden, als ich wach geworden bin. Sie muss in der Nacht oder am frühen Morgen erwürgt worden sein, während ich neben ihr im Bett lag. Ich hab tief und fest geschlafen.«

»Und du hast nichts davon mitbekommen?«

»Nein. Nichts. Überhaupt nichts.«

»Aber das ist doch ...« Tenbrink schüttelte den Kopf.

»Unmöglich. Ich weiß! Aber genau so ist es.«

»Hast du den Notruf schon alarmiert?«

»Nein, ich wollte erst mit dir sprechen.«

»Ruf 110 an! Gib dich als Kriminalpolizist zu erkennen, damit sie nicht glauben, es wäre Gefahr im Verzug. Und achte darauf, dass die Kollegen beim Ersten Angriff keinen Unsinn anstellen. Du weißt, dass die SchuPos sich manchmal wie Elefanten im Porzellanladen aufführen. Es ist wichtig, dass keine Spuren vernichtet werden.«

Tenbrink hörte nur ein ärgerliches Schnaufen. Natürlich wusste Bertram, was zu tun und worauf zu achten war. Dennoch fragte Tenbrink: »Hast du schon im Rest der Wohnung nachgeschaut? Bist du allein im Haus?«

»Du glaubst doch nicht etwa, dass der Täter noch hier ist?«, rief Bertram wütend. »Hannah ist seit Stunden tot. Die Leichenstarre hat bereits eingesetzt.«

»Hast du sie angefasst?« Tenbrink merkte im selben Moment, wie unsinnig und dumm die Frage war.

»Natürlich hab ich sie angefasst! Was glaubst du denn? Wir hatten letzte Nacht Sex miteinander. Ziemlich wilden Sex sogar! Sie hat mir dabei den Oberarm blutig gekratzt. Könnte man auch missverstehen. Und das Bett ist ...«

»Was ist damit?«

»Es sieht aus wie ein Schlachtfeld.«

Tenbrink atmete tief durch. Das klang nicht gut. Gar nicht gut. Wenn er der ermittelnde Polizist wäre und die beschriebene Situation so vorfände, würde er vermutlich nicht lange nach dem Täter suchen. Jedenfalls nicht außerhalb des Schlafzimmers.

»Bist du noch dran?«, fragte Bertram.

»Ich mach mich sofort auf den Weg«, antwortete Tenbrink und sah aus den Augenwinkeln, dass Locke sich zum Kacken hinhockte. Direkt vor das Fahrrad.

»Was ist mit Ella?«, fragte Bertram.

»Die bleibt bei Maria und den Mädchen. Ihr geht's hier bestens, und Maria hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich ihr sage, was los ist. Ich werde mir für Ella irgendeine Ausrede ausdenken. Opa Heinrich wird schon was einfallen. Mach dir um Ella keine Sorgen.«

»Wenn du meinst.« Es klang besorgt.

»Ruf die 110, Maik! Und gib auch gleich Arno Bremer Bescheid. Ist ja nicht nötig, dass sich wegen dem heutigen Feiertag erst der Kriminaldauerdienst einschaltet. Der Fall wird sowieso beim KK11 landen. Je eher desto besser.«

»Scheiße!«, zischte Bertram.

»Ja«, bestätigte Tenbrink und suchte in der Jackentasche nach den Kotbeuteln. »Ich beeil mich.«

»Danke.« Es klackte in der Leitung. Bertram hatte aufgelegt.

»Scheiße!«, fluchte jetzt auch Tenbrink und steckte das Handy ein. Er meinte nicht nur Bertrams missliche Lage. Tenbrink hatte die verdammten Plastikbeutel vergessen.

3

»Jetzt mal ganz langsam und der Reihe nach.« Arno Bremer hob die Augenbrauen, fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die nackte Oberlippe, auf der bis vor Kurzem noch sein buschiger Schnauzbart geprangt hatte, und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Und bitte so, dass ich es verstehe. Ich bin anscheinend etwas begriffsstutzig.«

Bertram seufzte und nahm einen Schluck des extrastarken »Prütt-Kaffees«, den er sich vorhin direkt in der Tasse aufgebrüht und nicht nur mit der doppelten Menge Zucker, sondern auch mit zwei Aspirin versetzt hatte. Er wusste, dass Bremer durchaus verstanden hatte, was Bertram ihm in Kurzform mitgeteilt hatte, aber es war offensichtlich, dass er kein Wort davon glaubte.

»Wo soll ich anfangen?«, fragte Bertram, schaute dabei aber hilfesuchend zu Isa Rohmann, die seit der knappen Begrüßung vor wenigen Minuten keinen Ton von sich gegeben und ihn die ganze Zeit nur wie eine Sphinx angestarrt hatte. Seit über zwei Jahren arbeiteten sie jetzt zusammen, aber wegen ihres durch die Hasenscharte und die verwachsenen OP-Narben entstellten Gesichts fiel es Bertram immer noch schwer, ihre Mimik zu entziffern.

Sie saßen unten in Tenbrinks Küche, Bertram auf der einen Seite des Tisches, mit dem Rücken zum Fenster, Arno Bremer und Isa Rohmann ihm gegenüber. Heide Feldkamp und die Kollegen vom Erkennungsdienst waren oben mit der Spurensicherung und Tatortfotografie beschäftigt. Der herbeigerufene Notarzt hatte die Erste Leichenschau bereits beendet und angeordnet, Hannahs Leiche zur weiteren Untersuchung ins Institut für Rechtsmedizin nach Münster zu bringen. Überall im Haus standen uniformierte Schutzpolizisten herum, die den Tatort beim Ersten Angriff gesichert hatten und jetzt eigentlich ohne Aufgabe waren. Außer nutzlos herumzustehen und wichtigtuerisch zu gucken.

»Ihr wart also gestern Abend in einer Pizzeria«, stellte Bremer fest, ließ es aber wie eine Frage klingen.

»Trattoria«, präzisierte Bertram. »In der Hauptstraße. Das italienische Restaurant gegenüber von der Kirche.«

»Und dort habt ihr euch gestritten.«

»Nicht gestritten«, widersprach Bertram. »Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit. Es ging um unsere Pläne fürs Wochenende. Nichts Dramatisches.« Bertram hatte vorhin kurz überlegt, ob er den Streit mit Hannah überhaupt erwähnen sollte, sich dann aber dafür entschieden, die Wahrheit zu sagen. Schließlich hatten sie sich bereits im Restaurant im Beisein von Zeugen gestritten, und nichts war verdächtiger als ein plötzlich auftauchendes belastendes Detail, das zuvor verschwiegen worden war. »Es war nicht der Rede wert, und zu Hause haben wir uns auch sofort wieder versöhnt«, setzte Bertram eilig hinzu. »Wir haben ein paar Gläser Sekt getrunken und sind anschließend ins Bett gegangen. Das war so gegen eins oder halb zwei.«

»Dann habt ihr miteinander geschlafen.«

»Ja.« Bertram senkte den Kopf.

»Dabei hat sie dir den Arm zerkratzt.« Bremers leicht spöttischer Tonfall verriet, dass er dies für eine fadenscheinige Schutzbehauptung hielt. »Beim Sex.«

»Hannah mochte es gern etwas wilder. Du weißt schon ...«

»Nein, das weiß ich nicht.« Bremer schaute pikiert drein. »Was heißt das? Kratzen, Beißen, Fesseln, Schlagen?«

»So was in der Art. Aber alles ganz harmlos.«

»Auch Würgen?« Bremers Augen funkelten böse. »Das soll ja angeblich den Orgasmus verstärken. Ist nur nicht so leicht zu dosieren, wenn man sehr erregt ist und zu fest zudrückt. Kann schnell mal schiefgehen. Alles schon vorgekommen.«

»Ich habe Hannah nicht gewürgt! Nicht gestern und auch sonst nicht!« Bertram fuhr sich hektisch über das stoppelige Kinn. »Und ich hab sie vor allem nicht erwürgt. Als ich eingeschlafen bin, hat sie noch gelebt. Und neben mir im Bett gelegen.«

Plötzlich hatte er wieder Hannahs Gesicht vor Augen. Nicht während des Sex oder beim Einschlafen, sondern wie er sie auf dem Fußboden gefunden hatte. Mit halb geöffneten Augenlidern und heruntergeklapptem Kiefer. In Krimis wurde ja gern behauptet, man könne am Gesicht eines Toten irgendetwas ablesen. Aber das war natürlich Unsinn. Denn im Moment des Todes entspannten sich die Gesichtsmuskeln, und das Einzige, was von der vorherigen Mimik übrigblieb, egal ob durch Schmerz, Furcht oder Entsetzen verursacht, war der nichtssagende Ausdruck der Leblosigkeit. Tote zeigten keine Gefühle. Bertram schluckte und spürte eine Übelkeit in sich hochsteigen. Der Zucker, das Koffein und die Säure des Aspirins kämpften in seinem Magen miteinander.

»Ihr hattet eine Affäre«, sagte Isa Rohmann unvermittelt.

Bertram fuhr aus seinen Gedanken auf und schaute sie fragend an. Hatte er das nicht gerade berichtet?

»Ich meine, ihr hattet eine heimliche Affäre. Eine Liebschaft, von der niemand wusste.«

»Heinrich Tenbrink wusste natürlich davon«, antwortete Bertram und wunderte sich über den antiquierten Begriff Liebschaft. »Und Brigitte, Heinrichs Freundin, hat uns ebenfalls zusammen gesehen. Aber sonst ...« Bertram schüttelte den Kopf. »Hannah hat peinlichst darauf geachtet, dass keiner davon erfährt.«

»Auch ihr Mann nicht?«, fragte Isa.

»Sie hat ihm vor einigen Wochen mitgeteilt, dass sie sich von ihm trennen will«, antwortete Bertram, setzte aber sofort hinzu: »Ich glaube allerdings nicht, dass er von uns wusste. Das wäre mir jedenfalls neu.«

»Aber es wäre ein mögliches Tatmotiv.«

Bertram zuckte mit den Schultern und nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Er hatte Jörg Nachtweih nur selten getroffen und ihn als nicht gerade phantasiebegabten Langweiler kennengelernt. Eine solche Tat, auf diese perfide und zugleich abstruse Weise begangen, traute er ihm nicht zu. Aber es gab eigentlich niemanden, dem er eine solche Tat zutraute. Obwohl er es besser wissen sollte.

»Und die beiden Söhne?«, fragte Isa und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

»Der eine lebt in Amerika, der andere in Berlin. Aber ich halte es für ausgeschlossen, dass sie von Hannah und mir wussten. Zumindest nicht durch ihre Mutter.«

»Wir sollten zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt nichts ausschließen«, widersprach Isa und schaute zu Bremer. Der rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und tastete erneut mit den Fingern seine Oberlippe ab. Als suchte er nach seinem Schnurrbart.

»Mag sein.« Bertram hatte Kaffeesatz im Mund und spuckte den Prütt zurück in die Tasse. »Wahrscheinlich hast du recht.«

»Was redet ihr beiden denn da?«, brach es in diesem Moment aus Arno Bremer heraus. Er deutete mit dem Zeigefinger auf Bertram und rief: »Was willst du uns eigentlich weismachen, Maik? Dass ein Unbekannter nachts in das Haus eindringt und deine Geliebte erwürgt, während du neben ihr im Bett liegst? Merkst du gar nicht, wie bescheuert das klingt?«

»Natürlich klingt das bescheuert«, wehrte sich Bertram und wischte sich die letzten Kaffeekrümel von der Zunge. »Aber so muss es gewesen sein.«

»Und wieso bist du nicht wach geworden?«

»Vermutlich wurde ich betäubt. Mit einer Injektion.« Er deutete auf die nach wie vor brennende Stelle an seinem Hals. »Anders kann ich es mir nicht erklären.«

»Sieht aus wie ein Stich«, bestätigte Isa Rohmann.

»Ja, wie ein Mückenstich!« Bremer schüttelte den Kopf und hob die Hände, als wollte er sich an eine höhere Instanz wenden. Oder sich vor so viel ausgemachtem Unsinn ergeben. Bertram konnte es sogar nachvollziehen. An Bremers Stelle hätte er vermutlich genauso reagiert.

»Hat der Arzt eine Blutprobe genommen?«, fragte Isa und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln.

»Natürlich. Allein schon, um den Alkoholgehalt des Bluts zu untersuchen. Und der Erkennungsdienst hat meine Fingerabdrücke und eine DNA-Probe genommen.« Er hielt seine immer noch schwarz gefärbten Fingerkuppen in die Höhe. »Das ganze Programm.«

»Dann werden wir ja bald wissen, ob du ein Betäubungsmittel verabreicht bekommen hast.«

»Hoffentlich.« Bertram war sich da nicht so sicher. »Es gibt einige Sedativa und K.-o.-Tropfen, die nur wenige Stunden im Blut nachweisbar sind. GBL oder GHB zum Beispiel. Und als der Arzt mir das Blut abgenommen hat, waren bereits mindestens zehn Stunden vergangen.«

»Warum gibst du es nicht einfach zu, Maik?« Arno Bremer schaute Bertram mit einem Blick an, der vermutlich mitfühlend oder verständnisvoll sein sollte. »Es behauptet ja niemand, dass es Absicht war. Du hast halt beim Sex zu fest zugedrückt. Es war ein bedauerlicher Unfall.«

»Ich hab Hannah nicht gewürgt, Arno!« Bertram schob die Tasse, in der sich nur noch Kaffeesatz befand, von sich und stutzte plötzlich. »Hat der Arzt eigentlich schon feststellen können, woran sie gestorben ist?«

»Sie wurde erwürgt!«, rief Bremer wütend. »Das weißt du doch.«

»Aber was war die Todesursache? Ist die Blutzufuhr zum Hirn unterbrochen worden, oder ist Hannah erstickt?«

»Wir müssen die Ergebnisse der Obduktion abwarten, aber vermutlich ist sie erstickt«, antwortete Isa. »Der Täter hat allem Anschein nach mit beiden Daumen ihre Luftröhre unter dem Kehlkopf zugedrückt. Sagt der Arzt.«

»Das beweist doch, dass es nicht aus Versehen beim Sex passiert sein kann!«, rief Bertram und suchte Bremers Blick. »Es dauert ziemlich lange, bis jemand erstickt. Und das Opfer wehrt sich dabei. Unfälle beim Strangulieren geschehen meistens, wenn man ein Seil oder etwas Ähnliches benutzt und dabei die Halsschlagader abschnürt. Es ist nicht möglich, jemanden aus Versehen zu erwürgen.«

»Das macht es nicht besser für dich«, erwiderte Bremer und setzte eine mitleidige Miene auf. »Denn dann war es Absicht. Dann war es Mord.«

»Natürlich war es Mord. Genau das sage ich ja.« Weil offensichtlich war, dass Bremer ihn für den Täter hielt, wandte er sich an Isa. »Aber ich habe Hannah nicht getötet. Weder absichtlich noch versehentlich.«

»Eines verstehe ich nicht«, erwiderte Isa nachdenklich und schüttelte ganz leicht und etwas unwillig den Kopf. »Warum hat der Täter sie hier umgebracht? In deinem Schlafzimmer. Warum nicht in ihrer Wohnung? Wo sie allein gewesen wäre. Weshalb diese komplizierte und riskante Vorgehensweise? Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Kommt drauf an«, erwiderte Bertram, der sich diese Fragen natürlich auch schon gestellt hatte. »Ich glaube, er wollte nicht nur Hannah töten, sondern auch mich als Täter hinstellen. Deshalb ist er dieses Risiko eingegangen. Um mich zu vernichten.« Er schaute zu Bremer und fügte hinzu: »Und wenn ich Arnos Blick richtig deute, hat er damit auch Erfolg gehabt.«

»Wo ist deine Dienstwaffe?«, fragte Bremer.

»In der Waffenkammer im Präsidium.«

»Gut. Da bleibt sie vorerst auch.«

»Willst du mich vom Dienst suspendieren?«

»Nennen wir es Urlaub. Das klingt besser. Oder du lässt dich krankschreiben. Dass du unter diesen Umständen nicht ins Präsidium kommen kannst, versteht sich von selbst, oder?«

»Wir sind oben fürs Erste fertig und machen jetzt unten im Wohnzimmer weiter«, kam es in diesem Augenblick von der Tür zum Flur. Dort stand Heide Feldkamp in ihrem weißen Einwegoverall, mit Überziehern an den Füßen und Kapuze auf dem Kopf. Sie schaute zu Bertram, seufzte leise und fragte: »Wie geht's dir, Maik?«

»Habt ihr irgendwas gefunden?«, antwortete er mit einer Gegenfrage. Um nicht die Wahrheit sagen zu müssen. Dass ihm kotzübel war. Dass er am liebsten laut schreiend davongelaufen wäre. Um sich zu verkriechen.

»Wir haben auf dem Fußboden ...«, begann Heide, doch Bremer unterbrach sie sofort, hob abwehrend die Hand und schüttelte energisch den Kopf. »Das darf sie dir nicht sagen, Maik!«

»Jetzt mach mal 'nen Punkt, Arno!«, empörte sich Heide.

»Er hat ja recht«, sagte Bertram und vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich bin euer Hauptverdächtiger.«

4

Zwei Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht und ein Rettungsfahrzeug der Feuerwehr standen auf der Von-Galen-Straße und blockierten die Durchfahrt zum Rosenweg, der einen Steinwurf entfernt die Straße kreuzte. Ein Transporter der Kriminaltechnik parkte halb auf dem Gehweg vor dem Haus, direkt neben Hannah Nachtweihs BMW, der gerade von den weiß gekleideten Technikern der Spurensicherung untersucht wurde. Der Eingangsbereich des Hauses war mit rot-weißem Flatterband abgesperrt, und zwei uniformierte Schutzpolizisten standen wie steinerne Statuen links und rechts neben der Haustür, die Arme vor der Brust verschränkt und grimmig dreinschauend.

Heinrich Tenbrink hatte seinen Wagen wohlweislich auf dem Aldi-Parkplatz abgestellt, näherte sich nun zu Fuß und mit Locke an der Leine dem Haus, erkannte im Vorbeigehen zwei Lokaljournalisten der Westfälischen Zeitung, die mit irgendwelchen Nachbarn oder Passanten sprachen, und betrat den schmalen Plattenweg, der vom Bürgersteig zur Haustür führte. Als er das Absperrband erreichte, hob er seinen Arm und rief dem älteren und ranghöheren der beiden Schutzpolizisten zu: »Herr Polizeihauptmeister!«

»Was?«, kam sofort die unfreundliche Antwort.

»Mein Name ist Heinrich Tenbrink.« Tenbrink bückte sich, um unter der Absperrung hindurchzukriechen.

»Halt! Bleiben Sie stehen!«

»Mein Name ist Tenbrink. Ich wohne hier.« Als wäre die Aussage noch zu ungenau gewesen, setzte er hinzu: »Dies ist mein Haus.«

»Dies ist vor allem ein Tatort«, erwiderte der Polizeihauptmeister mit bedeutsamer Miene und schaute zu seinem jüngeren Kollegen, als suchte er dessen Bestätigung. »Deshalb bleiben Sie bitte hinter der Absperrung. Und der Hund auch.«

Tenbrink war sich nicht sicher, ob er undeutlich gesprochen hatte oder der Kerl einfach etwas begriffsstutzig war. Er seufzte, nahm Locke auf den Arm und sagte: »Dann sagen Sie bitte dem Ersten Hauptkommissar Bremer Bescheid, dass ich hier bin. Oder ist der Kriminaldauerdienst noch vor Ort? Wer ist der Einsatzleiter?«

»Wie war doch gleich Ihr Name?«

»Kriminalrat Tenbrink!«, ertönte in diesem Moment eine dröhnende Bassstimme hinter Tenbrink. »Mach hier keinen auf dicke Eier, Oskar! Der Kriminalrat hat davon mehr in der Hose als du und ich zusammen.«

»Hallo, Karlheinz.« Er hatte Ewerdings mächtige Stimme sofort erkannt und wandte sich zu dem uniformierten Koloss um. Karlheinz Ewerding, Erster Polizeihauptkommissar und Dienststellenleiter der Altwicker Polizeiwache. Ein Bär von einem Mann und inzwischen auch ein guter Freund von Tenbrink. Nicht nur, weil er vor einigen Jahren einen Mann erschossen hatte, um Tenbrinks Leben zu retten. Das, wie sich später herausgestellt hatte, gar nicht in Gefahr gewesen war. Aber das hatte Ewerding nicht wissen können.

»Polizeihauptmeister Schneider ist manchmal etwas übereifrig.« Ewerding klopfte mit der Hand auf Tenbrinks Schulter. »Jetzt mach schon, Oskar!«

»'tschuldigung, Chef!«, sagte der Polizeihauptmeister kleinlaut und hielt das Absperrband in die Höhe, damit Tenbrink und Ewerding besser darunter hindurchkamen. »Tut mir leid, Herr Kriminalrat. Ich wusste ja nicht ...«

»Kriminalrat im Ruhestand«, erwiderte Tenbrink und ächzte ein wenig, als er sich auf der anderen Seite wieder aufrichtete. »Ich möchte keine Amtsanmaßung begehen.« Bevor der Polizeihauptmeister etwas erwidern konnte, wandte Tenbrink sich an Ewerding: »Hast du den Ersten Angriff geleitet?«

»Am Karfreitag? So weit kommt's noch.« Ewerding schüttelte den Kopf und streichelte gleichzeitig Locke, der auf Tenbrinks Arm freudig mit dem Schwanz wedelte. »Aber als ich gehört hab, was hier los ist, hab ich mich gleich auf den Weg gemacht. Schlimme Sache. Und irgendwie unbegreiflich, oder? Warst du zu Hause, als es passiert ist?«

»Leider nicht.« Tenbrink kramte den Schlüssel aus der Jackentasche und öffnete die Haustür, die bereits vom Erkennungsdienst bearbeitet worden war. »Sonst wär's womöglich nicht geschehen.«

»Oder es gäb jetzt noch eine Leiche mehr.«

Tenbrink betrat den Flur und nickte, obwohl er das für äußerst unwahrscheinlich hielt. Nach allem, was Maik ihm am Telefon berichtet hatte, hatte der Täter vermutlich genau gewusst, dass Tenbrink nicht im Haus gewesen war. Ein beunruhigender Gedanke, wie er fand.

Tenbrink schaute sich um. Auch hier standen zwei Schutzpolizisten mit verschränkten Armen in der Gegend herum. Flatterband versperrte den Zugang zur Treppe, das Gleiche galt für das Bad und das Gästeklo neben der Treppe. Als begehbaren Korridor hatten die Kollegen von der Spurensicherung mehrere schmale Streifen Malervlies auf den Boden gelegt. Es wirkte irgendwie improvisiert.

»Hallo, Heinrich«, wurde Tenbrink von einem Kriminaltechniker begrüßt, der gerade aus dem Schlafzimmer kam. »Als ich deinen Namen an der Tür gelesen hab, konnte ich's erst gar nicht glauben. Wie schrecklich!«

»Das kannst du laut sagen.« Tenbrink versuchte sich an den Namen des Mannes zu erinnern. Vergeblich. Vermutlich erkannte er ihn nicht, weil er den üblichen Ganzkörperschutzanzug trug und die Kapuze übergezogen hatte. Das redete er sich zumindest ein.

»Sollen wir Überzieher und Handschuhe anziehen?«, fragte Ewerding und schloss die Haustür hinter sich.

»Nur, wenn ihr nach oben wollt«, antwortete der Techniker und ging in Richtung Wohnzimmer. »Flur und Küche sind erledigt. Der Rest ist noch Sperrzone. Das gilt leider auch für das Schlafzimmer. Wir beeilen uns.« Er räusperte sich und setzte dann hinzu: »Wir bräuchten nachher noch deine Fingerabdrücke, Heinrich. Zum Abgleich.«

»Natürlich.« Tenbrink zog seine Jacke aus und hängte sie an die Garderobe. Auf dem Sideboard daneben stand das Telefon zum Aufladen in der Basisstation. Die rote Leuchte des Anrufbeantworters blinkte.

»Wir sind hier, Heinrich!«, hörte er Bertrams Stimme aus der Küche. »Schön, dass du so schnell kommen konntest.«

»Karlheinz ist auch da«, erwiderte Tenbrink und ging in die Küche, in der Maik Bertram, Arno Bremer und Isa Rohmann am Tisch saßen. Er grüßte nickend in die Runde und fragte: »Soll ich uns Kaffee kochen?«

»Was soll das werden?«, fragte Bremer übellaunig. »So 'ne Art Klassentreffen?«

»Wusste gar nicht, dass wir auf derselben Schule waren«, antwortete Ewerding, hob die Hand zum Gruß und stellte sich in den Türrahmen, als wollte er den Fluchtweg versperren.

»Wir sind hier noch beschäftigt«, knurrte Bremer und knibbelte an seiner Oberlippe herum. Als Tenbrink ihn vor einigen Wochen zum ersten Mal ohne seinen Schnauzbart gesehen hatte, hätte er ihn beinahe nicht erkannt. Das buschige Ungetüm unter der Nase war immer Bremers Erkennungsmerkmal gewesen. Sein Wahrzeichen.

»Ist das eine Beschuldigtenvernehmung?«, fragte Tenbrink und setzte den Hund auf den Boden.

Bevor Bremer etwas erwidern konnte, antwortete Isa Rohmann: »Nein, nur eine Zeugenbefragung. Du kannst dich selbstverständlich dazusetzen. Aber vorher hätte ich gern einen Kaffee. Wenn er nicht zu stark ist.«

Tenbrink nickte und lächelte Isa dankbar an. Er kannte sie bereits aus ihrer Zeit bei der Polizei Borken und hatte sie als sehr fähige Polizistin erlebt. Inzwischen wusste er obendrein, dass sie eine äußerst angenehme und intelligente Person war. Eine patente Deern, wie man im Münsterland sagte. Auch wenn er es nach wie vor etwas irritierend fand, sie anzuschauen.

»Möchte sonst noch jemand Kaffee?«, fragte Tenbrink, schickte Locke mit einer Handbewegung und einem leisen »Nüst!« zu seinem Körbchen neben dem Kühlschrank und ging zur Anrichte, auf der die Kaffeemaschine stand.

»Aber immer!«, kam es dröhnend von der Tür. »Mit viel Zucker bitte. Auch wenn heute Karfreitag ist.«

»Für mich lieber nicht«, murmelte Bertram und schaute Tenbrink mit bleicher Miene und beinahe flehentlich an. »Mein letzter Kaffee kommt mir schon die ganze Zeit hoch.« Er sah tatsächlich so aus, als müsste er sich gleich übergeben. Oder in Tränen ausbrechen.

»Was ist mir dir, Arno?«, fragte Tenbrink und füllte Wasser in die Kanne. »Oder willst du lieber einen Tee?«

Statt zu antworten, zog Bremer einen missfälligen Flunsch und wandte sich an Bertram: »Du wolltest gerade von Hannah Nachtweih berichten. Bevor wir unterbrochen wurden.«

»Ich hab euch alles erzählt, was ich weiß.« Bertram senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Wir haben nie viel über Privates geredet. Das wollte sie nicht. Grundsätzlich nicht. Über ihre Familie und ihr Leben in Bonn weiß ich so gut wie nichts. Das müsst ihr ihren Mann fragen. Oder ihre Söhne.«

»Das werden wir.« Bremer machte eine Pause, als müsste er seine nächsten Worte genau abwägen. Dann fragte er: »Hat es dich nie gestört, dass sie verheiratet war? War es dir egal, dass sie eine Familie hatte?«

Tenbrink, der gerade das Kaffeepulver in den Filter füllte, bemerkte den seltsamen Tonfall in Bremers Stimme. Es klang so, als würde es Bremer stören, dass Bertram eine Affäre mit einer verheirateten Frau gehabt hatte. Tenbrink wusste auch wieso: Bremer war vor einigen Monaten von seiner Frau Susanne verlassen worden. Nach über dreißig Jahren Ehe. Angeblich wegen eines anderen Mannes.

»Nein, es hat mich nicht gestört, dass sie verheiratet war, denn ich wollte sie ja nicht heiraten oder mit ihr zusammenziehen«, antwortete Bertram, der natürlich ebenfalls von Bremers Eheproblemen wusste. »Ich bin Single und niemandem Rechenschaft schuldig. Ich habe niemanden betrogen.«

»Das wird Jörg Nachtweih vermutlich anders sehen.«

»Ja, Hannah war ihm untreu«, antwortete Bertram und schüttelte plötzlich den Kopf. »Aber auch wenn das jetzt vielleicht etwas seltsam klingt: Das hatte nichts mit Jörg oder ihrer Ehe zu tun.«

Arno Bremer lachte laut auf und rief: »Das glaubst du doch selber nicht, Maik!«