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Christine Drews

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Beschreibung

Die Geschichte der ersten Linienflugkapitänin der Welt Deutschland in den Siebzigerjahren. Katharina Berner stammt aus einer gut situierten Unternehmerfamilie, geht aber seit jeher ihren eigenen Weg. Dass sie Jura studieren wollte, statt eine Familie zu gründen, haben weder ihr Vater, der alte Patriarch, noch ihre Mutter oder Schwestern je verstanden. Doch sie hat sich durchgesetzt und arbeitet in einer großen Kanzlei in Köln – glücklich ist sie allerdings nicht. Die männlichen Kollegen machen ihr den Alltag zur Hölle, am liebsten würde sie sich selbstständig machen. Nur wie, wenn nicht einmal jemand Büroräume an sie vermieten will? Da bittet eine junge Frau Katharina um Hilfe: Rita Maiburg besitzt eine Pilotenlizenz, versucht jedoch vergeblich, eine Anstellung zu bekommen. Die Lufthansa hat ihre Bewerbung mit der Begründung abgelehnt, dass sie grundsätzlich keine Frauen als Piloten einstellt. Diese Ungerechtigkeit will Rita sich nicht gefallen lassen. Katharina nimmt den Fall an, und die beiden beschließen zu klagen – gegen die Lufthansa und die BRD. Einen Verbündeten findet Katharina in ihrem Vermieter Theo, der sie nach Kräften unterstützt. Doch wird es den beiden Frauen gelingen, Ritas Traum vom Fliegen endlich Wirklichkeit werden zu lassen?

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Deutschland in den Siebzigerjahren. Katharina Berner stammt aus einer gut situierten Unternehmerfamilie, geht aber seit jeher ihren eigenen Weg. Dass sie Jura studieren wollte, statt eine Familie zu gründen, haben weder ihr Vater, der alte Patriarch, noch ihre Mutter oder Schwestern je verstanden. Doch sie hat sich durchgesetzt und arbeitet in einer großen Kanzlei in Köln – glücklich ist sie allerdings nicht. Die männlichen Kollegen machen ihr den Alltag zur Hölle, am liebsten würde sie sich selbstständig machen. Nur wie, wenn nicht einmal jemand Büroräume an sie vermieten will? Da bittet eine junge Frau Katharina um Hilfe: Rita Maiburg besitzt eine Pilotenlizenz, versucht jedoch vergeblich, eine Anstellung zu bekommen. Die Lufthansa hat ihre Bewerbung mit der Begründung abgelehnt, dass sie grundsätzlich keine Frauen als Piloten einstellt. Diese Ungerechtigkeit will Rita sich nicht  gefallen lassen. Katharina nimmt den Fall an, und die beiden beschließen zu klagen – gegen die Lufthansa und die BRD. Einen Verbündeten findet Katharina in ihrem Vermieter Theo, der sie nach Kräften unterstützt. Doch wird es den beiden Frauen gelingen, Ritas Traum vom Fliegen endlich Wirklichkeit werden lassen?

© Teresa Rothwangl

Christine Drews ist Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Mit ›Schattenfreundin‹ veröffentlichte sie 2013 ihren ersten Roman, der in sechs Sprachen übersetzt und für das ZDF verfilmt wurde. Neben Kriminalromanen und Thrillern schreibt sie auch Familienromane. Außerdem verfasst sie Drehbücher für Filme und TV-Serien. Nachdem Christine Drews einige Jahre in England gelebt hat, wohnt sie heute mit ihrer Familie in Köln.

Christine Drews

Freiflug

Roman

eBook 2021

© 2021 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagmotiv: © Susan Fox / Trevillion

Satz: Angelika Kudella, Köln

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-7082-0

www.dumont-buchverlag.de

PROLOG

2.SEPTEMBER 1977

Der Nebel war so dicht, dass sie kaum etwas erkennen konnte. Zum Glück herrschte wenig Verkehr, um diese Uhrzeit lagen die meisten Menschen noch in ihren Betten. Selbst hier auf dem platten Land, wo es die Bauern doch sonst viel früher nach draußen trieb. Vermutlich war sie die Einzige, die so früh arbeiten musste, dachte sie seufzend. Sie war spät dran, in einer halben Stunde begann ihr Dienst, und Fehler konnte sie sich nicht erlauben. Ob sich daran jemals etwas ändern würde? Jürgen war neulich eine halbe Stunde zu spät gekommen, und keiner hatte etwas gesagt. Aber bei ihr schauten alle ganz genau hin, das spürte sie deutlich.

Obwohl die Sicht unter fünf Metern lag, trat sie aufs Gaspedal. Der Motor heulte auf, aber ihr hellblauer VW

1

20.APRIL 1974

Katharina Berner saß in der Bibliothek der Villa ihrer Eltern. Ihre Mutter hatte die Kaffeetafel dort decken lassen, es gab Schwarzwälder Kirsch- und Prinzregententorte, gebacken von Martha, der Haushälterin im Hause Berner. Der vertraute, leicht muffige Geruch der alten Bücher hatte sich mit dem Duft von Kaffee und Kuchen vermischt, und der Raum, in dem Katharina früher stundenlang gelesen hatte, bekam dadurch eine ganz andere Aura.

Traute Berner nahm sich gerade ihr zweites Stück Torte, was von ihrer ältesten Tochter Eva kritisch beäugt und von Hanna, der zweitgeborenen, besorgt kommentiert wurde. Während ihre Schwestern mit der Mutter die Zuckerwerte diskutierten, fiel Katharinas Blick durch die Sprossenfenster auf die Terrasse, die im herrlichsten Sonnenschein lag. Eine bildschöne Blondine, höchstens dreißig Jahre alt, schenkte einem gut aussehenden Mann und zwei ausgesprochen hübschen Kindern dort gerade Kaffee und Kakao ein. Dann bekam jeder ein Stück Erdbeerkuchen, bevor sich die dauerlächelnde Frau mit an den Tisch setzte, der mit einer strahlend weißen Decke und gutem Porzellan gedeckt war. Die Malheure kamen völlig unerwartet: Der Mann kleckerte Kaffee auf sein blütenweißes Hemd, dem Jungen fiel der Kakao um und dem kleinen Mädchen ein Stück Erdbeerkuchen auf den Tisch. In Erwartung einer schlimmen Standpauke starrten alle ängstlich auf die Blondine. Gleichgültig beobachtete Katharina die Reaktion der Frau, die ausfiel wie immer. Lächelnd sah sie über das Desaster hinweg und zog wie aus dem Nichts eine Flasche Semil unter dem Tisch hervor. Obwohl Katharina nicht hören konnte, was die Frau sagte, kannte sie den Text in- und auswendig: »Das macht doch nichts, mein Lieber. Mit Semil wird dein Hemd im Nu wieder blütenrein. Und das gute Tischtuch erst recht.« Daraufhin drehte sie sich zur Kamera und lächelte noch glücklicher als zuvor, während die anderen im Hintergrund erleichterte Gesichter machten. »Semil. Für strahlend weiße Wäsche.« – »Und eine glückliche Hausfrau«, fügte der Mann noch mit einem selbstzufriedenen Lächeln hinzu und tätschelte der Blondine die Wange, deren Gesicht bei dem ganzen Strahlen eigentlich längst hätte verkrampfen müssen.

Zufrieden klopfte Karl Berner seinem Sohn Erich auf die Schulter, als der Werbefilm im Kasten war. Die beiden standen neben dem Kameramann und hatten von da aus die gesamten Dreharbeiten genau beobachtet. Es war nicht das erste Mal, dass auf dem Anwesen der Berners gedreht wurde. Nachdem Willy Brandt, der damals noch Außenminister gewesen war, vor sieben Jahren auf der Funkausstellung in Berlin einen symbolischen roten Knopf gedrückt und damit den Startschuss für das Farbfernsehen in der BRD gegeben hatte, waren die kurzen Werbefilme immer beliebter geworden. Besonders in der Waschmittelindustrie. Kein Wunder, schließlich ließ sich die strahlende Leuchtkraft und die bunte Vielfalt der Wäsche im Farbfernsehen deutlich leichter transportieren, als es in den Schwarz-Weiß-Filmen möglich gewesen war. Und da die Jugendstilvilla der Berners den perfekten Rahmen für eine solche Reklame abgab, war es für den Firmengründer nur naheliegend, hier zu drehen. Warum sollte man Geld für ein gemietetes Objekt ausgeben, wenn der Chef den perfekten Drehort sein Eigentum nennen durfte? Dafür war Karl viel zu sparsam.

Katharina hatte den Geschäftssinn ihres Vaters immer bewundert, und es hatte sie nie gestört, wenn ihr Elternhaus für Dreharbeiten genutzt wurde. Aber hätte er den Dreh diesmal nicht um einen Tag verschieben können? Das Wetter war traumhaft, für Ende April fast sommerlich. Sie hätten auf der Terrasse sitzen können, alle zusammen, und nicht nur die Frauen. Immerhin war heute der fünfundsiebzigste Geburtstag ihrer Mutter.

»Heute werde ich mir ja wohl ein zweites Stück genehmigen dürfen«, sagte Traute.

»Natürlich darfst du das, Mama.« Katharina legte ihr eine Hand auf den Arm.

Eva verdrehte die Augen. »Dir ist wohl egal, ob sie einen Zuckerschock bekommt.«

»Nein, ist es nicht«, antwortete Katharina und versuchte, eine möglichst freundliche Tonlage beizubehalten. Im Gespräch mit ihrer fünfzehn Jahre älteren Schwester fiel ihr das manchmal schwer. »Mama hat doch den besten Überblick über ihre Zuckerwerte und weiß genau, wann sie spritzen muss. Keiner kann besser entscheiden als sie, ob sie noch ein Stück Torte essen darf oder nicht.«

Traute lächelte sie an. »Wo du recht hast, hast du recht, mein Kind.« Demonstrativ steckte sie sich ein besonders großes Stück Kuchen in den Mund.

Eva verzog das Gesicht, wodurch ihre Zornesfalte auf der Stirn noch deutlicher zum Vorschein kam. Früher war sie ein hübsches Mädchen gewesen. Groß gewachsen und mit einer schlanken Figur, dazu die blauen Augen und die blonden Haare – kein Wunder, dass die Amerikaner sie nach Kriegsende, da war sie gerade zwanzig, kaum in Ruhe lassen wollten. Eva war der Inbegriff des deutschen Fräuleins gewesen, was im völlig zerstörten Köln seine Vor- und Nachteile gehabt hatte. Vielleicht war das der Grund, warum sie so schnell nach Kriegsende geheiratet hatte. Katharina war auf der Hochzeit Blumenmädchen gewesen und erinnerte sich noch genau, wie alt ihr Evas Mann damals vorgekommen war. Dr.Konrad Kruse war bereits fünfunddreißig, als er ihre Schwester zum Traualtar führte. Ein gestandener Arzt mit gut laufender Praxis, ein Katholik, besser hatte es Eva gar nicht treffen können, glaubte Karl Berner, der sich freute, dass endlich bessere Zeiten kommen würden.

Katharina betrachtete ihre älteste Schwester, wie sie schlecht gelaunt an der Geburtstagstafel ihrer Mutter saß und an ihrem Kaffee nippte. Die hübsche und hoffnungsvolle Braut von damals konnte man nur noch erahnen. Eva wurde bald fünfzig und kam Katharina manchmal eher wie eine Tante als wie eine Schwester vor. Die Haare immer perfekt frisiert, grundsätzlich nur in Rock und Bluse gekleidet, gehörte sie eindeutig einer anderen Generation an. Vier Kinder und fünf Fehlgeburten hatten Evas schlanken Körper üppig werden lassen, und ihr Ehemann hatte sich im Laufe der Jahre zu einem nervtötenden Besserwisser entwickelt, jedenfalls empfand Katharina das so, die ihren Schwager nicht lange ertragen konnte.

»Wir fliegen im Sommer an die Côte d’Azur«, sagte Hanna, offenkundig bemüht, das Thema zu wechseln. »In dasselbe Hotel, in dem Erich und Barbara letztes Jahr waren.«

»Wie schön«, meinte Traute. »Die waren ja ganz begeistert. Besonders von den Partys … Hoffentlich ist das auch was für die Kinder.«

»Peter und Claudia bleiben hier. Sie gehen so lange zu Uwes Schwester.«

»Das ist vernünftig.«

»Was machen eure Kreuzfahrtpläne?«, fragte Hanna, und die Mutter seufzte.

»Ach, ich habe gar keine Lust. Aber euer Vater will ja unbedingt. Ich würde viel lieber nach Norderney fahren.«

Eva nickte. »Da ist es ja auch immer schön. Wir fahren auch wieder hin.« Sie drehte sich zu Katharina. »Und du? Hast du Sommerpläne? Alleine zu fahren ist natürlich immer ein bisschen blöd …«

Darauf hatte Katharina gewartet. In den letzten Jahren hatte es keine Familienfeier gegeben, bei der sie nicht auf ihre private Situation angesprochen wurde. Sie war nun vierunddreißig Jahre alt und immer noch unverheiratet. Für ihre Familie ein unhaltbarer Zustand.

»Ach was, das ist gar nicht blöd«, antwortete sie. »Ich mag es ja, allein zu reisen. Da ist man total frei und kann tun und lassen, was man will, ohne auf jemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Das ist toll!«

»Und man hat nie jemanden bei sich. Weder beim Frühstück noch beim Abendessen. Das ist so traurig.« Jetzt war der Spott in Evas Stimme deutlich zu hören, und auch Hanna, die sich bei diesen Streitereien meistens zurückhielt, musste grinsen.

»Ob das immer so ist, steht ja noch auf einem ganz anderen Blatt«, sagte Katharina und lachte. Die anderen blieben still.

Sie sah, wie ihre Mutter die Lippen zusammenpresste, als würden ihre Dritten jeden Moment herausfallen. Katharina wusste, wie sehr sie es hasste, wenn ihre Mädchen sich stritten, auch wenn sie schon seit Jahren nichts mehr dazu sagte. Aber heute war ihr Geburtstag, und Katharina wollte ihn ihr nicht verderben. »Wo soll eure Kreuzfahrt denn hingehen?«, fragte sie ihre Mutter deshalb.

Während Traute Berner die Route zu den Kanarischen Inseln erläuterte, fiel Katharinas Blick wieder auf die Terrasse, wo Erich sich mit dem blonden Model unterhielt. Offensichtlich war er sehr zufrieden mit ihrer Arbeit, jedenfalls sah es so aus, als würde er die junge Frau die ganze Zeit loben. Er legte ihr lächelnd eine Hand auf die Schulter, nickte anerkennend, während er mit ihr sprach, und die Frau strahlte über das ganze Gesicht.

Ihr Bruder, der zwischen Eva und Hanna geboren worden war, hatte offiziell die Geschäftsführung übernommen, auch wenn der Seniorchef nach wie vor die Zügel in der Hand hielt. Von Geburt an war Erich auf die Leitung der Firma getrimmt worden. Da die Gebäude am Stadtrand und in Rheinnähe standen, um die Abwässer auf kurzem Weg im Fluss entsorgen zu können, hatten sie den Krieg einigermaßen unbeschadet überstanden, sodass Karl in den Nachkriegsjahren ein gefragter Mann gewesen war und seinem Sohn ein florierendes Unternehmen hatte übergeben können. Erst in den letzten Jahren hatten sie sich von der Großwäscherei getrennt, die sie jahrelang neben der Waschmittelproduktion betrieben hatten, und alle Energie in die Expansion von Semil gesteckt. Seitdem die Kölner Hotelbetriebe ihre Wäsche nicht mehr bei ihnen wuschen, schäumte der Rhein an dieser Stelle deutlich weniger.

»Wo ist Barbara eigentlich?«, fragte Katharina. Sie mochte Erichs Frau. Eine schlaue und lustige Person, die sie als Bereicherung in der Familie empfand.

»Sie ist unpässlich«, antwortete ihre Mutter. »Wenn sie sich heute Abend besser fühlt, kommt sie zum Essen.«

»In letzter Zeit kränkelt sie aber häufig«, meinte Eva. »Was hat sie denn?«

»Das kann ich dir nicht sagen, ich habe sie nicht gefragt.«

Niemals würde ihre Mutter genauer nach einer Krankheit fragen. Brach sich jemand ein Bein oder wurde vom Schlag getroffen, dann war das etwas anderes. Es war offensichtlich, und so erkundigte man sich natürlich nach dem Heilungsverlauf. Aber Krankheiten, die sich im Inneren abspielten, die womöglich noch Organe betrafen, über die man sowieso nicht sprach, die wurden besser ignoriert. Schließlich wollte man weder den Betroffenen noch sich selbst in eine peinliche Situation bringen.

»Möchtet ihr noch einen Sherry?«, fragte ihre Mutter, und als alle bejahten, stand Hanna auf und drückte auf den Knopf, der neben der Zimmertür angebracht war.

In fast allen Räumen im Erdgeschoss der Villa befand sich ein solcher Klingelknopf, er war direkt mit der Küche verbunden, in der sich Martha üblicherweise aufhielt. Kurz darauf erschien sie dann auch in der Bibliothek und nahm die Wünsche der Familie entgegen. Katharina fand das alles andere als zeitgemäß. Beim Bau der Villa in den Zwanzigerjahren mochte das im noblen Stadtteil Marienburg modern gewesen sein, aber heute? In der Zeit, die es brauchte, um nach Martha zu läuten, hätten sie den Sherry längst selbst holen können und der alten Haushälterin damit ein bisschen Lauferei erspart.

»Sollte Martha nicht längst in Rente sein?«, fragte sie, nachdem diese den Sherry gebracht und wieder in der Küche verschwunden war.

»Warum sollte sie?«, entgegnete ihre Mutter. »Martha hat doch niemanden. Wir sind so was wie ihre Familie, hier wird sie gebraucht, das hält sie am Leben.«

Schöne Familie, dachte Katharina, die einen in der Küche hocken ließ und bei Bedarf zu sich pfiff wie einen Hund.

»Vielleicht wäre Marthas Leben ganz anders verlaufen, wenn sie nicht immer hier gewesen wäre«, gab sie zu bedenken und dachte an das Mädchenzimmer, in dem Martha seit Jahrzehnten wohnte. »Wenn sie einen normalen Arbeitstag gehabt hätte, abends nach Hause gegangen wäre, dann hätte sie heute vielleicht ein Privatleben.«

Ihre Mutter sah sie mit großen Augen an. »Du kennst doch ihre Vorgeschichte! Außerdem ist sie Hauswirtschafterin. Da hat man nun mal keine Familie.«

»Nicht nur als Hauswirtschafterin«, warf Eva ein. »Als Juristin scheint einem das ja nicht anders zu gehen.«

Katharina unterdrückte ein genervtes Stöhnen. »Das ist ja wohl etwas anderes. Ich habe einen Feierabend, ein Privatleben und Freizeit, die ich sehr genieße.«

»Martha hat montags immer frei!«, sagte ihre Mutter. »Und die Wochenenden haben wir ihr grundsätzlich doppelt bezahlt, weil wir immer so viele Empfänge gegeben haben. Sie hat es doch wirklich gut bei uns.«

»Sicher …« Katharina wich ihrem Blick aus und sah aus dem Fenster. Es hatte überhaupt keinen Zweck. Solche Diskussionen hatten sie schon zuhauf geführt, und ihre Mutter hatte nie Verständnis für ihren Standpunkt gezeigt. In Trautes Augen war die Anstellung in der Villa das Beste, was Martha hätte passieren können. Sie war ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen gewesen, als sie Anfang der Dreißigerjahre in dem Haushalt angefangen hatte. Alternativ hätte sie in einer Fabrik im Akkord schuften können, was weniger Geld und härtere Arbeit bedeutet hätte, die für sie womöglich gar nicht auszuhalten gewesen wäre. Wenn sie überhaupt welche gefunden hätte; die wirtschaftliche Situation war damals so schwierig, dass eigentlich nur Männer in den Fabriken eingestellt wurden, wenn überhaupt. Auf dem Land konnten sich alleinstehende Frauen ohne Ausbildung noch als Magd ausbeuten lassen, aber in den großen Städten gab es sonst höchstens eine Anstellung als Zimmermädchen, jedenfalls wenn man anständig bleiben wollte. Als junges Mädchen hatte Martha an Tuberkulose gelitten. Eine Heirat verbot sich daher für sie, so eine konnte in den Dreißigerjahren nicht Mutter werden, das war keinem Mann zuzumuten, der am Ende womöglich allein mit seinen Kindern dastand. Ihre tödliche und angeblich stark lebenszeitverkürzende Krankheit hatte Martha bereits über fünfzig Jahre hinter sich gelassen. Sie war nie wieder ausgebrochen, und Katharina konnte sich nicht erinnern, dass die kräftige Frau mit der grauen Dauerwelle jemals auch nur einen Schnupfen gehabt hatte.

Ihre Mutter unterdrückte ein Gähnen. »Ich würde mich bis zum Abendessen gern noch ein wenig hinlegen.«

»Macht dir dein Zucker jetzt doch zu schaffen?«, fragte Hanna besorgt, und Eva sah ihre Mutter tadelnd an.

»Nein, nein«, antwortete diese. »Ich bin fünfundsiebzig. Das macht mir zu schaffen.« Sie lachte.

»Soll ich dir nach oben helfen?«, fragte Katharina und ärgerte sich im nächsten Augenblick über die Frage.

Voller Unverständnis sah ihre Mutter sie dann auch an. »So schlimm ist es nun auch nicht. Fünfundsiebzig ist ja keine Krankheit«, sagte sie kopfschüttelnd und stand auf, was ihr einige Mühe bereitete.

*

Rita Maiburg lag auf einer karierten Picknickdecke und hatte ihren Kopf an Franks Oberschenkel gelehnt, der neben ihr saß und Bier trank. Ihre ganze alte Clique von früher war gekommen, um beim ersten Open-Air-Festival des Jahres dabei zu sein, dem Spring Festival, wie die Veranstalter es genannt hatten. Savoy Brown, Thin Lizzy, Ufo und Electric Mud sollten spielen, aber noch röhrte eine unbekannte Vorband auf der Bühne.

Es war ihr nicht schwergefallen, München zu verlassen und wieder ins heimische Rheinland zu ziehen. Aber es war schwer gewesen, sich einzugestehen, dass er sich nicht verwirklicht hatte, ihr Traum von einem Leben als Pilotin. Als Co-Pilotin und Bürokraft hatte sie gearbeitet, bis der kleine Betrieb, der sich auf die Fracht wertvoller Güter spezialisiert hatte, geschlossen wurde. Seitdem hatte sie nichts Neues gefunden, jedenfalls nichts, was sie langfristig machen wollte. Vielleicht hätte sie als Kellnerin oder Verkäuferin irgendwo arbeiten können, auch eine Anstellung als Sekretärin wäre sicherlich möglich. Aber sie wollte keinen Kompromiss eingehen und sich von ihrem Lebenstraum verabschieden, jedenfalls noch nicht jetzt. Dafür war sie mit zweiundzwanzig noch zu jung. Allerdings hatte sie sich eine Frist gesetzt: Wenn es bis zum Jahresende mit ihrem Traumjob nicht klappen sollte, dann musste sie etwas anderes finden. Auf Dauer war die Arbeitslosigkeit einfach zu deprimierend, und ihren Eltern wollte sie auch nicht länger auf der Tasche liegen.

Sie ließ den Blick über das Festivalgelände schweifen. Auf den Rheinwiesen tummelten sich bestimmt zehntausend Leute, eingehüllt in eine Wolke aus Marihuana. Einige Mädchen trugen die Röcke so kurz, dass sie nur knapp den Po bedeckten, andere so lang, dass sie beim Laufen fast stolperten. Und bei den Jungs sah es nicht anders aus, nur dass sie statt Röcken Hosen trugen. Es war angenehm warm, die Sonne schien, und es war sicher schon über zwanzig Grad. Dementsprechend gut war die Stimmung, die Festivalbesucher tanzten, tranken oder genossen einfach die Atmosphäre, so wie Rita, der es in ihrer Schlaghose aus dunkelbraunem Cord und dem engen grünen Pulli fast zu warm wurde.

Vor ihnen lag ein junges Paar auf einer verfilzten Decke. Das Mädchen trug einen Blumenkranz im Haar, den sie in der letzten halben Stunde aus Gänseblümchen geflochten hatte. Aber jetzt lag ihr Freund halb auf ihr und durchwühlte mit den Fingern ihre lange Mähne, sodass der Kranz nach und nach zerstört wurde. Die beiden knutschten so wild herum, dass Frank sich einen Spruch nicht verkneifen konnte.

»Pass auf, Mädchen, sonst erstickt er dich noch mit seiner Zunge!«

Rita lachte, und auch das Pärchen kicherte kurz, ließ sich aber sonst nicht groß irritieren und knutschte hemmungslos weiter.

»Savoy Brown und Thin Lizzy haben angeblich abgesagt«, meinte Uta, die mit einer Ladung Kölsch zur Picknickdecke zurückgekehrt war. Als sie sich auf den Boden hockte, um die Flaschen abzustellen, rutschte ihr geblümter Minirock hoch, sodass ihre Unterhose zu sehen war. Dort, wo sich ihre Scham verbarg, war das Wort Dienstag zu lesen, und Rita dachte unwillkürlich, dass heute doch Samstag war.

»Ausgerechnet die? Woher weißt du das?«, fragte sie ihre Freundin.

»Dahinten hängen ein paar ältere Semester von der Uni rum. Die wussten es. So ’n Mist.«

»Allerdings. Und das erklärt natürlich, warum diese miese Vorband so lange spielt.« Frank stöhnte. Seine langen Haare hingen ihm über die Schultern und waren an der einen Seite etwas angesengt, was seinem neuen Feuerzeug anzukreiden war, das ihn beim Zigaretteanzünden mit einer übergroßen Flamme überrascht hatte. »Ich bin nur wegen Thin Lizzy hier.« Genervt trank er sein Bier auf ex.

Rita rutschte mit dem Kopf von seinem Oberschenkel und lag nun lang ausgestreckt auf der Decke. Während sich ihre Freunde über die Vorband und die schlechte Organisation des Festivals ausließen, blickte sie in den wolkenlosen Himmel. Der Flughafen Köln/Bonn war nicht sonderlich weit entfernt, und die startenden und landenden Maschinen überflogen in regelmäßigen Abständen das Festivalgelände.

Das Gefühl zu fliegen war unvergleichlich, ganz anders, als nur als Passagier in einer Maschine mitzufliegen. Das erste Mal würde sie niemals vergessen. Schon als kleines Mädchen war sie vom Fliegen begeistert gewesen und hatte lieber mit Spielzeugflugzeugen gespielt als mit ihren Puppen. Schließlich hatte sie so lange auf ihren Vater eingeredet, bis er ihr erlaubte, einen Segelflugschein zu machen. Es war ein ungewöhnliches Hobby, damals, Ende der Sechzigerjahre, vielleicht noch ungewöhnlicher als heute, kostspielig und gewiss nicht ungefährlich. Wäre ihr Patenonkel nicht Mitglied im Segelflugverein gewesen und hätte er nicht ein gutes Wort für sie eingelegt, hätten ihre Eltern es vermutlich nie zugelassen. Aber so konnte sie schon als Jugendliche das Fliegen lernen, als einziges Mädchen im ganzen Verein. Es war wie ein Rausch, nur eben einer, bei dem sie klar denken konnte, klarer als sonst. Rita hatte das Gefühl, dass ihr Gehirn auf Hochtouren arbeitete, wenn sie hinter dem Steuerknüppel saß. Vielleicht lag es am Adrenalin, das dann durch ihren Körper raste, jedenfalls gab es keinen Ort, an dem sie konzentrierter und fokussierter war als im Cockpit. Und glücklicher war sie auch nirgendwo. Daran konnten auch die vielen abfälligen Bemerkungen nichts ändern, die sie dauerhaft zu hören bekam, seitdem sie zum ersten Mal ein Flugzeug gesteuert hatte. Die Lehrer in ihrer alten Schule hatten sie belächelt, als sie von ihrem Wunsch zu fliegen hörten, und der Pfarrer in ihrer Gemeinde hatte sie sogar sehr ernst ermahnt, sie solle diese Flausen besser schnellstmöglich aus ihrem Kopf verbannen, bevor noch ein Unglück geschehe. Wenigstens in ihrem alten Segelflugverein hatte man sich inzwischen an die Tatsache gewöhnt, dass sie die einzige Frau unter all den männlichen Hobbyfliegern war. Aber auch das war ein langer Weg gewesen.

Sie ließ den Joint an sich vorüberziehen, der über der Picknickdecke kreiste, und dachte daran, dass sie bald schon wieder fliegen würde. Ihre Bewerbung für die Lufthansa war fertig, sie brauchte nur noch ein anständiges Foto, dann konnte sie die Mappe zur Post bringen. Und sie glaubte ganz fest daran, dass es mit einer Anstellung klappen würde. Sie gehörte nun mal in die Luft, das spürte jeder, der sie kannte, und das würden auch die Verantwortlichen von der Lufthansa merken.

Plötzlich beugte sich Frank über sie und drückte seine Lippen auf ihren Mund. Einen Augenblick später spürte sie, wie er ihr den Rauch in den Rachen blies. Kichernd und hustend stieß sie ihn zurück.

»Das ist ekelhaft!«

»Das ist ein original Blow Job.« Frank lachte. »Durch meine Lippen wirst du breit«, fügte er voller Pathos hinzu. Dann nahm er einen tiefen Zug und stieß ein paar Rauchkringel in die Luft.

Rita strich sich ihre schulterlangen, dunkelblonden Haare aus dem Gesicht und nahm ihm den Joint aus der Hand. »Gib her. Auf Blow Jobs kann ich heute gut verzichten.« Sie sog den Rauch tief in die Lungen und hustete erneut. »Was ist das denn für ein Kraut?«, krächzte sie heiser. Im Gegensatz zum süßlichen Duft, der von dem Joint ausging, war der Geschmack, den sie nun im Mund hatte, eher bitter. »So was hab ich ja noch nie geraucht.«

»Schwarzer Afghan. Das Beste, was der Markt hergibt. Ich bin gespannt, wie er vor Ort schmecken wird.« Frank nahm ihr den Joint wieder ab und rauchte mit geschlossenen Augen weiter.

»Ach ja, die große Reise ins Glück. Habt ihr denn den Bulli inzwischen auf Vordermann gebracht?«, fragte Rita. Frank wollte mit drei anderen Jungs nach Afghanistan fahren und dort den schönsten Kifferurlaub seines Lebens verbringen.

»Der Bulli läuft. Ich hoffe, er hält auch«, antwortete er. »Wir haben ja einiges vor. Erst mal bleiben wir ein bisschen in Herat, dann weiter über Kandahar nach Kabul; da sollen die Straßen sehr gut sein.«

»Was immer das da unten auch heißt.«

»Stimmt. Aber in Kabul wollen wir ein bisschen bleiben. Vielleicht fahren wir von da noch in das Bamiyan-Tal, wo diese berühmten Buddha-Statuen stehen. Ansonsten wollen wir es ja entspannt angehen lassen.«

Rita grinste. Ein paar Wochen dauerbekifft durch Afghanistan zu reisen war für Frank und seine Kumpels das Schönste, das sie sich vorstellen konnten.

»Und ihr wollt die ganze Zeit im Bulli pennen?«

Frank zuckte mit den Schultern. »Mal schauen. Ein paar Hostels gibt es da schon. Wir sind ja nicht die Ersten, die so einen Trip machen.«

»Stimmt.« Rita wusste, dass sich Afghanistan in den letzten Jahren zu einem beliebten Reiseziel entwickelt hatte. In erster Linie unter Hippies. Auch wenn der Drogenkonsum in dem Land nicht erlaubt war, so war er offenbar doch allgegenwärtig und wurde von offizieller Seite geduldet. Selbst Polizisten verkauften wohl Haschisch auf den Straßen, das in rauen Mengen in den Tälern des Hindukuschs angebaut wurde. Jedenfalls hörte man solche Geschichten immer wieder von Reisenden, die bereits dort gewesen waren.

»Wenn du wiederkommst, bin ich vielleicht schon offizielle Lufthansa-Pilotin«, sagte sie.

»Cool«, meinte Frank und formte seine Hände zu einer Kugel, durch die er an dem Joint zog. Durch die größere Sauerstoffzufuhr verstärkte sich die Wirkung. »Wenigstens eine von uns, die es zu was bringt.«

Er blickte sie mit seinen glasigen Augen an, reichte den Joint weiter und bekam einen respektablen Lachanfall, als plötzlich weißer Vogelmist auf Utas Schulter landete. Auch Rita musste lachen. Sie mochte ihre alte Clique, die so unbeschwert und sorgenfrei war. Keiner von ihnen machte sich groß Gedanken um die Zukunft. Uta studierte zwar in Köln und Rita hatte neben ihrer Flugausbildung noch eine Ausbildung im mittleren nichttechnischen Betriebsdienst der Bundesanstalt für Flugsicherung absolviert, aber damit waren sie auch die Einzigen aus der Truppe. Frank feierte seit zwei Jahren seine Ausmusterung aus der Bundeswehr wegen eines verkürzten Beins, von dem man eigentlich nichts merkte. Und die anderen waren noch in der Orientierungsphase, wie sie es so schön nannten, und hingen in erster Linie rum.

Frank griff in die Innentasche seiner viel zu engen Jeansjacke und holte ein kleines Tütchen hervor, in dem sich einige daumennagelgroße Papierstückchen befanden, auf die ein Smiley gedruckt war. Er bot Rita eines der Papierstückchen an, aber sie schüttelte nur lächelnd den Kopf. Sie fühlte sich jetzt schon so unbeschwert und leicht, dass sie keine Verstärkung mehr brauchte.

»So jung kommen wir nicht mehr zusammen!«, rief Frank und legte eines der Papierchen auf seine Zunge. Genüsslich schloss er die Augen und streckte sich lang neben Rita aus.

*

Katharina lag auf dem Bett, in dem sie in ihrer Kindheit und Jugend geschlafen hatte, und starrte an die Decke. Es war ein merkwürdiges Gefühl, in ihrem Kinderzimmer zu sein, meistens vermied sie es. Aber während ihre Mutter sich vor dem Abendessen etwas hingelegt hatte, wollte auch Katharina für einen Moment ihre Ruhe haben. Bei dem opulenten Mahl, zu dem sie sich gleich mit der ganzen Familie einfinden würde, gab es noch genügend Gelegenheiten, um mit den Geschwistern aneinanderzugeraten, und dafür brauchte sie gute Nerven. Einen Streit wollte sie nach wie vor gern umschiffen. Keiner konnte wissen, wie oft sie diesen Tag noch gemeinsam feiern würden. Die meisten Freunde ihrer Eltern waren jedenfalls schon tot oder würden es in absehbarer Zeit sein, so sehr hatten sie abgebaut. Und bei Traute wurden mit zunehmendem Alter die Wehwehchen auch nicht weniger, selbst wenn sie sich noch so sehr bemühte, ihren Diabetes zu ignorieren. Sie sollte einen schönen Geburtstag haben, das hatte sich Katharina fest vorgenommen.

Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer wandern, das sich nach ihrem Auszug kaum verändert hatte. Es war das Kinderzimmer geblieben, das ihre Mutter sich immer für das Nesthäkchen der Familie vorgestellt hatte. Eine lavendelfarbene Textiltapete zierte die Wände, an den Fenstern hingen schwere Vorhänge in derselben Farbe, über der Tür ein silbernes Kreuz und über dem schmalen Bett drei gerahmte Stiche: Rose, Nelke und Tulpe, die Lieblingsblumen ihrer Mutter. Katharina erinnerte sich, wie sie mit sechzehn ein großes Foto von Elvis Presley aufhängen wollte. 1956 war das gewesen, als er gerade seinen Durchbruch hatte. Katharina war so verliebt in ihn gewesen, dass sie permanent Schmetterlinge im Bauch gehabt hatte, wenn sie nur an das Foto dachte. Aber ihre Mutter war entsetzt gewesen, hatte das Bild sofort von der Wand gerissen und ihr einen Vortrag darüber gehalten, wie unanständig die Musik von diesem Amerikaner sei. Er würde die Jugend verderben und habe einen schlechten Einfluss auf ihre moralische Entwicklung. In den ersten Jahren durfte sie keine Schallplatten von ihm kaufen, und als sie es irgendwann doch tat, bekam sie Hausarrest, durfte die Platte aber wenigstens behalten.

Sie musste schlucken. Dass die Eltern ihr Elvis verboten hatten, erschien ihr rückblickend nicht mehr so schlimm. Aber die Einsamkeit, die sie in diesem Zimmer gespürt hatte, die empfand sie immer noch erdrückend. Wären vier Kinder hier gemeinsam groß geworden, hätte die Villa ihnen ein tolles Zuhause geboten. Aber als Katharina hier aufwuchs, war sie durch den großen Altersunterschied zu ihren Geschwistern gewissermaßen ein Einzelkind, lebte allein mit ihren vielbeschäftigten Eltern in dem riesigen Haus, in dem Martha zu ihrer Hauptbezugsperson wurde. Eva war fünfzehn gewesen, als sie auf die Welt gekommen war, sie, der Nachkömmling, mit dem niemand gerechnet hatte und den man mitten im Krieg auch nicht gebrauchen konnte. Kurz nach Katharinas Geburt kam Eva auf eine Schule für höhere Töchter in die Schweiz, wo sie den Krieg von allen Berners vermutlich am besten überstand. Als sie wiederkam, war sie für die kleine Katharina eine Fremde gewesen.

Und Erich war schon im Internat gewesen, als Katharina geboren wurde, sie hatten eigentlich nie etwas zusammen gemacht. Schon in jungen Jahren kümmerte er sich in seiner Freizeit um das Familienunternehmen, unterstützte seinen Vater, wo er nur konnte, und setzte sich später für den Wiederaufbau seiner Heimatstadt ein. Er war es, der Karl klarmachte, dass man sich in Köln im Karneval engagieren musste, wenn man geschäftlich weiterkommen wollte, auch wenn die ganze Stadt in Schutt und Asche lag. Vielleicht war es seiner Jugend geschuldet, vielleicht hatte Erich aber auch schon früh einen raffinierten Geschäftssinn entwickelt, jedenfalls machte er sich die Sehnsucht nach Ausgelassenheit und Frohsinn zunutze und war maßgeblich daran beteiligt, dass sich in den Trümmern der Stadt schon bald karnevalistisches Treiben regte. Mangels geeigneter Räume wurde in den ersten Nachkriegsjahren, von Erich organisiert, im Zelt des Zirkus Williams gefeiert. Die Kölner räumten alle Schränke aus und zogen über, was vom Krieg verschont geblieben war: Opas alten Gehrock, Omas uralten Hut, zerschlissene Beinkleider oder selbst genähte Lappenkostüme. Seine aus Resten zusammengeflickte Karnevalsjacke hatte Katharina geliebt und immer getragen, wenn sie als Kind in der Villa Verstecken gespielt hatte und Martha sie suchen musste. Sie kannte jede Naht.

Vielleicht war Hanna ihr von den Geschwistern noch am nächsten. Nicht nur äußerlich ähnelten sie sich am meisten, auch wenn ihre Schwester die einst dunklen Haare heute bleichte und mit einem Haarteil zu einer Hochsteckfrisur türmte. Mit Hanna hatte sie in der Eifel den Krieg überstanden, ihre Schwester war erst danach auf ein Internat gekommen. Die ersten fünf Lebensjahre hatte sie immerhin mit ihr verbracht. Jahre, die geprägt waren von den Sorgen und Ängsten ihrer Eltern, wenngleich die Berners kaum Not leiden mussten und vergleichsweise glimpflich durch die harten Jahre gekommen waren. Ihrem Vater war der Kriegseinsatz aus gesundheitlichen Gründen erspart geblieben: Sein linkes Auge war durch ein Glasauge ersetzt worden, nachdem ihn ein Freund als Siebenjähriger mit einer Zwille beschossen hatte. So einer konnte nicht schießen. Und seine Firma war schon vor dem Krieg so gut gelaufen, dass die Familie ein Ferienhaus in der Eifel hatte. Nach dem ersten großen Luftangriff verließ die Familie mit mehr als hunderttausend anderen Kölnern die Stadt. Danach lebten sie dauerhaft in der Eifel und bekamen vom Bombardement Kölns nichts mit, konnten Obst und Gemüse im eigenen Garten anbauen und mussten nicht einmal Hunger leiden. Trotzdem waren ihre Eltern voller Sorgen gewesen, und Katharina erinnerte sich, dass sie immer angespannt waren. Eine Kindheit, wie Kinder sie heute erlebten, die mit ihrem Bonanzarad auf den Bürgersteigen fuhren und für die es eigene Sendungen im Fernsehen gab, die sich ein Eis kaufen und ins Freibad gehen konnten, all das hatte es für sie nicht gegeben. Sie freute sich jedes Mal, wenn sie die Pänz am Kiosk neben der Kanzlei Schlange stehen sah, wie sie sich Schleckmuscheln oder eine Tüte Treets für fünfzig Pfennig holten. Sie gönnte den Kindern diese Unbeschwertheit von Herzen und hoffte, dass sich diese Zeiten niemals ändern würden.

Katharina drehte sich auf die Seite und roch an der altrosafarbenen Tagesdecke, die über ihr Bett ausgebreitet war. Der Geruch war vertraut, wenn auch ein bisschen muffig. Wie oft hatte sie hier gelegen und ihren Gedanken nachgehangen? Endlose Stunden lang. Ja, sie hatte sich als Kind ein bisschen einsam gefühlt, und dieses Gefühl der Einsamkeit prägte sie bis heute.

Ihre Eltern hatte sie früher nur zu den Mahlzeiten gesehen, Karl arbeitete immer viel, und Traute war mit gesellschaftlichen Verpflichtungen beschäftigt. Katharina verstand sich zwar mit ihren Klassenkameraden, aber sie blieb für die anderen doch das Reicheleutekind; vielen ging es in der Nachkriegszeit deutlich schlechter als den Berners, und Neid und Missgunst waren an der Tagesordnung. Als kleines Mädchen hatte sie diese Ablehnung nicht einordnen können, hatte nicht verstanden, warum die anderen Kinder nicht in die Villa zum Spielen kommen wollten, obwohl hier doch kaum etwas kaputt gewesen war. Sie hatte es auf sich bezogen und nach Fehlern in ihrem Verhalten gesucht. Nicht selten hatte Katharina sich ausgegrenzt gefühlt. Erst sehr viel später hatte sie erfahren, dass es fast immer die Eltern gewesen waren, die ihre Kinder nicht zu den Berners gelassen hatten. Neid war nur ein Grund gewesen, Scham, weil das eigene Kind keine ordentliche Kleidung hatte und man Katharina zudem niemals zu sich nach Hause hätte einladen mögen, ein anderer.

Das Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Kurz darauf stand Martha vor ihr.

»Ich habe eure alten Kleider aussortiert«, sagte sie, nachdem sie sich besorgt erkundigt hatte, ob sie Katharina auch nicht geweckt habe. »Der ganze Dachboden war voll mit dem Plunder. Deine Schwestern wollen nichts davon behalten. Willst du die Sachen einmal durchschauen? Ich würde sie sonst in die Kleiderkammer bringen. Da oben werden sie nur von den Mäusen zerfressen.«

»Natürlich, Martha. Ich komme. Danke, dass du dich darum kümmerst.«

»Ich habe alles ins Gästezimmer geräumt, deine Sachen liegen noch auf dem Bett, der Rest ist schon in den Säcken.«

»Ich sage dir dann gleich Bescheid.«

Martha ließ die Zimmertür offen, und Katharina streckte sich noch mal auf ihrem alten Bett aus. Dann rieb sie sich über die Augen, um die Müdigkeit und alle alten Erinnerungen fortzuwischen, und stand auf. Der alte Dielenboden knarzte unter ihren Füßen, das Geräusch war ihr immer noch vertraut. Sie ging den langen, breiten Gang hinunter, an Evas und Hannas alten Kinderzimmern vorbei, und betrat das Gästezimmer, das auch noch genauso aussah wie früher. Die Einrichtung ähnelte der in Katharinas Zimmer, allerdings waren die Wände in diesem Raum fast ausschließlich in einem Grünton gehalten.

Es war merkwürdig, die alten Petticoat-Kleider zu sehen, die sie vor zwanzig Jahren noch mit Begeisterung getragen hatte. Die meisten gefielen ihr immer noch, aber sie aus Nostalgiegründen aufzubewahren, fand Katharina dann doch albern. Anziehen würde sie so etwas nie wieder, also weg damit. Einzig ihr Abschlussballkleid wollte sie aufbewahren. Darin hatte sie 1956 zum ersten Mal einen Jungen geküsst, damit hatte es verdient, der Kleiderkammer zu entkommen.

Während sie die anderen Sachen in die Säcke stopfte, stieß sie versehentlich gegen eine Kiste aus abgewetztem braunem Leder. Sie kippte um, und zahlreiche Fotos fielen zu Boden. Katharina sammelte sie wieder ein, es waren alte Familienfotos, von denen sie die meisten nicht kannte. Da Martha in dem Moment die Glocke läutete, beschloss sie, die Kiste am Abend mitzunehmen und in ihrer Wohnung in Ruhe durchzuschauen, jetzt musste sie sich sputen. Traute und Karl würden bereits im großen Esszimmer sein, sonst hätte Martha nicht geläutet, und Karl mochte es nicht, mit dem Essen zu warten, wobei er umgekehrt selbstverständlich davon ausging, dass keiner ohne ihn anfing, falls er sich mal verspätete.

Sie strich ihre Bluse glatt und steckte sie in die schwarze Schlaghose, die zwar nicht so konservativ war wie die Kleider ihrer Schwestern, dafür aber deutlich eleganter. Jedenfalls in Katharinas Augen. Sie kämmte sich und versuchte, ihre langen, rotbraunen Haare mit einem Band zu bändigen, fuhr mit dem rostbraunen Lippenstift über ihre Lippen, den sie wie den Kamm immer in ihrer Handtasche hatte, und verließ das Zimmer.

Die ganze Familie stand im Esszimmer zusammen. Martha ging mit einem silbernen Tablett mit Sektschalen herum, und jeder nahm sich eine. Barbara war inzwischen auch da und stand etwas blass neben Erich. Während sie nur an ihrem Sekt nippte, trank Konrad sein Glas fast in einem Zug aus, was Eva mit einer als besorgt getarnten Spitze kommentierte: »Sekt ist zum Anstoßen«, sagte sie lächelnd. »Gegen Durst hilft eher ein Kölsch.«

Konrad überhörte seine Frau einfach und plauderte munter mit Uwe weiter, Hannas Mann. Auf Familienfeiern unterhielt er sich meistens mit ihm, und Katharina vermutete, dass das nicht unwesentlich mit Uwes Vermögen zu tun hatte. Ihr Schwager besaß ein großes Textilunternehmen und hatte es zu beachtlichem Wohlstand gebracht, was Dr.Konrad Kruse sichtlich beeindruckte, auch wenn er selbst nicht gerade arm war und seine orthopädische Praxis hervorragend lief. Karl Berner betonte nicht selten, wie gut er seine Töchter verheiratet hatte, die eine an einen erfolgreichen Arzt, die andere an einen noch erfolgreicheren Unternehmer. Selbst Barbara, die als Schwiegertochter nicht für das Geldverdienen zuständig war, kam aus gutem Hause und brachte eine anständige Mitgift in die Ehe mit Erich ein. Nur Katharina verdarb die Statistik.

»So, nun setzt euch mal, ich habe Hunger«, verkündete das Familienoberhaupt, und alle folgten der Aufforderung.

Traute hatte sich umgezogen und trug ein helles Kleid mit weißem Spitzenbesatz. Auch den Schmuck hatte sie noch einmal ausgetauscht; ihre Ohrläppchen wurden nun von schweren Diamantohrringen nach unten gezogen, und um ihren Hals lag ein dreireihiges Perlencollier mit einer Brosche aus Rubinen. Geizig war ihr Vater nie gewesen, das musste Katharina ihm lassen. Im Gegenteil. Er hatte seine Frau ihr Leben lang mit Schmuck überhäuft, den sie jetzt im Alter noch häufiger trug als früher.

»Als Erstes möchte ich einmal das Glas erheben.« Karl hielt seine Sektschale in die Höhe. Etwas von der Flüssigkeit schwappte über den Rand und tropfte auf sein weißes Hemd, das über seinem beachtlichen Bauch spannte. Von seiner Statur und seinem Aussehen ähnelte er immer mehr Ludwig Erhard, den Karl für einen der bedeutendsten Politiker aller Zeiten hielt und sehr verehrte. Es freute ihn jedes Mal, wenn man ihn auf die Ähnlichkeit ansprach. »Wir hatten heute einen extrem erfolgreichen Tag. Wir haben eine wunderbare Reklame an nur einem Nachmittag gedreht. Dafür brauchen andere drei Tage. Darauf möchte ich mit euch anstoßen.«

Alle hielten ihre Gläser in die Höhe und prosteten sich zu.

Hoffentlich sagt er noch was zu Mama, dachte Katharina, die wusste, dass das nicht selbstverständlich war. Für Karl waren Geburtstage nichts Besonderes. Seinen eigenen feierte er nur, wenn sich das mit einer Einladung für Kunden verbinden ließ. Ansonsten waren ihm seine Geburtstage egal und die der anderen Familienmitglieder im Prinzip auch. Ein Tag wie jeder andere. Namenstagen wurde im Hause Berner eine wesentlich größere Bedeutung zugemessen, die vergaß der katholische Patriarch nie.

»Dann möchte ich noch mein Glas auf meine liebe Frau erheben!«

Gott sei Dank, dachte Katharina, die genau sah, wie sich ihre Mutter darüber freute.

»Mögest du noch viele Jahre bei uns sein und mit Gesundheit gesegnet bleiben.«

»Auf Traute!«

»Auf dich, Mama!«

»Prost!«

Alle stießen mit Traute an, die sich lächelnd bedankte. Martha schob den Servierwagen herein und stellte eine große Terrine mit Suppe auf den Tisch. Karl verdrehte die Augen.

»Ich wollte eure Mutter ja eigentlich zu italienischen Antipasti überreden, so wie wir sie in Rimini jeden Abend gegessen haben, aber …«

»Ich wollte gerne Hochzeitssuppe«, unterbrach Traute ihn, während Martha erst Karl und dann ihr etwas auftat. »Dieses ganze neumodische Zeug schmeckt mir einfach nicht so.«

»Neumodisches Zeug, so ein Blödsinn«, rief ihr Mann. »Das ist la dolce vita! So genießt man heute das Leben!«

»Ich aber nicht.«

Karl unterdrückte ein Seufzen, sagte aber nichts. Im Gegensatz zu seiner Frau wollte er alles Neue nur zu gern ausprobieren. Erst neulich hatte er einen riesigen Farbfernseher liefern lassen, der so groß war, dass er einen extra Tisch brauchte. In Trautes Augen eine völlig sinnlose Anschaffung, zumal sie mit der neumodischen Fernbedienung nicht zurechtkam.

»Was macht denn die Arbeit, Kati?« Nur ihr Bruder Erich nannte sie so.

»Ich bin sehr zufrieden«, log Katharina, »danke der Nachfrage.«

»Wo sitzt die Kanzlei noch mal?«

Sie wusste nicht, wie oft Erich ihr diese Frage schon gestellt hatte.

»Am Hohenzollernring, da wo sie schon immer saß.«

»Natürlich, natürlich. Gute Adresse.«

Sie nickte und nahm aus dem Augenwinkel den missbilligenden Blick ihres Vaters wahr. Er war immer dagegen gewesen, dass sie Rechtswissenschaften studierte, auch wenn er es schlussendlich nicht verhinderte, was er sicherlich irgendwie gekonnt hätte. Die Tatsache, dass sie überhaupt an die Uni wollte, war für ihn, den Unternehmer, der nicht mal Abitur hatte, nicht nachvollziehbar. Eva und Hanna hatten so gut geheiratet, hatten beide eine Vorzeigefamilie gegründet und lebten das Leben, von dem jede Frau träumte. Aber die Jüngste wollte unbedingt zur Universität! Katharina glaubte, dass der Vater es ihr nur erlaubt hatte, weil sie der Nachkömmling war, Teil einer anderen Generation, der Unfall, wie Erich mal angetrunken gespottet hatte, der passiert war, als die Welt am Abgrund stand.

Obwohl sie eine gute Studentin gewesen war und mit einem Prädikatsexamen abschloss, konnte sich Karl Berner nicht vorstellen, was sie mit Jura anfangen wollte. Ihm selbst war keine Rechtsanwältin bekannt, erst recht keine Richterin. Das war kein Job für Frauen, dafür braucht man einen ruhigen und klaren Kopf, hatte er ihr immer gesagt. Das war Mitte der Sechzigerjahre gewesen, aber seine Meinung hatte sich bis heute nicht geändert. Und obwohl Katharina aufgrund ihrer guten Noten schnell einen Job als angestellte Rechtsanwältin in einer großen und renommierten Kanzlei bekommen hatte, war ihr Vater bis heute skeptisch geblieben.

»Bist du immer noch die einzige Frau in dem Laden?«, fragte er, und Traute legte ihm eine Hand auf den Arm, als wollte sie ihn bitten, das Thema ruhen zu lassen, wenigstens heute.

»Ich bin die einzige Rechtsanwältin. Die Sekretärinnen sind alle Frauen.«

»Das ist ja auch selbstverständlich«, meinte ihr Vater. »Und? Hast du Mandanten?«

»Ja. In erster Linie Mandantinnen.«

Ihr Chef hatte sie nicht nur wegen ihrer guten Noten eingestellt, sondern vor allen Dingen deshalb, weil er hoffte, dass durch die anstehende Reform des Familien- und Scheidungsrechts mehr Frauen in die Kanzlei kommen würden, die eventuell auch lieber von einer Frau beraten werden wollten.

»Was soll sich denn am Familienrecht ändern?«, fragte ihr Vater, nachdem Katharina den Zusammenhang zu ihren Mandantinnen kurz erklärt hatte. Martha räumte inzwischen die Teller ab.

»Hast du davon nicht in der Zeitung gelesen?«, mischte sich Traute in das Gespräch ein, während Konrad mit Uwe über dessen Expansionspläne sprach, Barbara still auf ihre Hände schaute und Hanna und Eva sich über ihre Kinder austauschten.

»Nein. So etwas lese ich nicht.«

»Es gibt einen Gesetzesentwurf, mit dem das Eherecht reformiert werden soll«, sagte Katharina. »Weg von der Hausfrauenehe, hin zu einem Partnerschaftsprinzip.«

Das Gesicht ihres Vaters zeigte nur Unverständnis. »Was soll das denn bitte sein?«

»Nun, dass die Frau nicht mehr gesetzlich dazu verpflichtet ist, sich allein um Haushalt und Kinder zu kümmern, sondern dass sich die Eheleute das partnerschaftlich teilen.«

Karl lachte auf. »Und dann sollen die Männer Windeln wechseln, oder wie muss ich mir das vorstellen? Was für ein Quatsch! Das wird doch nie durchgehen!«

Katharina befürchtete, dass ihr Vater damit recht haben könnte. Seit über einem Jahr wurde im Bundestag über den Entwurf gestritten, ohne dass etwas passierte. Wenn sie sich überlegte, dass der prozentuale Anteil der Frauen im Parlament noch nicht mal sechs Prozent war, dann lag der Schluss nahe, dass der Gesetzesentwurf immer im Stadium des Entwurfs verharren würde.

»Und was hast du als Rechtsanwältin damit zu tun?«, fragte Erich.

»In erster Linie berate ich Frauen in Scheidungsfragen«, antwortete Katharina. »Aber ich hatte auch andere Fälle. Letztens hatte ich eine Mandantin, die von ihrem Arbeitgeber fristlos entlassen wurde mit der Begründung, sie würde Familie und Haushalt vernachlässigen.«

»Das ist ja auch ein vernünftiger Kündigungsgrund«, meinte Karl.

»Ihr Mann hatte sich bei dem Arbeitgeber über die Arbeitszeiten seiner Frau beschwert, weil sie den Nachmittag über nicht zu Hause war und ihm und den Kindern kein Abendessen zubereiten konnte. Daraufhin wurde ihr gekündigt.«

Katharina konnte sich immer noch über den Fall aufregen. Sie hatte der Frau nicht helfen können, da ihr Arbeitgeber rechtlich auf der sicheren Seite war. Die Ungerechtigkeit, die ihre Mandantin hinnehmen musste, war nur schwer zu ertragen gewesen. Die Frau hatte ihre Arbeit gemocht, es war für sie ein Schritt zu mehr Unabhängigkeit gewesen, und das zusätzliche Geld hatte die Familie auch gut gebrauchen können. Die Tatsache, dass ihr Mann sich an ihren Chef gewandt hatte, ohne ihr etwas davon zu sagen, hatte sie zusätzlich geschmerzt.

»Dass so etwas heute noch möglich ist!« Traute schüttelte den Kopf. »Wir leben doch nicht mehr in den Fünfzigern!«

»Es kommt deutlich seltener vor als früher«, sagte Katharina. »Aber die Gesetzeslage hat sich seit damals nicht verändert. Rein rechtlich ist das nach wie vor möglich. Es wird wirklich allerhöchste Zeit, dass da Reformen durchgeführt werden.«

»Das Leben funktioniert nun mal nicht so, wie es sich irgendwelche Politiker vielleicht vorstellen«, warf ihr Vater ein. »Eine Frau gehört nun mal in den Haushalt und zu ihren Kindern. Sie ist nicht dafür geschaffen, ein Unternehmen zu leiten oder Bundeskanzler zu werden, das ist gegen ihre Natur. Und das ist doch auch gar nicht schlimm. Frauen stehen ja schließlich auch nicht auf dem Fußballplatz oder gehen zum Wehrdienst. Sie können dafür andere tolle Sachen. Wie zum Beispiel diesen Tafelspitz.« Er wies auf das große Stück Rindfleisch, das Martha gerade auf einer dampfenden Platte hereintrug. »Das sieht fantastisch aus! Und wie das duftet!«

In Katharina kochte es. »Du bist echt noch nicht in der Gegenwart angekommen«, regte sie sich auf. »Die Zeiten, in denen Frauen nur den Haushalt schmissen, sind doch lange vorbei!«

»Meinst du vielleicht, das weiß ich nicht?«, entgegnete ihr Vater. »Ist dir eigentlich klar, dass ich als Hersteller von Waschmittel einen großen Beitrag zur Entlastung der Hausfrau geleistet habe? Wenn es Männer wie mich nicht gäbe, würde die Hausfrau heute immer noch mit Kernseife die Wäsche schrubben!«

»Darum geht es doch gar nicht …«

»Wir leben in einer Zeit, in der ständig etwas Neues erfunden wird.« Ihr Vater ließ sie nicht zu Wort kommen. »Und es sind überwiegend Dinge, die den Frauen die Möglichkeit geben, etwas anderes zu tun, als im Haushalt zu arbeiten. Hast du eigentlich eine Ahnung, wie die Welt aussah, als es noch keine Waschmaschinen oder Staubsauger gab? Damals wurden die Teppiche ausgeklopft! Heute müsst ihr nur noch fünf Minuten mit dem Sauger drübergehen!«

»Und warum können Männer diesen verdammten Sauger nicht in die Hand nehmen?«

Karl verschluckte sich fast. »Na, du stellst ja Fragen! Vielleicht weil wir arbeiten müssen?«

»Und Frauen vielleicht nicht?«, entgegnete Katharina im selben Tonfall. Jetzt hatte sie den Streit, den sie eigentlich vermeiden wollte.

»Ich finde es toll, dass du arbeitest.« Es war das Erste, was sie an dem Abend von Barbara hörte. »Weißt du, lieber Schwiegerpapa, das Leben als Hausfrau und Mutter ist nicht immer so glücksbringend, wie du es dir vielleicht vorstellst.«

»Ach, meinst du vielleicht, ich säße nur lachend in meinem Büro?«

»Nein. Aber du und Erich, ihr habt jeden Tag neue, spannende Herausforderungen.«

»Die dürftest du mit Sabine und Irene ja nun auch haben!« Karl lachte und konnte seiner Schwiegertochter damit ein kleines Lächeln entlocken.

»Sie sind jetzt richtige Teenager. Die brauchen ihre Mutter nicht mehr viel.«

»Umso besser für dich«, meinte Karl und steckte sich ein Stück Fleisch mit Meerrettichsoße in den Mund. »Bleibt dir mehr Zeit für deine Hobbys.«

»Spielst du noch Bridge, meine Liebe?«, fragte Traute, die ganz offensichtlich froh war, die Diskussion zwischen Karl und ihrer Jüngsten unterbrechen zu können.

»Im Moment nicht, nein.« Barbara blickte wieder auf ihre Hände und rührte das Essen nicht an, das vor ihr auf dem Teller lag.

»Ich glaube, mit unserem Bundeskanzler wird es nicht gut ausgehen«, sagte Erich, offensichtlich darum bemüht, den Fokus von seiner Frau auf ein anderes Thema zu lenken. »Da kommt doch jetzt alles raus.«

Katharina warf ein, dass Willy Brandt von seinem Referenten, also einer Vertrauensperson, einem Menschen, den er zu seinen engsten Freunden zählte, mit dem er in den Urlaub gefahren war und mehr Zeit als mit seiner eigenen Frau verbracht hatte, belogen, hintergangen, ausspioniert und verraten worden war. »Die Guillaume-Affäre ist doch auch eine menschliche Tragödie«, fand sie.

»Der Mann war erpressbar!«, mischte sich Konrad ein. »Was glaubst du, was der Spitzel alles über ihn wusste? Allein die ganzen Affären, die er angeblich hatte. Der hat doch jedem Rockzipfel nachgejagt.«

»Er muss zurücktreten«, meinte nun auch Uwe. »Du siehst das als Frau viel zu emotional.«

»Das ist Quatsch«, sagte Katharina. »Ich habe nicht behauptet, dass er nicht zurücktreten muss, und ja, das mit der Erpressbarkeit sehe ich genauso. Ich finde lediglich, dass man die menschliche Tragödie in diesem Fall nicht vergessen darf …«

»Hauptsache, er ist weg«, unterbrach Erich sie. »Tragödie hin oder her. Das ist vollkommen irrelevant.«

»Für mich nicht.«

»Unter Adenauer wäre das nicht passiert«, schnaubte Karl, der ebenso überzeugter CDU-Anhänger war wie die anderen Männer am Tisch. »Den Sozen fehlt einfach der Anstand. Wenn man als Kanzler den Ruf eines Weiberhelden und Weinliebhabers hat, dann ist doch wohl einiges schiefgelaufen.«

»Aber er ist doch kein schlechter Bundeskanzler«, warf Katharina ein, die den Kniefall Brandts nie vergessen würde.

Hanna nickte. »Ich habe ihn auch immer gemocht.«

»Fehler hat er trotzdem gemacht«, entgegnete Eva.

»Er ist in die Fänge der SED geraten«, sagte ihr Vater. »Das kann man nicht schönreden. Ich möchte nicht wissen, womit die ihn all die Jahre erpresst haben.«

Mit Karl über Politik zu diskutieren war genauso mühsam wie ein Gespräch über Frauenrechte. Er hatte eine festgefahrene Meinung, von der er keinen Millimeter abrückte. Im Gegensatz zu ihren Schwestern, die das ebenfalls wussten und sich daher lieber mit Traute über die neue Bepflanzung im Garten unterhielten, konnte Katharina sich nicht zurücknehmen und sah sich einen Wimpernschlag später in eine fast hitzige Diskussion mit den konservativen Männern ihrer Familie verwickelt, die sich durch ihre sozialdemokratischen Ansichten allesamt provoziert fühlten.

»Entschuldigt mich kurz«, sagte Barbara leise, stand von den anderen unbemerkt auf und verließ den Tisch.

»Alfred Tetzlaff ist nichts gegen dich«, meinte Katharina zu ihrem Vater. Sie fühlte sich, als säße sie mitten in den Dreharbeiten zu Ein Herz und eine Seele. Nur dass Ekel Alfred in diesem Fall kein armer Malocher, sondern ein reicher Unternehmer war.

Karl lachte laut und ließ sich weiter über die SPD aus. Seine Laune schien dabei immer besser zu werden, offensichtlich machte ihm die Lästerrunde über die Sozialdemokraten großen Spaß.

Als Martha das Geschirr abräumte und die Herrencreme zum Dessert servierte, war Barbara immer noch nicht zurück. Da Katharina eine Pause von der Auseinandersetzung gut gebrauchen konnte, beschloss sie, nach ihrer Schwägerin zu schauen.

Sie ging durch die Eingangshalle und warf einen Blick in das verwaiste Herrenzimmer, in dem Martha schon alles für den Absacker bereitgestellt hatte. Vier große, schwere Ledersessel standen dort, dazwischen jeweils ein schwarzes Tischchen mit einem Aschenbecher. Der kleine Servierwagen war von Martha in die Mitte geschoben worden, oben befand sich ein Humidor mit unterschiedlichsten Rauchwaren, darunter mehrere Flaschen mit edlem Hochprozentigem. Hierhin würden sich die Männer nach dem Abendessen zurückziehen, während die Frauen der Familie in der Bibliothek noch einen Mokka tranken. Seit den Zwanzigern hatten sich die Gewohnheiten im Hause Berner nicht geändert.

Katharina wollte gerade zum Wohnzimmer rübergehen, als sie Barbara bemerkte. Mit ihrer schmalen, in ein langes hellblaues Seidenkleid gehüllten Figur und den lockigen, fast zu einem Afro frisierten Haaren sah sie in der Dunkelheit aus wie eine Statue. Sie saß draußen auf der Sandsteinbrüstung der Veranda und rauchte eine Zigarette. Nicht die erste, wie Katharina dem vollen Aschenbecher entnahm, der vor ihr stand.

»Hier bist du.«

»Ja.«

Katharina setzte sich zu ihr, nahm die Zigarettenschachtel, die neben dem Aschenbecher lag, sah Barbara fragend an und steckte sich eine in den Mund, nachdem ihre Schwägerin zustimmend genickt hatte.

»Seit wann rauchst du?«, fragte sie und gab Katharina Feuer.

»In meiner WG rauchen alle.« Sie nahm einen tiefen Zug und unterdrückte den Hustenreiz, der sich sofort bei ihr einstellte. »Da kommt man gar nicht drum herum. Aber eigentlich mag ich es nicht.«

»Dass du mit fremden Frauen zusammenwohnen kannst, finde ich immer noch erstaunlich.«

»Die eine ist meine älteste Freundin und die andere ist mir jetzt nach zwei Jahren auch nicht mehr fremd.«

»Stimmt. Aber verdienst du nicht genug, um dir eine eigene Wohnung leisten zu können?«, fragte Barbara.

Katharina überlegte kurz, ob sie die Schwägerin in ihre Pläne einweihen sollte. »Doch. Aber ich wollte so viel Geld wie möglich sparen.«

»Wozu?«

»Ich überlege, mich selbstständig zu machen.«

»Oh«, sagte Barbara nur und fügte dann ein »mutig« hinzu.

»Findest du?«, entgegnete Katharina, der bei dem Gedanken an eine Selbstständigkeit selbst etwas mulmig wurde. »Es ist nicht so, wie Papa immer meint. Es gibt durchaus noch mehr Frauen, die als Rechtsanwältin arbeiten.«

»Ja, klar. Aber besonders viele sind es nicht.«

»Ist doch gut, wenn sich das ändert.«

Barbara zog an ihrer Zigarette. »Ist dir das Risiko nicht zu groß? So ganz auf dich gestellt, ohne Mann, ohne Absicherung?«

Katharina zuckte mit den Schultern. Es war nicht so, als hätte sie sich darüber keine Gedanken gemacht, im Gegenteil, natürlich war sie alle Risiken zigmal im Kopf durchgegangen. Aber die Vorstellung, weiterhin in der Kanzlei zu arbeiten, war so unerträglich, dass ihr jedes Risiko lieber war.

»Ich glaube schon, dass ich mich durchsetzen kann und genug Mandanten finden werde«, sagte sie. »Vielleicht spezialisiere ich mich auf Frauenfragen, das gibt es so noch nicht.«

»Allzu viele Männer würden wahrscheinlich eh nicht zu dir kommen«, glaubte Barbara. »Dein Vater ist doch nicht der Einzige, der so denkt.«

»Ich weiß.« Katharina atmete tief durch und zog wieder an ihrer Zigarette. »Aber wenn es ein Spaziergang würde, wäre es ja auch langweilig«, sagte sie und grinste ihre Schwägerin schief an.

»Da hast du recht. Sich einer Herausforderung zu stellen, ist besser, als in Langeweile zu versinken.«

Barbara starrte in den Garten. Der weitläufige Rasen war sonst von Rhododendren umsäumt gewesen, die erst vor wenigen Tagen den neu gepflanzten Buchsbäumen hatten weichen müssen. Diese unterstrichen den parkähnlichen Charakter des Gartens noch zusätzlich. Ihre Schwägerin zog an ihrer Zigarette, die nur noch aus dem Filter bestand, was sie aber nicht zu bemerken schien.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Katharina nach einem Moment. »Du bist schon ganz schön lange hier draußen.«

»Ich fühle mich nicht so gut und brauchte ein bisschen frische Luft.«

»Und zwanzig Kippen?«

Barbara lachte schwach. »So viele waren es nun auch nicht.« Schnell wurde sie wieder ernst und drückte ihre Zigarette schweigend aus.

»Was ist los? Irgendetwas stimmt doch nicht mit dir«, hakte Katharina nach. »Ist mit dir und Erich alles in Ordnung?«

Barbara nickte und packte Zigaretten und Feuerzeug in ihre Tasche. »Natürlich. Unsere Ehe ist so wie immer. Ich mag einfach keinen Tafelspitz, das ist alles. Gehen wir wieder rein?«

*

Rita war etwas schummrig zumute. Sie hatte nur wenig geraucht und das LSD gänzlich links liegen gelassen, aber Franks schwarzer Afghan hatte in Verbindung mit dem Bier ausgereicht, um ihre Sinne zu benebeln. Nach dem Konzert hatte sie sich noch überreden lassen, mit den anderen in Utas Elternhaus zu gehen, wo noch weitergefeiert wurde.

»Sturmfreie Bude«, meinte Uta, deren Eltern auf Mallorca waren, wo sie sich nach einem Ferienhaus umschauen wollten. Utas Vater war Kieferorthopäde, der erste, den es in Bonn gegeben hatte, und bis heute gab es nicht viel Konkurrenz. Mit seinen Zahnspangen hatte er sich eine goldene Nase verdient. Genauso sah es in dem Einfamilienhaus auch aus: Überall glänzte goldenes Messing; Tür- und Fenstergriffe, Gardinenstangen und Beistelltische, alles schien wie aus Gold. An der Garderobe hingen vier verschiedene Pelzmäntel, darunter ein schneeweißer und einer aus Leopardenfell, obwohl das Wetter längst viel zu warm dafür war, und über dem großen Ledersofa im Wohnzimmer zierte ein Ölgemälde die Wand, von dem Uta behauptete, dass es ein echter Chagall sei. Rita kannte den Maler zwar nicht, aber sie war sich sicher, dass das Bild sehr wertvoll war. Allein der goldene Rahmen sah ungeheuer edel aus.

Sie saß auf den weißen Marmorstufen, die zum Wohnzimmer hinunterführten, und legte die Illustrierte zur Seite, von der ihr Farah Diba-Pahlavi entgegenlächelte, die Journalisten ihre Pariser Wohnung gezeigt hatte. Rita hatte sich nicht auf den Artikel konzentrieren können, der sich nur um die Kleider der Frau drehte und sie eigentlich auch gar nicht interessierte.

Jetzt sah sie zu, wie zwei Jungs, die sie noch nie gesehen hatte, an Uta herumfummelten, während Frank auf dem Sofa lag und sich seinem Trip hingab. Es war offensichtlich ein guter.

»Ich kann die Farben hören!«, rief er euphorisch, während er den Chagall anstarrte. »Rita, hast du schon mal Farben gehört? Das Blau ist so laut, es ist so wahnsinnig laut, ich halte es kaum noch aus!«

»Du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank«, sagte Rita und kämpfte gegen die Übelkeit an, die in ihr aufkam.

»Das Rot ist dagegen ganz leise … ganz zart und sanft ruft es nach mir … hörst du es, Rita?«

»Nein. Mir ist schlecht.«

»Ich habe das Gefühl, als würde ich schweben … Getragen von den Farben des Bildes …«

»Ich muss hier raus …«, sagte Rita leise und stand mit wackeligen Beinen auf.

Uta war kurz davor, es mit den beiden Typen zu treiben, und Frank redete nur noch wirres Zeug. Sie war einfach nicht betrunken genug für das alles.