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Helena ist fünf, als ihr Vater sie das erste Mal missbraucht. Wenige Jahre darauf beginnt auch ihre Mutter, sich an ihr zu vergehen. Später vergreifen sich beide Eltern zusammen an ihr. Mit 13 Jahren hat sie es 'überlebt'. Doch der Kampf um ihr Leben geht weiter. Um mit den seelischen Schmerzen fertigzuwerden, verletzt sie sich selbst, wird bulimisch und anorektisch. Mit 16 zieht sie in eine eigene Wohnung, versucht, eine Distanz zu ihren Eltern herzustellen. Mit 17 nimmt sie nach jahrelangen depressiven Phasen eine Überdosis Schlaftabletten und will sterben. Doch sie überlebt und die Erinnerungen an den sexuellen Missbrauch kommen nach kurzer Zeit zurück. Sie zeigt ihre Eltern an. Diese streiten jedoch alles ab und werden nicht bestraft. Trotzdem sind dies die ersten Schritte der Befreiung. Mit ihrem Buch SCHATTENGEWÄCHS verarbeitet Helena den jahrelangen sexuellen Missbrauch durch ihre Eltern. Sie beschreibt darin ihr Leben danach, das sowohl von den Folgen des Missbrauchs gekennzeichnet als auch von vielen schönen Momenten geprägt ist.
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Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2014
Helena W. Ranken
Für all diejenigen, die mir mit ihrem Herzen gezeigt haben, dass man auch im Schatten wachsen kann, und besonders für meinen guten Freund!
1
Ich wurde von meinen Eltern missbraucht. Eine Kindheit. Voller Vertrauensbrüche. Tiefer Verschlossenheit. Bedrückender Gefangenheit. Triebgesteuerter Befehle. Fortwährender Hoffnungslosigkeit. Roter Tränen. Unsichtbarer Narben. Gezwungener Perfektion. Unbewusstem Vergessen.
Voll.
Mit.
Tod.
Einsamkeit.
Sehnsucht.
Gefroren waren meine Gefühle. Erfroren war ich.
Acht Jahre. Lang.
War es Eiszeit.
War es Kindheit.
2
Ich schrie nicht. Erst ein paar Minuten später, nachdem ich das grelle Krankenhauslicht erblickte, gab ich einige Laute von mir. Wenig später verstummte ich aber wieder, so wie ich es noch ganz oft in meiner Kindheit tat. Meine Mutter schien nicht gerade glücklich, als sie mich im Arm hielt, auch wenn sie das später natürlich bestritt. Mein Vater stand ratlos daneben. Was sollte er schon mit einem 49 Zentimeter großen Kind anfangen? Ich war noch zu klein für seinen Penis.
Auf dem ersten Bild sahen meine Eltern genauso zerknautscht aus wie ich. Wenn ich dieses Foto heute betrachte, bemerke ich, dass eine ganz merkwürdige Stimmung in der Luft lag. Es kommt mir so vor, als würde es ausdrücken, wie die folgenden Jahre sein würden. Wie eine Warnung. Eine zu späte Warnung.
*
Ich wuchs als Einzelkind unter den Fittichen meiner Mutter und meiner Oma auf. Meine Mutter war immer um mich herum. Mein Vater war immer weg. Ich nannte ihn nicht Papa, sondern Onkel. Deshalb hatte ich auch zu seinen Eltern nie ein gutes Verhältnis gehabt. Sie waren genauso abwesend wie er.
Schon als ich sehr klein war, stritten sich meine Eltern oft. Wegen Papas nächtlichen Fluchten zu irgendwelchen Feiern und Feten. Obwohl der eigentliche Grund wohl eher war, dass sie sich nicht liebten. Türen wurden zugeschlagen, Teller durch die Gegend geworfen und Koffer und Taschen gepackt. Wegen zu wenig Geld. Mama flüchtete mit mir teilweise wochenlang zu ihren Eltern. Dort war eigentlich mein Zuhause. Meine Mutter und ich teilten uns ihr altes Kinderzimmer, in dem eine unbequeme Schlafcouch stand. Doch das war mir gleichgültig, weil ich bei meinem Opa sein konnte. Ihn hatte ich über alles lieb. Er war mein Vaterersatz.
Mit ihm schaute ich Biene Maja, Heidi oder Hanni und Nanni im Fernsehen. Mit ihm spielte ich Verstecken, auch wenn er sich mit seinem kaputten Knie kaum bewegen konnte. Er brachte mir Schach, Skat, Rommé und Canasta bei und irgendwann gewann ich dann sogar gegen ihn. Manchmal saßen wir stundenlang vor dem Schachbrett und entdeckten neue Züge. Wir spielten Mensch-ärgere-dichnicht und ich verlor jedes Mal.
Wenn wir zusammen in den Urlaub fuhren, grub er mir tiefe Löcher am Strand und erzählte mir, dass man bis auf die andere Seite der Erdkugel graben könnte. Ich glaubte es ihm. Wenn ich keine Lust mehr auf tiefe Löcher hatte, legte er sich in den Sand und ich buddelte ihn bis zum Hals zu. Manchmal gingen wir auch zusammen zum Meer und ich zog mein langweiliges Plastikschiff durch das Wasser. Er fand es toll. Ich weniger. Lieber gab ich ihm das Schiff und setzte mich in kleine Pfützen, die die Ebbe der Nordsee am Strand hinterlassen hatte.
Mama war davon nicht so begeistert, schließlich musste mein Höschen dann gewechselt werden. Sie trank lieber mit ihrer Mutter Kaffee. Die beiden waren wie eins. Wie zusammengebunden. Unlösbar. Eine absolute Symbiose. Meine Mutter wirkte neben ihr immer wie ein kleines Kind. Ganz gehorsam. Ohne ein Wort der Widerrede. Dieses Wort existierte in unserer Familie sowieso nicht. Man durfte nicht widersprechen. Man musste gehorchen. Das wurde natürlich niemals in der Öffentlichkeit zugegeben oder ausgeführt, aber falls man sich nicht daran hielt, gab es später die Konsequenzen dazu. Konsequenzen kannte meine Familie sehr gut. Es war das Lieblingswort meiner Mutter. Vorher kam jedoch das Wort »Sagrotan«. Meine Mutter hatte eine regelrechte Putzsucht. Alles musste desinfiziert sein. Alles Lebendige musste entfernt werden. Das permanente Entfernen des Lebendigen war nur ein Merkmal unserer toten Beziehung.
Meine Mutter war vollkommen abhängig von ihren Eltern. Finanziell und emotional. Sie hatte zwar ihr Abitur, aber ihr Studium hatte sie wegen ihres Vaters abgebrochen. Meine Oma verabscheute meinen Opa. Auch sie liebten einander nicht. Beide hatten schon seit Langem getrennte Schlafzimmer, und Oma war stets froh, wenn Opa nicht zu Hause war. Er würde stinken und überall Schmutz hinterlassen, predigte sie stets. Das stimmte aber nicht. Er behielt sich nur ein wenig Lebendigkeit bei. Zwischen den ganzen Sagrotan-Flaschen. Meine Oma war auch eine Sagrotan-Fetischistin. Oma und Mama waren sich in vielem unglaublich ähnlich. Beide wussten nichts mit Lebendigkeit anzufangen und mit Liebe erst recht nicht.
Wenn ich meinen Opa damals nicht gehabt hätte, dann hätte ich keine Kindheit gehabt und wäre wohl in die Liga der Sagrotan-Liebhaber abgestiegen. Mein Opa hat mir die schönste Zeit meiner Kindheit ermöglicht. Im Grunde hatte er mir meine Kindheit geschenkt. Opa war für mich mein Held. Damals.
*
Mit fünf Jahren begann für mich dann nach langem Warten endlich der ersehnte Tag: mein erster Schultag. Ich ging in die Vorschulklasse der Grundschule, die bei uns um die Ecke lag. So gern wollte ich allein zur Schule gehen, aber ich durfte es nicht. Mit der Zeit lernte ich meine Mitschüler besser kennen und fand sogar eine beste Freundin. Anabell wohnte bei mir direkt gegenüber. Von unserem Wohnzimmer aus konnte man in ihr Zimmer mit dem Hochbett, auf das ich ganz neidisch war, schauen. Auch wenn unsere Wohnungen nur 100 Meter auseinander lagen, durfte ich auch dort nicht allein hingehen. Nur ganz selten war ich bei ihr, natürlich in der Begleitung meiner Mutter, die, glaube ich, am liebsten auch mit in die Grundschule gekommen wäre. Manchmal meldete sie mich dort sogar krank, um einen Tag mit mir zu verbringen. Auch an jedem Wandertag kam sie mit. Dabei wollte ich so gern einmal Dinge unternehmen, ohne den kontrollierenden Blick meiner Mutter im Nacken zu spüren. Aber dazu kam es nicht. Bis ich 15 Jahre alt wurde und ich für meinen Freiraum mehr oder weniger lauthals eintrat.
3
Die Zeit in der Schule war der einzige Freiraum, der mir blieb. Ich durfte spielen, was ich wollte. Ich musste nicht allein spielen oder mit meiner Mutter, sondern konnte mit anderen spielen. Das bedeutete mir unglaublich viel. Allerdings schränkten mich die Regeln meiner Mutter sehr ein. Ich sollte mir mit niemandem mein Essen oder Trinken teilen und auch von anderen nichts dergleichen annehmen. Es fühlte sich immer wie ein unsichtbarer Stacheldrahtzaun an. Ein einziges Mal ist es mir passiert, dass ich aus Versehen aus einem fremden Glas getrunken habe. Meiner Mutter habe ich dies später ängstlich erzählt. Sie schrie mich an, bis ich weinte. Und sie wollte nicht aufhören. Sie meinte, ich könne mir Krankheiten dadurch holen. Es sei ja alles schmutzig und voller Bakterien. Dabei mochte ich Bakterien eigentlich. Sie waren das Gegenteil von Sagrotan, dachte ich. Deshalb fand ich sie gut. Nachdem ich viel geweint hatte, sprach sie den ganzen Tag kein Wort mehr mit mir. Ich hatte mich oft dafür entschuldigt, aber sie meinte, sie sei verletzt und enttäuscht von mir. Ich fühlte mich unglaublich schuldig. Ich musste sie doch glücklich machen. Ich durfte sie nicht enttäuschen. Aber ich hatte versagt. Wie so oft. Ich genügte nicht. Seit ich auf der Welt war.
Mein Vater bekam von diesen Auseinandersetzungen meist gar nichts mit. Er war die meiste Zeit damit beschäftigt, sein Unternehmen aufzubauen. Davon verstand ich damals noch nicht viel. Lange hatte ich mir gewünscht, dass er öfter für mich da wäre, dass er mit mir meine Barbies frisiert, Verstecken oder Einparken spielt. Aber diese Wünsche gingen nie in Erfüllung. Mit mir zu spielen, schien ihm viel zu lästig und zeitaufwendig zu sein. Manchmal kam er abends in mein Zimmer, wünschte mir eine gute Nacht und verzog sich nach diesen zwei Worten sofort wieder.
Doch irgendwann blieb er immer länger. Er saß auf meiner Bettkante und schaute mich lange und intensiv an. Er starrte förmlich. Mich wunderte das, zumal er normalerweise nie länger als nötig blieb. Mit der Zeit begann er, mich zu streicheln. Anfangs war es noch ganz normal. Ein flüchtiger Blick begleitete ein kurzes Streicheln über den Arm. Manchmal über den Bauch. Meistens kam er nur im T-Shirt und einer Unterhose. Aber auch das war normal. Gewohnt.
Bald blieb es nicht mehr bei einem einfachen, harmlosen Streicheln. Bald sollte auch ich ihn streicheln. Aber nicht am Bauch oder am Arm. Ich sollte ihn am Penis streicheln. Anfangs wusste ich gar nicht, was das ist. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Er erklärte mir, dass man damit Liebe machen kann. Das fand ich schön. Ich wollte Liebe. Er sagte, dass, wenn ich ihn am Penis streicheln würde, er mich lieb hätte. Außerdem würde es nicht wehtun, sagte er, ich bräuchte keine Angst zu haben. Also tat ich es. Anfangs korrigierte er mich immer wieder. Er sagte, ich solle um seinen Penis herumfassen. Aber meine Hand war zu klein. Und er schien nicht zufrieden. Obwohl ich mir die größte Mühe gab. Weil ich geliebt werden wollte.
Meine Mutter lag nebenan im Bett. Sie lauschte dem stillen Stöhnen meines Vaters, wenn ich es gut machte. Manchmal kam da an dem Ende seines Penis etwas Weißes, Dickflüssiges heraus. Erst dachte ich, dass das Pipi sei. Er meinte, dass das ein Zeichen der Liebe wäre. Ich fühlte mich gut, weil ich anscheinend etwas gut gemacht hatte, dass ein Zeichen der Liebe erschien. Ich hatte nicht versagt. Das machte mich stolz.
Später überredete er mich, meine Unterhose auszuziehen. Dann rieb er seinen Penis an meiner Scheide und stöhnte noch viel lauter, als wenn ich ihn streichelte. Es fühlte sich etwas ekelig an, wenn die weiße, dickliche Flüssigkeit an meiner Scheide klebte. Ich nahm auch zum ersten Mal den Geruch seines Penis wahr. Er roch total unappetitlich. Mama hatte mir schon oft gesagt, dass Papa sich nur einmal in der Woche duschen würde. Wenn überhaupt. Das fand ich widerlich. Ich wollte mich auch am liebsten immer, nachdem mein Vater abends bei mir war, waschen. Da war so ein Gefühl in mir. Vielleicht war es Ekel oder Scham. Ich weiß es nicht. Aber ich durfte nicht. Sonst hätte ich ja die Liebe abgewaschen. Papa hatte mir das so erklärt. Ich glaubte ihm. Auch wenn ich ein merkwürdiges Gefühl hatte. Ich vertraute ihm. Er war ja schließlich mein Vater. Morgens war ich immer unendlich müde, doch irgendwie froh, dass ich ein paar Stunden allein mit meinen Freunden verbringen konnte. Ich war sehr ehrgeizig in der Schule. Mit der Zeit hatte ich verstanden, dass meine Eltern mich anscheinend mehr liebten, wenn ich sehr gute Noten bekomme und ein gutes Sozialverhalten habe. Ich wusste, dass ich das Abitur machen sollte. Meine Eltern hatten es schließlich auch. Studieren sollte ich danach. Meine Mutter wollte erst Sanitäterin werden, hatte dann aber ein Studium begonnen und abgebrochen. Sie war damit finanziell vollkommen abhängig von meinem Vater. Das begriff ich schon sehr früh. Ich wollte später Beruf und Kind unter einen Hut bringen. Das hatte ich mir von da an ganz fest vorgenommen. Allerdings dauerte es noch einige Jahre bis zum Abitur.
*
Als ich in die erste Klasse kam, war ich sechs. Es kamen viele neue Mitschüler in die Klasse, aber ich kam mit allen gut klar. Mathe wurde zu meinem absoluten Lieblingsfach. Ich war viel schneller mit den Aufgaben fertig als die anderen Schüler. Danach hatte ich meist Zeit, den anderen zu helfen. Das mochte ich total. Deshalb wollte ich später Mathelehrerin werden. Anderen etwas zu geben, bedeutete mir viel, selbst wenn sie mir nichts zurückgaben. In den anderen Fächern war ich bis auf Sport auch ganz gut. Nur nach meiner Deutschlehrerin hatte ich eine schreckliche Schrift. Aber das störte mich nicht wirklich.
Stefan, meinen ersten Freund, lernte ich auch in meiner Klasse kennen. Er war total lieb, schrieb mir immer kleine Briefe und malte mir Bilder. Händchen haltend liefen wir durch das Schulgebäude und ich fühlte mich ganz erwachsen. Wäre nicht meine Mutter gewesen. Sie verbot mir, meine Süßigkeiten mit anderen zu teilen, und deshalb fanden mich einige Mitschüler irgendwann nicht mehr gut. Aber ich hatte große Angst vor Ärger und hielt mich an die Regeln meiner Mutter.
*
Papa kam abends inzwischen fast regelmäßig zu mir. Es blieb nicht mehr nur beim Streicheln. Bald führte er seinen Penis in mir ein. Es tat furchtbar weh. Ich dachte, er würde mir seinen Penis in mein Pipi-Loch stecken. Aber irgendwann entdeckte ich, dass ich drei Löcher hatte. Das wusste ich vorher nicht. Ich weinte vor Schmerzen. Er sagte aber, dass das noch viel größere Liebe sei. Doch warum tat Liebe so weh? Beim ersten Mal schrie ich. Er sagte mir dann, dass ich still sein soll. Ab da hatte ich zum ersten Mal richtig Angst vor ihm. Liebe konnte doch nicht so wehtun. Und Liebe war doch eigentlich ein Gefühl und hatte nichts mit dem Körper zu tun, dachte ich. Papa lobte mich danach immer, wenn ich ruhig war. Das fiel mir die ersten Male total schwer. Dabei drang er nicht ganz ein. Nur etwas. Aber das reichte. Warum tat mir das so weh?, fragte ich mich immer wieder. Empfanden die anderen Siebenjährigen denselben Schmerz? Papa hatte ja gesagt, dass das ganz normal sei, was er tat. Doch mittlerweile glaubte ich ihm das nicht mehr.
*
An den Wochenenden war Papa nun öfter zu Hause. Vielleicht nahm ich ihn mittlerweile aber auch erst richtig wahr. An Samstagen und Sonntagen wollte ich immer etwas allein mit meiner Mutter machen. Ich verabscheute es, wenn Papa es wagte, mitzukommen. Ich trat ihm dann manchmal in die Eier. Ich wusste, dass ihm das wehtat. Wahrscheinlich war das das Unterbewusstsein, das mich dazu brachte, ihm ähnlichen Schmerz zuzufügen, wie ich ihn erlebt hatte. Auch wenn eine Siebenjährige einem 40-jährigen Mann nie denselben Schmerz zufügen kann wie andersherum. Er hielt mich dann oft so doll an Armen und Handgelenken fest, dass ich weinte. Manchmal bog er sie mir auch um. Das tat noch einige Tage danach weh. Aber schlimmer war für mich, dass er mir meine Kuscheltiere wegnahm. Meine Kuscheltiere hatten immer ein offenes Ohr für mich, und ich wünschte mir so oft, dass sie mit mir reden könnten. Aber sie blieben stumm. Genauso wie ich. Ein einziges Mal hatte ich in der Schule meiner Lehrerin gesagt, dass mich jemand angefasst hätte. Wer, sagte ich nicht. Das traute ich mich nicht. Die Lehrerin sprach sofort mit meiner Mutter und die war fürchterlich sauer auf mich. Gegenüber meiner Lehrerin äußerte sie sich ganz besorgt und zu Hause ging der Ärger richtig los. Also verstummte ich. Und spielte in der Schule ein Mädchen, um das sich niemand sorgen musste, das Leistung brachte, Freunde hatte und glücklich war. Das seine Eltern liebte. Es sich aber eigentlich nur wünschte, liebenswerte Eltern zu haben. Tagsüber war ich das liebe Mädchen. Abends war ich die liebe Frau. Für meinen Vater. Auch wenn ich erst sieben war.
Meine Mutter begann ich zu hassen, obwohl ich sie gleichzeitig liebte, weil sie mir – noch – nichts getan hatte. Manchmal klemmte ich mir meine Finger in der Tür ein, um den Hass ihr gegenüber wegzubekommen. Ich war so leer und gleichzeitig so voll mit Schuld und Scham, Hass und Liebe. Das war zu viel. Viel zu viel. Und zu wenig. Viel zu wenig.
*
Als ich in die dritte Klasse kam, mussten wir am Schwimmunterricht teilnehmen. Ich konnte allerdings noch nicht schwimmen, hatte große Angst vor Wasser, und eine Zeit lang weinte ich jedes Mal, wenn ich auch nur duschen musste. Bis ich sechs war, machte ich auch öfter in mein Bett und musste ab und an noch eine Windel tragen. Meine Mutter war immer total wütend, wenn das Bett wieder nass war. Dabei machte ich das ja nicht mit Absicht. Ich fühlte mich schuldig.
Am Schwimmunterricht musste ich allerdings nicht teilnehmen. Meine Mutter hatte mir ein Attest beim Arzt besorgt, auch wenn die darauf geschriebene Diagnose nicht stimmte. Bis jetzt weiß ich nicht, ob sie es wegen meiner Angst vor dem Wasser geholt hatte oder weil ich viele blaue Flecken wegen meines Vaters hatte.
Die erste Klassenfahrt stand an. Auch dafür besorgte mir meine Mutter ein ärztliches Attest. Angeblich sollte ich eine Zahn-OP haben. Aber bis heute wurde ich nie operiert. Meine Mutter hatte das Talent, mir alles so zu vermitteln, dass ich wirklich glaubte, eine OP vor mir zu haben. Umso erleichterter war ich, als es nicht so war. Ich war etwas traurig, dass ich nicht mitfahren durfte. Andererseits hatte ich aber auch etwas Angst vor der Klassenfahrt gehabt. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass es in Schullandheimen ganz viele Bakterien gäbe und sie während ihrer Schulzeit einmal eine Magen-Darm-Grippe auf einer Klassenfahrt bekommen hatte. Bakterien waren ganz schlimm, das hatte ich von ihr gelernt. Im Gegensatz zu ihr bekam ich aber nicht gleich eine Panikattacke, wenn mir übel war. Dadurch fühlte ich mich stärker.
Mit der Zeit übernahm ich für sie die Mutterrolle. Ich hörte mir ihre Sorgen an, gab ihr Tipps und kümmerte mich um sie, wenn sie krank war. Oftmals kam sie mir vor wie ein Kind. Und Kinder durfte man nicht allein lassen. Deswegen tat ich es auch nicht. Dabei wünschte ich mir, dass ich endlich wieder Kind sein durfte. Tags. Und nachts. Ich hoffte es so sehr. Und die Hoffnung durfte nicht sterben.
4
Meine Mutter ließ mich nie aus den Augen. Selbst in unserer Wohnung war sie ständig um mich herum. Besonders oft war sie bei mir, wenn ich im Bad war. Sie schaute mir beim Duschen zu, wie ich mich auszog, wie ich mich wusch, wie ich auf der Toilette saß. Einfach bei allem. Mich störte das irgendwann. Aber ich sagte nichts. Zu groß war die Angst vor Ärger. Ich wollte sie nicht enttäuschen. Sie hatte doch niemanden außer mir und ihren Eltern. Und ich war ja immer da. Ich durfte sie nicht allein lassen.
*
Irgendwann begann sie, mich jedes Mal nach dem Duschen abzutrocknen, obwohl ich das schon eine ganze Weile allein konnte. Ich blieb stumm. Wortlos. Meine noch kindlichen Brüste trocknete sie dabei sehr intensiv ab. Je mehr sie wuchsen, desto länger trocknete sie sie ab und streichelte sie. So kam es mir zumindest vor. Auch an meiner Scheide machte sie sich intensiv zu schaffen. Anfangs steckte sie mir ab und an auch ihren Finger in die Scheide. Ich spürte dabei ihre langen Fingernägel und oftmals zuckte ich vor Schmerzen zusammen. Aus ab und an wurde dann immer.
Als ich mit elf Jahren meine Tage bekam, schien sie ganz aufgeregt, vielleicht auch erregt, zu sein. Sie schrieb mir vor, Tampons zu benutzen, aber anfangs bekam ich sie nicht eingeführt. Sie half nach. Ohne, dass ich es wollte. Sie blühte dabei geradezu auf. Ich hasste sie dafür.
Auch sollte ich ihr immer wieder helfen, so nannte sie es zumindest. Wenn sie Migräne hatte oder krank war, sollte ich ihr manchmal den Hintern abwischen. Sie zur Toilette zu begleiten, wurde dadurch zur Normalität. Ich ekelte mich immer mehr vor ihr. Genauso wie vor meiner Oma, die wahrscheinlich von allem wusste. Ich hasste beide.
Von da an empfand ich das, was meine Mutter tat, zum ersten Mal als falsch. Aber dieser Gedanke ertränkte sich in Schuldgefühlen und Scham. Und Schuld war immer stärker als Wahrheit. Hoffnung war dem Schuldgefühl dabei nur ein nicht ernst zu nehmender Konkurrent, der so schnell verschwand, als wäre er nie da gewesen. Vernichtet. Verstorben. Verschwunden. Vergessen. Missbraucht.
5
Nach der vierten Klasse ging ich auf ein kleines Gymnasium. Nun war ich schon groß. Fast erwachsen. Mit zehn Jahren. Abends und nachts war ich zumindest immer erwachsen. Ich musste es sein. Sonst hätte ich es nicht geschafft.
*
In der Schule fühlte ich mich eigentlich ganz wohl. Anfangs. Zwei Freundinnen waren mit mir zusammen auf das Gymnasium gewechselt. Aber mit der Zeit fingen meine Mitschüler an, mich zu mobben. Sie machten sich über meine Kleidung lustig, die mir meine Mutter immer noch vorschrieb. Oft hatte sie sogar dasselbe an wie ich. Das war mir peinlich. Aber peinlicher war es mir, dass ich meist rosafarbene Kleidung tragen sollte. Dass sie mich auch jeden Tag zur Schule brachte und wieder abholte, machte es noch deutlich schlimmer. Tagsüber durfte ich nicht erwachsen sein. Da musste ich das kleine, gehorsame Kind sein. Alle anderen fuhren bereits mit dem Bus allein zur Schule. Dadurch fühlte ich mich oft abseits. Und ich war es auch. Meine zwei Freundinnen fanden neue Freunde, aber ich zog mich immer mehr zurück. Auch wenn ich am liebsten dazugehören wollte. Aber ich konnte es nicht.
Meine Leistungen wurden etwas schlechter und manchmal weinte ich in der Schule. Alle dachten, es wäre wegen irgendwelcher schlechter Noten.
*
Meine Eltern verstanden sich scheinbar wieder besser. Sie vereinten sich. Zu einem machtbesessenen Monster. Zwei gegen einen war schon immer unfair. Aber zwei Erwachsene gegen ihr eigenes Kind war wortlos.
Nachts kamen sie zusammen in mein Zimmer. Meine Mutter predigte stets, dass ich, bevor Papa nach Hause kam, noch schnell duschen sollte. Eigentlich wollte ich lieber morgens duschen. Um den Schmutz der Nacht loszuwerden. Aber das hätte nichts geholfen. Das wusste ich. Nicht die stärkste Seife der Welt hätte den inneren Schmerz wegwaschen können. Der Schmerz würde bleiben. Ein Leben lang.
Nachdem mein Vater nach Hause gekommen war, musste er erst einmal auf die Toilette. Aber nicht, um sich zu waschen. Duschen wurde für ihn immer mehr zu einem unverständlichen Fremdwort. Meine Mutter hingegen verkörperte eine Sagrotan-Flasche. Unlebendig. Kalt. Gefühlslos. Sagrotan war der Mörder der Bakterien. Meine Mutter die Mörderin der Lebendigkeit. So nahm ich es auch wahr, wenn sie abends zusammen mit meinem Vater in meinem Zimmer stand.