Schattenkonstruktion - Peter Fischer - E-Book

Schattenkonstruktion E-Book

Peter Fischer

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Beschreibung

Sechs phantastisch/realistische Erzählungen in der Linie E.T.A. Hoffmann, Robert Walser, Dashiell Hammet, mit Blick auf Bunuel.- Da trägt ein romantischer Held den Koffer seiner Geliebten zum Bahnhof.- Eine Volksversammlung wird unterirdisch betrachtet.-Zukertort spielt Schach in New Orleans.- Ein Dienstmädchen entflieht den Klauen ihres Herrn.- Die Preisverleihung für einen verdienten Dichter gerät in staatliche Verwirrungen.- Und endlich wird aus einem verschmähten Liebhaber ein ganz übler Bursche, der alle Rücksichten verliert, die er in der Heimat nicht gelernt hat, und wandert in ein noch schlimmeres Land aus.

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Seitenzahl: 368

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Peter Fischer, Schattenkonstruktion

© 2013 Peter Fischer

Umschlag, Satz, Lektorat und Korrektur: Pescador

Frontispiz: Ptolemeus & Astronomia. 1504. Universitätsbibliothek

Freiburg i. Br./Historische Sammlungen. Signatur Ink. A 7315, d.

Gesetzt in der 11 Punkt Baskerville Old Face

Verlag tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-8495-7491-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

 

Peter Fischer

SCHATTEN- KONSTRUKTION

Sechs andalusische Hunde

Il faut vous fuir, Mademoiselle, je le sens bien.

Rousseau, La nouvelle Heloise.

I tempi erano diversi

Italo Calvino, Palomar.

He was there before me.

Conrad, Lord Jim.

…sie müßte sich nur entschließen, meine Existenz zu vergessen…

Kafka, Eine kleine Frau.

Ein paar Tage trieb er sich in Wien herum, ohne zu wissen, was er mit den Tagen und Nächten anfangen sollte…

Schnitzler, Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbogh.

DER KOFFERTRÄGER GOTTES

Eine Geschichte aus der Etappe.

 

NACHDEM Hitler - manche kennen ihn noch, das ist wahr - den Krieg gewonnen hatte (das war aber sein letzter), wurde ich, wie immer das heute zu sehen ist, Gouverneur in Transkaukasien: Gouverneur, denn Titel wie Gauleiter, Abteilungsleiter und Vollzugsreferent, aus verständlichen Gründen, waren abgeschafft worden. Man wird sich jetzt fragen, wie es dazu kommen konnte; wie es möglich war, daß ein durchwegs bedeutungsloser Obergefreiter (zu mehr hat es wahrlich nicht gereicht, ich weiß das wohl), der während der Zeit dieses letzten Krieges, als alle Welt im Schützengraben sich den Kopf einschlug, sich nicht an der Front zu bewähren brauchte, sondern auf die Schreibstube geschickt wurde und kurz vor dem Kriegsende noch zur Malerei verdonnert worden war-im Klartext, daß er die Hoheitszeichen von Flugzeugen, in der Hauptsache Fw 189, 19o und Fw 2oo c Condor, auf einem nicht sehr großen Horst in der Nähe von Osterburken, wenn sie vom Einsatz wieder zurückkamen, an ihrer Außenhaut aber lädiert waren, in der Gesamtfarbe wie auch den Hoheitszeichen neu aufpinseln mußte, weil jetzt die noch übrig gebliebenen Arbeitskräfte, auch die von Frauen und Mädchen, alle für den Endkampf, der sich zumeist schon vor der Haustüre abspielte, gebraucht wurden. Wahrscheinlich haben die meisten Leute die Zeit des Kampfes, welche, im Grunde genommen, noch nicht so lange her ist (aber die Leute von hier behaupten trotzdem das Gegenteil), vergessen, weshalb ich, doch nur im Hinblick auf die erwähnten Flugzeuge, daran erinnern will, daß die 189 ein Verbindungs-, die 190 ein Jagdflugzeug war, die Condor hingegen von gänzlich anderer Art, weil sie zuerst ein Zivilflugzeug gewesen war und dann zu einem guten Langstreckenbomber sowie Seeaufklärer gemacht wurde, in welcher Eigenschaft sie den Geleitzügen (klar, denen des Feindes) viel Ärger und Untergang bereitete.

Allerdings ist damit, und bei weitem, noch nicht geklärt, auf Grund welcher Verdienste oder Taten mir der angenehme Posten des Gouverneurs von Transkaukasien zugeschoben worden war-ich hatte wirklich keine Verdienste, und meine Handlungen und Taten, na ja, man weiß es doch. Niemandem, außer zwei oder drei Heinis in der Militärverwaltung, war etwas von meiner Existenz bekannt. Auf dem Fliegerhorst, wo ich Zahlen und Buchstaben pinselte, manchmal auch das nationale Zeichen erneuern durfte, war ich nicht einmal eine graue Maus. Keiner der dort stationierten Soldaten, ob fliegender oder am Boden, nahm jemals eine Notiz von mir. Aus keinem Grund bestand die Notwendigkeit, das Wort an mich zu richten. Die Arbeit aber, die ich verrichtete, war für jedermann weithin sichtbar, und den abgeschrammten Flugapparaten anzusehen. Dennoch ist kein Hauptmann auf mich jemals aufmerksam geworden, kein Major, ich schwöre es, hat mich je angeschnauzt, und schließlich, um auf die damals höchste Person zu sprechen zu kommen, der Gröfaz hat von mir bestimmt nichts läuten hören; also, was ist es dann gewesen, daß ich diesen Posten bekam? Das Schicksal selber, dessen weich=lenkende Hand? Sollte es bewirkt haben, daß ich in die Funktion eines Gouverneurs von Transkaukasien eingesetzt wurde. Schicksal, das kann jeder sagen; und was macht er dann! Manch ein intelligenter Mensch hat sein Heil in der Krankheit gesucht und ist dann doch gestorben. Deshalb sieht es aus, als sei Krieg viel besser. Einen Feind gibt es immer, er läßt sich sogar unter den schwierigsten Lebensumständen finden, und der Sieg ist dann nur noch eine Angelegenheit von wenigen Tagen. Schließlich haben wir den Beweis. Auch der letzte Krieg wurde gewonnen; wir sind selbstverständlich immer bei den Siegern gewesen. Wenn dann noch ein tiefblickender Mann das Volk anführt, geht es fast allen Menschen sehr gut. Sie haben keine Kopfschmerzen mehr, gehen regelmäßig aufs Klo und in die Arbeit. Die schönsten Zeiten brechen an, so daß sich niemand darüber verwundern kann. Und dann, über allem, der tiefblickende Mann. Er kann einfach alles. Er beschützt uns, er ernährt uns; und er führt uns in das Leben hinaus, so ist es, in das Leben selber. Er wird daher auch nicht bei seinem offiziellen Titel genannt, wenn die Leute unter sich sind, nicht GRÖFAZ, sondern lieblich besungen, als das, was er halt nun einmal ist, der GRÖLIBADEVO… ich weiß, daß ich diese Sigle auflösen muß, er ist, ganz unweigerlich der: Größte Liebhaber des Volkes; da beißt kein Maus kein Faden ab. Ich habe es schon immer gesagt. Das ist schon eine Weile her, darum mußte ich das sagen, weil schon eine ganz Menge Mitlebender vergessen haben, daß wir auch den letzten Krieg gewonnen hatten, und daß es niemand so schlecht geht, wie er und Sie jeden Tag daherjammert. So ist es. Dabei hätte ich mich fast vergessen. Ich wurde nicht gefragt, als Seine Autobahnen gebaut wurden, seine Panzer entworfen, und seine Flugzeuge aufs Reißbrett geworfen, von denen einige ich, als sie von Einsatz zurückkamen, und angeschrammt von der Feinberührung, aber noch flugtüchtig und wieder einsatzbereit, mit Zahlen und Buchstaben bemalte und beschrieb, in Osterburken, dort, wo nicht ein einziger Hauptmann mich jemals eines Blickes gewürdigt haben würde, so daß ich jetzt doch anfange, mich zu fragen, wie ich nach Transkaukasien gekommen bin, natürlich ohne Verdienst. Schicksal hin und her, bei mir sind es nur Träume. Das kann auch wieder jeder sagen. Und der eigene Lebenslauf ist dahin. Immer pfuscht wer hinein, wer weiß, von welcher Seite. Natürlich trifft es jeweils die Kleinen; dazu ist der Dreck auf der Welt. Aus jedem Loch kommt er gekrochen, ja, das ist wahr, so sehr, daß kein Auge trocken bleibt. Ich habe schon zu viel gesagt, jedoch nicht, wie ich zu dem gleich und auf dem Fuße folgenden Traum gekommen bin. Das kam, wenn auch kein Interesse besteht, es zu hören, so. Jeder Kommentar ist überflüssig. Selbst wenn auch das gewissen Leuten nicht gefällt.

1.

UNWEIT (aber aber, Gnädige Frau!, dagegen können Sie nichts einzuwenden haben, bestimmt nichts) der Dardanellen, auf dem anfangenden asiatischen Kontinent, wenn Sie drüben sind, gegenüber Konstantinopel, und wenn der Mensch Richtung nach Südosten geht, bequemer noch auf dem Rücken eines Esels, kommt er, nun gut, das haben wir alles schon einmal gesehen, durch eine bedeutende Ebene-am Strand verkohlten die Schiffe, vor der Burg stand das hölzerne Pferd, im Bauch war was drinnen; das haben wir auch in der Schule schon gehört, ja, so ist es, so faul waren wir auch nicht-und bald darauf zum Gebirge Hissarlik (sogar hier kann man hören, jetzt auch noch, wie das empfindsame Mädchen kreischte, diese Seherin, und noch riechen, wie sie schwitzte; sie riecht gar nicht gut: äh, schon wieder das), welches doch wohl ein schönes Gebirge ist, vollkommen mit Ginster, Klatschmohn und Thymian bedeckt, und überdies mit schöner Landschaft versehen, indem sich in halber Höhe der nächstgelegenen Hügel eine Höhle befindet, nicht sehr tief, in die man hineinfällt, wenn der Zufall es will (haben wir nicht schon was vom Schicksal gehört, von dem Bemalen der Flugzeuge, wo jeder sich denken kann, was er will), so daß der Mensch, der sich hier herumtreibt-wir wollen es doch gleich so sagen, wie wir es vor längerer Zeit, die Schulbank drückend, gehört haben: E quando l’uomo si parte di questa citta’, in einem Nebel, merde de merde-das vom Gestrüpp überwachsene und bestimmt nicht sehr große Mundloch übersieht (Gnädige Frau, Sie werden bestimmt sagen: der Idiot weiß wirklich nicht, was er hier verloren hat), folgerichtig dort hinunterpurzelt, weil er gerade träumt und sonst nichts weiter denkt, im Stollen weiter nach innen rutscht, von der Helle des Eingangs her nach unten, dorthin, wo am Ende des Stollens die Gänge anfangen, die sich tief in das Innere der Erde hineinziehen, weitverzweigt und ziemlich unübersichtlich, jedoch keineswegs von Menschenhand geschaffen, und diese Höhlen beherbergen auch keine Schätze, sind eigentlich von gar keinem allgemeinen Interesse, auch von einem besonderen nicht, so daß seit längerer Zeit schon kein Mensch mehr in diese Höhle hineingefallen ist, natürlich seit Jahrhunderten keiner von den Einheimischen, die schließlich ihre Pappenheimer kennen, ebenso gut wie die anderen gefährliche Plätze ihrer Umgebung, und ein Fremder ist auch schon lange nicht mehr hier gewesen, weil die Reisenden diesen Teil der Erde nicht schätzen, mir hingegen, als ich in der Nähe der Dardanellen mich aufhielt, blieb sozusagen nichts anderes übrig, als schnurstracks auf diesen Ort zuzumarschieren, von dem ich auch kaum eine, viel eher aber gar keine Ahnung hatte, um über ein Gesträuch zu stolpern und in die Höhle hineinzufallen, oder über einen Feldstein zu stolpern, was die Sache viel besser beschreibt, die auch nicht so riskant war, wie man zunächst meinen möchte, denn ich schlug mir beim Fallen zwar mehrmals den Kopf an dem Gestein des Stollens an (es handelte sich um einen weichen Stein, das kann ich beschwören, viel weicher als Tuff), wurde auch ohnmächtig, so daß mir alle Sinne schwanden, doch als ich wieder erwachte, es mich fröstelte und ich wieder nach oben kroch, dem Tageslicht entgegen, konnte ich feststellen, daß ich mit ein paar Schrammen davongekommen war, und als ich wieder an der Oberfläche der Erde angekommen war, zwischen Klatschmohn, Thymian und Ginster, wieder richtig festen Boden unter den Füßen hatte, konnte ich nicht umhin, die Feststellung zu machen, daß ich mich in der Eingangshalle des Hauptbahnhofs Maximilianstadt befand, welcher doch neulich erst schön und modern renoviert worden ist; hingegen ist der Bahnhof selber schon seit längerer Zeit vorhanden, wie auch Sie zugeben werden, gnädige Frau.

Nicht einmal der Oberstaatsanwalt vermag zu bezweifeln, daß dieser Bahnhof nun ins Spiel kommt, der, wie manch anderer, den Vorteil hat, daß man die Stadt nach allen Richtungen verlassen kann, nach Norden in die Ebenen, nach Süden über die Berge nach Italiam, aber auch nach West und Osten kann man gehen, wobei es am Tage einfacher ist als in der Nacht, einen Zug zu erwischen. Der junge Mann, mit dem wir es in Zukunft zu tun haben werden, hatte ganz andere Dinge im Kopf. Es war ihm eine Aufgabe gestellt worden, und diese mußte er erfüllen, nämlich heute, genau an diesem Tag. Dem Haupteingang des Bahnhofs gegenüber, Ostseite also, befindet sich eine der drei Haltestellen im unmittelbaren Bahnhofsbereich. Auf dieser befand sich der junge Mann, der von nun an Holubek heißen wird, neben einem großen Koffer; vor ihm: das wäre eine bessere Beschreibung. Der Koffer war sowohl groß als auch schwer. Von einer Haltestelle hinterm Siegesengel, im östlichen Teil der Stadt, und auf der anderen Seite des Flusses, etwas hinter dem Hochufer gelegen, bis hier her zu der Haltestelle am Hauptbahnhof hatte er sich mit dem Koffer abgeschleppt, gewiß unter Zuhilfenahme der Straßenbahn, aber das war halt nicht alles, denn der Weg vom ursprünglichen Standort des Koffers bis zur Haltestelle war ein Kreuzweg, wenngleich nicht sehr weit, doch war der Koffer dermaßen mit schweren Sachen vollgestopft, daß es Holubek nicht vermochte, mit ihm den kurzen Weg von der Haustür bis zur entsprechenden Straßenbahnhaltestelle zurückzulegen, und war schon nach wenigen Sekunden dermaßen geschwächt, daß er die Hilfe eines starken Mannes, der gerade des Weges kam, in Anspruch nehmen mußte. Der trug den Koffer dahin, als sei er federleicht, wartete zusammen mit Holubek auf das Ankommen der Straßenbahn, und hob dann, als diese angehalten hatte, den Koffer auf die hintere Plattform, als wäre er nichts weiter als ein größeres Knäuel von Wolle. Der starke Mann sagte dann Tschüss und ging seines Weges weiter.

Holubek hatte vorerst seine Ruhe. Die Tram ging direkt zum Bahnhof; er brauchte nicht umzusteigen. Für ein Weilchen konnte er sich wohl fühlen. Dummerweise bemerkte er das flabberige Gefühl in seinen Beinund Armmuskeln, und dazu sah er noch, wie die Fahrgäste mißbilligend ihn betrachteten, einige sogar den Kopf schüttelten. Und schließlich, als die Tram am Bahnhof angekommen war und Holubek wieder anfing, sich mit dem Koffer schrecklich abzumühen, indem er versuchte, denselben aus der Tram heraus auf den Boden der Haltestelle zu bringen, fingen die Fahrgäste sogar an, laut zu lachen, Rülpser von sich zu geben und sich auf die Schenkel zu schlagen; einige zeigten ihm den Vogel. Nun kann nicht verschwiegen werden, daß drei Wochen zuvor Holubek auf den Prachttreppen am Siegesengel eine himmlische Erscheinung gehabt hatte, auf diesen mehrfach geschachtelten Treppen, die in das Hochufer des Flusses eingelassen sind, in deren Mittelpunkt sich die Säule befindet, auf welcher die goldene Siegesfigur sich leichtfüßig niedergelassen hat, um lange Zeit ihren Blick auf die Stadt und die Welt zu werfen. Das war der rechte Ort für Holubek, um von einem überirdischen Licht geblendet zu werden, als er, von der inneren Stimme angetrieben, die jedem Menschen bekannt ist, sofern er seine Schulaufgaben gemacht hat, mit gehobenem Gemüt (ein Weißbier war auch im Spiel) zu einem entscheidenden Rendezvous unterwegs war. Wie immer, wenn er sich zu der fraglichen jungen Dame begab, nahm er den Weg über diese Treppen, wenngleich das ein Umweg war, sogar ein beträchtlicher, jedoch er hatte einen Gefallen an der seltsamen Treppenkonstruktion samt Säule gefunden und er nahm es gern, liebend gerne in Kauf, eine halbe Stunde länger zu Fuß zu gehen, als das für die Zurücklegung der Strecke selber notwendig war.

Himmlische Erscheinungen waren, bestimmt für Holubek, nichts Neues. Schon in seiner Kindheit, die ohne weiteres glücklich war, hatte er davon gehört. Später kamen Bilder dazu, welche auf Kirchenmauern und Leinwänden aufgemalt waren und seine Vorstellungskraft sehr heftig bewegten. Es gab sogar ganze Bücher, die enorm dick waren und nichts anderes enthielten als lauter Darstellungen von himmlischen Erscheinungen, jedoch ohne einen begleitenden Text, so daß Holubek gänzlich ohne Erläuterung blieb. Erschwerend kam hinzu, daß in den Wintermonaten eines jeden Jahres Prediger durch das Land zogen, feingekleidete Herren übrigens, die äußerst heftige und ebenso unverständliche Ansprachen hielten, im Freien und bei jedem Wetter, wirksam vor dem Portal der Basilika plaziert, auf einem bühnenartigen Podest, einer Art Laufsteg, auf dem sie heftig hin und her gehen konnten, in der Luft herumfuchteln und Grimassen schneiden, stets von einer großen Menge bejubelt, die sich öfters einmal aus Anhängern ganz verschiedener Religionen zusammensetzte, und ständig vor Begeisterung dampfte; aber dennoch, es verstand niemand ein einziges Wörtchen von dem, was die Wanderprediger bei Donnern, Brüllen und Drohen in die Menge hineinfließen ließen, und so nahm die Ratlosigkeit zu, je größer der Zulauf wurde. Es hätte allerdings niemand jemals zugegeben, daß er nichts und rein gar nichts von den Predigten verstand (tatsächlich handelte es sich um subtile, äußerst raffinierte theologische Abhandlungen, die nichts anderes als himmlische Erscheinungen zum Inhalt hatten, wobei die Wanderprediger mit einer vehementen Flut von Bildern arbeiteten, mit der man selbst die Figuren auf der Osterinsel hätte in Bewegung setzen können, oder ihnen zum allerwenigsten doch eine Gefühlsäußerung abringen), weshalb es bald dahin kam, daß diese heftigen Predigten ein Gegenstand des Schweigens wurden, der Mann nichts der Frau sagte, der Großvater nichts der Großmutter, die Geschwister sich nichts gegenseitig, eine Familie der andern kein Wort, kein Ort dem anderen, eine Stadt schon gar nichts der nächsten, doch Holubek (es wurde bereits darauf hingewiesen, daß seine Kindheit durchaus eine gewöhnliche zu nennen war), der hatte noch Glück in dem ganzen Schlamassel, denn er träumte, ob im Alter des Kindes, als Bube oder Jüngling, meistens mit offenem Augen, oder, wenn er auf dem Plumpsklo saß und die Fliegen im Sommer träge herumflogen, und er Kalender machte, so daß es nicht lange dauerte, bis die Leute in seiner Umgebung sagten, wenn es auch nur einen Menschen gebe, der Löcher in den Schweizer Käse bohren würde, dann könne das unfehlbar nur Holubek sein, denn zu anderem tauge er nicht (diese Leute hatten recht); und doch war es Holubek niemals gelungen, den Text der wilden Predigten, die von den fein gekleideten, heftig gestikulierenden Kirchenmännern in das Publikum geschleudert wurden, wenn Holubek, am Sonntag, hinter seinen Eltern dahertrabend, auf den Befehl derselben, in die Kirche ging, zu entziffern.

Allerdings, für sein späteres Leben, wenn man das unbedingt so sehen will, vorausgesetzt ebenfalls, er würde es gehabt haben (keine Panik, es kommt eins nach dem anderen), und dies Gegenstand von einem öffentlichen, notfalls auch privaten Interesse hätte sein können, wäre ipso facto anzumerken, daß Holubeks Umherwandern in Traumgespinsten einige Folgen hatte, die nicht zu den angenehmsten gerechnet werden können. Wegen der häufig vorkommenden Sonntage, die mit dem Kirchenbesuch verbunden waren, und dem Dabeisein seiner Eltern, hörte er immer wieder die Stadtpfarrer und Monsignores solche Predigten halten, die noch unverständlicher waren als die der Wanderprediger, was möglicherweise daher kam, daß nach der Aufsuchung der Kirche, beim sonntäglichen Mahl, die Predigten fortgesetzt wurden, da von der Mutter, dort vom Vater, auch wieder von den älteren Geschwistern (nicht nur am Sonntag: das konnte den ganzen Tag so gehen, auch die ganze Woche lang), und letztendlich Holubek daran hinderte, sich einen Begriff von der Logarithmentafel oder von dem tägliche Leben zu bilden, was nun wiederum, und ganz am Ende, dahin führte, daß er auch im Alter eines fortgeschrittenen Jünglings keine Ahnung von den himmlischen Erscheinungen hatte. Kurzum, für ihn existierte die Wirklichkeit überhaupt nicht. So wurde er älter und älter; und als er ein junger Mann geworden war, die Treppe beim Friedensengel hinaufstieg (er ging jetzt auf der nördlichen Seite die Treppe hoch, links, wenn man von der Stadt her über den Fluß blickt), wußte er nicht einmal, daß das leidenschaftliche, ja angeblich vom Herzklopfen (bei anderen Nationen ist es nur ein leichtes Flimmern) herkommende Gefühl, das ihn gerade im Griff hatte, ihn unweigerlich in eine himmlische Erscheinung hineintreiben mußte. Die aus hellem Stein gefertigte Mauer, welche die Treppe einfaßt und gegen das Hochufer des Flusses abschließt, wurde immer wieder mit Parolen beschmiert, und wenn genug geschmiert worden war, kam ein städtisches Reinigungskommando, um alles wieder abzuwaschen, oder wegzukratzen, oder auch wegzumeißeln, wenn die Übeltäter ein hartnäckiges Material verwendet hatten, um ihre Vokabeln in die Öffentlichkeit zu bringen. Ein Satz jedoch war niemals ausgelöscht worden, sei es, daß dieser Satz mit einem unauslöschlichen Farbstoff hingeschrieben war, oder aber, daß die Reinigungsmänner, vielleicht auch ihre Vorgesetzten (am Ende die Stadtregierung selber?), Gefallen an ihm gefunden hatten. Dieser Satz ging etwa so: Auf einem Hühnerbein entsteht kein Sonnenschein. Der Satz war in sehr großen Buchstaben an die Wand geschrieben. Im Innern derjenigen Buchstaben, bei denen es sich um geschlossene oder halbgeschlossene handelte, waren von flüchtiger Hand Kritzeleien ausgebracht worden, in einem A oder 0 z.B., ganz ungeordnet, doch wenn jemand des Wegs kam, der fähig war, die verschiedenen Fetzen zu einem fortlaufenden Text zusammenzusetzen, konnte er den Satz lesen: Ach, Rosmarie, Du liebst mich nie, wobei die Flüchtigkeit des Gekritzelten in der Umgebung des Buchstabens „s“ des Wortes Rosmarie zu Mißverständnissen führen konnte, denn es war durchaus nicht klar, ob die Kritzeler und die Schmierer den Text mit einem oder gar mit zwei „s“ geschrieben hatten.

Holubek kümmerten diese Feinheiten und Mißverständnisse wenig. Er wurde von der Leidenschaft des Herzens die Treppe hinauf und die Treppe wieder hinunter getrieben, wobei er den optischen Eindruck des Gekritzels innerhalb der Großbuchstaben wohl mit sich nahm, bestimmt aber nicht einmal ahnungsweiße auf den Gedanken gekommen wäre, die in die Großbuchstaben gestopfte Parole zu entziffern. Hätte jemand mit starker Hand den Satz eingemeißelt: Man geht nicht ungestraft unter Palmen, dann würde Holubek, wenn er die Stufen am Friedensengel hinaufging, wohl gelacht haben und am Ende auch ein spirituelles Vergnügen an der Formulierung des Satzes gefunden. Den anderen Satz, mit dem er irgendwo (das war ihm, natürlich, unbekannt) etwas zu tun hatte, den kapierte er in drei Teufels Namen nicht. Denn wenn Holubek die Treppen beim Siegesengel hinaufstieg, begab er sich zu dem charmanten Fräulein, das den Namen Martha (der fromme Leser muß sich erinnern, NT und so, Maria und Martha, lauter Weihnachtsgeschichten) trug, nicht einen anderen, wie Sie jetzt vielleicht, gnädige Frau, denken mögen; und Sie können noch so viel mahnen und drohen, wie Sie immer wollen, sie heißt Martha und nicht Mascha, denn der andere Namen würde dann zu einer anderen Geschichte gehören; und die hat hier nichts zu suchen. In diesem Zustand sich zum charmanten Fräulein (nicht: Frollein, wie ordinäre Menschen sagen) begebend, war Holubek kaum in der Lage, eine Kuh von einem Schraubenzieher zu unterscheiden, auch nicht und besonders nicht den Regenschirm von dem bekannten Operationstisch. Und was sollte er nun machen, wenn ihm jetzt, am hellichten Tag, mittags um drei Uhr (unmöglich, werden Sie nun wieder einwenden, gnädige Frau, das kann nicht sein, weil solche Dinge immer nur in der Abenddämmerung geschehen, nachts eher selten) eine himmlische oder auch göttliche Erscheinung begegnete. In dem Augenblick, da Holubek dabei war, in großer Erwartung die letzten Treppen hinaufzueilen, um den Platz oben zu erreichen, der gegen das abschüssige Hochufer mit einer Balustrade versehen war, damit man sich gegen dieselbige lehne, um einen weiten Blick über die Stadt zu werfen, sah er doch tatsächlich, er irgendwie selber, dieser Holubek, dieses Träumchen (gegen diese Formulierung, Madame, werden Sie gewiß keine Einwendungen haben; und wenn doch, na, dann wird Ihnen der Skalp genommen), um den vergoldeten Engel herum sich ausbreitend eine rosarote Wolke, die in hellblaue, teils gezackte oder blattähnliche Fiorituren eingefaßt war; und in derselben schwebte höchstpersönlich die Heilige Jungfrau Maria von der Schmerzensquelle (Sta. Maria ad dolorum fontes), gleichermaßen im Aussehen Aurora, wie Rita und Franziska, ähnlich, so sehr, daß der Holubek für einen Augenblick zu sehen meinte, es sei Martha, die da schwebe. Aber nein, Martha wartete in ihrer Wohnung seinen Besuch ab. Von der Wolke ging ein enormer Glanz aus. Holubek, wenn ihn jemand gefragt haben würde, hätte mit Bestimmtheit darauf geschworen, daß sie auch dufte und große Wärme um sich verbreite. Jedoch, niemand fragte ihn, wie ihm zu Mute war, weil niemand die himmlische Erscheinung sah-außer ihm selber, natürlich, und auch das bemerkte er eigentlich nicht, indem er, wie selbstverständlich, der Überzeugung war, daß das, was ihm zuteil wurde, der Vorgang der Natur selber sei, also allgemein menschlich, und so sehr war er davon überzeugt, daß ihm gar nicht auffiel, daß all die anderen Leute, die ebenfalls die Treppe hinaufstiegen, weder eine Wolke sahen noch himmlische Erscheinungen hatten. Was waren das für gewöhnliche Menschen! Zum Heulen.

2.

Der nächste Absatz, gnädige Frau (ich weiß, daß Sie dem Erzähler berauscht zuhören, j’en suis sur), hat lediglich die Aufgabe, Sie darüber auf dem Laufenden zu halten, daß der Koffer, von welchem in der Nähe des Hauptbahnhofes schon einmal die Rede gewesen war, gleich wieder durch die Geschichte geistern wird, nämlich von der Gotzingerstraße-und warum nicht gleich von der Kaiser-Allee-her-bis zu besagtem Hauptbahnhof in Gottes allerschönster Stadt (wo sonst, frage ich Sie, sollten himmlische Erscheinungen denn stattfinden können!), in der man, wenn man sich nach der Decke streckte, schon einmal einen guten Posten bekommen konnte, und sollte der auch mit einem längeren Aufenthalt in Transkaukasien verbunden sein müssen, und ebenso muß ich Ihnen, gnädige Frau, noch mitteilen, daß Holubek weiter durch die Landschaft geistern wird, aber den haben Sie bestimmt schon längst wieder vergessen, oder übersehen unter der unendlichen Flut Ihres blonden-und gewiß auch nach Weizen und Aloe duftenden-schwer herabfallenden Haares, den netten kleinen Holubek, das Träumchen, wie ich wohl mit Ihrer Zustimmung sagen darf. Und wenn Ihnen auch das noch recht ist, kehren wir gleich zu ihm zurück, der sich gerade auf dem Gipfel des Paroxysmus befindet. Er weiß nicht, wie ihm geschieht (das wird noch lange so dauern, und Sie, gnädige Frau, wissen das besonders gut!), wirft einige weitausholende und sehnsüchtige Blicke über den Fluß, über Stadt und Land, sogar in den Horizont hinein, der über dem Ganzen lagert, um dann zu der Erkenntnis zu kommen, der Zeitpunkt sei nicht mehr weit entfernt, den verabredeten Besuch bei der jungen Dame zu beginnen, bei Martha (in Wirklichkeit, er hatte in einem stundenlangen Telephonat den Termin ihr abgerungen, mit heftigen Worten, mit leisem Flehen, auch durch allerhand Bettelei, und das war schon-weiß Gott!-der wievielte Versuch; jedenfalls, eine ganze Woche hatte das gedauert), und er war fest entschlossen, trotz dieser und jener Verwirrung in seinem Herzen, zu dem angegebenen Zeitpunkt bei ihr zu erscheinen. Nicht mehr weit hatte er zu gehen, an Villen vorbei, Holubek, am Hochufer des Flusses entlang, und flußabwärts, für den Fall, daß man seine Lage geographisch sehen möchte, eine Angelegenheit, für die Holubek selber wenig Interesse hatte, denn er war von Beruf ein Uhrmacher, was ganz einfach heißt, daß er die zeitlichen Verhältnisse unendlich mehr liebte als die geographischen. Und dann, ein zeitliches Verhältnis für Holubek besagte, wann er das nächste Rendezvous bei der jungen Frau haben werde, die den Namen Martha trug (mit Würde, wie sich denken läßt), wie lange er dafür brauchen mochte, sie zu einem Termin zu überreden, und wie lange die Freude andauern oder nachwirken würde, die aus dem Faktum entstand (oder entstehen konnte), daß ihm der gewünschte Zeitpunkt dann auch einmal genehmigt wurde.

Für diesmal allerdings, welches eben der Tag ist, an dem Holubek einer himmlischen Erscheinung begegnet war, hatte er ausgesorgt. Er war nur noch wenige Meter von dem Haus entfernt, in welchem Martha wohnte. Sie lebte in einem guten Viertel, und sie legte unablässig Wert darauf.

Problematisch für Martha war, daß nicht alle Welt davon wußte. Aber schließlich gab es Holubek. Der war für alles gut. Sie reizte Holubek dazu an, die Lage ihrer Wohnung zu bewundern, so daß dieser gezwungen war, zu sich zu sagen, siehe da, sie lebt vornehm, ganz vornehm, wenn auch zur Miete, was aber in diesem Fall keine Rolle spielt, in einem kleinen Zimmer innerhalb einer weitläufigen Wohnung, in der sie, mit der Erlaubnis des Wohnungsinhabers (der war von Adel, na bitte) das zweite und sehr viel kleinere Badezimmer, das früher von den Domestiken benutzt wurde, in Gebrauch nehmen durfte, mit der weiteren Erlaubnis, in ihrem Zimmer morgens ein Frühstück und abends in der Küche, wenn diese nicht mehr benutzt wurde, einen kleinen Imbiß zu bereiten. Trotz dieser Einschränkungen, die sie als unangemessen erachtete, hatte sie den Genuß, in einer angesehenen Wohnung und bei besseren Leuten zu wohnen, die gewiß nicht reich waren, aber doch diesen Adelstitel hatten, der zwar keine hundert Jahre alt war, aber das war Martha ganz gleichgültig, und es würde sie auch niemals interessiert haben, von dergleichen zu reden, für den Fall, daß sie jemand danach gefragt hätte, während Holubek der Name dieser Familie, als er zum erstenmal die Wohnung betrat, sogleich aufgefallen war, als Martha ihm verstattete, ihr Zimmer zu betreten, was erst nach langen Monaten ihrer Bekanntschaft erfolgte, nach einem ausgedehnten und zähen Ringen, während Martha es für selbstverständlich nahm, sich immer dann in Holubeks winziger Wohnung aufzuhalten, wenn sie es gerade wollte. In Marthas Zimmer-das können alle bestätigen, die sie früher oder später kennen gelernt haben!-befand sich ein ziemlich großes Ölgemälde, so groß immerhin, daß man sich darüber wundern mochte, wie es wohl, ganz praktisch gesehen, durch die Tür in diesen Raum gelangt war. Dieses Ölgemälde hatte nicht nur größere Dimensionen, es konnte auch jedermann sofort erkennen, daß auf der Leinwand ein Maharadscha dargestellt war, ein prächtiger Kerl mit einem Haufen von Edelsteinen. Das Erste, was Martha von sich erzählt hatte, aus ihrem Leben, wenige Tage nachdem sie auf Holubek gestoßen war, im Foyer des Kammertheaters, war die ziemlich wilde Geschichte, sie sei ein Jahr lang die Geliebte dieses Maharadschas gewesen, während ihres römischen Aufenthaltes, wie sie zu sagen pflegte, in dessen Verlauf sie auch im Hause einer Familie des Hochadels angestellt gewesen war, zu einer Zeit, als der Maharadscha ebenfalls in der Stadt weilte, und sich ab und an in dem erwähnten Haus zum Diner zeigte. Die Vorgänge zwischen Martha und dem Maharadscha waren hoch- und höchstverwickelt; und auch etwas undurchsichtig, jedoch von einer tiefen Leidenschaft durchzogen, was jedenfalls Holubek daraus entnehmen konnte, daß Martha von ihrer römischen Geschichte immer in einem recht leidenschaftliche Ton sprach–sie sprach eigentlich immer nur von dieser Geschichte-, aber auch mit sehr viel Würde, fast mit Hoheit, was beim Zuhörer rasch und konsequent zu der Schlußfolgerung führte, daß hier eine auserwählte Person eine besondere Mission zu erfüllen gehabt hatte, weshalb wohl Martha es auch aushalten konnte, daß ein grausames Schicksal, in seiner ganzen Gemeinheit und Geschmacklosigkeit, die Hauptfigur jener römischen Ereignisse von der Seite des orientalischen Prachtkerls hinweggerissen hatte. Immer dann, wenn Holubek diese Geschichte zu hören bekam (sehr oft, wie eben betont wurde, gnädige Frau, und Sie sollten das auch wissen-wie alles, was von Bedeutung ist), gab er seiner Physiognomie das Signal, ein verständnisvolles Lächeln hervorzubringen, was ihm ohne weitere Schwierigkeit gelang, und dann auch noch zur Folge hatte, daß Martha, bald leidenschaftlich, bald unter der vollständigsten Indignation, sich in eine Wut hineinsteigerte, weil ihre römische Heldentat, wie sie wiederholt sagte (ob Sie das glauben oder nicht, gnädige Frau, ganz ohne Ironie), nicht immer auf der Stelle geglaubt wurde, was sie maßlos ärgerte oder gar verletzte (der Unterschied war bei ihr fließend), sie aber doch nicht bewegen konnte, einen Schrei auszustoßen oder zu kreischen (Sie würden auch nicht schreien, gnädige Frau, das glaube ich ihnen gerne), nein, nein, sie gab vielmehr fast keinen Laut von sich und starrte schmerzbeladen auf den Boden, erbleichte, zog die Schultern ein, und hatte während der ganzen Zeit (sie konnte lange so verharren) den Mund nur ganz wenig geöffnet, so daß man meinen mochte, sie würde einen hauchdünnen, sozusagen kristallklaren Strahl von Jauche zwischen den Lippen hindurchströmen lassen, was jedoch bei einer netten jungen Frau, die vor einiger Zeit in Rom eine besondere Mission, ihr von den höheren Mächten so wie den lokalen Umständen aufgetragen, zu erfüllen gehabt hatte, im Grunde genommen nicht vorstellbar war, gar nicht möglich, und deshalb auch unter den Aspekten des wirklichen Lebens gar nicht ins Auge gefaßt werden konnte. Wenn solche Situationen durch Martha eingetreten waren, entschuldigte Holubek sich für sein ungebührliches Benehmen und machte sich anerbötig, Tee zu kochen und ein Marmeladebrot zu schmieren. Ein kirgisischer Ziegenhirte hätte sich das nicht gefallen lassen, aber was soll man machen, man auf den heimischen Feldern spielt. Da gibt es keine Götter, die ein Erbarmen hätten, und dem Mann auf der Wiese eine Nachricht schickten, mit Blitz und Donner.

3.

Sie fragen immer wieder, gnädige Frau, was hier mit Transkaukasien angestellt oder gar gemeint werden soll, und sind auch ganz ungeduldig, weil immer noch nichts von diesem schönen Land zu hören ist. Warten Sie ab, kann ich nur sagen, es wird bald noch dicker kommen, Sie werden bestimmt alles erfahren (übrigens, was regen Sie sich auf!-Sie wissen doch ohnehin immer alles, dann wissen Sie auch über das Land Transkaukasien Bescheid und können ein schönes Lied davon singen, wobei man sich wieder des Gemunkels erinnert, sie selber hätten sich lange Zeit dort aufgehalten und seien den Eingeborenen, Madame von Dunajur, in einer unauslöschlichen Erinnerung geblieben; entschuldigen Sie bitte, Madame, daß ich das in aller Öffentlichkeit erwähne!), und der geliebte Leser wird auch noch auf seine Kosten kommen, für den Fall, daß er von diesem exotischen Land noch nichts gehört haben sollte, nicht die geringste Ahnung davon hat, was nicht immer nur unbedingt sein Fehler sein muß, zu solchem aber wird, wenn er eines Tages beschließt, dorthin eine Reise ohne die geringsten Kenntnisse zu machen, weil es dann öfters vorkommt, daß er von Heckenschützen ungefragt abgeknallt wird, und dabei ist es doch so einfach, etwas über Transkaukasien in Erfahrung zu bringen, wie zum Exempel, daß es dort guten Wein, auffallend viele Trauerbäume gibt und Frauen, die leicht verschleiert in der Öffentlichkeit gehen, was niemand vergessen machen kann, daß wir es mit einer westasiatischen Provinz des Russischen Reiches zu tun haben, die von vielen Forschern, auch Amateuren, jedoch dem Abendland zugeschlagen wird, ganz entschieden sogar, was wiederum der Ahnung Vorschub leistet, unsere gnädige Frau könnte dort eine Rolle gespielt haben. Holubek hat mit der ganzen Sache wenig zu tun, eigentlich gar nichts, denn er ist bisher niemals in Transkaukasien gewesen und wird, aller Wahrscheinlichkeit nach, nie in seinem Leben dort einen Fuß auf die Erde setzen, denn dem Holubek, wie der geliebte Leser schon weiß, ist ein anderer Weg zugedacht worden. Der junge Mann, das Träumchen, wie wir ihn nennen, die Leser und ich, hat sich in den Kopf gesetzt, nachdem er die Treppen beim Siegesengel hinaufgestiegen ist, und, oben angekommen, eine weitere seltsame Erscheinung gehabt hatte, noch etwas weiter zu gehen; und dem Fräulein Martha seine Aufwartung zu machen, koste es, was es auch nur wolle. Über die Preise dachte er nach, über sein Leben nicht.

4.

In diesem Augenblick, eben, so wie wir ihn jetzt sehen können, ist dieser Holubek vor dem Haus angekommen, in welchem Martha bei der etwas vornehmeren Familie zur Miete wohnt (über die anderen Familien, die auch noch im diesem Hause wohnen, muß hier nichts weiter gesagt werden, auch nichts über die Familien, die in den unteren Etagen wohnen-Martha wohnte natürlich ganz oben), und es überkommt ihn das Gefühl, das ihm keineswegs unbekannt ist, ob er denn richtig handle oder wieder einmal auf dem Holzweg sei. Aber, aber sagt Holubek zu sich, was soll mir das. Heute wird nicht lange gefackelt. Immer war ich sehr zögerlich, wenn es um Entscheidungen ging. Jetzt passiert mir das nicht mehr. Ich drücke sofort auf den Klingelknopf, gehe die fünf Treppen hoch, so, wie sie gesagt hat; sie wird an der Wohnungstüre auf mich warten, und in nur weniger Zeit darauf werde ich Marthas Zimmer betreten. Holubek drückte den Klingelknopf nieder, der sich neben dem Namensschild jener vornehmeren Familie befand. Nur ungefähr eine Minute dauerte es, bis der elektrische Türöffnungsmechanismus betätigt wurde. Holubek machte daraufhin die Haustür auf, sie nach innen, in den Hauseingang hinein eindrückend, ließ sie danach wieder los und ging rasch die fünf Treppen hinauf. Oben stand die Wohnungstür schon offen. Vor der Tür zum Empfang war aber niemand zu sehen. Also dachte sich Holubek, werde ich auch so hineingehen; man wartet gewiß anderswo. Er betrat den Flur, der dunkel oder fast schon finster war, und dort stand das ältere adelige Fräulein der Familie von Sowieso, das auch hier wohnte.

„Mit dem Ausdruck des größten Bedauerns“, sagte sie, „muß ich Ihnen diesen Brief übergeben, Herr. Das Fräulein Martha hat mich in aller Freundlichkeit beauftragt.“

Nachdem sie das gesagt hatte, verschwand sie sogleich in ihrem Zimmer, das sie, wie Holubek aus den Erzählungen Martha es sehr wohl bekannt war, nur recht selten verließ. Der verdutzte Jüngling stand im fast dunklen Flur mit dem Brief in der Hand. Um diesen entziffern zu können, raffte er sich auf, sich in Marthas Zimmer zu begeben, um dort etwas Tageslicht finden zu können (Sie können sich vorstellen, gnädige Frau, wie schwer es Holubek gefallen ist, unaufgefordert ein Zimmer zu betreten, und dazu noch Marthas), und er stellte sich dabei so an, daß er mehrmals an die Tür klopfte, mit langen und höflichen Pausen. Die Inhaberin des Zimmers war, wie zu erwarten, nicht da. Es war Holubek schließlich gelungen, das Zimmer zu betreten. Nun öffnete er also den Briefumschlag, der zugeklebt war, nicht einfach mit der eingesteckten Lasche verschlossen, und jetzt war Holubek auf alles gefaßt. Der Brief hatte den folgenden Inhalt: „Mon cher ami (ansonsten gab sie sich immer sehr italienisch, wegen des besagten Aufenthaltes in Rom, der ihre Heldentat gewesen war, aber die Anrede “Caro amico mio” war nun einmal für den orientalischen Lümmel reserviert, der doch ganz bestimmt ein Schwimmbecken voller Gold und Edelstein besaß, und gelegentlich wohl doch immer noch ein Billet doux an Martha sandte, weil sie gelegentlich Holubek anherrschte, übermorgen am Vormittag kann ich dich leider nicht sehen), ich habe mir Urlaub genommen und bin nachhause gefahren, um mich etwas zu erholen. In meinem Zimmer steht noch ein Koffer mit Kleidern, die ich daheim brauche. Bring ihn bitte zum Bahnhof und gib ihn dort bei der Gepäckannahme als Expreßgut auf. Meine Adresse kennst Du ja. Ich will nicht ausschließen, daß wir uns wiedersehen, sobald ich in M. zurück bin. Ich schreibe Dir dann ein Kärtchen. Küßchen. M.“

Nachdem Holubek diesen Text gelesen hatte, stürzte er, rundum verwirrt und mit einem Gewitter im Kopf, eiligst aus Marthas Zimmer hinaus, und es gelang ihm, obgleich nahezu bewußtlos, die Treppen hinunter und aus dem Haus hinaus zu kommen, ohne sich die Knochen zu brechen.

Gehetzt, als würde er von Stheno und Euryale verfolgt, denen halt nicht so einfach mit dem Tod beizukommen war wie ihrer Schwester, rannte Holubek vor dem Haus und in den naheliegenden Straßen herum, um in seine Bude zurückzukehren, die auf der anderen Seite des Flusses lag, und sich im Hinterhaus eines vor Jahrzehnten errichteten Wohnblocks befand, um sich dort für drei Tage in seinem Bett zu verschließen, doch in dieser Hinsicht war nicht viel zu machen, denn er mußte ja, seiner Gewohnheit nach, den Weg über die oft erwähnte Treppe, am Siegesengel vorbei, nehmen, und als er sich wieder dem Denkmal näherte, das die Siege von Wörth, Brienne und Belfort feierte (Verdun schloß sich später an), merkte er sogleich, daß er schon wieder himmlische Erscheinungen hatte, die vielleicht jetzt auch von einigen Passanten wahrgenommen wurden, wenn diese für den Augenblick in ihrem Gang innehielten, im Grunde genommen aber allein für den Holubek bestimmt waren, der, eben noch auf der Flucht, beseligt eine Pause einlegte. Sie können sich wohl denken, gnädige Frau, daß die wiedergekehrte Erscheinung für unseren Helden eine Überraschung parat hatte. Sie schwebte diesmal nicht über der Säule mit dem Engel drauf, sondern über dem Fluß selbst, mal aufwärts und mal abwärts, dabei immer von einem milchig strahlenden Licht erfüllt, so daß Holubek sie keineswegs übersehen konnte, der jetzt sich wieder gegen die Balustrade lehnte, wie er es vor einiger Zeit hier schon einmal getan hatte. Die Erscheinung schwebte einige Minuten auf dem Fluß hin und her; dann kam sie, erst über dem Fluß aufsteigend, dann auf der Höhe des am Hochufer gelegen Denkmals, auf Holubek zu, und machte sich daran, auf die folgende Weise zu sprechen:

„Mein lieber Freund, du bist nicht sehr aufmerksam. Überlege einmal, ob du nicht vielleicht etwas vergessen hast.“

Holubek dachte angestrengt nach, jedoch, es wollte ihm nichts einfallen. Der Schreck über den Brief, und die eingeschlossene Möglichkeit, daß Martha nicht nachhause, was und wo immer das war, gefahren war, sondern ein Rendez-vous mit dem Maharadscha erzwingen wollte, hatte ihm vollständig die Sprache genommen. Die Wolke sprach weiter:

„Nun, mein Lieber, wie ist es. Fällt dir wirklich nichts ein?“

Holubek fiel auf der Stelle etwas ein. Er dachte an Apfelstrudel mit heißer Weincremesauce, sagte aber nichts davon. Es dauerte dann auch nicht mehr lange, bis die himmlische Erscheinung damit anfing, richtig zu donnern:

„Der Koffer, du Schuft, du hast ihn in dem bewußten Zimmer stehen lassen. Ich glaube, ich werde dir sehr böse sein, wenn du ihn nicht sofort dort herausholst, du undankbarer Kerl.“ (Donner & Blitz über dem Fluß, dessen Name in dieser Geschichte keine Rolle spielt.)

Zuerst stieg ein Lachen in Holubek auf. Wohl wäre es auch noch ganz an die Oberfläche gekommen, allein die Wolke, in welcher die göttliche Erscheinung untergebracht war, fing unvermittelt an zu zischen und mit dem Fuß zu stampfen (niemand sah etwas davon, nicht einmal Holubek, aber das Geräusch war deutlich zu vernehmen; wie macht sie das nur, dachte er sich), was dahin führte, daß dem Holubek das Herz in die Hosen fiel; und er sagte sich, aus diesem Schlamassel werde ich so leicht nicht mehr herauskommen. Also, er machte sich auf den Weg, gab sich auch Mühe, Lieder zu pfeifen und Melodien zu trällern, wie er auch generell so tat, als sei nichts geschehen (wer hätte ihm auch Vorwürfe machen können, da niemand die Wolke gesehen hatte, und kein Mensch gehört, was die Erscheinung ihm zugezischt hatte), und während er so vor sich hin ging, lenkte er unauffällig seine Schritte zu der Gegend hin, in der, an einer belebten Straßenkreuzung, wo Busse und Straßenbahnen fuhren, und ein Teil des Hauptverkehrs durchging, das Haus stand, in welchem Martha zur Miete wohnte. Die Wolke verzog sich unterdessen flußabwärts und löste sich in Luft auf. Sie wurde seitdem nicht mehr gesehen, auch von Holubek nicht, der in späterer Zeit sogar Experte für feurige Lufterscheinungen wurde (er wird es wohl am besten wissen, gnädige Frau, wenn Sie auch, wie sehr wohl bekannt ist, in diesem gewissen Punkt anderer Meinung sind. Sehen Sie es, wie immer Sie mögen! Es ist so, wie es ist.)

Dieser widerliche Koffer, dachte Holubek bei sich, jetzt muß ich ihn doch holen, sonst wird mir noch etwas ganz Schlimmes zustoßen, viel widerwärtiger als je zuvor. Er ging also wieder so weit den Weg zurück, (ein paar hundert Meter nur, was zählt schon die Geographie), bis er wieder an die erwähnte Straßenkreuzung kam, ging schnurstracks auf das betreffenden Haus, drückte bei der Haustür auf den bestimmten Klingelknopf, ging, nachdem die Haustür mittels Türöffner aufgemacht worden war, die fünf Treppen hoch, und es wurde ihm dort oben wiederum von dem ältlichen adeligen Fräulein die Wohnungstür geöffnet, worauf er von diesem Fräulein in das Zimmer Marthas gewiesen wurde. Holubek ging in das Zimmer hinein und setzte sich zunächst einmal auf einen der drei vorhandenen Stühle, um Luft zu holen; und ein wenig zu sich selbst zu kommen.

Dabei starrte er auf den verhaßten Koffer, der drohend mitten im Zimmer stand, so sehr, daß Holubek sich anschickte, daran zu glauben, der Koffer habe sich in der Zwischenzeit beträchtlich vergrößert, aber er schlug sich diesen Gedanken dann aus dem Kopf, in dem er, mit einer sehr lauten Stimme, wenngleich sich niemand im Zimmer befand, wie wir wohl wissen, außer ihm selbst, sagte, das könne nicht so sein, weil dergleichen in der Wirklichkeit nicht vorkomme, nie und nimmer, und bekanntlich macht die Wirklichkeit keine Ausnahme. Gut, sagte er zu sich, wir wollen das Problem durch eine rasche Entscheidung lösen. Er erhob sich von dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte, und ging leichten Fußes auf den Koffer zu und packte mit starker Hand den Griff des Koffers an.

5.

Gnädige Frau, Sie haben vollkommen recht. Holubek holte tatsächlich diesen Koffer aus Marthas Zimmer heraus und schleppte ihn zum Hauptbahnhof. Sie wissen, daß er soeben den Entschluß faßte, das häßliche Problem von der praktischen Seite her anzugehen. Kaum hat er den Griff des Koffers angefaßt, um das Miststück hochzuheben, gibt es ein Reißen in seiner Armmuskulatur, und der Koffer erweist sich als dermaßen schwer, daß er eigentlich nicht zu tragen ist, kaum einige Zentimeter angehoben werden kann, kurzum dem Holubek soviel Schwierigkeiten macht, daß der Koffer sogleich wieder auf den Boden plumpst, während Holubek auf den Hintern fällt, genauer gesagt: auf den Rücken, aus welcher Perspektive heraus sein Blick auf das über alle Dimensionen große Bild des verhaßten Moguls fällt, das jedenfalls sehr viel größer ausgefallen ist, als das für ein Porträt mittelmäßiger Leute