Schematherapie bei Patienten mit aggressivem Verhalten - Neele Reiss - E-Book

Schematherapie bei Patienten mit aggressivem Verhalten E-Book

Neele Reiss

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Beschreibung

Die Schematherapie ist eine innovative Weiterentwicklung der Verhaltenstherapie, die Teile verschiedener psychotherapeutischer Ansätze integriert. Das Buch beschreibt praxisorientiert die schematherapeutische Arbeit mit Patienten mit aggressiven Verhaltensmustern, wie sie in forensischen und psychiatrischen Kliniken, aber auch in der ambulanten Psychotherapie oder in Beratungsstellen, insbesondere mit dem Schwerpunkt Suchtberatung, anzutreffen sind. Nach einem Überblick über aktuelle Erkenntnisse zum aggressiven Verhalten zeigt eine Einführung in die Grundlagen der Schematherapie anhand von Beispielen, welche Modusklassen, einschließlich forensisch relevanter Modi, es gibt. Ausführlich wird dann auf die schematherapeutische Fallkonzeptualisierung bei Menschen mit aggressivem Verhalten eingegangen und es wird die schematherapeutische Beziehungsgestaltung nach den Grundsätzen der begrenzten elterlichen Fürsorge dargestellt. Für die spezielle Patientengruppe werden modusspezifische Interventionen, wie z. B. imaginatives Überschreiben, empathische Konfrontation von Bewältigungsmodi und Stuhl-Techniken, beschrieben. Zahlreiche Fallbeispiele aus dem ambulanten, stationär-psychiatrischen, forensischen Kontext und dem Maßregelvollzug veranschaulichen das therapeutische Vorgehen. Auf der beiliegenden CD-ROM werden zudem für die klinische Arbeit hilfreiche Arbeitsmaterialien zur Verfügung gestellt. Ein abschließendes Kapitel geht auf die Notwendigkeit und die Besonderheiten schematherapeutischer Supervision im Umgang mit aggressiven Modi ein.

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Neele Reiss

Friederike Vogel

Claudia Knörnschild

Schematherapie bei Patienten mit aggressivem Verhalten

Ein Therapieleitfaden

Dr. Neele Reiss, geb. 1979. 1999–2005 Studium der Psychologie in Marburg und Pennsylvania/USA. 2006–2007 klinische Tätigkeit an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Mainz. 2007–2010 klinische Tätigkeit als Psychologische Psychotherapeutin in Ausbildung an der Verhaltenstherapie-Ambulanz der Goethe-Universität Frankfurt/Main sowie 2008–2012 klinische und wissenschaftliche Tätigkeit an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Mainz. Seit 2009 Zertifizierte Schematherapeutin und Supervisorin für Schematherapie durch die Internationale Schematherapie Gesellschaft (ISST) e.V. 2010 Approbation zur Psychologischen Psychotherapeutin. 2012 Promotion. Seit 2011 ambulante Tätigkeit als Psychologische Psychotherapeutin in eigener Privatpraxis und wissenschaftliche Leitung des Instituts für Psychotherapie in Mainz (ipsti-mz) sowie seit 2012 wissenschaftliche Tätigkeit an der Abteilung für Differentielle Psychologie und Psychologische Diagnostik der Goethe-Universität Frankfurt.

Dr. med. Friederike Vogel, geb. 1975. Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. 1995–2001 Studium der Humanmedizin in Würzburg, Louisville/USA und Luzern, Schweiz. 2002–2004 klinische und wissenschaftliche Arbeit als Assistenzärztin der Neurologischen Kliniken Marburg und Düsseldorf. 2005–2011 klinische und wissenschaftliche Arbeit als Assistenzärztin der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätskliniken Düsseldorf und Mainz. 2008–2009 Ausbildung zur Schematherapeutin. 2009 Zertifizierung zur Schematherapeutin durch die Internationale Schematherapie Gesellschaft (ISST) e.V. 2011 Schematherapeutische Supervisorin und Trainerin nach den Richtlinien der Internationalen Schematherapie Gesellschaft (ISST) e.V. Seit 2011 ambulante Tätigkeit als ärztliche Psychotherapeutin in eigener Privatpraxis und seit 2013 Oberärztin an den Psychiatrischen Kliniken Vitos Rheingau, Eltville, sowie Leitung des Instituts für Psychotherapie in Mainz (ipsti-mz).

Dipl.-Psych. Claudia Knörnschild, geb. 1969. 1993–2000 Studium der Psychologie mit rechtspsychologischem Schwerpunkt in Bamberg, Manchester (GB) und Leiden (NL). Anschließend 15 Jahre therapeutische Tätigkeit im forensischen Setting (Maßregelvollzug, Justizvollzug, ambulante Straftätertherapie). 2006–2010 schematherapeutische Ausbildung (hauptsächlich in Holland bei David P. Bernstein). Seit 2011 schematherapeutische Trainerin und Supervisorin (ISST). 2012 Approbation zur Psychologischen Psychotherapeutin (VT). Seit 2013 Forensische Sachverständige für Strafrecht/Strafvollzugsrecht (LPPKJP). Seit 2014 Tätigkeit in eigener Praxis in Marburg und Kirchheim.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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E-Mail: [email protected]

Internet: www.hogrefe.de

Satz: ARThür Grafik-Design & Kunst, Weimar

Format: EPUB

1. Auflage 2016

© 2016 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2622-8; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2622-9)

ISBN 978-3-8017-2622-5

http://doi.org/10.1026/02622-000

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Anmerkung:

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Inhaltsverzeichnis

Geleitwort

Vorwort

Kapitel 1 Aggressives Verhalten

1.1 Begriffsklärungen

1.2 Psychologische Annahmen und Erkenntnisse zur Entstehung, Aufrechterhaltung und Auslösung von aggressivem Verhalten

1.3 Psychische Störungen mit aggressivem Verhalten

1.4 Therapeutische Ansätze im Umgang mit aggressivem Verhalten

Kapitel 2 Einführung in die Schematherapie

2.1 Hintergrund

2.2 Die Kernbedürfnisse nach J. Young

2.3 Die Schemata

2.3.1 Die Definition eines maladaptiven Schemas

2.3.2 Die Definition der einzelnen Schemata

2.4 Das Modus-Modell

2.4.1 Die Modi

2.5 Zuordnung von Aggressivität zu bestimmten Modi

2.6 Die Interventionsebenen in der Schematherapie

2.7 Der Verlauf einer Schematherapie

2.8 Anwendung der Schematherapie in verschiedenen Settings

2.8.1 Die Schematherapie im Einzelsetting

2.8.2 Schematherapie in der Gruppe

2.8.3 Schematherapie in intensiven Therapiesettings

Kapitel 3 Schematherapeutische Fallkonzeptualisierung bei Menschen mit aggressivem Verhalten

3.1 Schemamodi und Schemadynamiken bei aggressivem Verhalten

3.2 Störungsspezifische Modus-Modelle

3.3 Einflüsse angelegter (biologisch fundierter) Störungen auf die Fallkonzeption

3.4 Erarbeitung eines konsensuellen Modus-Modells mit dem Patienten

3.4.1 Modussprache

3.4.2 Modusmodell

3.4.3 Stuhltechnik und Modusblatt

3.4.4 Verhaltensanalysen

3.4.5 Psychoedukation

3.4.6 Beispiel eines Modus-Modells – Herr A.

3.5 Ableitung des Behandlungsplans

3.6 Modusspezifische Interventionen

Kapitel 4 „Limited reparenting“ bei aggressiven Patienten

4.1 Die Gestaltung der therapeutischen Beziehung in der Schematherapie

4.2 „Limited reparenting“ für kindliche Modi

4.2.1 Vulnerabler Kindmodus

4.2.2 Ärgerlicher, impulsiver und undisziplinierter Kindmodus

4.3 „Limited reparenting“ bei dysfunktionalen Elternmodi

4.4 „Limited reparenting“ für Bewältigungsmodi

4.5 Checkliste „limited reparenting“

Kapitel 5 Interventionen zum gesunden Erwachsenenmodus

5.1 Beschreibung des Modus

5.2 Kognitive Interventionen

5.3 Behaviorale Interventionen

5.4 Emotionsfokussierte oder erlebensbasierte Interventionen

Kapitel 6 Interventionen zur Überwindung maladaptiver Bewältigungsmodi

6.1 Beschreibungen der Modi und Grundsätze des Umgangs mit maladaptiven Bewältigungsmodi

6.2 Kognitive Interventionen

6.3 Behaviorale Interventionen

6.4 Emotionsfokussierte oder erlebensbasierte Interventionen

6.4.1 Stuhltechniken

6.4.2 Empathische Konfrontation und „limit setting“

Kapitel 7 Interventionen zu Kindmodi

7.1 Der Modus des vulnerablen Kindes

7.1.1 Beschreibungen der Modi und Grundsätze des Umgangs mit dem vulnerablen Kindmodus

7.1.2 Kognitive Interventionen im Umgang mit dem vulnerablen Kindmodus

7.1.3 Behaviorale Interventionen im Umgang mit dem vulnerablen Kindmodus

7.1.4 Emotionsfokussierte oder erlebensbasierte Interventionen im Umgang mit dem vulnerablen Kindmodus

7.2 Der Modus des ärgerlichen/wütenden Kindes

7.2.1 Beschreibungen der Modi und Grundsätze des Umgangs mit dem ärgerlichen/wütenden Kindmodus

7.2.2 Kognitive Interventionen im Umgang mit dem ärgerlichen/wütenden Kindmodus

7.2.3 Behaviorale Interventionen im Umgang mit dem ärgerlichen/wütenden Kindmodus

7.2.4 Emotionsfokussierte oder erlebensbasierte Interventionen im Umgang mit dem ärgerlichen/wütenden Kindmodus

7.3 Der Modus des impulsiven und des undisziplinierten Kindes

7.3.1 Beschreibungen der Modi und Grundsätze des Umgangs mit dem impulsiven und undisziplinierten Kindmodus

7.3.2 Kognitive Interventionen im Umgang mit dem impulsiven und undisziplinierten Kindmodus

7.3.3 Behaviorale Interventionen im Umgang mit dem impulsiven und undisziplinierten Kindmodus

7.3.4 Emotionsfokussierte oder erlebensbasierte Interventionen im Umgang mit dem impulsiven und undisziplinierten Kindmodus

Kapitel 8 Interventionen zu dysfunktionalen Elternmodi

8.1 Beschreibungen der Modi und Grundsätze des Umgangs mit dysfunktionalen Elternmodi

8.2 Kognitive Interventionen

8.3 Behaviorale Interventionen

8.4 Emotionsfokussierte oder erlebensbasierte Interventionen

8.4.1 Imaginatives Überschreiben

8.4.2 Stuhltechniken

Kapitel 9 Interventionen zum glücklichen Kindmodus

9.1 Beschreibung des Modus

9.2 Kognitive Interventionen

9.3 Behaviorale Interventionen

9.4 Emotionsfokussierte oder erlebensbasierte Interventionen

Kapitel 10 Falldarstellung – Herr D.

10.1 Vorgeschichte und Behandlungsanlass

10.2 Auftreten und soziale Interaktion

10.3 Therapeutischer Erstkontakt und Symptomatik

10.4 Biografie

10.5 Verlauf der Therapie

Problemerarbeitung und Einordnung in das individuelle Modus-Modell

Vor Sitzung 43 – Der Modus des schikanierenden Angreifers wird aktiviert

Sitzung 44 bis 87 – Trösten und Zuwendung für den vulnerablen Kindmodus und Umgang mit dem ärgerlichen/wütenden Kindmodus

Sitzung 87 bis 163 – Stärkung des gesunden Herr D. (= Modus des gesunden Erwachsenen)

Herrn D.s Modus-Modell im Einzelnen

Kapitel 11 Supervisionsanliegen und Selbsterfahrungsaspekte im Umgang mit aggressiven Modi in der Schematherapie

11.1 Rahmenbedingungen

11.2 Supervisor und Selbsterfahrungsleiter

11.3 Supervisand

11.4 Supervision innerhalb stationärer Einrichtungen

11.5 Fallbeispiele aus der Supervision mit Selbsterfahrungsanteilen

Supervision mit Lisa L. – Unterordnung als maladaptives Therapeutenverhalten

Supervision mit Simon S. – Überkompensation als maladaptives Therapeutenmuster

Literatur

Anhang

CD-ROM-Materialien

|9|Geleitwort

Aggressives Verhalten ist eines der schwerwiegendsten Probleme unserer Gesellschaft. Und dennoch erhalten wir, als Kliniker, nur wenig Training im Umgang mit diesem Verhalten. Im günstigsten Fall haben wir einige Ärger-Management-Techniken oder andere kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen gelernt, die wir unseren Patienten beibringen können. Diese Techniken können einigen Patienten helfen, indem sie ihnen ein Werkzeug zur Bewältigung ihres aggressiven Verhaltens an die Hand geben. Teilweise sind diese Techniken allerdings bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen nur begrenzt wirksam.

Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung weisen häufig komplexe Schwierigkeiten auf, die üblicherweise über den Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie hinausgehen. Viele haben gestörte Beziehungserfahrungen in ihrer Kindheit und Jugend gemacht, die ihnen die Basis raubten, die wir brauchen, um uns in der Welt sicher zu fühlen. Viele erfuhren oder beobachteten Gewalt, wie zum Beispiel Kindesmissbrauch oder häusliche Gewalt. Sie sind häufig in einem sozialen Umfeld aufgewachsen, in dem psychische Störungen, Sucht oder Armut dauerhaft ihre Erfahrungen geprägt haben. Ihre Versuche mit diesen extremen Bedingungen umzugehen enthielten häufig Aggressivität als eine Überlebensstrategie. In einigen dieser Individuen haben grundlegende biologische Temperamentsfaktoren wie Impulsivität, affektive Labilität und Gefühlskälte diese ineffektiven Bewältigungsstrategien befeuert. Mit dem Heranwachsen kristallisierten sich diese maladaptiven Bewältigungsstrategien gemeinsam mit kognitiven Schemata, die Verlassenheitsängste, Misstrauensgefühle, Deprivation, soziale Isolation und Unzulänglichkeit enthalten, in sich wiederholende, selbstzerstörerische Muster, die den Kern der Persönlichkeitsstörungen repräsentieren. Zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Patienten schließlich in psychotherapeutische Behandlung kommen, sind sie oft misstrauisch, emotional verschlossen oder feindselig und neigen zu plötzlichen Ärgerausbrüchen oder offener Aggression.

Ist es daher verwunderlich, dass standardisierte kognitive Interventionen nur begrenzte Wirksamkeit bei diesen Patienten zeigen? Was gebraucht wird sind Behandlungsansätze, die über die Restrukturierung von Kognitionen hinausgehen und die den Kern der Probleme dieser Patienten treffen. Schematherapie ist ein solcher Ansatz. Sie kombiniert die Fokussierung auf Bindung und andere emotionale und entwicklungspsychologische Kernbedürfnisse („limited reparenting“) mit einer breiten Auswahl an kognitiven, behavioralen und emotionsfokussierten Techniken, um die Kernprobleme dieser Patienten zu verbessern. Im Laufe der Entwicklung der Schematherapie hat sich ihr Schwerpunkt verändert, so dass sie nun mehr auf extreme, maladaptive emotionale Zustände, die sogenannten „Schemamodi“, fokussiert. Wenn Schemamodi getriggert werden, entsteht ein Cluster an maladaptiven Kognitionen, ineffektiven Bewältigungsversuchen und intensiven emotionalen Reaktionen, das das Funktionieren einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt dominiert: Ein „vulnerabler Kindmodus“ beinhaltet intensive Gefühle von Depression, Angst, Scham oder Schuld; ein „ärgerlicher Kindmodus“ Reaktionen von Ärger oder Wut; im Modus des „schikanierenden Angreifers“ werden Drohungen oder Aggression dazu genutzt, den Spieß gegen eine andere Person umzudrehen, indem der andere sich nun verteidigen muss und so weiter. Diese und andere Modi sind die Wurzel der Probleme von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen und Aggressionen. Sie sind die hauptsächlichen Behandlungsziele in der Schematherapie und sie geben dem Therapeuten die Möglichkeit, das problematische Verhalten des Patienten in der „Realzeit“ zu verstehen und durch gezielte Interventionen zu modifizieren.

Schematherapie hat sich in randomisierten, kontrollierten Studien für Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung und Cluster C-Persönlichkeitsstörungen (d. h. Vermeidende, Abhängige und Zwanghafte Persönlichkeitsstörungen) als wirksam erwiesen, was Schematherapie zu einem der führenden Therapieansätze für Patienten mit Persönlichkeitsstörungen macht. Im Jahr 2005 haben meine Kollegen und ich begonnen die Schematherapie für die Behandlung von aggressivem Verhalten bei Straftätern mit Persönlichkeitsstörungen in forensischen Kliniken, sogenannten „TBS-Kliniken“ in den Niederlanden, anzupassen. Im Jahr 2007 begannen wir eine nationale, multizentrische klinische Studie mit sieben dieser Kli|10|niken in den Niederlanden, in der wir Schematherapie mit den üblicherweise durchgeführten forensischen Behandlungen verglichen. Die Pilotergebnisse dieser Studie sind sehr vielversprechend. Schematherapie scheint das Risiko von Aggression in dieser Patientengruppe zu reduzieren, was zu einer schnelleren Reintegration in die Gesellschaft führt und gleichzeitig kosteneffektiv ist, da die Behandlungstage in der forensischen Klinik reduziert werden. Obgleich die abschließenden Ergebnisse dieser Studie erst später in diesem Jahr feststehen werden, waren die ersten Ergebnisse doch so beeindruckend, dass Schematherapie in den Niederlanden offiziell als eine evidenzbasierte Behandlung für forensische Patienten anerkannt wurde – und dies ist das erste Mal, dass irgendeine forensische Behandlung für Persönlichkeitsstörungen in den Niederlanden, oder meines Wissens nach auch in irgendeinem anderen Land, als solche anerkannt wurde.

Dieses ausgezeichnete Buch von Neele Reiss, Friederike Vogel und Claudia Knörnschild beinhaltet Elemente des Ansatzes, den meine Kollegen und ich entwickelt haben, einhergehend mit Jeffrey Youngs bahnbrechender Arbeit in der Schematherapie und ihren eigenen umfangreichen Erfahrungen in der Arbeit mit aggressiven Patienten. Ihr Buch ist sehr systematisch und detailreich, es gibt sowohl Einblicke in theoretische Hintergründe als auch einen praktischen Rahmen, um Schematherapie mit aggressiven Patienten in verschiedenen Settings durchzuführen. Da aggressives Verhalten in fast jedem Setting auftreten kann – nicht nur bei forensischen Patienten, sondern auch in der allgemeinen klinischen Praxis –, bieten sie zahlreiche Tipps und Beispiele aus ihren eigenen Erfahrungen im Umgang mit Aggressivität im ambulanten und stationären Setting. Das Ergebnis ist ein Buch, das sicherlich von praktischem Nutzen für jeden Kliniker ist, der nach einem evidenzbasierten, systematischen Ansatz sucht, welcher darauf abzielt aggressives Verhalten bei dieser herausfordernden Patientengruppe zu reduzieren.

Maastricht, im Sommer 2015

Prof. Dr. David P. Bernstein

|11|Vorwort

Die Tücke des Objekts sitzt im Detail – diese Erfahrung mussten wir auch beim Schreiben dieses Buches machen. Das lag nicht an unseren möglicherweise divergierenden Auffassungen davon, wie Schematherapie bei Patienten mit aggressiven Verhaltensmustern angewendet werden sollte. Vielmehr zeigte es sich immer dort, wo „Settingvariablen“ Einfluss auf Psychotherapie nehmen. Unser Ziel war es, im Rahmen dieses Buches alle Therapeuten, die mit Menschen mit aggressiven Verhaltensmustern arbeiten, anzusprechen, also Therapeuten aus dem ambulant und stationär psychotherapeutischen Setting, dem forensischen Maßregelvollzug ebenso wie dem Gefängnisbereich (Regelvollzug, SothA) sowie der ambulanten Straftätertherapie. Es begann schon bei der Benennung der zu Therapierenden: Im allgemeinen Psychotherapie-Setting und in forensischen Kliniken werden sie als „Patienten“ bezeichnet; im Gefängnis als „Gefangene“ und explizit nicht als „Patienten“; und in der ambulanten Straftätertherapie ist der Patienten-Begriff auch nicht geläufig. Nach längerer Diskussion haben wir uns für die durchgängige Verwendung des Begriffs „Patient“ entschieden und nötigen damit einem Teil der Leserschaft eine Anpassungsleistung ab. Der leichteren Lesbarkeit halber verwenden wir zudem die männliche Form, obwohl selbstverständlich Patientinnen und Patienten gemeint sind. Dann begegnete uns das Phänomen beispielsweise in der Frage, inwieweit Patienten im vulnerablen Kindmodus geduzt werden müssen? Die Autorinnen, die eher im extramuralen Setting arbeiten, hatten damit keine Probleme; die, die „hinter den Mauern“ therapeutisch sozialisiert wurden, wissen, wie schwer diese Vorstellung in forensischen Einrichtungen fällt. In solchen Fällen haben wir uns entschieden, in Beschreibungen und Fallbeispielen verschiedene Möglichkeiten des Umgangs damit zu demonstrieren.

Das erste Kapitel, in dem es um einen Überblick über aggressives Verhalten geht, nötigte uns viel Begrenzung ab. Mühelos ließe sich ein ganzes Buch zu diesem Thema füllen. Mit Blick auf unser Ziel, ein praxisorientiert ausgerichtetes Buch über Schematherapie bei aggressivem Verhalten zu schreiben, entschieden wir uns für eine stark reduzierte Auswahl aus der breit aufgestellten Fachliteratur. Dabei war unser Bemühen einerseits darauf gerichtet, Informationen zur Verfügung zu stellen, wie sie im Rahmen von Psychoedukationsmaßnahmen nötig sind. Darüber hinaus soll es vor allem dem forensisch unerfahrenen Leser grundlegenden Einblick in forensisch-psychologisches Fachwissen geben.

Kapitel 2 bis 9 beschäftigen sich mit der Schematherapie als Verfahren, der Erstellung von Fallkonzeptualisierungen bei Menschen mit aggressivem Verhalten und den Interventionen zu den einzelnen Schemamodi. In Kapitel 10 wird exemplarisch ein Behandlungsfall im Verlauf dargestellt, sodass der Leser einen Einblick in den Ablauf der verschiedenen Therapiephasen und dazugehöriger Interventionen gewinnen kann.

Abschließend gehen wir in Kapitel 11 auf Supervisions- und Selbsterfahrungsaspekte im Rahmen schematherapeutischer Behandlungen von Patienten mit aggressiven Verhaltensmustern ein. Zur Sicherstellung von Adhärenz und Kompetenz in einem komplexen Psychotherapieverfahren wie der Schematherapie mit Patienten mit schwierigen Interaktionsmustern erschienen uns diese Aspekte von besonderer Bedeutung und wir würden uns eine angemessene Unterstützung von Therapeuten wünschen, die in diesem Feld erste Umsetzungsversuche beginnen.

Wir haben uns bemüht, zu vielen Interventionen Arbeitsblätter oder Checklisten im Buch darzustellen, um unseren Lesern die Umsetzung der beschriebenen Techniken zu erleichtern.

Wir danken Frau Susanne Weidinger vom Hogrefe Verlag für Ihre kompetente Begleitung bei der Realisierung dieses Buchprojekts und vor allem für Ihre Geduld mit uns und Ihr Verständnis für unsere vielfältigen anderen zeitlichen Verpflichtungen, die jedoch hoffentlich alle zur Bereicherung dieses Buches beigetragen haben.

|12|Schließlich sind wir – auch dieses Mal – zahlreichen Personen zu Dank verpflichtet: unseren Patienten, die uns immer wieder die Möglichkeit geben, mit ihnen Schematherapie zu erleben. Unseren zahlreichen Workshopteilnehmern, Supervisanden und schematherapeutisch arbeitenden Kolleginnen und Kollegen, die durch ihre hilfreichen Fragen und Anregungen maßgeblich unsere Arbeit an diesem Buch unterstützt haben. Allen unseren Helfern bei den zahlreichen Literaturrecherchen und insbesondere Dr. Petra Bauer für ihre Revision des ersten Kapitels: Ganz herzlichen Dank Ihnen und euch allen.

Last but not least – unsere Arbeit ist nicht alles. Sie ist ein Teil unseres Lebens. Wir danken euch, unseren Partnern und Familien, dass ihr uns in diesem Teil unterstützt und uns während der Entstehung dieses Buches immer wieder den Rücken freigehalten habt. Und wir freuen uns sehr darauf, jetzt wieder mehr freie Zeit mit euch zu haben …

Mainz & Marburg, im September 2015

Neele Reiss, Friederike Vogel und Claudia Knörnschild

|13|Kapitel 1Aggressives Verhalten

1.1 Begriffsklärungen

Nolting (2009) unterscheidet einen „sehr weiten Aggressionsbegriff“ von einem engeren Verständnis. Unter dem sehr weiten Aggressionsbegriff sieht er von verschiedenen Autoren alle möglichen Formen des „In-Angriff-Nehmens“ und des offensiven Handelns sowie die entsprechende Energie dafür subsumiert: selbstbewusstes Auftreten, Wetteifern, ehrgeiziges Arbeiten, zupackendes Helfen usw. Bach und Goldberg (1997) verstehen in diesem Sinn Aggression als eine „Kunst der Selbstbehauptung“. Nolting weist darauf hin, dass ein solch weites, unspezifisches Aggressionsverständnis unbrauchbar und überflüssig sei, denn damit sei nichts anderes als „Aktivität“ gemeint – Tatkraft und Destruktivität würden damit „in einen Topf geworfen“. Unter therapeutischen Gesichtspunkten können diese Verbindungslinien hin zu funktionalen Verhaltensweisen jedoch im Rückgriff auf Linehans (1993) Metapher „Aus Zitronen Limonade machen!“ hilfreiche Hinweisgeber sein. Insgesamt deutet sich allerdings hier bereits an, was Selg, Mees und Berg (1997) zusammenfassend dahingehend beschreiben, dass verschiedene Wissenschaftler etwas „… recht Verschiedenes unter Aggression“ (S. 2) verstehen.

Kleiter (2002) beschreibt Aggression als das aktuelle Verhalten, „das in absichtlicher und selbstverantwortlicher Weise reflektiert oder nicht reflektiert auf die Schädigung/Verletzung einer anderen Person, des Selbst (Selbstaggression) oder die Zerstörung einer Sache/eines Gegenstandes (Vandalismus) zielt“ (S. 3). Hier finden sich die schon 1982 von Linneweber, Mummendey, Bornewasser und Löschper postulierten Hauptkomponenten von Aggression wieder: (1) Intention zur Schädigung, (2) eingetretener Schaden, (3) normative (Un-)Angemessenheit des Verhaltens. Während Aggression – wie in Kleiters Definition – oft als Komponente eines aktuellen Zustandes gesehen wird, wird Aggressivität typischerweise als zeitstabiles Persönlichkeitsmerkmal aufgefasst. Anderson und Bushman (2002) definieren Gewalt als die Form von aggressivem Verhalten, die extreme Schädigung (z. B. schwere Verletzung oder Tod) zum Ziel hat. Die Form der Schädigung im Rahmen aggressiven Verhaltens kann unterschiedlich und vielfältig sein: physisch, verbal, gestisch und relational (letztere besteht in der Manipulation sozialer Beziehungen oder der Schädigung des Sozialstatus, z. B. jemanden „schneiden“ und verleumden).

Bereits 1964 unterteilte Feshbach Aggression in drei Kategorien: expressive, feindselige und instrumentelle Aggression. Diese Kategorisierung findet sich bis heute in der Perspektive auf Gewalttäter. Beispielsweise differenzieren Roth et al. (2006) drei Typen: instrumentelle (30 %), impulsiv-reaktive (60 %) und proaktiv-psychopathische Gewalttäter (10 %). Die beiden ersten Kategorien werden im Folgenden kurz detaillierter dargestellt. Auf das Konstrukt der Psychopathie werden wir im weiteren Verlauf des Kapitels noch genauer eingehen:

Instrumentelle Gewalttäter: Solche Täter haben durch Verstärkungslernen, Erziehung oder Imitation gelernt, dass es vorteilhaft ist, sich für die Verwirklichung eigener Ziele oder aus sozialen Gründen (Gruppendruck) rücksichtslos und aggressiv zu verhalten und Konflikte aggressiv-gewalttätig zu lösen; sie sind schwierig zu behandeln, weil ihnen Unrechtsbewusstsein fehlt; langanhaltendes Anti-Gewalttraining ist nötig.

Impulsiv-reaktive Gewalttäter: Solche Täter reagieren unangemessen mit körperlicher Gewalt auf vermeintliche Bedrohungssituationen, zeigen oft eine oberflächliche Reue („Das wollte ich nicht!“), versuchen aber zugleich ihr Verhalten zu rechtfertigen („Der kam drohend auf mich zu, da musste ich mich doch wehren!“); Training und Therapie zeigen zum Teil gute Effekte. Im forensisch-klinischen Sprachgebrauch wird im Zusammenhang mit instrumentellen Gewalttätern auch von „kalter Aggression“ gesprochen; der Begriff der „heißen Aggression“ wird im Zusammenhang mit impulsiv-reaktiven Gewalttätern benutzt.

Während die im vorletzten Absatz vorgenommenen, in der Literatur vorherrschenden Begriffsdefinitionen stark auf die Verhaltensebene fokussieren, weist Rost (2001) darauf hin, dass in der psychologischen Literatur die Begriffe Ärger und Aggression häufig mit dem weitgehend gleichen |14|inhaltlichen Verständnis verwendet werden. Und Nolting (2009) differenziert explizit zwischen aggressivem Verhalten und aggressiven Emotionen. Dabei weist er darauf hin, dass aggressives Verhalten durch aggressive Emotionen bedingt sein kann, aber nicht zwangsläufig sein muss (z. B. beruht aggressives Handeln aufgrund von Gehorsam nicht auf aggressiven Emotionen beim Ausführenden). Zudem differenziert er zwischen „voraggressiven Emotionen“ (nicht/kaum personenbezogen: z. B. schlechte Laune, gereizte Stimmung, Stresszustand, Frust) und „aggressiven Emotionen“ (gegen Personen gerichtet: z. B. Ärger, Groll, Zorn, Vergeltungsbedürfnis, sadistisches Bedürfnis, Schadenfreude, Genugtuung, sadistisches Vergnügen, Verachtung, Hass, Feindseligkeit). Auch nicht aggressive Emotionen (z. B. Angst, Begeisterung oder Langeweile) können seiner Darstellung nach im Prozessverlauf in aggressives Verhalten münden, z. B. Angst in Gegenwehr.

Zusammenfassend betrachtet können wir festhalten, dass die Begriffe „Aggression“/„aggressiv“ sowohl emotionale, kognitive als auch verhaltensbezogene Reaktionskomponenten beinhalten; untersucht man Menschen in aggressiven Zuständen beispielsweise mit dem verhaltenstherapeutischen SORC-Schema, lassen sich selbstverständlich auch physiologische Korrelate finden. Eine sehr ausführliche Darstellung aggressionsfördernder Emotionen und Kognitionen sowie der Anlage-Umwelt-Verschränkung findet sich bei Wahl (2009). Im Vergleich zu Begriffsdefinitionen in der wissenschaftlichen Literatur verwenden Patienten in Therapien regelmäßig den Aggressionsbegriff undifferenziert: „Da habe ich wieder Aggressionen gehabt!“ oder „Da bin ich dann ganz aggressiv geworden!“. Damit beschreiben sie in der Regel einen intrapsychischen Zustand, der oft – aber nicht notwendigerweise immer – in aggressives Verhalten mündet.

Praxishinweis:

Aus therapeutischer Sicht erscheint es wichtig, mit dem Patienten dessen individuelles Verständnis und Erleben seines Zustandes möglichst differenziert zu erarbeiten. Dabei ist es erfahrungsgemäß insbesondere hilfreich, den Patienten dabei anzuleiten, möglichst viele Schattierungen seines intrapsychischen Erlebens von „Aggressionen haben“/„aggressiv sein“ zu beleuchten, bevor es zu aggressivem Verhalten kommt. Zugleich kann es im weiteren Therapieprozess durchaus ergonomisch sein, dieses differenzierte Erleben mit dem vom Patienten eingebrachten Begriff, z. B. des „Aggressionen haben“, zusammenzufassen.

1.2 Psychologische Annahmen und Erkenntnisse zur Entstehung, Aufrechterhaltung und Auslösung von aggressivem Verhalten

Im Lauf der Menschheitsgeschichte erfolgten schon viele Erklärungsversuche für das Phänomen der Aggressivität. Im Folgenden finden sich einige Schlaglichter auf Ansätze aus der psychologischen Fachliteratur:

Die Triebtheorien gliedern sich in eine psychoanalytische Theorie nach Freud (1940, 1948, 1950, 1951) und in eine ethologische Theorie nach Lorenz (1966). Aus psychoanalytischer Sicht stellen Aggressionen oder aggressives Verhalten eine mangelnde oder verhinderte Triebbefriedigung des aufgestauten Sexualtriebs dar, was zu Frustrationen führt. Auch Lorenz (1966) geht von einer konstanten, grundlegenden Energie aus, die aggressives Verhalten determiniert. Er bezeichnet diese als Instinkt, der für die Arterhaltung und das Überleben des Individuums erforderlich ist. Im Sinne des „survival of the fittest“ stellen Aggressionen einen evolutionären Mechanismus dar, der im Rahmen der Selektion Einsatz findet. Die ethologische Theorie geht davon aus, dass neben aufgestauten aggressiven Energien bestimmte Schlüsselreize erforderlich sind, um aggressives Verhalten auszulösen. Erst die Identifikation eines spezifischen Schlüsselreizes sorgt für die Entladung der aufgestauten Energie.

Die Frustrations-Aggressions-Theorie nach Dollard et al. (1970) basiert auf zwei Grundannahmen: (1) Aggressionen stellen immer eine Folge von Frustrationen dar und (2) führen Frustrationen immer zu einer Form von Aggressionen. Berkowitz (1962, 1965, 1969, 1993) erweiterte die Frustrations-Aggressions-Theorie, indem er postulierte, dass Frustrationen nicht zwangsläufig zu Aggressionen führen müssen. Aggressives Verhalten wird nach Berkowitz (1962) eher durch affektive Reaktionen wie Wut und Ärger beeinflusst. Dabei können situative Bedingungen (z. B. Lautstärke) aggressives Verhalten zusätzlich fördern oder hemmen. Das daraus entstandene „cognitive neoassociation model“ (Berkowitz, 1989, 1990) misst be|15|sonders den kognitiven Prozessen, insbesondere auch Prozessen höherer kognitiver Ordnung wie Attributionen oder Bewertungen, eine Bedeutung bei der Entstehung von Ärger-Aggressionen bei. Sie geht von einer Vernetzung von Gedanken, Emotionen und Verhaltenstendenzen im Gedächtnis aus.

Nach lernpsychologischen Theorien sind aggressive Verhaltensweisen durch spezifische Reize ausgelöste, erlernte Verhaltensmuster (Selg & Berg, 1988). Im Hinblick auf die Konditionierungsprozesse kann aggressives Verhalten als Konsequenz von bestimmten Verstärkungs- oder Bestrafungsbedingungen gesehen werden.

Banduras Lerntheorie (1983) unterscheidet drei Formen von Bedingungen der Aggression:

spezifische Prozesse, durch die aggressive Verhaltensmuster erlernt werden, z. B. durch eigenes Erleben oder durch Lernen am (erfolgreichen) Modell;

auslösende Bedingungen für aggressives Verhalten, z. B. Bedrohungen, Angriffe, Provokationen oder auch Benachteiligungen;

aufrechterhaltende Bedingungen, z. B. bestimmte Anreize wie beispielsweise materielle Vorteile oder Statusgewinn; externale Bestätigung oder auch negative Verstärkung im Sinne von Konditionierungsprozessen; stellvertretende Bekräftigungen durch das Ausbleiben von negativen Konsequenzen bei Dritten; internale Prozesse wie innere Überzeugungen, Normvorstellungen, außerdem auch Selbstregulationsmechanismen.

Das Modell der Verarbeitung sozialer Informationen nachCrick und Dodge (1994) basiert auf der Vorstellung, dass eine Person, die ihr dargebotenen Informationen in Interaktion mit anderen im Rahmen ihrer biologisch-sozialen Kapazitäten und der eigenen Lernerfahrungen verarbeitet. Hieraus ergeben sich spezifische Reaktionen für einzelne Situationen. Zentral sind dabei die kognitiven Prozesse der Informationsverarbeitung, die von Crick und Dodge (1994) in sechs Schritten beschrieben werden:

Informationswahrnehmung, -selektion und -weiterleitung (unter Aktivierung kognitiver Schemata und begrenzt durch die individuelle Verarbeitungskapazität),

Situationsinterpretation (Ursachenzuschreibung, Intentionsannahme, Zielabgleich),

Zieldefinition (bestehende Ziele verfolgen, verändern und durch neue Ziele ergänzen),

Reaktionssuche (aus dem vorhandenen Verhaltensrepertoire),

Handlungsauswahl und -bewertung (Abgleich von Vorerfahrungen und Erwartungen hinsichtlich eines bestimmten Verhaltens mit der aktuellen Situation),

Handlungssteuerung (Wahl einer Handlungsalternative aus dem Repertoire unter Einsatz der individuellen Handlungskompetenzen).

Nach Ablauf dieser Schritte folgt die Interaktion, die wiederum neue Verarbeitungsprozesse anstößt. Die einzelnen Phasen laufen dabei unbewusst und automatisiert ab. Hinzu kommen verschiedene Parameter, die die Verarbeitung beeinflussen; dazu zählen biologische Determinanten aber auch bestimmte Lernerfahrungen, Sozialisation und Erfahrungen aus Kindheit und Jugend.

Praxishinweis:

Solche scheinbar sehr theoretisch ausgerichteten Erklärungsansätze für aggressives Verhalten sollten in ihrer Praxisrelevanz nicht unterschätzt werden. In jedem der genannten Schritte der Informationsverarbeitung können Fehler beim einzelnen Patienten auftreten. Hat der Therapeut das Modell durchdrungen, wird er in der Behandlung eines einzelnen Patienten differenzierter feststellen können, wo dessen Fehlerstelle liegt und in der Folge den Patienten dabei unterstützen können, diesen Fehler zu verändern.

In bio-psycho-sozialen Modellen (vgl. Köhnken & Bliesener, 2002) werden verschiedene Risiko- und Schutzfaktoren beleuchtet: Bereits prä- und perinatal ergeben sich Einflussfaktoren wie genetische Dispositionen. Hinzu kommt das sozio-kulturelle Umfeld des Kindes, welches in Wechselwirkung mit biologischen Prozessen steht und bei ungünstiger Ausprägung, wie z. B. bei mangelnder Fürsorge, zu einem Risikofaktor für späteres Problemverhalten werden kann. In der frühen Kindheit können innerfamiliäre Konflikte und eine defizitäre Erziehung problematisch sein, aber auch kognitive Einschränkungen und auch affektive Auffälligkeiten spätere aggressive Verhaltenstendenzen fördern. Mit dem Eintritt in die Schule werden Bindungsdefizite deutlich und der Umgang mit Gleichaltrigen, die ebensolches Problemverhalten aufweisen, kann zu einer weiteren Gefahrenquelle für aggressives Verhalten werden. Darüber hinaus können sich schulische Probleme und Leistungsdefizite nachteilig auswirken. Auch eine starke |16|Konfrontation mit Gewalt und Aggression in den Medien kann ein bestehendes Risiko erhöhen. Im Jugendalter können dann durch soziale Desorganisation wie einen mangelnden Ausdruck an Empathie, Handlungskontrolle und Konfliktbewältigungsmechanismen zusammen mit dem Umgang mit devianten oder delinquenten Gleichaltrigen problematische Verhaltensweisen zu Tage treten. Durch situative Anreize können diese Verhaltenstendenzen verstärkt werden. Als Schutzfaktoren gelten emotionale stabile Bindungen, z. B. an die eigene Familie oder andere Bezugspersonen. Das Erziehungsverhalten und ein ausreichendes Maß an sozialer und emotionaler Unterstützung sind ausschlaggebend für späteres Verhalten und können im Zusammenhang mit ungünstigen biologischen Dispositionen regulierend wirken.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht gehört es zu den zentralen Entwicklungsaufgaben in der Kindheit, die Fähigkeit zur Hemmung aggressiver Impulse und zur Emotionsregulation zu erwerben sowie prosoziale Verhaltensweisen zu entwickeln (Schmeck, 2004). Dementsprechend geht die durchschnittliche Anzahl gezeigter aggressiver Verhaltensweisen im Kindesalter mit steigendem Lebensalter normalerweise zurück (Tremblay et al., 2004). Einer kleinen Gruppe von Kindern gelingt diese Entwicklungsaufgabe jedoch nicht. Viele wissenschaftliche Untersuchungen beschäftigten sich in den letzten Dekaden mit dieser Gruppe von Kindern, Heranwachsenden und schließlich Erwachsenen. Eine dieser Untersuchungen zeigte beispielsweise, dass Kinder, die im frühen Kindesalter die Regulation von physischer Aggressivität nicht erlernen, durch bestimmte Faktoren gekennzeichnet sind: antisoziales Verhalten der Mütter während deren Schuljahre, junges Alter der Mütter bei der ersten Geburt, Mütter rauchten während der Schwangerschaft, Eltern mit niedrigem Einkommen und Eltern mit schwerwiegenden Problemen im Zusammenleben (Tremblay et al., 2004). In einer anderen Untersuchung (Cloninger et al., 1994) konnte beispielsweise gezeigt werden, dass Erwachsene mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung auffällig häufig eine bestimmte Konstellation von Temperamentsfaktoren zeigen: (a) hoch ausgeprägte Verhaltensaktivierung (impulsiv, erregbar, ausgeprägtes Reizsuchverhalten), (b) niedrig ausgeprägte Verhaltenshemmung (vital, zuversichtlich, unerschrocken) und (c) geringe soziale Ansprechbarkeit (emotionslos, bindungslos, unabhängig). In den letzten Jahren hat in der Forschung vor allem die Untersuchung mit bildgebenden Verfahren und anderen medizinischen Untersuchungsmethoden stark zugenommen. Letztlich bestätigt sich bei den aktuellen Untersuchungen das bio-psycho-soziale Modell immer wieder; zugleich lassen sich allmählich die verschiedenen Variablen genauer bestimmen. Auf diese Weise löst sich die alte Frage nach Anlage oder Umwelt als verantwortliche Determinante für aggressives Verhalten auf. Roth (2006) fasst in diesem Sinne zusammen, dass Gewaltverhalten nicht aufgrund eines einzigen Faktors wie „die Gene“ oder „die Umwelt“ erklärt werden kann, vielmehr erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, gewalttätig zu werden, durch das Zusammenspiel verschiedener, sowohl individueller biologisch-psychologischer als auch sozialer Risikofaktoren.

Robert Hare beschrieb erstmals 1970 (im Anschluss an vorangegangene Arbeiten, z. B. durch Cleckley, 1964) das Phänomen „Psychopathy“. Psychopathy ist ein Persönlichkeitskonstrukt, das durch eine spezifische Konstellation affektiver, interpersonaler, Lebensstil- und antisozialer Merkmale definiert ist (Hare, 2003; Patrick, 2006). Dieses Konstrukt hat sich in besonderer Weise als Hochrisikofaktor für persistierende Delinquenz und Gewaltneigung erwiesen (Dahle & Haase, 2008). Einerseits sind Psychopathy und aggressives Verhalten bzw. deliktisches Handeln sehr eng miteinander verschränkt, andererseits werden nicht alle „Psychopaths“ zwangsläufig kriminell. Unter bestimmten Bedingungen können psychopathische Merkmale auch zu Determinanten von beruflichem Erfolg werden (Hare & Babiak, 2007; Eisenbarth, 2014).

In der von Hare entwickelten Psychopathy-Checklist (PCL-R) werden die Diagnosekriterien näher beschrieben.

Kriterien der Psychopathy-Checklist (PCL-R) von Hare (2003):

oberflächlicher Charme

übersteigertes (grandioses) Selbstwertgefühl

Stimulationsbedürfnis

pathologisches Lügen

betrügerisch-manipulatives Verhalten

fehlendes Schuldbewusstsein

oberflächliche Gefühle

Fehlen von Empathie

parasitärer Lebensstil

unzureichende Verhaltenskontrolle

promiskuitives Sexualverhalten

|17|frühe Verhaltensauffälligkeiten

Fehlen von langfristigen realistischen Zielen

Impulsivität

Verantwortungslosigkeit

mangelnde Verantwortungsübernahme für eigenes Handeln

viele kurzzeitige eheähnliche Beziehungen

jugendliche Delinquenz

Missachtung von Weisungen und Auflagen

polymorphe Kriminalität

Die Rückfallforschung untersucht Veränderungen im Frühverlauf aggressiver Prozesse, die auf eine mögliche Eskalation hinweisen können (Zamble & Quinsey, 1997). Als „akute dynamische Risikofaktoren“ (Auslöser) gelten der Verlust stützender äußerer Strukturen (z. B. Partnerschaft, Arbeitsplatz, Freunde), starker Stress und psychische Belastung, Wiederaufnahme des Kontakts zum kriminellen Umfeld, Konsum von Suchtmitteln sowie „inneres Aufgeben“. Indikatoren können auch depressive Verstimmung, vermehrte Geldausgaben, geringe Verfehlungen (z. B. Versäumen von Terminen) oder vermehrtes Reden über kriminelle Ideen und Fantasien sein.

Ein weiterer Forschungszweig näherte sich dem Phänomen aggressiven und gewalttätigen Verhaltens aus prognostischer Sicht. Die Beschreibung von Risikofaktoren durch die Prognoseforschung wiederum kann wertvolle Hinweise darauf geben, wodurch aggressives Verhalten stabilisiert wird (und was in der Therapie behandelt werden muss – sofern es behandelbar ist). In diesem Zusammenhang werden üblicherweise statische von dynamischen Risikofaktoren unterschieden, wobei statische Faktoren als weitgehend unveränderbar gelten, dynamische Faktoren hingegen als eher veränderbar. Ein im deutschsprachigen Raum mittlerweile gut etabliertes Instrument ist das aus Kanada stammende HCR-20-Schema (Webster, Douglas, Eaves & Hart, 1997). Es besteht aus 20 Items, wovon zehn weitgehend statischer Natur sind (die „historical“ oder H-Items); sie erfassen Merkmale aus der Vorgeschichte des Probanden, die in empirisch gesicherter Beziehung zu gewalttätigem Verhalten stehen. Fünf dynamische Items (die „clinical“ oder C-Items) beziehen sich auf die Gegenwart und enthalten aktuelle Korrelate und Prädiktoren von Gewalt. Weitere fünf Items (die „risk“ oder R-Items) fokussieren auf den sozialen Empfangsraum und potenziell zukünftig destabilisierende Einflüsse und Lebensbedingungen (Volbert & Dahle, 2010).

Das HCR-20-Schema (Webster et al., 1997)

H-Items (historical): Frühere Gewaltanwendung, Geringes Alter bei erster Gewalttat, Instabile Beziehungen, Probleme im Arbeitsbereich, Substanzmissbrauch, (gravierende) seelische Störung, Frühe Fehlanpassung, Psychopathy (PCL), Persönlichkeitsstörung, Frühere Verstöße gegen Auflagen

C-Items (clinical): Mangel an Einsicht, Negative Einstellungen, Aktive Symptome, Impulsivität, Fehlender Behandlungserfolg

R-Items (risk): Fehlen realistischer Pläne, Destabilisierende Einflüsse, Mangel an sozialer Unterstützung, Mangelnde Compliance, Stressoren

Während sich manche Prognoseinstrumente (wie z. B. HCR-20) auf die Vorhersage von Gewalttaten konzentrieren, richten sich andere Prognoseinstrumente auf andere Arten gewalttätigen Verhaltens aus, z. B. auf sexuell motivierte Straftaten. Dementsprechend finden sich dort andere Items für die Risikoeinschätzung. Beispielsweise fragt der STABLE-2007 (Matthes & Rettenberger, 2008) nach bedeutenden sozialen Einflüssen, Bindungs- und Beziehungsfähigkeit, emotionaler Identifikation mit Kindern, Feindseligkeit gegenüber Frauen, allgemeiner sozialer Zurückweisung/Isolation/Einsamkeit, Empathiedefiziten, Impulsivität, defizitären kognitiven Problemlösestrategien, negativer Emotionalität bzw. Feindseligkeit, sexueller Voreingenommenheit, Sexualität als Coping-Mechanismus, sexueller Devianz sowie Kooperation mit Therapie- und Betreuungsmaßnahmen.

In den letzten Jahren richtete die Prognoseforschung ihren Blick auch auf protektive Faktoren. Beispielsweise unterscheidet das Prognoseinstrument „SAPROF – Protective factors for violence risk“ internale, motivationale und externale protektive Faktoren.

Faktoren des SAPROF (de Vogel, de Ruiter, Bouman & de Vries Robbé, 2010)

Internale Faktoren: Intelligenz, Sicherer Bindungsstil in der Kindheit, Empathie, Bewältigung/Coping, Selbstkontrolle

Motivationale Faktoren: Arbeit, Freizeitaktivitäten, Finanzmanagement, Motivation für Behandlung, Einstellung gegenüber Autoritäten, Lebensziele, Medikation

|18|Externale Faktoren: Soziales Netzwerk, Intime Beziehungen, Professionelle Hilfe, Wohnsituation, Externe Kontrolle durch Aufsicht

1.3 Psychische Störungen mit aggressivem Verhalten

Wenn im psychologischen Verständnis Normalität dadurch bestimmt wird, dass ein Phänomen bei einer breiten Masse von Menschen vorkommt, dann ist das Ringen mit aggressiven Impulsen aufgrund situativ vorhandener aggressionsnaher Emotionen und Kognitionen ebenso normal wie das zeitweise Zeigen von aggressivem Verhalten unter bestimmten Bedingungen. Im psychotherapeutischen und psychiatrischen Setting beginnt dieses Phänomen i. d. R. dann zur Störung zu werden, wenn Leidensdruck auftritt (beim Betroffenen selbst oder in seinem Umfeld) und daher eine Behandlung aufgesucht wird (siehe dazu beispielsweise auch ICD-10: F60 bis G3). Dann obliegt es dem approbierten Psychotherapeuten oder Psychiater zu überprüfen, ob und ggf. welche psychische Störung in Verbindung mit dem aggressiven Verhalten vorliegt. Im Hinblick auf Persönlichkeitsstörungen problematisieren Müller-Isberner und Eucker (2012a), dass bis heute keine abschließende Abgrenzung zu sozial abweichendem Verhalten gelungen sei. Generell kann aggressives Verhalten im Zusammenhang mit allen psychischen Störungen auftreten (Scheithauer, 2003), jedoch gibt es einige Störungsbilder, denen aggressive Verhaltenstendenzen diagnostisch eindeutig zugeordnet werden können.

Im Kindes- und Jugendalter sind aggressive Verhaltensweisen häufig im Rahmen von Verhaltensstörungen zu beobachten (Petermann, Döpfner & Schmidt, 2007; Scheithauer, 2003). Störungen des Sozialverhaltens (ICD-10: F91; Petermann et al., 2007) beispielsweise sind durch anhaltende Muster dissozialen, aggressiven und aufsässigen Verhaltens gekennzeichnet, das mit seinen gröberen Verletzungen die altersentsprechenden sozialen Erwartungen übersteigt. Kinder und Jugendliche mit diesem Störungsbild fallen vor allem durch ein hohes Maß an Streitigkeiten, häufige und schwere Wutausbrüche, Ungehorsam, Lügen oder Tyranneien auf. Sie sind grausam und destruktiv gegenüber anderen Menschen oder auch Tieren, schwänzen häufig die Schule oder laufen von zu Hause weg. Zudem kann delinquentes Verhalten durch Zerstörung von Eigentum, Stehlen oder auch Feuerlegen auftreten. Darüber hinaus treten aggressive Verhaltensweisen bei Kombinierten Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen auf (ICD-10: F92) sowie in der Störungsgruppe der Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (insbesondere ICD-10: F94.1). Der Übergang einer Reihe von Sozialverhaltensstörungen in dissoziale/antisoziale Persönlichkeitsstörungen ist wissenschaftlich mittlerweile belegt (Matthys, Engeland & Resch, 2003), aber auch bei der hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F90.1) zeigte sich mittlerweile, dass etwa 15 bis 20 % der betroffenen Kinder im Erwachsenenalter eine antisoziale Persönlichkeitsstörung entwickeln. Effektiven Strategien der Prävention kommt daher hohe Bedeutung zu.

Im Erwachsenenalter treten aggressive Verhaltensweisen häufig bei Persönlichkeitsstörungen auf (ICD-10: F60 bis F69); oft auch in Kombination mit Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen. Das bereits vorgestellte Psychopathy-Konstrukt nach Hare (1970) findet sich namentlich nicht in den üblichen Diagnosesystemen (ICD/DSM) wieder. Im forensisch-psychologischen/psychiatrischen Setting wird Psychopathy üblicherweise als eine Variante der dissozialen bzw. antisozialen Persönlichkeitsstörung verstanden und oft als solche gesondert gekennzeichnet, z. B. „ICD-10: F60.2 Dissoziale Persönlichkeitsstörung (mit Psychopathy)“. Im forensischen Setting finden sich hauptsächlich Subtypen von Persönlichkeitsstörungen aus dem Cluster B gehäuft (v. a. antisoziale, narzisstische und emotional-instabile Persönlichkeitsstörung).

Da sich die Schematherapie ausschließlich auf die Veränderung persönlichkeitsgebundener Faktoren für aggressives Verhalten konzentriert, werden wir uns im nächsten Abschnitt, der sich mit therapeutischen Ansätzen im Umgang mit aggressivem Verhalten beschäftigt, auch primär auf bisher bekannte Ansätze zur Veränderung persönlichkeitsgebundener Bedingungen für aggressives Verhalten konzentrieren. Dabei fokussieren wir zudem auf nach außen gerichtetes (= externalisierendes) aggressives Verhalten, nicht auf internalisierendes aggressives Verhalten (= z. B. Selbstverletzungen).

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es auch im Rahmen der Störungskategorie der Schizophrenie und anderer psychotischer Störungen zu |19|aggressivem Verhalten kommen kann. Durch die Grundstörung treten hierbei regelmäßig Veränderungen des Wahrnehmens, des Denkens, der Emotionalität und der Verhaltenskontrolle auf, sodass in Abhängigkeit vom jeweiligen Störungsbild und individueller Ausprägung aggressive Tendenzen oder Gewaltbereitschaft im Verhalten möglich sind. Die Behandlung dieser Störungskategorie steht im folgenden Kapitel ausdrücklich nicht im Mittelpunkt.

1.4 Therapeutische Ansätze im Umgang mit aggressivem Verhalten

Aggressive Verhaltensweisen stellen eine Gefahr für die Bevölkerung und den Betroffenen selbst dar und verursachen mehr oder weniger stark ausgeprägtes Leid. In psychiatrischen Kliniken sowie Institutionen zur Behandlung und Unterbringung straffällig gewordener, psychisch erkrankter Menschen treten Aggressionen häufig auf und stellen somit die Anforderung an das behandelnde Personal, mit diesen aggressiven Verhaltensweisen professionell umgehen zu können und sie im Rahmen einer Therapie adäquat zu behandeln (Breakwell, 1998). Die Reduktion von gewalttätigen und aggressiven Handlungen von Inhaftierten stellt einen zentralen Aspekt der Verbesserung der Lebensqualität der Insassen dar und bietet gleichzeitig einen Fortschritt in der Behandlung und Resozialisierung der Betroffenen (Ross, Quayle, Newman & Tansey, 2013).

Psychotherapeutische Veränderungsbemühungen im Hinblick auf aggressive Verhaltensweisen gibt es schon lange. Die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts waren dabei jedoch von einer Zäsur geprägt, die in der Folge zweier Studien zur Untersuchung der Wirksamkeit solcher Maßnahmen eintrat: Die Untersuchung von 231 Einzelstudien schien zu belegen, dass nichts wirkte (Gendreau, French & Gionet, 2004). Zugleich stellte man fest, dass es an methodisch gut fundierten Studien mangelte. In der Folge wurde eine breite „Nothing works“-Debatte angestoßen, die im weiteren Verlauf in eine „What works (and what doesn’t work)?“-Debatte überging. Mittlerweile ist spätestens seit der Metaanalyse von Lösel und Bender (1997) der Wirksamkeitsnachweis von Straftätertherapie mit durchschnittlichen Effektstärken von .10 (und in besonders strukturierten kognitiv-behavioralen Programmen bis hin zu .30) nicht mehr infrage zu stellen. Damit liegen die Effekte in einer ähnlichen Höhe (ca. d = .20) wie viele medizinische Standardbehandlungen, allerdings ist sie deutlich geringer als z. B. bei der Psychotherapie der Depression (d = .67 bzw. d = .42; Cuijpers et al., 2010). Im Kontrast dazu wissen wir von rein punitiven Maßnahmen, dass sie tendenziell negative Effektstärken haben (Lösel, 2012).

Als „state of the art“ der Straftätertherapieforschung gelten heute die drei kriminaltherapeutischen Prinzipien von Andrews und Bonta (2010), die effektive von nicht effektiven Behandlungen unterscheiden.

a) Risk principle: Die Intensität der Behandlung soll an der individuellen Gefährlichkeit ausgerichtet werden (→ Wer ist zu behandeln?). Dabei sollte mit jenen Personen gearbeitet werden, die ein mittleres bis hohes Risiko in sich tragen. Personen mit niedrigem Risiko sollten außerhalb intensiv betreuender, forensischer Einrichtungen behandelt werden.

b) Need principle: Die Behandlungsziele sollten den dynamischen Risikofaktoren entsprechen (→ Was ist zu behandeln?). In diesem Zusammenhang formulieren die Autoren acht zentrale Faktoren im Hinblick auf das kriminogene Risiko/Bedürfnis von Straftätern: (1) Vorgeschichte antisozialen Verhaltens, (2) Antisoziale Persönlichkeit (Psychopathy, Impulsivität, mangelnde Selbstregulationsfähigkeit usw.), (3) Antisozialer Umgang, (4) Antisoziale Kognitionen, (5) Familiäre Probleme, (6) Probleme in Schule und Beruf, (7) Freizeitverhalten, (8) Alkohol-/Drogenproblematik. Eine wichtige Unterscheidung konzentriert sich dabei auf kriminogene Needs (= dynamische Risikofaktoren, z. B. kriminalitätsbegünstigende Einstellungen, kognitive Verzerrungen, Suchtproblematik, kriminelles Umfeld, mangelnde Selbstbeherrschung, Dissozialität, negative Emotionalität) in Abgrenzung von nicht kriminogenen Needs (z. B. Selbstwertproblematik, Angst, Unzufriedenheit, geringe Leistungsmotivation). Die Behandlung sollte sich vor allem auf kriminogene Needs konzentrieren. Nicht kriminogene Needs können Behandlungshindernisse darstellen, sodass deren erfolgreiche Behandlung Motivation für weitergehende Behandlung schaffen kann.

c) Responsivity principle: Die Art der Behandlung sollte an der individuellen Ansprechbarkeit des Klienten ausgerichtet sein (z. B. kognitive Fähigkeiten, Motivation, kultureller Hintergrund), sodass er von den Rehabilitationsmaßnahmen |20|maximal viel lernen kann (→ Wie ist zu behandeln?). Generell sollte die Behandlung kognitiv-behavioral ausgerichtet sein.

Als übergreifendes Prinzip gilt dabei der Respekt vor der Person, d. h. die Behandlung soll in einer ethischen, legalen, direkten, moralischen, menschlichen und anständigen Haltung erfolgen. Außerdem sollte die Behandlung möglichst human gestaltet werden und weniger an der Schwere der Strafe oder der Straftat orientiert sein (Andrews, Bonta & Wormith, 2011; Bonta & Andrews, 2007).

Gendreau, French und Gionet (2004) formulierten auf der Basis metaanalytischer Untersuchungen acht Prinzipien effektiver Interventionen in der Straftäterbehandlung, die sich z. B. mit der Organisationkultur forensischer Einrichtungen, der Implementierung von Behandlungsprogrammen und der Notwendigkeit von Evaluation befassen. In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dass bestimmten Behandlungsinterventionen (z. B. Motivationales Interview und strukturiertes Erlernen von Skills) der Vorzug zu geben ist, ebenso wie bestimmten Behandlungszielen. Als Beispiele für solche Behandlungsziele werden genannt:

Veränderung von Einstellungen und Gefühlen, die Gesetzesbrüche unterstützen, und Fokussierung auf nicht kriminelle Rollenmodelle

Reduktion antisozialer Peer-Kontakte

Verminderung von Alkohol- und Drogenmissbrauch

Ersatz antisozialen Verhaltens wie Lügen, Stehlen und aggressives Verhalten durch prosoziale Alternativen

Um die bisher genannten Ziele zu erreichen, können auch die folgenden Ziele verfolgt werden (eine Auswahl):

Erhöhung von Selbstkontrolle, Selbstmanagement und Problemlösefähigkeiten

Verbesserung der konstruktiven Nutzung von Freizeit

Steigerung der Konfliktlösefertigkeiten

Förderung von positiver Einstellung und Leistungsfähigkeit bezüglich schulischer Aufgaben

Lösung emotionaler Probleme in Verbindung mit Kindesmissbrauch

Veränderung devianter sexueller Erregungsmuster

Im Anschluss an die Nothing-Works-Debatte wurden zahlreiche kognitiv-behaviorale Programme zur Behandlung von Straftätern entwickelt und auf ihre Wirksamkeit hin untersucht. An dieser Stelle sollen nur zwei davon exemplarisch dargestellt werden:

Das Reasoning & Rehabilitation Programme (Ross & Fabiano, 1985, 1986; Ross, Fabiano & Ewles, 1988, 1998) zielt auf spezifische kognitive Fertigkeitendefizite ab: zwischenmenschliches kognitives Problemlösen, konsequentes Denken, Mittel-Ziel-Denken, Einnehmen einer sozialen Perspektive, kritisches Denken, abstraktes Denken, kreatives Denken und Werte. Damit beabsichtigt dieses kognitive Training, das impulsive, egozentrische, unlogische und rigide Denken von Straftätern zu modifizieren und ihnen beizubringen, inne zu halten und zu denken, bevor sie handeln, die Konsequenzen ihres Verhaltens zu bedenken, alternative Verhaltensmöglichkeiten bei zwischenmenschlichen Problemen zu entwickeln und die Wirkung ihres Verhaltens auf andere Menschen (ihre Opfer eingeschlossen) zu überdenken. Das Programm sieht seinen Zweck ausdrücklich nicht darin, einen grundlegenden Persönlichkeitswandel zu bewirken, es versteht sich nicht als Psychotherapie und befasst sich nicht direkt mit den persönlichen emotionalen Problemen des Straftäters. Weil emotionale Erregung (vor allem Ärger) die Fähigkeit eines Individuums stark beeinträchtigen kann, seine kognitiven Fähigkeiten anzuwenden, ist in dem Programm ein Modul zur Beherrschung der Gefühle enthalten.

Beispiele für konkrete Zielfertigkeiten im R&R-Programm

Modul Problemlösen: Erkennen, dass ein Problem existiert; Unterscheiden von Fakten und Meinungen etc.

Modul Soziale Fertigkeiten: um Hilfe bitten können; eine Beschwerde ausdrücken können; andere überzeugen; Umgang mit Fehlern (Übung in Rollenspielen) etc.

Modul Verhandlungsfertigkeiten: Unterscheidung von verhandlungsfähigen und nicht verhandlungsfähigen Situationen etc.

Modul Umgang mit Emotionen: Kontrolle von Gefühlen (Ärgerauslöser, Ärgerkennzeichen, Ärgerkette, Erregungskurve, Kontrolle des Erregungsniveaus durch Selbstsicherheit [d. h. eigene Gefühle unter Berücksichtigung der Rechte anderer klar zum Ausdruck bringen], durch Ärgerkontrolltechniken [z. B. tief Luftholen, auf die Lippen beißen], durch das Durchdenken der Folgen von verschiedenen Umgangsmöglichkeiten mit Ärger usw.) etc.

|21|Modul Kreatives Denken: positive, negative und interessante Aspekte einer Idee berücksichtigen; kurzfristige und langfristige Konsequenzen von Ideen oder Aktionen abwägen etc.

Modul Werte: hauptsächlich im Rahmen angeleiteter Dilemma-Diskussionen

Modul Kritisches Urteilen: Überreden und Überzeugen, z. B. durch die Bandwagon-Technik (= alle machen’s so), die Transfertechnik und die Zeugnistechnik etc.