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Im Februar 2013 schockierte die Wiener Zeitung „Standard“ mit einer Meldung über angeblich stark verbreitete Schilddrüsenanomalien bei Kindern und Jugendlichen in Fukushima/Japan bereits zwei Jahre nach dem Reaktorunfall. Eine Nachrecherche ergibt eine grob falsche Interpretation der Fukushima-Daten durch die österreichische Umweltschutzorganisation Global 2000, auf die sich der „Standard“ bezog. Es gibt es keine erhöhte Prävalenz von Schilddrüsenknoten bei Kindern und Jugendlichen in Fukushima. Erneut wird das Bestreben von Umweltlobbyisten und Medien deutlich, die Bevölkerung in Bezug auf Kernenergie und Radioaktivität mit Falschinformationen und –interpretationen zu verunsichern.
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Seitenzahl: 102
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Am Beispiel einer Kurzmeldung des Wiener „Standard“ vom 27. Februar 2013 wird versucht, einer Information über angeblich stark verbreitete Schilddrüsenanomalien bei Kindern und Jugendlichen in Fukushima/Japan auf den Grund zu gehen. Im Ergebnis gibt es keine erhöhte Prävalenz von Schilddrüsenknoten bei Kindern und Jugendlichen in Fukushima. Sie entspricht dem weltweiten und erwartbaren Durchschnitt. Die Aussage, es gebe exorbitante Schilddrüsenveränderungen aufgrund der aufgenommenen zusätzlichen radioaktiven Dosis durch die Havarie der Fukushima-1-Reaktoren, beruht auf einer interessensgeleiteten Falschinformation der österreichischen Umweltgruppe „Global 2000“. Reihenuntersuchungen in anderen Teilen Japans (Aomori, Nagasaki und Yamanashi) zeigen keine Unterschiede zu den Daten aus der Präfektur Fukushima. Die Massenuntersuchungen in Japan belegen die bereits bekannte lineare Korrelation zwischen dem Auftreten von Schilddrüsen-Knoten mit zunehmendem Alter. Erneut wird das Bestreben von Umweltlobbyisten und Medien deutlich, die Bevölkerung in Bezug auf Kernenergie und Radioaktivität zu verunsichern.
Der Ausgangspunkt: „Global 2000“-Meldung „Schilddrüsen-Anomalien bei Fukushima-Kindern“
Erster Exkurs: Gesundheitliche Wirkung radioaktiver Strahlung
Zweiter Exkurs: Diagnostik von bösartigen Schilddrüsenveränderungen
Erste Zwischenbilanz
Radioaktive Belastung der Bevölkerung von Fukushima
FMU-Abschätzung der radioaktiven Zusatzdosis
Zweite Zwischenbilanz
Schilddrüsenuntersuchungen an Kindern und Jugendlichen in Fukushima
Verwendete Quellen
Die Hauptaussagen von Global 2000
Eine erste Überprüfung der Aussagen anhand der Quellen
Quelle 1 und 2: Ergebnisse der Reihen-Schilddrüsenuntersuchungen der FMU
Grundsätzliche Unterschiede Zyste / Knoten
a) Einzelbefund Zysten
b) Einzelbefund Knoten
c) Nachuntersuchung an Personen der Gruppen A2, B und C
d) Geschätzte Schilddrüsendosis
Dritte Zwischenbilanz
Dritter Exkurs: Schilddrüsenveränderungen bei Kindern
Korrelation von Zysten und Knoten mit dem Alter
Interpretation der Daten aus Fukushima
Vergleich mit Tschernobyl
Ergebnisse der Schilddrüsenuntersuchungen in anderen Teilen Japans
Inzidenz von Schilddrüsenknoten und –krebs nimmt weltweit zu
Vierte Zwischenbilanz
Quelle 3: International Academic Conference on Radiation Health Risk Management 2013
Schwangerschaften, Fehlgeburten und Abtreibungen in Fukushima
Fünfte Zwischenbilanz
IPPNW zu „Gesundheitlichen Folgen von Fukushima“
Angst der Frauen vor Atomkraft
Leserreaktionen auf den „Standard“-Artikel
Kritik der Umweltlobby
Zusammenfassung
Kritik an den Zahlen und Untersuchungen aus Fukushima
Kritik an der Interpretation durch Global 2000
Bilanz
Diskussion
Anhang: Liste der Abbildungen
Am 27. Februar 2013 veröffentlichte die Tageszeitung Der Standard (Wien) folgende kurze Meldung:
Schilddrüsen-Anomalien bei Fukushima-Kindern
Fukushima (27. Februar 2013) – Bei Untersuchungen von Kindern und Jugendlichen in der japanischen Präfektur Fukushima habe sich eine "extrem hohe Anomalie" gezeigt, berichtete Global 2000 am Mittwoch. Von den 133.089 Untersuchten hatten 55.592 oder 41,8 Prozent Zysten und Knoten in den Schilddrüsen – teilweise bis zu einem Durchmesser von mehr als zwei Zentimetern. Der normale Durchschnitt liege bei 1,5 bis drei Prozent, erläuterte Reinhard Uhrig1 von Global 2000.2
Quelle des Standard war eine Online-Veröffentlichung von Global 2000 vom gleichen Tag (27.02.2013). Unter der Überschrift „GLOBAL 2000: Fahrlässiger Umgang mit Fukushima-Kindern“ heißt es dort unter anderem:
In der japanischen Präfektur Fukushima werden auch bald zwei Jahre nach Beginn der Nuklearkatastrophe immer noch nur tranchenweise Kinder und Jugendliche auf Schilddrüsenanomalien untersucht. Der Trend, der sich bereits bei den ersten Gruppen 2011 zeigte, hat sich auch nach Untersuchung von 133 089 Kindern und Jugendlichen bestätigt: 55 592 oder 41,8 Prozent der Untersuchten hatten Zysten und Knoten in den Schilddrüsen, teilweise bis zu einem Durchmesser von über 2cm. Die jüngsten Untersuchungsergebnisse zeigen ebenfalls eine Zunahme der Schilddrüsen-Anomalien im Vergleich zu den 2011 untersuchten Kindern, und die Proportion der größeren Anomalien steigt ebenfalls.
Vergleiche mit westlichen Kontrollgruppen legen nahe, dass die in der Präfektur Fukushima nachgewiesenen Anomalien besorgniserregend weit über dem Normalwert liegen: „In ‚normalen‘ Schilddrüsenscreenings liegen die Raten der Schilddrüsenanomalien bei 1,5–3 Prozent. Die in der betroffenen Region auftretenden Werte übersteigen dies um das Dreizehn-bis Siebenundzwanzigfache“, sagt Reinhard Uhrig.3
Sollte diese Meldung stimmen, wäre das tatsächlich eine Sensation. Sie impliziert, dass alle Erfahrungen aus Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl sowie das gesammelte Weltwissen über Wirkung von Radioaktivität auf den Prüfstand gehören. Die Meldung impliziert,
dass es entweder eine bisher nicht bemerkte und gemessene, exorbitante hohe Strahlenfreisetzung in Fukushima gegeben hat, oder
dass Schilddrüsen, anders als bisher bekannt, schon auf niedrigste und niedrige
zusätzliche
Strahlendosen hochempfindlich und wesentlich schneller als bisher beobachtet reagieren.
Es könnte aber auch sein, dass eine verbesserte Empfindlichkeit von Sonographiegeräten Schilddrüsenknoten und –zysten detektiert, die mit älteren Geräten nicht gesehen werden konnten.
Die Reihenuntersuchungen könnten aber auch nahelegen, dass bei massenhaftem Screenig Schilddrüsenveränderungen gefunden werden, die ohne Untersuchung symptomlos unerkannt geblieben wären.
Oder es gibt weitere Erklärungen, beispielsweise falsch positive Messungen (Geräte zeigen etwas, was nicht da ist), falsche Interpretation von objektiven Daten oder fehlendes Wissen über medizinische Sachverhalte, was ebenfalls zu Fehlinterpretationen führen kann.
Schließlich ist aus früheren (schlechten) Erfahrungen mit der Informationspolitik der Anti-Atom-Lobby (z.B. IPPNW) nicht auszuschließen, dass es sich um eine fahrlässige oder bewusste Missinterpretation objektiv erhobener Daten handelt.
Im Folgenden wird versucht, eine Antwort darauf zu finden, welche der angedeuteten sechs Möglichkeiten den tatsächlichen Gegebenheiten am nächsten kommt. Die Relevanz ergibt sich aus der Tatsache, dass mehrere Medien und Umweltschutzorganisationen die Daten aus Fukushima aufgriffen und verbreiteten und viele Kernkraftgegner diese Meldung glaubten und in ihr Argumentationsgefüge einbauten.
1 Reinhard Uhrig wird als „Atomexperte“ der österreichischen Umweltlobbygruppe „Global 2000“ vorgestellt.
2 Quelle: http://derstandard.at/1361241345470/Schilddruesen-Anomalien-bei-Fukushima-Kindern
3 http://www.global2000.at/site/de/nachrichten/atom/fukushima127/pressarticle-schilddruesen2013.htm
Um die Aussagen einschätzen zu können, ist es sinnvoll, die gesundheitlichen Wirkungen radioaktiver Strahlung zu kennen. Dazu liegen umfangreiche Untersuchungen aus Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl sowie aus der Kontamination mehrerer Wohngebäude mit radioaktivem Kobalt in Taipei vor.
Wie eine niedrige zusätzliche Strahlenexposition über längere Zeit auf den Menschen wirken, ist nicht wirklich klar. Vieles spricht dafür, dass eine Verdoppelung oder Verdreifachung der natürlichen Strahlung über einen längeren Zeitraum keinerlei gesundheitliche Folgen hat. Theoretisch kann ein einziges Strahlenquant an einer einzigen Zelle diese verändern und ein Krebswachstum auslösen. Tatsächlich ist Strahlung eine allgegenwärtige Erscheinung, denn der Mensch ist der von der Sonne und anderen Gestirnen ausgehenden Strahlung ausgesetzt. Auch radioaktive Elemente in der Erdkruste spielen eine Rolle, allen voran Uran und sein Zerfallsprodukt Radon. Eine Strahlen-Schwellendosis für die Entstehung von Krebs kann nicht angegeben werden. Die Aussage, „eine Strahlen-Schwellendosis für die Entstehung von Krebs kann nicht angegeben werden“, ist jedoch in etwa so sinnvoll wie der Satz „eine Zigaretten-Schwellendosis für die Entstehung von Lungenkrebs kann nicht angegeben werden“ oder „eine Schwellenzahl für Autofahrten, die zu einem tödlichen Unfall führen, kann nicht angegeben werden“. Da Radioaktivität allgegenwärtig ist, können die Effekte einer Null-Belastung nicht simuliert werden. Unterhalb von 100 mSv zusätzlicher Strahlenexposition pro Person in einer größeren Population versagt die Epidemiologie. Erst ab 1000 mSv sind direkte Strahlenschäden zu beobachten.
Abbildung 1: Gesundheitseffekte in Abhängigkeit von der Strahlendosis (Quelle: UNSCEAR)
Unter Schirmherrschaft der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) wurden mit Beteiligung der Bundesrepublik mehr als 160 000 Personen aus der näheren und weiteren Tschernobyl-Umgebung vor Ort radioaktiv ausgemessen. Dabei zeigte sich, dass 99 Prozent von ihnen jährlich weniger als 1,0 Millisievert (mSv) aufgrund des nuklearen Unfalls ausgesetzt sind. Mit Schäden am Knochenmark und einer Erhöhung der Leukämierate ist nach einer Strahlenbelastung von mehr als 2.000 mSv messbar zu rechnen. Gefahr für den Embryo in der Frühschwangerschaft besteht nach Angaben von Fachleuten von 500 mSv an. Für spätere Entwicklungsstadien eines Embryos nach dem 10. Schwangerschaftstag gilt eine Dosis von bis zu 50 mSv als ungefährlich.4 Eine erhöhte Krebshäufigkeit in Deutschland lässt sich nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl nicht nachweisen.
1999 wurde in Deutschland der Grenzwert für beruflich exponierte Mitarbeiter beispielsweise in Kernkraftwerken oder in radiologisch-medizinischen Abteilungen von 50 auf 20 mSv pro Jahr gesenkt. 100 mSv ist die niedrigste Dosis, bei dem ein Anstieg des Krebsrisikos statistisch zu erwarten ist5. Darüber hinaus korreliert die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Krebs mit der Dosis. 100 mSv sind auch die zulässige kurzfristigen Dosis für Rettungsmannschaften. Unter 100 mSv-Dosen gibt es keinen Beweis für Gesundheitsschäden. Über 100 mSv steigt die Wahrscheinlichkeit statistischer Gesundheitseffekte und das Krebsrisiko6. Ab 1000 mSv entwickeln 5% einer Bevölkerungsgruppe innerhalb einiger Jahre eine schwerwiegende Krebserkrankung. Bei Wikipedia hingegen heißt es, ab einer Einzelfall-Gesamtdosis von 1000 mSv versterben zehn Prozent der Personen innerhalb von 30 Tagen.7 Radioaktive „Strahlung ist ein schwaches Karzinogen, aber übermäßige Exposition kann sicherlich Gesundheitsrisiken erhöhen“, betont die World Nuclear Association auf einer Überblicksseite.8
Deterministische Kurzzeitwirkungen kann es naturgemäß nur bei einer „Blitzdosis“ geben. Die gesundheitliche Wirkung von Langzeitdosen lassen sich nur statistisch schätzen. Der Unterschied zwischen Blitzdosis und Langzeitdosis ist vergleichbar mit der Aufnahme von Wärmeenergie: Wenige Minuten in loderndem Feuer führen unweigerlich zum Tod. Dagegen wird die gleiche Energie, verteilt über einen längeren Zeitraum, als angenehme Wärme empfunden. Oder Alkohol: Eine Wodkaflasche in einem Zug getrunken schädigt den Körper (Alkoholvergiftung), eine Flasche über einen längeren Zeitraum leergetrunken erhöht das Wohlbefinden.
Langzeitbeobachtungen an den Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki zeigen, dass eine Blitzdosis von 300 mSv kein erhöhtes Risiko für eine Lebensverkürzung darstellt. Erst ab einer individuellen Dosis von 1500 mSv wird eine Lebensverkürzung messbar. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die untersuchte Gruppe auf die zum Zeitpunkt der Exposition 30–45-jährigen beschränkt ist und Aussagen über Feten, Säuglinge und Kinder gesondert getroffen werden müssen.9 Eine Verdoppelung der Mutationsrate bei der Zellteilung wird ab 1000 mSv angenommen.
Tabelle 1: Vergleich Einzeldosis pro Jahr - Dosisleistung pro Stunde (jeweils leicht aufgerundet)
Die Tabelle ist so zu lesen: Je nachdem, welche Gesamtdosis pro Jahr man bereit ist zusätzlich auf sich einwirken zu lassen, kann eine bestimmte Dosisleistung (in mSv/h oder μSv/h) toleriert werden. Eine Dosisleistung von 5 bis 6 μSv/h beispielsweise in der Nähe des Reaktors Fukushima 1 kann unbedenklich für mehrere Wochen auf sich genommen werden. Selbst eine Ortsdosisleistung von 171,4 μSv/h kann über einige Stunden toleriert werden, da ja erst die Multiplikation mit 8750 Jahresstunden eine bedenkliche Jahresgesamtdosis von 1500 mSv ergibt (eigene Berechnungen).
Am 4. September 2013 hieß es in einer dpa-Meldung, auf dem Fukushima-1-Gelände befinde sich ein Hotspot mit einem Strahlenwert von 2200 Millisievert pro Stunde bei einem Abstand von fünf (!) Zentimetern. Es handele sich um Beta-Strahlung. Diese Dosis sei für einen Menschen nach vier Stunden tödlich.
Die Meldung ist, wie fast alle journalistischen Produkte zum Thema Fukushima, unvollständig und verwirrend. Offenbar handelt es sich um eine kontinuierliche Stundenleistung und keine Einmaldosis. Das Wort „Strahlenwert“ ist eigentlich falsch; es geht bei der Einheit Sievert um die mutmaßliche Radioaktivitätsaufnahme eines menschlichen Körpers (Dosisleistung), nicht um die Radioaktivität des Gegenstandes. Eigentlich müsste die Energie der Betastrahlung in Mikroelektronenvolt (MeV) angegeben werden. Betastrahlen lassen sich mit einem einige Millimeter dicken Absorber (beispielsweise Aluminiumblech) gut abschirmen.
2200 Millisievert pro Stunde sind in der Tat enorm viel; diese Dosisleistung ist eindeutig gesundheitsschädigend, vermutlich tatsächlich tödlich. Sie ist zugleich leicht zu vermeiden und leicht abzuschirmen.
Zwischen dem 11. März 2011 und dem 18. April 2013 wurden auf dem Fukushima-Reaktorgelände, in den Reaktorgebäuden und am Haupttor wesentlich geringere Dosisleistungen zwischen 0,04 und 966.000 μSv/h gemessen.10