Schlüssel der Zeit - Band 3: Das Geheimnis der Kommende - Tanja Bruske - E-Book

Schlüssel der Zeit - Band 3: Das Geheimnis der Kommende E-Book

Tanja Bruske

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Beschreibung

Noch nie hat Keyra sich so allein gefühlt. Mit niemandem kann sie über ihre Reisen in die Vergangenheit reden, denn ihre Großmutter ist schwer erkrankt. Zu allem Überfluss taucht ein ominöser Fremder auf, der behauptet, von einem geheimen Orden der Zeitwächter geschickt worden zu sein. Da erscheint es Keyra fast als willkommene Fluchtmöglichkeit, als sie wieder ein Schloss singen hört und sich kurz darauf in einem mittelalterlichen Johanniterkloster wiederfindet. Doch die Zukunft der Kommende und ihrer Bewohner ist bedroht, denn der rücksichtslose Ritter Johann von Rüdigheim fordert sein Recht. Keyra muss eine verschwundene Urkunde finden. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt ... Ein Abenteuer durch Zeit und Raum im Neuberg-Rüdigheim des 15. Jahrhunderts. Band 1 "Der Ruf der Schlösser" und Band 2 "Der Hexer von Bergheim" der Serie "Schlüssel der Zeit" liegen ebenfalls als E-Books bei mainbook vor. Die Serie wird fortgesetzt.

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Seitenzahl: 182

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Schlüssel der Zeit 3: Das Geheimnis der Kommende

Noch nie hat Keyra sich so allein gefühlt. Mit niemandem kann sie über ihre Reisen in die Vergangenheit reden, denn ihre Großmutter ist schwer erkrankt. Zu allem Überfluss taucht ein ominöser Fremder auf, der behauptet, von einem geheimen Orden der Zeitwächter geschickt worden zu sein.

Da erscheint es Keyra fast als willkommene Fluchtmöglichkeit, als sie wieder ein Schloss singen hört und sich kurz darauf in einem mittelalterlichen Johanniterkloster wiederfindet. Doch die Zukunft der Kommende und ihrer Bewohner ist bedroht, denn der rücksichtslose Ritter Johann von Rüdigheim fordert sein Recht. Keyra muss eine verschwundene Urkunde finden. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

Ein Abenteuer durch Zeit und Raum im Neuberg-Rüdigheim des 15. Jahrhunderts.

Band 1 „Der Ruf der Schlösser“ und Band 2 „Der Hexer von Bergheim“ der Serie „Schlüssel der Zeit“ liegen ebenfalls als E-Books bei mainbook vor. Die Serie wird fortgesetzt.

Die Autorin:

2007 legt Tanja Bruske ihren ersten Fantasy-Roman »Das ewige Lied« (neu aufgelegt bei mainbook) vor, mit dem sie den Wettbewerb des Radiosenders FFH »Hessens verheißungsvollstes Manuskript« gewinnt. Ab Juni 2013 erscheint ihre Kinzigtal-Trilogie bei mainbook: »Leuchte«, »Tod am Teufelsloch« und der Abschlussband 2017 »Fratzenstein«.

Im September 2018 gewinnt Tanja Bruske mit ihrer Novelle »Der Henker und die Hexe« in Österreich den Titel »Stadtschreiberin von Eggenburg 2018«. Die Novelle wird demnächst in einer Geschichtensammlung veröffentlicht.

Seit 2014 schreibt Tanja Bruske zudem unter dem Pseudonym Lucy Guth für verschiedene Serien des Bastei-Verlages, zB »Maddrax«, seit 2019 auch für »Perry Rhodan Neo«.

Tanja Bruske studierte Germanistik sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaften an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt und arbeitet heute als Redakteurin bei der GNZ. Sie wohnt im hessischen Hammersbach mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern.

Mit »Schlüssel der Zeit« legt sie nun den Auftakt für eine lokale Histo-Fantasy-Serie vor.

Aktuelles und Lese-Termine finden Sie auf www.tanjabruske.de

Tanja Bruske

Schlüssel der Zeit

-3-

Das Geheimnis der Kommende

Lokale Histo-Fantasy-Serie

eISBN 978-3-947612-36-9

Copyright © 2019 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer

Layout: Olaf Tischer

Covermotive: © fotolia, milosluz

Besuchen Sie uns im Internet: www.mainbook.de

Für Maxi, meinen kleinen Sonnenschein.

Inhalt

1. Bibliotheksgespräche

2. Der Pfleger

3. Unerwartete Begegnung

4. Im Kloster

5. Matutin

6. Die Urkunde

7. Die Suche beginnt

8. Wasser des Lebens

9. Begegnungen

10. Hinter dem Vorhang

11. In der Hohl

12. Die Lama-Idee

13. Gernots Sturz

14. Die Rückkehr des Ritters

15. Vor aller Augen

16. Das Zeugnis der Schrift

17. Der Mentor

Dichtung und Wahrheit und Danke

1. Bibliotheksgespräche

„Tut nichts! der Jude wird verbrannt! Denn besser, es wäre hier im Elend umgekommen, als dass zu seinem ewigen Verderben es so gerettet ward. Zudem, was hat der Jude Gott denn vorzugreifen? Gott kann, wen er retten will, schon ohn‘ ihn retten.“

Die Worte tanzten vor Keyras Augen. Sie blinzelte müde und stützte den Kopf in die Hände. Vielleicht wäre sie wacher, wenn sie sich in den Lesegarten setzen könnte. Doch es nieselte und war ein ungemütlicher, grauer Mai-Tag. Vom Frühling, der Ende April pompös Einzug gehalten hatte, keine Spur mehr.

Normalerweise arbeitete sie aber auch gerne im Leseraum der Schulbibliothek der Hanauer Otto-Hahn-Schule – hier war es ruhig und gemütlich, und die netten Mitarbeiterinnen sahen darüber hinweg, dass Keyra einen Schokoriegel nach dem anderen vernichtete und schon den dritten Becher Kakao vor sich stehen hatte. Sie brauchte dringend Nervennahrung – und mal wieder ein paar Stunden ungestörten Schlaf.

Leider war das, was ihr den Schlaf raubte, auch schuld daran, dass sie sich nicht auf „Nathan der Weise“ konzentrieren konnte – obwohl das für die anstehende Deutscharbeit bitter nötig gewesen wäre. Zehn Tage war es jetzt her, dass ihre Großmutter in ihrem Garten zusammengebrochen und ins Krankenhaus gebracht worden war. Seitdem hatte Clara Schlosser das Bewusstsein nicht wieder erlangt. Und nach dem, was Keyra aus den Worten der Ärzte geschlossen hatte, war nicht sicher, ob sie überhaupt noch einmal aufwachen würde.

Keyra machte sich schreckliche Vorwürfe. Ihr Streit war für den Zusammenbruch ihrer Großmutter verantwortlich. Ich hätte sie nicht so unter Druck setzen sollen. Und alles war nur die Schuld dieses blöden Schlüssels.

Unwillkürlich wanderte ihre Hand zu der Kette um ihren Hals. Sie spielte damit und hatte nach kurzer Zeit den kleinen Kristallschlüssel zwischen den Fingern, drehte ihn hin und her und befühlte die glatte Oberfläche – so, wie sie es in den vergangenen drei Wochen schon so oft getan hatte.

Hätte Oma mir dieses Ding doch nie geschenkt, dachte sie bitter. Gleichzeitig fühlte sie dabei ein unerklärliches Schuldbewusstsein. So, als würde sie dem Schlüssel unrecht tun. Einerseits hatte sie furchtbare Angst vor dem hübschen, gar nicht gefährlich wirkenden Anhänger. Anderseits wollte sie ihn auch nicht ablegen. Sie spürte, dass das falsch gewesen wäre; dieser Schlüssel gehörte zu ihr, so wie die Nase in ihrem Gesicht.

Seit ihrer Rückkehr aus dem Jahr 1632 befürchtete Keyra, dass irgendwo wieder ein Schloss zu leuchten und zu singen beginnen würde, dass es sie wieder in eine andere Zeit riss, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Sie hatte den Tick entwickelt, das kleine ledergebundene Buch, das sie von ihrer Großmutter bekommen hatte, immer bei sich zu führen – nicht in ihrem Rucksack oder einer Handtasche, sondern in der Hosentasche ihrer Jeans. Sie wollte es dicht am Körper haben, damit es bei ihr sein würde, falls sie erneut unfreiwillig auf die Reise ging.

Ihr Vater und Lou machten sich Sorgen um Keyra, dachten aber, dass sie wegen ihrer Großmutter neben der Spur war. Keyra ließ sie in diesem Glauben – sie konnte ihnen schlecht erklären, was sie außerdem noch bedrückte. Die traurige Wahrheit sah so aus, dass der einzige Mensch, mit dem sie darüber hätte reden können, ihre Großmutter war.

Wie soll ich mich denn bei diesem ganzen Chaos auf den blöden Lessing konzentrieren?

Keyra ließ ihre flache Hand frustriert auf die Seiten des gelben Reclam-Heftes klatschen. Der Text erinnerte sie zudem an ihre jüngsten Abenteuer in der Vergangenheit. Tut nichts, der Jude wird verbrannt. Noch so ein religiöser Eiferer, der Unschuldige töten wollte – von denen hatte sie vorerst die Nase voll. Auch das Zitat: „Gott kann, wen er retten will, schon ohn‘ ihn retten“ machte ihr zu schaffen: Sie hatte ihre Freunde nicht retten können, und weder Gott noch sonst jemand hatte es an ihrer Stelle getan.

„Das ist nicht deine Aufgabe“, hatte Clara Schlosser zu ihr gesagt.

Keyra schnaubte wütend. Könnte bitte endlich mal jemand kommen und mir ganz genau erklären, was bitte meine Aufgabe ist?

Keyra fühlte sich allein und im Stich gelassen, und wieder einmal war sie den Tränen nahe.

„Oh je – ist das Buch wirklich so schlimm? Die Müller hat angekündigt, dass wir es im nächsten Halbjahr im Grundkurs lesen, aber wenn selbst Leistungskurs-Schüler daran verzweifeln …“

Keyra sah erschrocken auf. Neben ihrem Tisch stand Ben – ausgerechnet Ben! – und musterte sie belustigt. Als er ihre Miene sah, wurde er schlagartig ernst.

„Tut mir leid“, sagte er zerknirscht. Seine hochgegelten blonden Haare saßen tadellos und er sah wie immer umwerfend aus. „Ich habe gesehen, wie du auf das Buch geschlagen hast und dachte, du bist wegen irgend einer Aufgabe frustriert und wollte dich etwas aufziehen. Aber jetzt …“

„Du hast mich beobachtet?“, platzte Keyra heraus. Sie wurde rot und hoffte, dass Ben das für Entrüstung hielt. Eigentlich wusste sie nicht, ob sie sich geschmeichelt oder beschämt fühlen sollte. Ben Hartmann hat mich beobachtet. Keyra war konsterniert. Er weiß nicht nur, dass ich existiere, er beobachtet mich sogar heimlich. Wenn ich das Lou erzähle …

„Naja, ich war dort hinten und habe für den Geschichtsaufsatz recherchiert“, sagte Ben und zeigte entschuldigend auf einen dicken Wälzer, den er unter den Arm geklemmt hatte. Keyra schielte auf den Titel. Irgendwas über die amerikanische Besatzungszeit. „Als ich zurückkam, habe ich dich gesehen und mich etwas gewundert. Du bist doch sonst so gut in Deutsch, oder?“

Keyra zuckte mit den Schultern, konnte aber nicht umhin, sich schon wieder geschmeichelt zu fühlen. Sie waren seit zwei Jahren nicht mehr im gleichen Deutschkurs und Ben wusste immer noch, dass sie gut in Deutsch war. Yippie!

„Schon“, sagte sie, da Ben sie gespannt ansah. „Es liegt auch nicht an dem Buch. Ich habe momentan einfach so viel um die Ohren, dass ich mich nicht richtig darauf konzentrieren kann.“

Bens Blick wurde mitfühlend. „Ach so. Stimmt, ich habe gehört, dass es deiner Oma nicht gut geht.“

„Woher weißt du das?“, fragte Keyra verblüfft.

Ben zuckte die Schultern. „Hab es irgendwo mitbekommen. Was hat sie denn?“

Keyra seufzte und betastete wieder ihren Anhänger. „Sie ist vor ein paar Tagen zusammengebrochen und liegt seitdem im Krankenhaus und ist nicht mehr ansprechbar. Ich denke, die Ärzte glauben nicht, dass sie nochmal richtig aufwacht.“

„Shit.“

„Du sagst es. Heute wird sie in die Seniorendependance nach Marköbel verlegt. So heißt bei uns das Seniorenheim. Mein Vater meint, die brauchen im Krankenhaus die Betten.“

„Das ist aber doch besser. Ich hasse Krankenhäuser.“ Bens Gesicht verdüsterte sich. Keyra ahnte warum: Bens Mutter war, soweit sie wusste, in einem Krankenhaus gestorben, kurz bevor Keyras eigene Mutter verschwunden war. Sie wusste nicht, welche Krankheit sie gehabt hatte. Vielleicht fühlte sich Keyra Ben auch deswegen verbunden.

„Stimmt schon.“ Keyra atmete durch. „Und ich habe es nicht so weit, wenn ich sie besuchen will.“

Sie registrierte, dass Ben interessiert den Schlüssel betrachtete, den sie zwischen ihren Fingern drehte. Das, oder er starrte ihr auf die Brüste.

„Das ist ein interessanter Anhänger. Wo hast du den denn her?“, fragte er schließlich.

„Die Kette war ein Geschenk.“ Keyra hielt den Schlüssel perplex fest. Seit wann interessiert sich Ben für Schmuck?

Er bemerkte ihre Irritation und lachte verlegen. „Ich bin auch gerade auf der Suche nach einem Geschenk und dachte …“

„Ein Geschenk – etwa zu meinem Geburtstag?“, flötete eine Mädchenstimme hinter Keyra. Greta trat an Bens Seite und hakte sich besitzergreifend bei ihm ein. Wie immer war sie perfekt gestylt, wenn auch für Keyras Geschmack mit dem rückenfreien Top etwas zu sommerlich für Mai angezogen. „Du brauchst mir doch nichts Großartiges zu schenken, Süßer – es reicht vollkommen, wenn du zu meiner Party kommst“, fuhr sie fort.

Ben wirkte ertappt. Aber er machte nicht den Eindruck, als ob es ihn störte, dass Greta ihm so auf die Pelle rückte. Keyra ließ schnell den Schlüssel zurück unter ihr Shirt gleiten. Sie war etwas enttäuscht, dass Ben nur Interesse an dem Schlüssel gezeigt hatte, weil er ein Geschenk für Greta suchte.

„Klar komme ich“, sagte Ben. „Du hast schließlich den ganzen Jahrgang eingeladen, da würde ich doch was verpassen.“

„Das würdest du wirklich – denn ich habe nicht nur den Jahrgang, sondern die ganze Oberstufe eingeladen“, schnurrte Greta zuckersüß und drängte sich näher an Ben. Das war ihm dann wohl doch zu viel, denn er wandte sich wieder an Keyra.

„Du kommst doch bestimmt auch zur Party am übernächsten Wochenende, oder?“, fragte er. Greta wirkte überrascht und warf einen Blick auf Keyra, als hätte sie sie gerade erst bemerkt. „Ach so? Na, die kann von mir aus auch kommen.“

Keyra spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Sie sprang auf und packte das Buch in ihren Rucksack. „Sorry, an dem Wochenende kann ich nicht.“

„Zu schade. Ist da die Jahresversammlung der Loser?“ Greta neigte spöttisch den Kopf zur Seite.

„Mein Vater hat einen Kurz-Auftrag in Kairo. Und vielleicht fahre ich das Wochenende über mit ihm dorthin“, sagte Keyra kühl.

Es hätte so ein eleganter Abgang sein können. Leider erwischte sie, als sie ihren Rucksack schwungvoll vom Tisch nahm, mit einem Riemen den halbvollen Kakaobecher und warf ihn um. Die erkaltete Milch spritzte ihr über die Jeans.

Greta lachte los wie eine Hyäne. „Du bist echt so was von dämlich, du Opfer!“

Keyra betrachtete die Sauerei auf ihrer Hose und fühlte das Blut in ihren Wangen pulsieren. Sie drehte sich herum und verließ fluchtartig die Bibliothek.

2. Der Pfleger

Zum Glück musste Keyra nur noch zwei Stunden Kunst überstehen, in denen sie weder mit Greta noch mit Ben im gleichen Kurs war. Sie kritzelte lustlos an einer Kohlezeichnung und war mit ihren Gedanken die meiste Zeit woanders.

Kaum ertönte der Schulgong, der den Beginn des Wochenendes einläutete, sprang Keyra auf und eilte hinaus.

Am liebsten wäre sie im Höchsttempo mit ihrer lila Vespa nach Hammersbach gebraust. Doch angesichts der Wetterlage hielt sie eine vorsichtigere Fahrweise für angemessen. Sie war im vergangenen Jahr schon einmal auf nasser Fahrbahn gestürzt und konnte darauf verzichten, sich wieder Arme und Beine aufzuschürfen. Außerdem war sie nicht sicher, ob der Krankentransport ihre Großmutter wirklich schon in die Seniorendependance gebracht hatte. Vielleicht kam sie auch erst später am Nachmittag dort an. Keyra wollte aber auf jeden Fall dort sein, um Claras Sachen einzuräumen und das Zimmer etwas persönlich zu gestalten, auch wenn ihre Großmutter das gar nicht mitbekam. Vorerst, sagte sich Keyra trotzig. Sie wacht bestimmt bald wieder auf.

Die Seniorendependance lag mitten im historischen Ortskern von Marköbel, direkt am Obertor und neben dem alten Friedhof. Keyra fuhr vorsichtig auf den Hof und stellte ihre Vespa ab. Bevor sie ihren Rucksack aufsetzte, nahm sie das ledergebundene Buch heraus. Sie steckte das Wächterbuch in die hintere Hosentasche ihrer Jeans. Nach wie vor wusste sie nicht, wie das Reisen in die Vergangenheit funktionierte. Aber sie fühlte sich einfach sicherer, wenn sie das Buch so dicht wie möglich am Körper trug.

„Guten Tag, Frau Bender“, begrüßte sie eine Mitarbeiterin, die sie am Eingang traf. Sie und ihr Vater Rory hatten schon mehrfach mit der freundlichen Frau gesprochen, als es um Formalitäten wegen des Einzuges ihrer Oma ging. Da Keyra die einzige Verwandte von Clara Schlosser war, hatte ihr Vater ihr dabei geholfen, den Umzug zu organisieren.

„Guten Tag, Keyra“, sagte die Frau freundlich. „Sie kommen gerade rechtzeitig – der Krankentransport hat Frau Schlosser eben gebracht, sie ist schon auf ihrem Zimmer. Soll ich Sie hinbringen?“

„Nein, danke, ich weiß den Weg noch“, sagte Keyra und bemühte sich um ein Lächeln. Alle hier waren sehr nett und zuvorkommend, doch Keyra fand die Situation immer noch grauenhaft. Ihre Oma war vor nicht einmal einem Monat eine aktive und gesunde Frau gewesen, die sich problemlos selbst versorgen konnte – und jetzt lag sie hier in diesem Heim, statt wie früher lachend auf ihrer Terrasse zu sitzen und Tee zu trinken. Es ist nur vorübergehend, sagte Keyra zu sich selbst, immer wieder wie ein Mantra, während sie den Gang entlang ging.

Die Räume der Patienten – hier sagte man „Bewohner“ –, die intensive Pflege benötigten, lagen an der Westseite des Gebäudes. Clara Schlossers Zimmer war eines der ersten auf dem Flur. Die Tür war nur angelehnt, und Keyra ging leise hinein.

Das Zimmer war angenehm groß – größer, als es Clara Schlossers Schlafzimmer in ihrem Fachwerkhaus in Langen-Bergheim gewesen war. Es gab eine Sitzecke, einen großen Schrank, eine Kommode und ein Nachtschränkchen. Eine Tür führte in ein seniorengerechtes Badezimmer. Vor dem Fenster sah man die verwitterten Steine der ehemaligen Stadtmauer, hinter der sich der alte Friedhof befand. Kein besonders erbauender Anblick – allerdings würde Clara Schlosser vorerst nichts daran auszusetzen haben.

Dominiert wurde das Zimmer von dem riesigen Krankenbett, in dem Keyras Großmutter lag und klein wie eine Puppe aussah. Die weißen Haare, die sie sonst adrett frisiert trug, lagen auf dem Kopfkissen wie ein Heiligenschein.

„Hallo, Oma“, sagte Keyra und trat näher an das Bett heran. Sie streichelte die Hand von Clara Schlosser, die schlaff auf der Bettdecke lag. Sie schluckte und spürte einen Kloß im Hals. Wenigstens gab es hier nicht die unzähligen Apparate, die im Krankenhaus am Bett von Clara Schlosser gestanden hatten. Das ununterbrochene Piepsen und Summen hatte Keyra fast an den Rand des Wahnsinns getrieben. Doch die Ärzte meinten, dass die Apparate nun überflüssig seien. Ihrer Großmutter ging es körperlich gut. Sie wachte nur nicht auf. Es war, als würde sie tief schlafen. Sie müsse nur aufwachen, sagten die Ärzte.

Leider tat sie das nicht. Clara Schlosser atmete tief und gleichmäßig, schluckte, wenn man ihr etwas zu essen und zu trinken gab, doch mehr Reaktionen zeigte sie nicht. Manchmal öffnete sie sogar die Augen, doch sie schlief weiter. Auch jetzt, als Keyra ihre Hand streichelte, blieb diese reglos liegen.

„Ich werde mal ein wenig dein Zimmer einrichten, damit du es hier auch gemütlich hast“, sagte Keyra und setzte ihren Rucksack ab. Der Arzt, der Clara betreute, war der Meinung, dass man viel und intensiv mit ihr reden solle. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie uns hört“, rief sich Keyra seine Worte in Erinnerung. „Und vielleicht führen unsere Stimmen sie zurück aus ihrem Schlaf.“

Deswegen hatte es sich Keyra zur Angewohnheit gemacht, mit ihrer Großmutter genauso zu plaudern, wie sie es früher auch getan hatte, ihr von ihrem Schulalltag und ihren Sorgen zu erzählen. Nur, dass Clara ihr nicht mehr antwortete.

„Weißt du, Oma“, begann Keyra, während sie zu dem Sofa ging, auf das jemand Claras Tasche abgestellt hatte, „ich habe mir heute in der Schule mal wieder was geleistet. Und das ausgerechnet vor Ben Hartmann.“ Sie öffnete den Reißverschluss und räumte die Tasche aus, während sie Clara von ihren Erlebnissen in der Schulbibliothek berichtete.

„… und dann habe ich den Becher umgeworfen und hatte eine Kakao-Hose“, sagte Keyra und setzte einen Stapel Nachthemden in den Schrank. Sie seufzte. „Wenn ich doch nur nicht so furchtbar tollpatschig wäre! Da spricht Ben einmal mit mir – und das auch noch völlig freiwillig! Und dann mache ich mich zum Affen. Wenn ich das Lou erzähle, liegt sie vor Lachen auf dem Boden.“

Beinahe abwartend sah Keyra ihre Großmutter an. Natürlich reagierte Clara nicht auf ihre Erzählung. Keyra ging zu dem Bett und strich ihrer Großmutter eine weiße Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Ich hätte so viele Fragen an dich.“ Eine einzelne Träne lief Keyras Wange hinunter. „Bitte wach doch wieder auf.“

Doch Clara regte sich nicht. Kein Zucken ihrer Lider, keine Bewegung ihrer Glieder verriet, ob sie ihre Enkelin gehört hatte.

Keyra seufzte und wischte sich beinahe widerwillig über das Gesicht. Mit gerunzelter Stirn sah sie sich in dem Zimmer um. Die Kleidung und die Hygieneartikel hatte sie an die dafür vorgesehenen Plätze geräumt. Dennoch wirkte der Raum kahl.

„Weißt du was?“ Keyra schlug nun einen bewusst unbeschwerten Ton an. „Ich werde ein paar von deinen Sachen aus dem Haus holen. Vielleicht ein paar Fotos, oder die kleinen Porzellanfiguren, die du so gerne magst. Dann sieht es hier bald ganz anders aus und du wirst dich gleich viel wohler fühlen …“

„Sie meinen wohl, dass Sie sich dann hier wohler fühlen“, erklang eine spöttische Stimme von der Tür.

Keyra sah irritiert auf. Am Eingang stand ein junger Mann, vielleicht Anfang 20. Als Erstes fielen Keyra die hellblauen Augen auf, die sie ernst musterten, als Zweites die kurzen, schwarzen Locken. Er trug die weiße Kleidung eines Krankenpflegers.

„Wie bitte?“ Keyra wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte.

Der Mann kam ungefragt herein und kritzelte mit einem Kuli etwas auf einen Zettel, den er auf einem Klemmbrett befestigt hatte. „Ich sagte, Sie wollen hier persönliche Gegenstände aufstellen, damit Sie sich selbst besser fühlen – der Patientin bringt das rein gar nichts.“ Er kritzelte abwesend weiter. „Es ist demzufolge vollkommen überflüssig, hier irgendwelchen Schnickschnack und Krimskrams hinzustellen, damit er Staub fängt. Genauso überflüssig, wie mit der Patientin zu sprechen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.“

„Dürfen Sie nicht!“, sagte Keyra spitz. Sie kannte diesen Typen erst wenige Sekunden, aber er war ihr bereits in seiner vollen Länge unsympathisch – und das wollte etwas heißen, denn er war sehr groß, bestimmt noch etwas größer als Ben, der bereits alle anderen des Jahrganges überragte. Dafür war er nicht so muskulös, sondern wirkte eher schlaksig, ging leicht gebeugt, als wäre ihm diese Größe unangenehm.

Keyra verschränkte die Arme vor der Brust. „Wer sind Sie überhaupt, und was wollen Sie hier?“

„Entschuldigen Sie, das war unhöflich von mir.“ Der Fremde machte einen halben Diener, als ob sie sich gerade auf dem Frankfurter Opernball begegnet wären. „Mein Name ist Graf Leopold von Wachtberg, und ich bin ab heute der persönliche Pfleger Ihrer Großmutter – sofern Sie, wie ich annehme, Keyra Schlosser sind?“

„Keyra Kelly“, verbesserte sie automatisch. Der Typ ging ihr mit seiner gestelzten Art immer mehr auf die Nerven. Das ist doch nicht gerade typisch, dass ein Pfleger so komisch quatscht, oder? „Ja, ich bin Clara Schlossers Enkelin. Und noch viel unhöflicher finde ich, dass Sie mich heimlich beobachten und belauschen.“

„Da muss ich Sie berichtigen: Die Tür stand auf und ich kam nicht umhin, Ihre Worte zu hören, als ich die Patientin in Augenschein nehmen wollte.“ Von Wachberg sah bei diesen Worten von seinem Klemmbrett auf.

Keyra biss sich auf die Unterlippe. „Sagt man hier nicht Bewohnerin statt Patientin?“

Leopold zuckte mit den Schultern. „Das sind nur Worte. Tatsache ist, dass Frau Schlosser pflegebedürftig ist und ich mich um sie kümmern werde, was sie zu meiner Patientin macht. Dass sie hier wohnt, ist für mich nebensächlich. Genauso, wie für Sie die Dekoration des Raumes Nebensache sein sollte. Damit helfen Sie Ihrer Großmutter nicht weiter.“

„Das ist ja wohl …“ Keyra fehlten die Worte. „Was für ein Pfleger sind Sie überhaupt? Seit wann lassen sich Vertreter des Adels zu solch niederen und schlecht bezahlten Jobs überreden, Graf von Wachtberg?“ Sie betonte die letzten Worte besonders ironisch, wie sie hoffte. Doch sie befürchtete, dass sie einfach nur zickig klang. Dieser Kerl hatte eine Art an sich, die sie aggressiv machte – und das lag nicht nur daran, dass er klang wie ein englischer Lord.

„Sie können mich ruhig Leopold nennen – aber bitte nicht Leo, das ist albern. Ich lege auf meinen Titel keinen Wert, wenn ich auch die damit verbundene Kinderstube genossen habe. Ich versichere Ihnen, dass ich bestens qualifiziert für diese Aufgabe bin.“