Schmerz Los Werden - Lars Amend - E-Book

Schmerz Los Werden E-Book

Lars Amend

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Beschreibung

****Das Schmerzbefreiungsbuch*** In unserem so zivilisierten und hochtechnisierten Land erleiden viele Menschen völlig unnötig unvorstellbare Qualen. Damit muss Schluss sein! Findet der bekannte Schmerztherapeut und Palliativmediziner Sven Gottschling. In einer gut verständlichen Sprache zeigt er, dass Schmerzen nach einer Operation nicht sein müssen, wie die Schmerzempfindlichkeit besonders von Neugeborenen und alten Menschen berücksichtigt werden sollte, was man gegen Kopf-, Bauch- und Rückenschmerzen tun kann und wodurch Menschen mit chronischen Schmerzen ein schneller Zugang zu einer wirkungsvollen Schmerztherapie ermöglicht wird.

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Seitenzahl: 294

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PROF. DR. MED. SVEN GOTTSCHLING mit Lars Amend

SCHMERZ LOS WERDEN

Warum so viele Menschen unnötig leiden und was wirklich hilft

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoWidmungAua!Kapitel 1 Was ist Schmerz?Wenn ein Patient über Schmerzen klagt, hat er immer rechtDer psychische Aspekt von SchmerzDer soziale Aspekt von SchmerzAkutschmerz vs. chronischer SchmerzKapitel 2 Entwicklung unseres SchmerzsystemsWoher kommen diese Erkenntnisse und was können wir daraus ableiten?»Unbehandelte oder unterbehandelte Schmerzen machen doof!«Kapitel 3 Schmerz in verschiedenen KulturenKennt der Indianer keinen Schmerz?Das »Mittelmeer-Syndrom«Die Schmerzempfindungsschwelle ist in allen Kulturen gleichGesellschaftliche ErwartungshaltungKapitel 4 Ist Schmerz männlich?Ist also alles eine Frage der Hormone?Kapitel 5 Schmerz bei KindernSchmerzen bei Kindern – ein allgemeinerer BlickDu wächst bestimmt!Typische Schmerzformen im Kindesalter und was zu tun istKopfschmerzen bei KindernMigräne bei KindernSpannungskopfschmerzen bei KindernWas sollte ich an Untersuchungen veranlassen?Welche Untersuchungen sind bei Kopfschmerzen absoluter Quatsch?Wann muss ich tatsächlich weitergehende Untersuchungen veranlassen?Wie behandelt man Kopfschmerzen bei Kindern?BauchschmerzenKapitel 6 Schmerzen im AlterDer Schmerz wächst mit dem AlterWann ist man eigentlich alt?Schmerzbehandlung in HeimenDement und im HeimKapitel 7 Medikamente gegen SchmerzenDas WHO-Stufenschema zur SchmerztherapieNicht-Opioid-SchmerzmittelFunktionen und Nebenwirkungen1. Die Gruppe der NSAR (z.B. ASS, Ibuprofen, Diclofenac)2. Paracetamol3. Metamizol/Novaminsulfon (Novalgin®)Opioid-SchmerzmittelVorurteil 1: Morphin macht süchtig/abhängig:Vorurteil 2: Morphin bekommt man zum SterbenVorurteil 3: Sobald man Morphin bekommt, dämmert man nur noch so vor sich hinVorurteil 4: Man darf Morphin nicht zu früh einsetzen, sonst verliert es seine WirkungVorurteil 5: Der Einsatz von Morphin beschleunigt den TodVorurteil 6: Morphin hat eine DosisobergrenzeVorurteil 7: Morphin führt zu AtemdepressionVorurteil 8: Morphin wird von vielen Patienten nicht gut vertragenMedikamente gegen NervenschmerzenKapitel 8 Nicht-medikamentöse SchmerztherapieManuelle MedizinWas verbirgt sich hinter den verschiedenen Begriffen?Muskulär verkümmerte CouchmonsterPhysiotherapieBiofeedbackPsychologische SchmerztherapieProgressive MuskelentspannungAutogenes TrainingHypnoseMedizinisches CannabisKapitel 9 Placebo – Nocebo – EffekteDie Macht der WorteDie wunderbare Wirkung des Placebo-EffektsBei Nebenwirkungen …Kapitel 10 Postoperative SchmerzenDer Operations-Boom hält anKapitel 11 Schmerzen durch medizinische MaßnahmenModerne FoltermethodenKapitel 12 Krankheitsbedingte Schmerzen1. KopfschmerzenWieso können wir überhaupt Kopfschmerzen empfinden?SpannungskopfschmerzVorsicht vor Schmerzmedikamenten!MigräneWas passiert bei Migräne eigentlich im Kopf?Wie sieht eine typische Migräne aus?Cluster-KopfschmerzKopfschmerzen durch MedikamentenübergebrauchWas kann man als Patient selbst für sich tun?Trinken, trinken, trinken2. Rückenschmerzen»Schätzelein, ich habe Rücken!«Wie lässt sich also der radikuläre vom pseudoradikulären Schmerz unterscheiden?3. BauchschmerzenWann muss ich zum Arzt?»Das schlägt mir auf den Magen«4. GelenkschmerzenOhne gesunde Gelenke geht (fast) nichtsArthroseArthritisRheuma5. Tumorschmerzen/Schmerzen am LebensendeTumorschmerzen muss man nicht aushaltenKapitel 13 Wo bekomme ich Hilfe?SelbsthilfegruppenDer Hausarzt/der KinderarztArzt mit Zusatzbezeichnung »Spezielle Schmerztherapie«Psychotherapeut für »Spezielle Schmerzpsychotherapie«Die SchmerzambulanzDie SchmerztagesklinikDie SchmerzklinikDie interdisziplinäre SchmerzkonferenzDanke!Nützliche WebsitesÄrzte mit der Zusatzbezeichnung »Spezielle Schmerztherapie«Psychotherapeuten mit Zusatzbezeichnung »Spezielle Schmerzpsychotherapie«SelbsthilfegruppenFür Cluster-KopfschmerzFachgesellschaftenPatienten-LeitlinienEinrichtungenWeitere InformationsquellenWollen Sie unsere Arbeit mit einer Spende unterstützen?

Schmerz ist ein Meister, der uns klein macht,

Ein Feuer, das uns ärmer brennt,

Das uns vom eigenen Leben trennt,

Das uns umlodert und allein macht.

 

Hermann Hesse

Man kann sich seine Eltern

nicht aussuchen.

Schön, wenn man trotzdem

einen Volltreffer landet.

 

Inge und Klaus

 

dieses Buch ist für Euch

Aua!

Meine ersten wirklich hässlichen Schmerzerfahrungen durfte ich im Alter von fünfzehn Jahren machen: Die Weisheitszähne waren fällig, alle vier. Nach längerem Hin und Her – nur jeweils zwei Zähne operieren oder gleich alle vier, in Vollnarkose, weil sie allesamt noch im Kieferknochen sitzen, oder lieber doch nur in örtlicher Betäubung – überzeugte mich der Kieferchirurg letztlich mit den Worten: »Ich setz dir einfach ein paar kleine lokale Spritzen, da merkst du gar nichts und nach spätestens einer halben Stunde sind wir fertig.«

Dann lag ich da, auf diesem Folterstuhl, der ganz nach hinten gekippt war und der nette Doktor ging beherzt – sein eigenes Tun stets launig kommentierend – ans Werk. Während der ersten halben Stunde wirkte die lokale Betäubung noch ganz anständig und fast wäre auch schon der erste Zahn draußen gewesen, hätte er sich nicht mit aller ihm zur Verfügung stehenden Gewalt und Raffinesse fest in meinen Kiefer gekrallt. So hebelte der Chirurg mit seinem Werkzeug, das sich wie ein meterlanges Brecheisen anfühlte, wild in meinem Kiefer herum und fluchte – inzwischen gar nicht mehr so gutgelaunt, doch immer noch sehr mitteilungsbedürftig – immer wieder lautstark: »Scheißwurzel, wie soll ich das Drecksding da jemals rauskriegen? Hoffentlich bricht mir jetzt nicht der Kiefer!«

Letzten Endes musste die lokale Betäubung noch fünfmal nachgespritzt werden, weil die Dosierung nicht ausreichte und ich mich immer krampfhafter in die Lehne krallte, und – so gut das mit einem sperrangelweit geöffneten Mund und einer Brechstange darin eben geht – elendig vor mich hin wimmerte. Nach insgesamt zweistündiger Folter – alle vier Weisheitszähne mussten mit einer Spezialsäge im Kieferknochen zerkleinert und einzeln herausgepopelt werden – war ich dann endlich fertig, und zwar nach Ansicht des Arztes genauso, wie es mir im Vorfeld versprochen wurde: schmerzfrei, schnell und problemlos. Jedenfalls fast. Routine eben.

Das nächste nicht minder prickelnde Schmerzerlebnis hatte ich mit Anfang zwanzig. Nach der gefühlt 527sten eitrigen Mandelentzündung wurde mir wärmstens ans Herz gelegt, mir den Problemherd doch ein für alle Mal entfernen zu lassen, und so entschloss ich mich zu einer Mandeloperation. Blöderweise hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon knapp zwei Jahre Rettungsdienst als Zivildienstleistender hinter mich gebracht und wiederholt beobachten müssen, wie zum Teil sehr junge, sehr überforderte Notärzte im Eifer des Gefechtes und beim Versuch, Menschenleben zu retten, bei der Platzierung eines Schlauches in der Luftröhre mit dem dazu notwendigen Werkzeug – dem Laryngoskop (ein Spatel mit einer Lichtquelle, mit dem man die Zunge weghält und den Kehlkopfeingang beleuchten kann) – versehentlich den ein oder anderen Schneidezahn herausgehebelt hatten. Natürlich geht es bei einem Routineeingriff wie einer Mandeloperation nicht um Leben und Tod, aber die Vorstellung, ohne Frontzähne wieder aufzuwachen, war mir durch und durch unerträglich. Hinzu kam, dass mir meine Tante mit großer Begeisterung von einem Eingriff (ich glaube, an ihrem Knie) erzählt hatte, den sie erst kürzlich bei vollem Bewusstsein und nur unter regionaler Betäubung bei ihr vorgenommen hatten und den sie über einen Fernsehmonitor vollständig hatte mitverfolgen können. Ganz locker klopfte sie mir auf die Schulter und sagte: »Mensch Sven, du studierst doch Medizin, lass dir das örtlich betäuben, da hängen überall Spiegel, damit du alles sehen kannst. Schau einfach zu, wie sie dich operieren. Das ist total faszinierend.«

Am Vorabend der Operation, ich war schon im Krankenhaus eingecheckt, bestellte ich dann äußerst zuversichtlich und zum Erstaunen aller tatsächlich eine Operation in lokaler Betäubung. Der Professor schaute mich fragend an und sagte: »Sie sind der erste Patient, der das in den letzten zehn Jahren so haben möchte. Ich mache Ihnen das, aber eines sollten Sie wissen: Angenehm wird’s nicht! Außerdem haben Sie ein höheres Nachblutungsrisiko, weil wir Ihnen große Mengen an Betäubungsmitteln in und hinter die Mandeln spritzen müssen. Das drückt die Blutgefäße durch den Gewebsdruck zu, und wahrscheinlich blutet es während der Operation weniger, dafür kann es hinterher aber umso heftiger werden. Wollen Sie das immer noch?« Ja, klar wollte ich. Neugier gepaart mit der Gewissheit, dass ich so auf jeden Fall meine Schneidezähne behalten würde, ließen gar keinen Plan B zu.

Am nächsten Morgen ging es gutgelaunt in den Operationssaal. Zwei Stunden vor dem geplanten Eingriff hatte ich schon meine Leck-mich-am-Arsch-Tablette bekommen und war entsprechend relaxt. Was dann kam, war allerdings alles andere als entspannend: Mit einer unendlich langen Nadel wurden mir gefühlte tausend Liter Betäubungsmittel durch den Mund in die Rachenhinterwand geschossen. Zu meiner eigenen Sicherheit, damit ich während der Operation nicht reflexartig meinen Mund schließe, bekam ich einen Mundspreitzer aus Edelstahl in die Kauleiste gehakt, sozusagen eine Maulsperre. Die Spritzen hinten in den Rachen taten höllisch weh, und leider war die Betäubung auch nicht das, was man darunter vermuten würde. Zu allem Überfluss äußerte die erfahrene OP-Schwester, während der Arzt mit einem scharfen Löffel in meinen Gaumenbögen herumschabte, immer wieder ihre Bedenken: »Das gefällt mir gar nicht, der blutet zu wenig, der blutet viel zu wenig. Eijeijeijeijei, und dann ist er auch noch ein angehender Kollege. Ich hab kein gutes Gefühl, gar kein gutes Gefühl.«

Nach überstandener Prozedur kam ich zurück auf die Station. Langsam begann ich mich wieder zu entspannen und überlegte, welchen Trick ich anwenden könnte, um die unangenehmen Bilder und Geräusche der OP wieder aus meinem Kopf zu bekommen. Viel Zeit zum Überlegen blieb mir nicht, denn ich merkte, wie mir plötzlich irgendeine Flüssigkeit hinten die Rachenwand herunterrann. Ich klingelte nach der Schwester, die schaute mit der Taschenlampe in meinen Hals, sagte: »Auweia, das sieht nicht gut aus«, und hängte mir ein blutgerinnungsförderndes Medikament an. Zehn Minuten später hatte ich einen massiven metallischen Geschmack im Mund und musste dauernd irgendetwas Ekliges herunterschlucken. Ich klingelte erneut. Als die Schwester mich fragte, was los sei, und ich den Mund öffnete, um etwas zu sagen, schoss ihr spritzend arteriell und pulssynchron mit jedem Herzschlag eine kleine Blutfontäne entgegen. Keine zwei Minuten später fand ich mich, ohne jedwede Betäubung und bei vollem Bewusstsein im OP wieder, wo man mir zur notfallmäßigen Blutstillung ein Elektrolasergerät in die Blutungsquelle im Gaumen hielt. Ein scharfer Schmerz, wie eine Kombination aus Stromschlag und Messerstich, machte sich in meinem Rachen breit und eine dunkle Rauchwolke verbrannten Fleisches stieg aus meinem Mund auf. Die Blutstillung dauerte noch einmal etwa zehn bis fünfzehn Minuten. Wie gesagt, ohne jedwede Betäubung wurde mir im Rachen Gewebe verkocht, es wurden tiefe Umstechungen vorgenommen und beherzte Knoten in höchst empfindlichem Gewebe festgezurrt.

Als ich danach wieder auf die Station kam, wurden meine Blutwerte kontrolliert und siehe da, ich war von initial einem Hb von 16,9 auf einen Hb auf 8,3 heruntergeblutet. Hb ist die Abkürzung von Hämoglobin. Das ist der rote Blutfarbstoff und damit unser Sauerstoffträger im Blut. Er ist auch ein Marker für Blutverlust, das heißt, ich hatte in dieser kurzen Zeitspanne, von Beginn der Blutung bis zur Blutstillung, auf mein Körpergewicht bezogen (ich gehöre zur Gattung der »Ühus«, der über hundert Kilo-Menschen), rund zwei Liter Blut verloren. Ein wahrhaft einmaliges Erlebnis!

Da aller guten Dinge bekanntlich drei sind, fehlt noch eine letzte Geschichte: Ich war mittlerweile Anfang dreißig, stand kurz vor meiner Facharztprüfung und hatte Nachtdienst auf der Kinderintensivstation, als sich hinterrücks eine Mittelohrentzündung anschlich. Und was macht man natürlich als guter, pflichtbewusster Arzt in so einer Situation? Man schleppt sich trotz Schmerzen und Fieber auf die Arbeit! Ich hatte mich zwar mit Schmerzmitteln und Antibiotika ein wenig gedopt, allerdings führte mein falsch verstandenes Pflichtbewusstsein dazu, dass ich wenig später richtig auf der Schnauze lag und die Kollegen der Hals-Nasen-Ohren-Klinik mir eine Mittelohrentzündung diagnostizierten, die gerade dabei war, ins Innenohr durchzubrechen. Es erfolgte eine notfallmäßige ambulante Schlitzung beider Trommelfelle, das Absaugen von Eiter im Mittelohr, sowie die Einlage von sogenannten Paukenröhrchen, das heißt, zwei minikleine Goldröhrchen im Trommelfell, die die Belüftung des Mittelohres wieder herstellen sollten. Ein durchaus gängiges Verfahren bei vielen Kleinkindern, bei denen sich zum Teil zäher Schleim im Mittelohr sammelt, der zur Beeinträchtigung des Hörvermögens und auch der Sprachentwicklung beitragen kann. Die unsäglichen Worte des Kollegen vor der OP kamen mir irgendwie bekannt vor: »Das machen wir gleich hier und ambulant in lokaler Betäubung, das ist keine große Sache!« Ich bekam ein paar schmerzlindernde Kokain-Tröpfchen ins Ohr, kombiniert mit einer lokalen Betäubungsspritze. An dieser Stelle sollte ich vielleicht erwähnen, dass es zumindest unter Fachleuten bekannt und unstrittig ist, dass in entzündetem Gewebe lokale Betäubungsmittel nicht oder allenfalls nur äußerst unzureichend ihre Wirkung entfalten können und auch von Kokain hatte ich mir, nach allem, was man aus der Boulevardpresse so hört, deutlich mehr erwartet. Im Nachgang kann ich sagen, dass ich alles, aber auch wirklich alles gespürt habe.

Wissen Sie, wie es sich anhört, wenn ein Skalpell durch Ihr Trommelfell schneidet? Haben Sie eine Ahnung davon, wie unfassbar weh das tut? Und das war nur das Vorspiel. Nachdem das Trommelfell geschlitzt war, wurde ein kleiner Sauger ins Mittelohr gesteckt, um den Eiter abzusaugen und das Mittelohr zu spülen. Versuchen Sie sich einmal bildlich vorzustellen, wie das wäre, wenn Sie sich das Rohr Ihres Staubsaugers durch den Gehörgang bis ins Mittelohr stecken würden, um dann die volle Saugleistung abzurufen. Ich sage Ihnen, wäre ich in dem Moment bewaffnet gewesen, der Kollege hätte im direkten Duell mit Sicherheit nur einen guten zweiten Platz belegt. Danach fummelte er noch weitere zwanzig Minuten mit einer Pinzette in meinem geschlitzten Trommelfell herum, um das Goldröhrchen zu platzieren. Sein Lieblingssatz dabei: »Ich hab’s gleich!« Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen. Und da beide Ohren betroffen waren, war auch noch ein Seitenwechsel angesagt.

Mir wurde daraufhin eine dreiwöchige stationäre Antibiotika-Therapie mit drei verschiedenen Medikamenten über die Vene angeraten. Den stationären Krankenhausaufenthalt lehnte ich dankend ab. Zum Glück war ich als Arzt selbst in der Lage, mir Zugänge zu legen. Außerdem konnte das glücklicherweise auch meine Frau mit übernehmen, die als Kinderkrankenschwester bestens mit jammernden Männern auf Kleinkindniveau umzugehen wusste. So lag ich dann drei Wochen zu Hause und versuchte irgendwie, dieses Trauma zu verarbeiten. Mir wurde gesagt, dass die Röhrchen nach spätestens drei bis sechs Monaten von selbst herausfallen und dass in der Regel die Trommelfelldefekte dann zuheilen würden, so dass ich mir sowohl um mein Hörvermögen keinerlei Sorgen machen müsse als auch das Schwimmen und Tauchen mit meinen Kindern nicht zu einer Mittelohrspülung führen würde. Sollten die Röhrchen nach spätestens sechs Monaten immer noch nicht herausgefallen sein, wurde ich von meinem behandelnden Arzt informiert, so müsse man sie eben kurz ambulant ziehen, es wäre nur ein ähnlich kleiner Eingriff wie das Legen.

Sie können sich vielleicht vorstellen, dass ich nie wieder einen Kontrolltermin bei einem HNO-Arzt wahrgenommen habe und wie froh ich trotzdem war, dass knapp ein Jahr nach der OP auch das zweite Goldröhrchen beim Reinigen der Ohren am Wattestäbchen hing. Gerade dieser Eingriff an meinem Trommelfell führt auch heute noch, das heißt, knapp zehn Jahre später, dazu, dass ich mitten in der Nacht schweißgebadet aufwache, weil ich davon träume. Die einzige fremde Person, die ich seitdem an meinen Kopf lasse, ist der Friseur meines Vertrauens, aber auch nur, weil Haare schneiden nicht weh tut.

 

Mittlerweile bin ich seit über einem Jahrzehnt ausgebildeter Schmerzmediziner, und ich kann Ihnen schon an dieser frühen Stelle des Buches mehrere frohe Botschaften verkünden: Viele Schmerzen im Zusammenhang mit medizinischen Maßnahmen sind vermeidbar, zumindest aber in den allermeisten Fällen gut behandelbar. Schmerz ist nicht schicksalhaft! Niemand muss heutzutage mehr unerträgliche Schmerzen aufgrund einer Krebserkrankung aushalten. Die Tatsache, dass immer noch bis zu achtzig Prozent aller Menschen nach einer Operation eine völlig unzureichende Schmerztherapie erhalten, ist ebenso unnötig wie die bittere Wahrheit, dass es bei den meisten Schmerzerkrankungen (zum Beispiel bei Rückenschmerzen) oft Jahre dauert, bis die Betroffenen das erste Mal endlich einem wirklichen Spezialisten, dem Schmerztherapeuten, vorgestellt werden.

Mit diesem Buch möchte ich Ängste nehmen, informieren und Mut machen. Dazu muss aber auch der Finger in so manche Wunde gelegt werden. Und ja, ich werde Sie an der ein oder anderen Stelle ziemlich schockieren und Sie werden so manches Mal fassungslos den Kopf schütteln.

Kapitel 1Was ist Schmerz?

Inzwischen laufe ich seit über 24 Stunden und bin stolz darauf, wie mein Körper bis jetzt durchgehalten hat – mal abgesehen von den Schmerzen im Quadrizeps, im Wadenmuskel und in der rückseitigen Oberschenkelmuskulatur, kleineren Beschwerden an der Hüfte, einem Stechen in den Knien, ein paar Blasen an den Füßen und der großen Müdigkeit. Außerdem ist mir kalt. Aber sonst fühle ich mich großartig.

Kilian Jornet, Langstreckenläufer

In mindestens jedem dritten Haushalt in Europa lebt ein Mensch, der unter chronischen Schmerzen leidet. In Deutschland klagt jeder Vierte bis Fünfte über chronische Schmerzen, das heißt, rund zwanzig Millionen Menschen, von denen circa zehn Prozent mit schweren Beeinträchtigungen zu kämpfen haben. Tendenz steigend. Bei den allermeisten Menschen dauert es viele Jahre, bis sie überhaupt erstmals eine wirksame Schmerztherapie erfahren, geschweige denn einem Schmerzspezialisten vorgestellt werden. So trifft eine ständig wachsende Anzahl von Schmerzpatienten auf eine unglaublich kleine Anzahl ausgebildeter Schmerztherapeuten, was dazu führt, dass nur rund zehn Prozent jemals von einem Schmerztherapeuten behandelt werden.

Es lohnt sich auch, einen Blick auf die volkswirtschaftliche Bedeutung chronischer Schmerzen zu werfen, ganz abgesehen vom persönlichen Leid eines jeden Einzelnen und den damit verbundenen Beeinträchtigungen für die gesamte Familie. Chronische Schmerzen verursachen in Deutschland jährlich rund vierzig Milliarden Euro an Kosten, davon circa zehn Milliarden direkt für die Behandlung (Medikamente, Operationen, Physiotherapie u.v.m.) und weitere dreißig Milliarden an Folgekosten (Krankengeld, Arbeitsausfall, Frührente, etc.). Wenn man sich jetzt überlegt, dass die Staatsausgaben der Bundesrepublik Deutschland etwa dreihundert Milliarden Euro pro Jahr betragen, dann liegen alleine die Gesundheits- bzw. Krankheitskosten für schmerzbedingte Probleme bei über zehn Prozent des gesamten Staatshaushaltes. Das ist eine unfassbare Summe, die jedes Jahr aufgewendet wird. Aufgewendet?

Gerade haben wir darüber gesprochen, dass wir zu wenig Spezialisten haben, dass Patienten viel zu spät und wenn, dann meist von den falschen Ärzten und anderen oft inadäquat ausgebildeten Therapeuten behandelt werden. Vermutlich liegt die Summe der Medikamentenkosten, die Summe der Operationskosten und der Kosten für völlig unnötige Diagnostik (dazu kommen wir später noch ausführlicher) weit über dem, was sinnvoll und notwendig wäre, wenn es vernünftig gesteuert werden würde. Die dreißig Milliarden Euro an Kosten für Krankengeld, Arbeitsausfall und gesundheitsbedingter Frühberentung sind nur die spürbaren Folgen, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist.

 

Versuchen wir uns der Frage zu nähern, was Schmerz eigentlich ist. Gemäß der Definition der Welt-Schmerzorganisation ist Schmerz ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder drohenden Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird. In einem erklärenden Nachsatz steht dann noch: »Schmerz ist immer subjektiv«.

Was bedeutet das: Sinnes- und Gefühlserlebnis? Ein »Sinneserlebnis« beschreibt, auf welche Weise ein Schmerz gespürt wird: dumpf, drückend, bohrend, brennend, einschießend oder stechend. Wie ist die Schmerzstärke auf einer Skala von null bis zehn? Wobei null für keinen Schmerz und zehn für den stärksten vorstellbaren Schmerz steht. Ich sage meinen Patienten immer: »Zehn ist operiert zu werden, ohne Narkose.« Hinter dem Begriff »Gefühlserlebnis« stehen die emotionalen Anteile, die mit dem Schmerzempfinden einhergehen. Hierzu können zum Beispiel Beschreibungen wie quälend, zermürbend, mörderisch oder vernichtend angesehen werden. Sowohl der Sinnes- als auch der Gefühlsanteil des Schmerzes sind untrennbar miteinander verbunden. Und genau das macht den Schmerz so bedrohlich. Nehmen Sie zum Beispiel einen Herzinfarkt: Natürlich können das heftige Schmerzen im Brustkorb sein, ausstrahlend in den linken Arm oder in den Unterkiefer. Viele Patienten beschreiben diesen Schmerz als einen Vernichtungsschmerz. Hier kommt also zum Sinneseindruck noch das Gefühlserleben der existentiellen Bedrohung als zusätzlicher Faktor hinzu.

In der oben genannten Definition der Welt-Schmerzorganisation steckt einiges an Sprengstoff. Es ist von einer vielleicht nur drohenden Gewebeschädigung die Rede, das heißt, es muss gar nichts kaputt sein. Wir können Schmerzen sehr wohl empfinden, selbst wenn keinerlei konkrete Schädigung vorliegt. Das ist eine fast schon revolutionäre Botschaft. Auch die zweite Aussage, dass Schmerz etwas Subjektives sei, ist bei genauerer Betrachtung hochinteressant. Denn hier bewegen wir uns ja richtiggehend weg von der klassischen Medizin als naturwissenschaftlichem Fach. Kein Blutdruck oder Blutzucker, den ich sauber messen und protokollieren kann, nein, lediglich ein höchst subjektives Empfinden, das der Patient mir mitteilt. Damit können wir Ärzte gar nicht gut umgehen. Mehr noch, es macht uns sogar auch ein stückweit Angst. Ein Patient, der einem sagt, wie es ihm geht? Darauf vertrauen? Kein klarer Messwert, der mir zweifelsfrei und vor allem ohne höchst subjektive Bewertung durch den Patienten den Erfolg meiner Therapie bestätigt. Was bedeutet diese Definition denn in letzter Konsequenz? Zum Beispiel, dass ein Patient vor mir sitzt und sagen kann: »Herr Professor, ich habe einen stechenden Schmerz im rechten Oberschenkel, als würde ein Messer in meinem Bein stecken. Dieser Schmerz ist für mich unerträglich, auf einer Skala von null bis zehn liegt der Schmerz bei einer Stärke von neun.«

Wenn ein Patient über Schmerzen klagt, hat er immer recht

So, nun sitze ich diesem Patienten gegenüber, der keine für mich nachvollziehbare Verletzung aufweist und mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm zu glauben, denn das ist eine ganz wesentliche Botschaft: Wenn ein Patient über Schmerzen klagt, hat er immer recht! Zum einen muss keine offensichtliche körperliche Schädigung vorliegen und zum anderen ist es sein subjektives Empfinden, das ich ohnehin niemals widerlegen kann. Das ist schon einmal die wichtigste Grundannahme im Umgang mit Schmerzpatienten. Der Mensch, der über seine Schmerzen berichtet, hat diese Schmerzen, und es ist meine absolute Pflicht, dies anzuerkennen und den Patienten entsprechend ernst zu nehmen.

Da das Wort subjektiv tatsächlich von der Welt-Schmerzorganisation ins Rennen gebracht wurde, müssen wir uns ohnehin von einer rein körperlichen Ebene des Schmerzes entfernen, und das führt uns direkt zum bio-psychosozialen Schmerzmodell. Wie Sie im nächsten Kapitel sehen werden, entstehen Schmerzen immer im Kopf, auch wenn Sie sich mit einem Beil ins Bein hacken, der dabei fühlbare Schmerz entsteht im Kopf.

Der psychische Aspekt von Schmerz

Stellen Sie sich dazu folgendes vor: Sie sitzen beim Zahnarzt und müssen eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung über sich ergehen lassen. Diese Wurzelbehandlung wird sich in Ihrem Schmerzerleben ganz unterschiedlich abspielen, je nachdem, ob Sie eine halbe Stunde vorher erfahren haben, dass Ihnen das Haus abgebrannt ist oder dass Sie im Lotto den Sechser mit Zusatzzahl geknackt haben. Im ersten Fall wird es deutlich mehr weh tun als ohnehin schon, und im Falle des Lottogewinns werden Sie eventuell überhaupt keine Schmerzen spüren, weil Sie während der Prozedur mit einem breiten innerlichen Grinsen gerade dabei sind, Ihren ungeliebten Job zu kündigen, eine Weltreise zu planen und Ihr Penthouse einzurichten.

Der soziale Aspekt von Schmerz

Wir wissen mittlerweile, dass die Reaktion des sozialen Umfeldes (Partner, Kinder, andere Familienangehörige, Freunde, Kollegen, Nachbarn) einen deutlichen Einfluss sowohl auf das Schmerzerleben als auch auf das Risiko einer Schmerzchronifizierung haben können. So ist zum Beispiel das Risiko, dass sich ein Schmerz chronifiziert, also dauerhaft bleibt, bei einem fürsorglichen Partner (»Schatz, bleib doch auf der Couch liegen und leg die Füße hoch, ich mach dir einen Tee«) deutlich höher, als bei einem weniger fürsorglichen Umgang. Im zweiten Fall ist man, durch zahlreiche Studien eindrucksvoll belegt, deutlich schneller wieder auf den Beinen.

Wozu empfinden wir überhaupt Schmerzen? Und wäre ein Leben ohne Schmerzen nicht wunderbar? Nein, wäre es nicht. Sie würden die Hand von der heißen Herdplatte frühestens dann wegziehen, wenn Sie sich über den Geruch von verbranntem Fleisch wundern, und mit einer Blinddarmentzündung würden Sie künftig nicht mehr beim Chirurgen, sondern direkt beim Pathologen landen.

Schmerz ist ein überlebenswichtiges Frühwarnsymptom: Er warnt und schützt uns. Es ist absolut sinnvoll, dass wir mit einer gebrochenen Zehe Schmerzen beim Auftreten empfinden. Das hindert uns daran, in diesem Zustand einen Marathonlauf zu unternehmen.

Es gibt Menschen, die haben eine angeborene Schmerzfreiheit. Das ist aber kein Segen, sondern ein genetischer Defekt, der in aller Regel dazu führt, dass diese Menschen das Erwachsenenalter nicht erleben. Sie werden bei einer Hirnhautentzündung eben nicht rechtzeitig gewarnt oder durch Verletzungen dazu veranlasst, die betroffene Region des Körpers zu schonen. In abgeschwächter Form kennen dies auch Menschen, die zum Beispiel Schädigungen der Schmerznerven an den Füßen erlitten haben, sei es durch einen schlecht eingestellten Diabetes oder durch die Folgen einer Chemotherapie. Genau diese Menschen merken eben erst nach einer Zehn-Kilometer-Wanderung, dass sie die ganze Zeit einen kleinen Stein in der Socke hatten und wundern sich am Ende des Weges über den verletzten Fuß nebst angerichtetem Blutbad im Schuh.

Sie sehen also, es ist evolutionsbiologisch absolut sinnvoll, dass alle höheren Lebewesen, zumindest alle Wirbeltiere, dieses Frühwarnsystem besitzen. Das erklärt auch, warum die Sinnesempfindung mit einer Gefühlsempfindung verknüpft ist, denn nur wenn die Schadensmeldung zu einer entsprechenden Reaktion führt und beachtet wird, kann man den Schaden in Grenzen halten. Ein Rauchmelder nützt ja auch nur dann etwas, wenn irgendjemand auf seinen Alarm reagiert.

Akutschmerz vs. chronischer Schmerz

Während der Akutschmerz eine völlig adäquate, gute und richtige Warn- und Schutzfunktion unseres Körpers ist und auch wieder verschwindet oder zumindest abklingt, wenn die Schmerzursache behoben ist (der Bruch ist geheilt, die Migräneattacke vorbei), ist das beim chronischen Schmerz anders. Natürlich liegen beim chronischen Schmerz oftmals gute Gründe dafür vor, wie aktives Rheuma, ein Tumorleiden oder ein kaputtes Knie, aber eben nicht immer. Von chronischem Schmerz spricht man, wenn der Schmerz über einen längeren Zeitraum besteht (je nach Erkrankung unterschiedlich, aber in der Regel mindestens drei bis sechs Monate) und den Betroffenen beeinträchtigt.

Schmerzgedächtnis – der Schmerz entsteht im Kopf

Grundsätzlich ist es phantastisch, dass wir Menschen ein Gedächtnis haben und uns Dinge merken können. Leider können wir aber auch ein Schmerzgedächtnis entwickeln, das bedeutet, dass wir in der Lage sind, schmerzhafte Erlebnisse abzuspeichern. Zum Teil werden diese dann zur Unzeit abgerufen, und das Gehirn spielt uns Schmerzen vor, die wir akut gar nicht haben. Leider merken wir den Unterschied nicht. Ein nachvollziehbares Beispiel ist der Phantomschmerz. Da hat jemand unter Umständen bei einem Autounfall sein Bein verloren und trotzdem tut ihm regelmäßig der rechte Fuß weh, und das, obwohl er schon seit zehn Jahren gar nicht mehr vorhanden ist. Das zu dem Fuß gehörige Areal im Gehirn existiert aber noch und sendet immer wieder entsprechende Funksignale, die einem Schmerzen in diesem nicht mehr existierenden Körperteil vorgaukeln. Ganz wichtig ist, sich hier noch einmal klarzumachen, dass dieser Mensch kein Simulant ist, sondern dass er den Schmerz tatsächlich empfindet, denn – wie ich bereits erwähnt habe – jedweder Schmerz entsteht im Kopf, auch der, den wir in den nicht mehr vorhandenen Fuß projizieren.

Dieses Thema wird uns im Laufe des Buches immer wieder begegnen, zum Beispiel bei der Frage: Kann man Rückenschmerzen wegoperieren? Oft erleben wir hier ein ähnliches Phänomen wie beim fehlenden Fuß. Da tut etwas weh, nur ist es wesentlich weniger offensichtlich, dass das Gehirn und damit unser Schmerzgedächtnis der Kern des Problems ist und eine Fehlleistung erbringt. Unser Rücken ist schließlich noch da und bietet unendlich viele Möglichkeiten für meist sinnlose Operationen, die nur rund jedem zwanzigsten Operierten tatsächlich helfen, aber bei jedem dritten Operierten zu chronischen Schmerzen führen … aber dazu kommen wir noch.

Akuter Schmerz …

Chronischer Schmerz …

ist Signal einer Gewebeschädigung oder einer akuten Erkrankung.

hat seine Funktion als Schutz- und Warnsystem verloren.

ist meist klar im Bereich des erkrankten oder verletzten Körperteils lokalisierbar.

ist eine eigenständige Erkrankung.

klingt nach dem Ereignis im Heilungsverlauf wieder ab.

kann weiterbestehen, obwohl die ursächliche Verletzung oder Erkrankung bereits längst ausgeheilt ist.

Die Schmerzstärke hängt oft vom Ort und vom Grad der Schädigung ab.

muss keine klar erkennbaren Ursachen mehr haben.

Oftmals gibt es keine klare anatomische Zuordnung mehr, es gibt wechselnde Schmerzlokalisationen bis hin zum Ganzkörperschmerz.

Kapitel 2Entwicklung unseres Schmerzsystems

Kurz nach der Befruchtung sind wir nicht mehr als ein unförmiger Zellklumpen, aus dem sich nach und nach Arme, Beine, unsere Organsysteme und eben auch unser Schmerzsystem entwickeln. Heute wissen wir, dass die gesamte Körperoberfläche des Menschen etwa ab der sechzehnten Schwangerschaftswoche (ausgehend von regulären vierzig Schwangerschaftswochen bis zum normalen Geburtstermin) von Nerven durchzogen ist, die verschiedenste Informationen wie Kälte, Hitze, Druck, Berührung und natürlich auch Schmerz in Richtung unseres zentralen Nervensystems weiterleiten können. Ab der zwanzigsten bis zweiundzwanzigsten Schwangerschaftswoche, also etwa der Halbzeit der Schwangerschaft, kann man bei ungeborenen Feten Wegziehreflexe auf Schmerzreize beobachten und ab der vierundzwanzigsten bis sechsundzwanzigsten Schwangerschaftswoche (dies entspricht bei Frühgeborenen der momentanen Grenze zur Lebensfähigkeit) sieht man, dass diese auf Schmerzreize nicht nur mit einem Wegziehen – zum Beispiel des betroffenen Armes – reagieren, sondern dass sie auch schmerzhaft das Gesicht verziehen.

Woher kommen diese Erkenntnisse und was können wir daraus ableiten?

Diese Informationen hat man aus zahllosen Fruchtwasseruntersuchungen, bei denen Kinder immer wieder versehentlich durch die Nadel getroffen werden, meist wenn der Fötus sich während der Untersuchung bewegt und dabei mit der Nadel in Berührung kommt. Der Wegziehreflex der betroffenen Extremität an sich ist noch kein sicherer Hinweis auf die Schmerzwahrnehmungsfähigkeit, denn hier könnte es sich auch um einen ganz banalen Reflex handeln, wie zum Beispiel unserem Kniescheibenreflex. Den hat ein Arzt bei Ihnen garantiert auch schon mal untersucht: Sie haben dabei ein Bein über das andere geschlagen und knapp unterhalb der Kniescheibe des frei in der Luft hängenden Unterschenkels wurde mit einem kleinen Hämmerchen dagegen geklopft und – zack – schnellt der Fuß nach vorne. Das ist ein Reflex, den Sie willkürlich gar nicht steuern können und der auf Rückenmarksebene abläuft. Welchen Zweck hat nun dieser Reflex? Hierzu muss ich ein bisschen ausholen und darauf verweisen, dass Informationen, die in unserem Körper weitergeleitet werden müssen, zum Beispiel von der Zehe bis zum Gehirn, dort verarbeitet werden und dann vielleicht als Muskelreaktion wieder an den Fuß zurückgemeldet werden. Das braucht trotz einer Nervenleitgeschwindigkeit unserer schnellsten Nervenfasern von über hundert Metern pro Sekunde eine gewisse Zeit.

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie machen barfuß einen Waldspaziergang und bleiben mit der großen Zehe an einer kleinen Wurzel hängen. Bis die Information »Die große Zehe ist an der Wurzel hängen geblieben« von der großen Zehe im Gehirn anlangt, das Gehirn sich dann die entsprechende Gegenstrategie überlegt und die Information an den Oberschenkelstrecker sendet, »Bitte schnellstmöglich maximale Anspannung, damit wir diesen Stolperer noch abfangen können«, lägen wir längst auf der Schnauze. Und genau hier sind solche Reflexbahnen nützlich. Die Information des Hängenbleibens an der Wurzel wird über einen Reflex im unteren Rückenmark direkt in einen Befehl für die Muskulatur umgewandelt: »Spann dich an!« Deswegen erfolgt auf den Schlag mit dem Hämmerchen die sofortige Gegenreaktion, ohne dass wir in irgendeiner Form willkürlich eingreifen können.

Aber zurück zum Fötus im Mutterleib: Die Beobachtungen, dass in diesem Entwicklungsalter bereits ein Grimassieren auf Schmerzreize zu beobachten ist, ist ein klares Zeichen für zu diesem Zeitpunkt schon vorhandene Schmerzwahrnehmungsfähigkeit. Diese Erkenntnis hat zum Beispiel in verschiedenen Bundesstaaten der USA dazu geführt, dass schwangere Frauen bei geplanter Spätabtreibung jenseits der zwanzigsten Schwangerschaftswoche aktiv darüber informiert werden, dass der Fötus bereits die Fähigkeit zur Schmerzwahrnehmung besitzt und welche Optionen der Schmerzausschaltung im Mutterleib möglich sind.

Gott sei Dank entwickeln sich aber nicht nur schmerzweiterleitende Systeme nach oben zum Gehirn, die uns den Schmerz wahrnehmen lassen, sondern auch hochpotente körpereigene schmerzhemmende Systeme, die zum Teil so effektiv arbeiten können, dass Schwerstverletzte teilweise keine oder nur minimale Schmerzen verspüren. So werden zum Beispiel in Kriegsgebieten immer wieder Menschen, die auf Minen treten, ganze Gliedmaßen abgerissen, ohne dass dies von den Betroffenen realisiert wird. Ja, unsere körpereigenen Schmerzabwehrsysteme können richtig was! Das Problem ist nur, dass sie deutlich später ausreifen als unsere Schmerzinformationssysteme. Und das ist gerade für Früh- und Neugeborene ein riesengroßes Problem, da die endgültige Ausreifung dieser Systeme erst mehrere Wochen nach einer termingerechten Geburt abgeschlossen ist. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass insbesondere die Gruppe der Früh- und Neugeborenen besonders schmerzempfindlich und auch besonders schutzlos gegenüber schmerzhaften Einflüssen von außen ist.

Dazu möchte ich Ihnen kurz und knapp skizzieren, wie unser Schmerzsystem aufgebaut ist: Sie treten mit Ihrem Fuß in eine Scherbe. Durch die Gewebeschädigung werden Rezeptoren im Bereich des verletzten Areals aktiviert. Über die beteiligten Nerven wird ein elektrischer Impuls Richtung Rückenmark gesendet. Dort ist ein weiterer Nervenknotenpunkt, quasi eine Weiche, die darüber wacht, ob dieser Impuls – wenn er stark genug ist –, nach oben zum Gehirn durchgeleitet wird. Die nächste Weiche oder Schaltstelle sitzt dann im Stammhirn. Dort wird der Impuls in verschiedene Gehirnareale wiederum durchgeleitet, unter anderem zum Großhirn, wo uns der Schmerz dann tatsächlich bewusst wird, aber auch in andere Bereiche, in denen der Schmerz bewertet wird und je nachdem entsprechende Emotionen wie Angst auslöst. Früher ging man von einer relativ klar und einfach strukturierten Zuordnung unseres Schmerzsystems aus. Mittlerweile wissen wir, dass eine unglaublich hohe Zahl von Gehirnarealen an der Schmerzwahrnehmung, Schmerzbewertung und Schmerzempfindung beteiligt sind, so dass sich der Begriff »Schmerzmatrix« etabliert hat.

So, und jetzt kommt der Hammer: Nicht nur, dass die eigentlichen Vorgänge im Gehirn in Zusammenhang mit Schmerz unglaublich kompliziert sind. Auch auf Rückenmarksebene und im Bereich des verletzten Gewebes können eine Menge Phänomene auftreten, die ihrerseits wiederum allesamt Einfluss auf unseren Schmerz nehmen können. Wir alle haben in unserem Körper unzählige Rezeptoren sitzen, die zeitweilig außer Funktion sind und in einer Art »Stand-by-Modus« verharren, wie Sie es von Ihrem Fernseher kennen. Wenn es jetzt in einem bestimmten Bereich Ihrer Haut zu Entzündungsvorgängen kommt, werden diese Rezeptoren aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt und scharfgeschaltet. Die Folge ist, dass eigentlich nicht schmerzhafte Reize, wie zum Beispiel Druck und Berührung, plötzlich Schmerzen auslösen und dass leicht schmerzhafte Reize zu völlig übersteigerten Schmerzen führen können. Die Fachbegriffe hinter diesen beiden Phänomenen heißen: Allodynie – hier ist bereits Berührung schmerzhaft, und Hyperalgesie – dies bezeichnet die übersteigerte Schmerzempfindlichkeit auf schmerzhafte Reize.

Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen: Die meisten Menschen hatten in ihrem Leben schon einmal einen Sonnenbrand, zum Beispiel im Schulter-Nacken-Bereich. Die Haut ist entzündet, gerötet, empfindlich; die Rezeptoren sind hochgeregelt und plötzlich schmerzt schon die leiseste Berührung des Hautareals. Schon das T-Shirt auf der Haut wird als unangenehm und schmerzhaft empfunden. Das ist Allodynie. Mit Hyperalgesie ist gemeint, wenn Ihnen jetzt noch jemand mit der Handfläche zur Begrüßung freundlich und mit vollem Schwung auf ebendiesen Sonnenbrand haut.

Bleiben wir noch ein bisschen bei den Schmerzrezeptoren in unserer Haut. Wir wissen, dass insbesondere in unserer frühen Lebensphase und speziell im frühen Neugeborenenalter Nerven besonders sensibel auf schädigende Reize reagieren. Und so kann es – ausgelöst durch Verletzungen – in bestimmten Hautarealen dazu kommen, dass ganz viele Schmerznerven in das verletzte Hautareal »einsprossen« und sich verzweigen, was dazu führt, dass wir in diesem Gebiet auf einmal viel mehr freie Schmerznervenendigungen haben als üblich. Je mehr Nerven und Rezeptoren sich in einem Gebiet befinden, desto empfindsamer sind wir. Aus diesem Grund können wir zum Beispiel mit den Fingerspitzen wesentlich besser spüren als mit der Haut am Rücken. Und was ist die Folge? Unter Umständen eine deutliche Überempfindlichkeit des betroffenen Hautareals, und damit wieder Allodynie und Hyperalgesie. Ich werde im Kapitel »Schmerzen bei Kindern« noch einmal intensiver darauf eingehen.

Über verschiedene schmerzhemmende und schmerzverstärkende Einflüsse im Gehirn, auf Rückenmarksebene und an der Hautoberfläche könnte ich noch viele hundert Seiten schreiben. Insbesondere die Schmerzempfindung mit der ganzen Palette an Sinnes- und Gefühlsanteilen als gemeinsame Antwort unterschiedlich vernetzter Schmerzzentren im Gehirn wären ein eigenes Buch wert. Da ich Sie aber fachmedizinisch nicht überfordern möchte und noch so viele andere spannende Dinge zu erzählen habe, die Ihnen im Alltag nützlicher sein werden, lasse ich es vorerst hierbei.

Eine Frage, mit der wir uns noch gar nicht beschäftigt haben, die ich aber für extrem relevant halte, lautet: Was macht Schmerz eigentlich mit unserem Körper? Was passiert mit uns, wenn wir unter akuten Schmerzen leiden, weil wir beispielsweise nach einer Operation keine adäquaten Schmerzmittel erhalten?