Schneezauber in Winterbury - Sarah Morgan - E-Book

Schneezauber in Winterbury E-Book

Sarah Morgan

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Beschreibung

Liebe und Familienglück in den malerisch verschneiten Cotswolds – der Nr.-1-Sunday-Times-Bestseller!

Für die Außenwelt gibt Imogen das perfekte Bild der jungen, glücklichen Marketingmanagerin ab, die sich auf Weihnachten mit der Familie freut. In Wahrheit sind Überstunden bis Mitternacht ihre Lösung, um die Feiertage zu überstehen – bis ihr ein katastrophaler Fehler unterläuft und sie deshalb eine Auszeit machen und sich erholen soll. Überraschend wird Imogen von ihrer Lieblingskundin Dorothy in deren Gästehaus in den Cotswolds eingeladen. Vom verschneiten Dach bis zum gemütlichen Kaminfeuer ist Holly Cottage ein idealer Zufluchtsort ... Und plötzlich bietet sich Imogen nicht nur die Chance für einen Neuanfang, sondern auch für ein Leben voll echter Liebe und mit einer Familie, nach der sie sich bisher immer nur gesehnt hat.

Ideal für die Lesezeit im Winter: Dieser Roman ist herzerwärmend wie eine heiße Schokolade

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Seitenzahl: 538

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch

Für die Außenwelt gibt Imogen das perfekte Bild der jungen, glücklichen Marketingmanagerin ab, die sich auf Weihnachten mit der Familie freut. In Wahrheit sind Überstunden bis Mitternacht ihre Lösung, um die Feiertage zu überstehen – bis ihr ein katastrophaler Fehler unterläuft und sie deshalb eine Auszeit machen und sich erholen soll. Überraschend wird Imogen von ihrer Lieblingskundin Dorothy in deren Gästehaus in den Cotswolds eingeladen. Vom verschneiten Dach bis zum gemütlichen Kaminfeuer ist Holly Cottage ein idealer Zufluchtsort ... Und plötzlich bietet sich Imogen nicht nur die Chance für einen Neuanfang, sondern auch für ein Leben voll echter Liebe und mit einer Familie, nach der sie sich bisher immer nur gesehnt hat.

Zur Autorin

Sarah Morgan ist eine gefeierte Bestsellerautorin mit mehr als 21 Millionen verkauften Büchern weltweit. Ihre humorvollen, warmherzigen Liebes- und Frauenromane haben Fans auf der ganzen Welt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London, wo der Regen sie regelmäßig davon abhält, ihren Schreibplatz zu verlassen.

Sarah Morgan

Schneezauber in Winterbury

Roman

Aus dem Englischen von Sarah Heidelberger

HarperCollins

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel The Holiday Cottage bei Canary Street Press, an imprint of HarperCollins Publishers, US.

© 2024 by Sarah Morgan

Deutsche Erstausgabe

© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe

by HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH

Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg

[email protected]

Published by arrangement with

HarperCollinsPublishers L.L.C., New York

Covergestaltung von Rothfos & Gabler, Hamburg

Coverabbildung von Getty Images/YULIIA POLIASHENKO,

Olga Prozorova + iStock/bounward + AdobeStock_Masha_tolk_art + Alamy Stock Photo/Maria Tolkacheva

E-Book Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783749908912

www.harpercollins.de

Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Urheberinnen und des Verlags bleiben davon unberührt.

Für Flo, Ali und Dora. Ich hab euch lieb xx

1. Kapitel

Imogen

Am Anfang war das Gespräch noch ganz normal gelaufen, und im Nachhinein konnte Imogen selbst nicht mehr sagen, wann genau es eine so fatale Wendung genommen hatte. Auf jeden Fall war es nicht ihre Schuld gewesen. Zumindest nicht ausschließlich. Sie hatte doch nur nett sein und sich gut mit ihren Kolleginnen verstehen wollen! Das war doch wohl kein Verbrechen, oder? Eigentlich war es in Großraumbüros sogar fast schon eine zwingende Entwicklung, weil man durch die fehlende Privatsphäre so viel von den anderen mitbekam. Wenn man eng auf eng mit den übrigen Teammitgliedern saß, kam es automatisch zu Geplauder, und man absorbierte nach und nach in Form winziger Schnipselportionen vertrauliche Informationen über die Kollegen, ohne es richtig wahrzunehmen. Intimität durch Osmose sozusagen.

»Hey, Imogen.« Anya, die ihr gegenübersaß, warf ihr einen Blick zu. Sie war Make-up-süchtig und verbrachte mindestens eine halbe Stunde am Tag damit, die Vorzüge ihrer neusten Entdeckungen anzupreisen. Heute glitzerten ihre Augenlider wie Weihnachtsbaumschmuck. »Hast du schon die Mail von der Chefin gelesen? Sie will, dass wir demnächst mal alle unsere Hunde mit zur Arbeit bringen.«

»Ja, hab ich gesehen.« Seitdem war es mit ihrem Tag kontinuierlich bergab gegangen. Es war wichtig, dass sie sich gut mit ihren Kolleginnen verstand, trotzdem legte sie Wert darauf, Privatleben und Beruf voneinander zu trennen. »Hast du schon den Preisvergleich für die Veranstaltungsorte fertig, Anya? Ich muss das Angebot noch von Rosalind freigeben lassen, damit ich es vor der Mittagspause an den Kunden schicken kann.«

Haustiere, Kleidung, Make-up, Diäten, Reisen, Restaurants, Filme, Bücher, unangenehme Dates und nervige Kunden. Das waren die Hauptgesprächsthemen hier im Büro.

»Ich warte noch auf die letzten beiden Rückmeldungen. Ist das nicht eine geniale Idee? Alle Hunde tragen Weihnachtsoutfits, und Rosalind sucht den Gewinner aus. Alles für den guten Zweck. Ach, das wird so ein Spaß! Mal sehen, ob ich meinen kleinen Cocoa dazu bewegen kann, ein Geweih zu tragen. Eigentlich reagiert er sehr empfindlich darauf, wenn man ihn am Kopf berührt, vermutlich wird das also nichts. Aber wir sollen uns auch aufbrezeln. Gerade am Samstag hab ich mir ein neues Glitzer-Highlight besorgt. Genau das Richtige für Weihnachten. Wenn man zwei genommen hat, gab’s einen Rabatt, da hab ich dir auch einen mitgebracht.« Sie hielt ihn Imogen hin.

»Für mich?« Überrascht und vielleicht auch eine Spur gerührt nahm sie ihn entgegen. »Wieso?«

»Ach, einfach so.« Anya zuckte grinsend mit den Achseln. »Sagen wir, es ist ein kleines Dankeschön, weil du mir letzte Woche mit diesem unangenehmen Kunden aus der Patsche geholfen hast. Außerdem hast du tolle Wangenknochen, der steht dir bestimmt fantastisch.«

Imogen schnürte sich unerwartet die Kehle zusammen. Sie musste an ihren ersten Arbeitstag denken, als Anya ihr zum Einstand einen glasierten Cupcake und einen Stift geschenkt hatte, der im Dunkeln leuchtete. Den wirst du brauchen, wegen der ganzen Nachtschichten.

Sie konnte kaum glauben, dass sie inzwischen schon beinahe ein Jahr lang hier arbeitete. Nur wenige Tage vor Weihnachten hatte sie angefangen und war noch nicht einmal richtig eingearbeitet gewesen, als die Agentur auch schon über Weihnachten die Pforten schloss.

»Danke, der ist wirklich toll.« Mit einem leisen Anflug von Panik warf sie einen Blick auf die Uhr. Sie versäumte keine Deadlines. Nie. Und gerade war sie für ihre Maßstäbe eindeutig zu knapp davor. Am liebsten hätte sie selbst zum Hörer gegriffen und die Kostenvoranschläge eingeholt, aber sie war Anyas Managerin, und entsprechend zählte es zu ihren Aufgaben, ihre Teammitglieder in ihrer Entwicklung zu unterstützen, was wiederum bedeutete, dass sie Anya nicht die Arbeit abnehmen durfte. Auch wenn es sie den letzten Nerv kostete. Es wäre so viel leichter und entspannter gewesen, die Sache einfach selbst in die Hand zu nehmen. Allein schon, weil sie sich dann darauf hätte verlassen können, dass alles rechtzeitig und fehlerfrei erledigt gewesen wäre. »Könntest du dich jetzt bitte direkt um die Veranstaltungsorte kümmern? Das sind die letzten Zahlen, die mir für die Abgabe noch fehlen.«

»Klar, ich kümmere mich sofort drum. Übrigens, ich hab da einen Lippenstift gesehen, der würde einfach toll an dir aussehen, Imogen. Vielleicht können wir in der Mittagspause ja mal zusammen shoppen gehen! Und falls du nach Hunde-Looks suchst – ich hab da einen unfassbar niedlichen roten Weihnachtsmannumhang im Internet gesehen. Wie gemacht für Golden Retriever! Oder hast du schon was Passendes gefunden?« Anya schien die Aussicht darauf, dass alle ihre Hunde mit zur Arbeit bringen würden, weitaus spannender zu finden als die Arbeit selbst. »Du bringst Midas doch mit, oder?«

Da Imogen klar war, dass sie die Kostenvoranschläge im Leben nicht zu sehen bekommen würde, wenn sie das Hundethema nicht zu einem Abschluss brachte, warf sie einen kurzen Blick zu dem Foto auf ihrem Schreibtisch.

Riesige braune Augen schauten zurück und versetzten ihr einen Stich ins Herz.

Der große Hundetag im Büro.

Sie strich mit den Fingerspitzen über das Foto. »Gerade weiß ich nicht genau, ob ich ihn mitbringen kann.« Dabei wusste sie es eigentlich ganz genau, und die Antwort lautete Nein. Nur musste sie noch eine Möglichkeit finden, ihren Kolleginnen davon zu erzählen, ohne sie vor den Kopf zu stoßen. Und da kam ihr ein Gedanke. »Es geht ihm nicht so gut. Er hat die letzten Nächte in der Tierklinik verbracht.«

»Was? O nein! Midas ist krank? Und du hast uns nichts davon erzählt?« Anya legte ihren Stift weg und suchte Janies Blick. »Sag mal, wusstest du, dass Midas krank ist?«

Janie sah so ruckartig auf, dass ihr Pferdeschwanz ins Wippen geriet. Sie war eine Sportfanatikerin und ging jeden Morgen eine Stunde lang ins Fitnessstudio, während ihre Kolleginnen noch tief und fest schliefen. Manchmal lief sie sogar im Büro auf und ab, um die Zielvorgabe in ihrem Schrittzähler zu erreichen.

»Was? Midas ist krank?« Sie drückte einen Anruf weg und richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf Imogen. »Aber das ist ja schrecklich! Was ist denn passiert? Ist etwa die Hundesitterin schuld? Hat sie ihn irgendwas Verbotenes fressen lassen?«

»Nein, nein, keine Sorge.« Vielleicht war die Idee doch nicht so gut gewesen. Wahrscheinlich hätte sie einfach nur mitspielen und am entscheidenden Tag eine Ausrede erfinden müssen, weshalb Midas nicht kommen konnte. Er ist in eine Scherbe getreten und muss seine Pfote ausruhen. »Es ist nichts Schlimmes. Könntest du dich jetzt bitte kurz um die Kostenvoranschläge kümmern? Ich muss das Angebot fertigstellen, der Abgabetermin ist in …«

»Aber klar ist das schlimm! Das ist dein Hund, um den es hier geht! Was könnte es Wichtigeres geben? Der Kunde kann warten.«

»Kann er nicht«, erwiderte Imogen. »Wir sind nicht die Einzigen auf dem Markt. Jeden Tag schießt eine neue Eventagentur aus dem Boden. Wenn wir uns gegen die Konkurrenz durchsetzen wollen, müssen wir die Erwartungen nicht nur erfüllen, sondern übertreffen.«

»Und das werden wir ja auch. Bei dem Event werden wir ganze Arbeit leisten, so wie immer, vor allem wenn du die Projektleitung hast. Aber es geht doch nur um ein Angebot. Es wird schon niemanden umbringen, wenn es ein paar Stunden zu spät eintrudelt. Erlaub dir mal zwei Minuten zum Durchatmen, Imogen«, sagte Anya. »Du hast das ganze Wochenende durchgearbeitet, um deine beiden letzten Veranstaltungen zu betreuen, und hast dir am Montag nicht mal freigenommen. Du arbeitest zu viel.«

Zu viel? Ihrer Meinung nach konnte man gar nicht zu viel arbeiten.

Sie liebte ihren Job. Er war ihr Ein und Alles. Sie war die geborene Multitaskerin und betreute doppelt so viele Projekte wie alle anderen. Sie tat alles dafür, Aufträge zu gewinnen und ihre Kunden zu halten – durch Erfahrung, Detailverliebtheit, Kreativität und harte Arbeit. Sie war gut in dem, was sie machte. Und das sah nicht nur sie selbst so. In der letzten Agentur, für die sie gearbeitet hatte, war sie so schnell in die luftigen Höhen des Managements aufgestiegen, dass eine eifersüchtige Kollegin ihr sogar eine Sauerstoffmaske auf den Tisch gelegt hatte.

Aber jetzt musste sie ein Sechserteam managen und wünschte sich dabei manchmal, sie hätte all die Arbeit einfach allein machen können, anstatt sie delegieren zu müssen. Vor allem für Anya schien das Wort »Dringend« keinerlei Bedeutung zu haben. Sie war großzügig und nett, arbeitete aber so langsam, dass es Imogen manchmal zur Weißglut trieb, und sie erzählte jedem, wie wichtig ihr Work-Life-Balance sei – nur dass sie sich praktisch nie auf den Work-Aspekt der Gleichung konzentrierte.

Manchmal fühlte sich Imogen, als müsste sie mit sechs Gewichten an der Hüfte zum Marathon antreten.

Es führte kein Weg daran vorbei: Sie würde mit Anya reden müssen. Über Themen wie Engagement und Ziele. Alles Zeit, in der sie nichts für ihre Kunden tun konnte, was bedeutete, dass sie am Ende Überstunden schieben musste.

Work-Life-Balance existierte für Imogen nicht. Aber das machte ihr nichts. Sie wollte es nicht anders.

»Um zwölf ist die Deadline, Anya. Komm, wir schaffen das.«

»Entspann dich, Imogen. Sonst bekommst du noch Falten und graue Haare. Du hast so viel Energie, dass ich schon vom Hinschauen ganz müde werde. Klar schaffen wir das, so wie immer.« Je gleichgültiger Anya den Abgabetermin abtat, desto heftiger schlug Imogens Stressbarometer aus.

Anya hatte recht: Bisher hatten sie es immer geschafft. Aber nur, weil Imogen am Ende jedes Mal alles selbst machte. Dabei mochte sie Anya wirklich, was die Sache nicht gerade einfacher machte. »Anya …«

»Ich weiß schon. Du bist gestresst. Und ich verstehe auch, wieso.«

»Ehrlich?« Eine tiefe Erleichterung überkam sie. Vielleicht hatte Anya ja doch begriffen, worauf es bei der Arbeit ankam.

»Aber natürlich! Wie solltest du auch ruhig bleiben, wenn dein süßer kleiner Midas krank ist? Ich kann nicht fassen, dass du uns nicht eher davon erzählt hast! Ich an deiner Stelle wäre ein nervöses Wrack.«

Midas?

»Ich …«

»Und was sagt der Tierarzt? Wann darf er wieder nach Hause? Du musst ja selbst ganz krank sein vor Sorge! Ehrlich, du kannst uns alles sagen! Wir sind doch ein Team, und wir stehen füreinander ein. Du bist ein Mensch, genauso wie wir anderen auch, Imogen. Wenn du uns brauchst, sind wir für dich da und übernehmen natürlich auch deine Arbeit.«

Imogen blinzelte. Anya schaffte es ja noch nicht mal, sich um ihre eigene Arbeit zu kümmern! Aber vermutlich war der Zeitpunkt nicht gerade günstig, um darauf hinzuweisen.

»Also, ich …«

»Anya hat recht«, sagte Janie. »Du musst dich nicht zusammenreißen. Ich meine, es geht hier um Midas! Er ist dein Baby!« Sie reckte den Arm und nahm sich das Foto von Imogens Schreibtisch. »Schau dir nur dieses süße Gesichtchen an. Der arme Kleine. Ich bin sicher, dass Rosalind dir freigeben würde, wenn du ihr alles erklärst. Sie hat sich so toll verhalten, als Buster diesen Knoten am Bein hatte. Liegt bestimmt daran, dass sie selbst einen Hund hat. Sie weiß einfach, wie das ist.«

»Deswegen fühle ich mich in der Agentur ja auch so wohl«, warf Anya ein. »Hier stimmt es einfach auf der zwischenmenschlichen Ebene. Bei meinem letzten Job hat nie jemand über sein Privatleben geredet. Ich kam mir vor, als würde ich mit einem Haufen Roboter zusammenarbeiten. Der totale Albtraum.«

Ein Ort, an dem niemand über sein Privatleben redete? Langsam fragte sich Imogen, ob ihr das nicht vielleicht lieber gewesen wäre. Sie mochte ihre Kolleginnen wirklich, aber sie hätte sie noch ein bisschen mehr gemocht, wenn sie mit einer ähnlichen Arbeitsmoral gesegnet gewesen wären wie sie selbst.

Trotzdem waren das alles gute Menschen. Auch wenn sie eher die Arbeit an ihr Privatleben anpassten als andersherum.

Mit Tränen in den Augen betrachtete Janie das Foto von Midas. Imogen beugte sich vor und nahm es ihr sanft aus der Hand.

»Ich würde lieber nicht weiter darüber reden.« Sie stellte das Foto wieder auf ihren Schreibtisch zurück, direkt neben das von ihrer Familie. Ihr letzter Arbeitgeber hatte eine flexible Tischregelung gehabt, sodass man keine persönlichen Gegenstände aufstellen konnte. Aber hier bei RPQ Events lief alles ganz anders.

Es gab Pflanzen und ein Aquarium, und die Angestellten wurden regelrecht dazu angehalten, ihren Arbeitsplatz persönlich zu gestalten. Anya hatte ihren Monitor mit Lichterketten umrandet, und niemand schien sich daran zu stören.

Als sich Imogen an ihrem ersten Tag umgesehen hatte, war sie überwältigt gewesen von all den Plüschtieren und Familienfotos. Und als sie auf ihren eigenen leeren, kahlen Schreibtisch geblickt hatte, war ihr klar geworden, dass er so nicht bleiben konnte.

Komm, Imogen, zeig uns deine Familie,hatte Janie gut gelaunt vorgeschlagen, und Anya hatte begeistert genickt. Hast du denn auch Haustiere? Wir alle hier lieben Tiere. Sogar Danny. Er behauptet zwar, dass er die Kaninchen nur für seine Töchter gekauft hat, aber glaub ihm kein Wort!

Sie hatte noch nie ein privates Foto auf ihrem Schreibtisch gehabt, aber da sie damit in diesem Umfeld hier Aufmerksamkeit erregte, hatte sie es einfach genauso gemacht wie alle anderen. Das Team hatte ihr einen warmen Empfang bereitet, und sie hatte dazugehören wollen. Also hatte sie sorgfältig ein Foto von Midas ausgewählt und dazu noch ein Familienfoto, das an Weihnachten entstanden war. Alle drängten sich zusammen und lachten in die Kamera, während sie versuchten, auf dem glitschigen Schnee nicht auszurutschen. Imogen liebte dieses Foto. Sie sahen alle so glücklich aus.

»Wir sind für dich da, Imogen.« Janie rieb ihr zum Zeichen ihrer Solidarität die Schulter. »Du bist so mutig und stark. Es muss schrecklich sein, nicht von deinem vierbeinigen Freund begrüßt zu werden, wenn du abends nach Hause kommst. Bestimmt vermisst du ihn fürchterlich. Wir hatten ja keine Ahnung, was du gerade durchmachst! Du wirkst genauso wie immer. Ehrlich, du bist wirklich ein bemerkenswerter Mensch. Aber so wird man vermutlich, wenn man eine so glückliche Familie hat.«

Jetzt war Imogens Panik nicht mehr zu ignorieren. Persönliche Gespräche wie dieses brachten sie durcheinander. Vermutlich würden die beiden ihr gleich zu einer Trauertherapie raten. Sie musste dringend das Thema wechseln, ehe es zu spät war.

»Klar vermisse ich ihn. Aber er ist in guten Händen, und ich bin mir sicher, dass er schon bald wieder nach Hause darf. Also, wenn du mir eben die Kostenvoranschläge besorgen könntest, schaffe ich es noch, dem Kunden vor zwölf das Angebot zu schicken.«

»Ist schon in Arbeit. Was hat er denn eigentlich?«

»Was hat wer?«

»Na, Midas!« Anya warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. »Ich hoffe doch nichts Ernstes. Keine Ahnung, wie du es schaffst, dich auf die Arbeit zu konzentrieren, wenn er krank ist.«

»Er wird noch getestet«, erklärte Imogen. »Sie müssen erst herausfinden, was ihm fehlt.«

Noch so ein Problem mit Großraumbüros: Die Leute wollten Details hören.

Sie verbrachte viel Zeit mit Kunden in deren Büros, sah sich potenzielle Veranstaltungsorte an oder arbeitete direkt auf den Events. Aber früher oder später führte ihr Weg immer wieder zurück an den Schreibtisch und damit auch zu ihren Kolleginnen. Die sie mochte – sehr sogar! Aber sich einzufügen war nicht dasselbe, wie Teil eines zusammengeschweißten Teams zu sein. Wenn jemand reden wollte, hatte sie immer ein offenes Ohr, doch manchmal waren es ihr einfach zu viele Informationen. Eigentlich hätte die erzwungene räumliche Nähe ja für mehr Diskretion sorgen sollen, aber manchmal hatte sie das Gefühl, dass das genaue Gegenteil der Fall war.

Da war zum Beispiel Janie, die es nie für nötig zu halten schien, ihren Platz zu verlassen, wenn sie einen privaten Anruf entgegennahm. Dadurch wusste Imogen inzwischen, dass Janie bei ihrer Mutter wohnte, eine verheiratete Schwester hatte und im Augenblick mit zwei verschiedenen Männern ausging, für den Fall, dass einer von beiden sie plötzlich ghosten sollte, was sie befürchtete, da sie mit einem beständigen Misstrauen gegenüber dem anderen Geschlecht gesegnet war, nachdem ihr Vater die Familie bei Nacht und Nebel verlassen hatte, als sie zehn war.

Dann war da Peter. Er leitete die IT-Abteilung und saß links von ihr. Obwohl er erst seit sechs Monaten für die Agentur arbeitete, wusste sie, dass er am Freitag einen Arzttermin hatte, bei dem es um eine Körperstelle ging, über die sie in Zusammenhang mit Kollegen lieber nicht nachdenken wollte. Sie wusste, dass seine Freundin sich wünschte, mit ihm zusammenzuziehen, genauso wie sie wusste, dass Peter im Traum nicht daran dachte, weil sie das Telefonat mit seinem Vermieter mitbekommen hatte, in dem er den Mietvertrag um ein weiteres Jahr verlängert hatte.

Und zuletzt gab es noch Danny, ebenfalls Accountmanager, der den Großteil seiner Arbeitszeit damit verbrachte, seine Fitnessstudiotermine und Barbesuche zu organisieren, alles nur, damit er erst nach Hause kam, wenn seine Frau ihre vierjährigen Zwillinge schon ins Bett gebracht hatte. Ja, er mochte Kaninchen haben, aber wenn man ihm so zuhörte, trug er nicht sonderlich viel dazu bei, sich auch um sie zu kümmern. Das war aus seiner Sicht die Aufgabe seiner Frau (und zwar bei Weitem nicht die einzige).

Imogen legte all die Informationen, die sie im Büro mitbekam, in einem abgelegenen Winkel ihres Gehirns unter »Dinge, die ich lieber nicht wissen würde« ab und versuchte, sie zu vergessen, was ihr auch einigermaßen gelang. Deutlich größere Probleme bereitete es ihr, dass die anderen auch mehr über sie wissen wollten.

Privatsphäre war ihr wichtig, und hätte sie die Wahl gehabt, hätte sie niemandem groß etwas über ihre persönlichen Angelegenheiten erzählt. Aber sie wollte dazugehören, und sie wollte gemocht werden. Also hielt sie es genauso wie die anderen und stellte Fotos auf ihren Schreibtisch und plauderte mit. Wobei die Massen an Privatgesprächen in absehbarer Zeit wohl ungekannte Ausmaße annehmen würden, da sie sich dem Teambuilding-Monat überhaupt näherten.

Der Dezember stand vor der Tür.

Und Imogen war bewusst, dass der Hundetag bloß der Anfang einer ganzen Reihe an Weihnachtsevents sein würde. Es würde das Weihnachtsessen und das Weihnachtswichteln geben, den Quizabend, bei dem sie für den guten Zweck sammelten (»Welches der folgenden Rentiere gehört nicht zum Rudel des Weihnachtsmanns?«) … Die Liste war endlos. Und bei allem, was Imogen ihren Kolleginnen von sich erzählte, sparte sie ein Thema lieber aus: wie sehr sie Weihnachten fürchtete. Letztes Jahr hatte sie sich problemlos aus der Affäre ziehen können, weil sie erst wenige Tage vor der Weihnachtspause ihren ersten Arbeitstag gehabt hatte. So einfach würde sie diesmal nicht davonkommen.

»Zumindest kannst du über Weihnachten viel Zeit mit ihm verbringen.« Janie warf ihr ein Lächeln zu. »Nur noch sechsunddreißigmal schlafen! Wir verbringen die Feiertage dieses Jahr bei meiner Schwester. Ich freu mich schon so! Sie hat das größere Haus und den größeren Fernseher. Und du, Imogen? Ich hoffe doch schwer, dass du dir endlich mal freinimmst. Letztes Jahr hatten wir eine Woche lang Betriebsferien, und trotzdem hast du sogar am 24. noch E-Mails versendet. Ehrlich, wer macht so was?«

»Ich war doch noch ganz neu hier und wollte mich beweisen.« Eigentlich hatte sie zwar andere Beweggründe gehabt, aber das ging hier niemanden etwas an. »Ehrlich gesagt hätte ich nicht gedacht, dass ihr die E-Mails überhaupt lest. Die Agentur war geschlossen, alle Kunden in den Weihnachtsferien – da dachte ich, ich nutze die Gelegenheit, um mich in Ruhe einzuarbeiten und dann im Januar voll durchstarten zu können.«

»Aber du hattest doch genauso Urlaub wie alle anderen auch! Hast du die Zeit denn gar nicht mit deiner Familie verbringen wollen?«

»Aber das habe ich doch.« Imogen rückte das Foto von Midas neben das Familienfoto. »Gearbeitet habe ich nur, wenn die anderen ihr Verdauungsschläfchen gehalten oder vor dem Fernseher gesessen haben.« Und jetzt wollte sie wirklich, wirklich gern das Thema wechseln, um nicht länger darüber nachdenken zu müssen.

»Dir fällt es echt schwer loszulassen, hm?«, fragte Anya. »Lass dieses Jahr deinen Laptop doch einfach zu Hause, dann kommt du gar nicht erst in Versuchung. Als ich nach den Ferien meinen Computer hochgefahren und die fünfundsechzig neuen E-Mails von dir im Postfach gefunden habe, war ich schon ein bisschen erschrocken.«

»Ich mag es eben, alles erledigt zu haben, ehe das neue Jahr beginnt«, rechtfertigte sich Imogen. »Und keine Sorge, für meine Familie ist trotzdem genug Zeit geblieben.«

Janie ließ sich kopfschüttelnd gegen ihre Stuhllehne sinken. »Wie schaffst du das alles nur? Du hast meistens ja nicht mal Zeit, nach der Arbeit mit uns was trinken zu gehen, weil du entweder auf deine Nichte und deinen Neffen aufpasst oder deine Oma besuchst. Dann hast du auch noch einen Hund … Du bist ständig für alle da, und trotzdem leistest du bei der Arbeit noch Übermenschliches. Und das alles, ohne dass du dir jemals freinimmst. Wie viele Urlaubstage nimmst du eigentlich ins nächste Jahr mit?«

»Ähm … Keine Ahnung? Fast alle, glaube ich.«

»Dachte ich mir’s doch! Lass es doch etwas ruhiger angehen. Dann kommen wir anderen uns neben dir auch nicht ganz so unfähig vor.«

»Ihr seid doch nicht unfähig!«, sagte Imogen. »Wir sind ein geniales Team.«

»Sind wir ja auch. Aber wenn du nicht aufpasst, bekommst du noch Burn-out. Du hast in letzter Zeit jedes Wochenende gearbeitet, und jetzt solltest du dir dringend mal eine richtige Pause gönnen. Dein Elternhaus sieht einfach traumhaft aus. Genau richtig für eine Auszeit – so viel Platz, und dann die ganze Natur drumrum! Midas fühlt sich dort bestimmt pudelwohl. Bist du denn gar nicht aufgeregt?«

Weihnachten, Weihnachten, Weihnachten …

Wenn es nach ihren Kolleginnen ging, konnte man sich gar nicht ausgiebig genug über Weihnachten unterhalten. Sie hätte schreien können. Dieses Jahr hatten sie im Juli angefangen, darüber zu reden, als Anya übers Wochenende einen Weihnachtsfilmmarathon eingelegt und eine Weile lang kein anderes Thema mehr gekannt hatte. Im Juli! Was war nur los mit der Menschheit?

Im Oktober war Janie dann von einem Abstecher in den Supermarkt, wo sie eigentlich nur einen Salat holen wollte, zurückgekehrt und hatte berichtet, dass die Regale bereits mit Weihnachtsdeko und Weihnachtssüßkram gefüllt waren. Dabei hatte sie ihren Salat, der aussah, als wäre er aus Plastik gegossen, auf ihrem Schreibtisch abgestellt und einen in grell bedruckte Alufolie gewickelten Schokoladenweihnachtsmann danebengelegt.

»Normalerweise esse ich keine Schokolade, aber zu Weihnachten mache ich eine Ausnahme«, hatte sie fröhlich verkündet, den Weihnachtsmann aus seiner roten Verpackung befreit und ihm den Kopf abgebissen. »Und du, Imogen?«

Imogen hatte konzentriert auf ihren Monitor gestarrt und gehofft, dass die anderen schnell das Interesse an dem Thema verlieren würden.

»Ich weigere mich, im Oktober an Weihnachten zu denken. Das ist doch viel zu früh!« Das durfte sie doch hoffentlich sagen, ohne unangenehm aufzufallen, oder? Schließlich gab es viele Menschen, die sich im Oktober noch nicht mit Weihnachten befassten.

Dasselbe hatte sie auch im November gesagt, als sie nach ihren Plänen für die Weihnachtsfeier im Büro gefragt wurde: »Ich weigere mich, im November an Weihnachten zu denken. Das ist doch viel zu früh!«

Aber nächste Woche war der 1. Dezember, und damit gingen ihr die glaubhaften Ausreden aus. In den Schaufenstern glitzerte Weihnachtsschmuck, und aus den Lautsprechern dröhnten Weihnachtslieder.

Das Thema war nun unvermeidlich.

Also würde sie sich durch dieses eine Gespräch hier quälen und dann hoffentlich eine Zeit lang damit in Ruhe gelassen werden.

»Ja, ich fahre nach Hause. Bestimmt wird es so laut und chaotisch wie immer. Wie das eben so ist, wenn die ganze Großfamilie zusammenkommt. Der Baum ist eigentlich zu groß fürs Wohnzimmer, im Kamin flackert ein Feuer, Onkel George singt krumm und schief und ich muss von früh bis spät meine Nichten und Neffen davon abhalten, die Geschenke zu schütteln, und verhindern, dass meiner Mutter der Weihnachtsbraten anbrennt.« Das würde ja wohl reichen, um die anderen zufriedenzustellen, oder? »Und jetzt brauche ich wirklich dringend die Kostenvoranschläge, Anya.«

»Ich bin schon dran. Oh, und ich hab ganz vergessen, dir zu sagen, dass Dorothy Rutherford vorhin angerufen hat. Da hast du gerade mit dem Techniker von der Beleuchtungsfirma telefoniert.«

Imogens Puls schoss in die Höhe. »Du hast es vergessen? Aber Dorothy Rutherford ist eine wichtige Kundin, Anya! Wenn sie anruft, lasse ich alles stehen und liegen und gehe dran. Und wenn ich gerade mit einem anderen Kunden beschäftigt bin, rufe ich sie umgehend zurück.«

»Kein Problem, sie hat das ganz entspannt gesehen. Mrs. Rutherford liebt dich! Jeder hier weiß, dass du der einzige Grund bist, aus dem sie uns den Auftrag gegeben hat. Sie wollte unbedingt weiter mit dir zusammenarbeiten, nachdem du deine alte Agentur verlassen hast. Ich glaube, aus ihrer Sicht kannst du gar nichts falsch machen. Außerdem bist du die Einzige hier, die ihren alkoholfreien Wein wirklich gut findet.«

»Mir schmeckt er auch!«, protestierte Janie. »Als Erfrischungsgetränk. Es ist nur eben kein … na ja, kein Alkohol eben. Den kleinen Schwips, den ich am Freitagabend brauche, bekomme ich davon jedenfalls nicht. Den dazugehörigen Kater allerdings auch nicht.«

»Nur am Freitag?« Anya grinste. »Und was ist mit den anderen Wochentagen?«

»An denen auch. Das ist das Erste, was meine Mum und ich machen, wenn ich nach Hause komme: Wir köpfen eine Flasche. Deswegen gehe ich ja auch jeden Morgen ins Fitnessstudio. Wenn ich nicht mehr zu Hause wohnen würde, wäre es vermutlich leichter, damit aufzuhören. Du hast so ein Glück, dass du dir eine eigene Wohnung leisten kannst, Imogen.«

Imogen nutzte die Gesprächspause, um zu fragen: »Was wollte Dorothy denn?«

»Über das Angebot reden, das du ihr geschickt hast. Wie es klang, ist sie mit allem einverstanden. Sie schien ziemlich beeindruckt zu sein. Sie wollte ein maßgeschneidertes, originelles Konzept, und das hat sie mit dem Outdoor-Festival samt Bühne und Zelten und so weiter auch bekommen. Fast wie ein Rockkonzert! Sie meinte, so können sie gleichzeitig den Kunden ihre Produkte präsentieren und eine Party für die Einheimischen schmeißen. Die Idee mit dem Feuerwerk und den Drohnenbildern hat ihr besonders gut gefallen. Das wird ein richtig dicker Auftrag, Imogen, Glückwunsch! Du hast wieder mal einen Weg gefunden, ein Briefing voller unrealistischer Erwartungen umzusetzen. Das sollten wir feiern!« Sie grinste in Janies Richtung. »Vielleicht mit einem Glas alkoholfreiem Wein?«

»Nein, danke, da trinke ich lieber einen doppelten Espresso. Aber eins muss ich ihnen lassen, die Flaschen sehen einfach toll aus. So hochwertig wie Champagner.«

»Und ihre Verkaufszahlen gehen durch die Decke. Irgendwem scheint das Zeug also zu schmecken.« Anya stützte das Kinn in die Hand. »Aber das Marketing ist auch wirklich clever. Wie sie den Healthy-Living-Trend für sich nutzen … Und dann die Bilder von ihrem Anwesen in den Cotswolds mit dem Weingarten und den ganzen coolen Leuten, die sich mit Spearcante zuprosten … Wenn ich die Anzeigen sehe, will ich sofort dabei sein, selbst wenn es keinen Alkohol gibt. Weißt du eigentlich, was es mit dem Namen auf sich hat?«

»Ich glaube, spearca stammt aus dem Altenglischen und bedeutet so viel wie Funke«, erklärte Imogen.

Die beiden starrten sie mit großen Augen an.

»Woher weißt du so was alles?«

»Dorothy ist meine Kundin. Es ist mein Job, so viel über sie zu wissen wie möglich. Sie war nicht immer Unternehmerin. Früher hat sie in Oxford Anglistik gelehrt und auch Mediävistik studiert. Da lernt man Altenglisch und Altnordisch. Ich glaube, sie hat sich ziemlich intensiv mit angelsächsischer Prosa und Lyrik beschäftigt. Um Etymologie kommt man da nicht herum.«

Anya runzelte die Stirn. »Hat das nicht mit Insekten zu tun?«

Janie grinste. »Nein, das ist Entomologie. Etymologie ist die Lehre von der Herkunft der Wörter. Und mir als Thema eindeutig lieber als Insekten, danke auch.«

Imogen für ihren Teil interessierte sich gerade allerdings auch nicht für die Herkunft des Namens. Ihre Aufmerksamkeit galt einzig der Tatsache, dass Dorothy hatte warten müssen.

Dorothy war mehr als nur eine wichtige Kundin. Sie war Imogens Lieblingskundin. Dorothy war intelligent, interessant und überraschend angenehm in der Zusammenarbeit. Sie ließ sich auf Imogens Ideen ein und ließ sie meistens einfach machen. Seit vielen Jahren leitete sie die familieneigene Winzerei in den Cotswolds, wo schon mehrere preisgekrönte Weine entstanden waren. Und vor einer Weile hatte sie beschlossen, mit alkoholfreiem Wein zu experimentieren, lange bevor das Thema zum Trend geworden war. Und nun, wo Healthy Living und Alkoholverzicht in den Fokus gerückt waren, ging das Geschäft durch die Decke.

Imogen arbeitete bereits seit Jahren mit Dorothy zusammen und schätzte ihren Enthusiasmus und ihre positive, wertschätzende Art. Sie jammerte nie und beschwerte sich nie, was man vom Gros der übrigen Agenturkunden nicht gerade behaupten konnte.

»Ich rufe sie zurück.«

»Zwecklos! Sie meinte, dass sie die nächsten Stunden über beschäftigt ist. Sie will dich auf dem Heimweg vom Auto aus anrufen.«

Irgendwie gelang es Imogen, ihren Frust zu verbergen. Wenn sie direkt erfahren hätte, dass Dorothy in einem Meeting saß, hätte sie sich die ganze Aufregung doch sparen können!

Stattdessen konnte sie sich in der Zwischenzeit …

»Anya, wenn du mir jetzt bitte gleich die Kostenvoranschläge besorgen würdest, damit ich das Angebot fertigstellen kann …« Ihr kam der rettende Einfall. »… dann kann ich nämlich endlich in Ruhe mit dem Tierarzt telefonieren.«

»Aber klar, für Midas würde ich einfach alles tun!«

»Super, danke.«

Wie erhofft überkam ihre Kolleginnen beim Thema Midas der Arbeitseifer, und zehn Minuten später hatte Imogen sämtliche Zahlen für ihr Angebot beisammen. Erleichtert schickte sie es zur Freigabe an Rosalind und ließ sich auf ihren Stuhl zurücksinken.

Erledigt. Endlich. Vielleicht sollte sie Midas in Zukunft häufiger zu Motivationszwecken nutzen.

Es war ihr unangenehm, bei der Arbeit über ihn zu reden, aber sie wollte so gern einfach nur dazugehören. Und wenn das kleinere persönliche Opfer ihrerseits erforderte, dann war es eben so. Sie würde tun, was nötig war. Selbst wenn das bedeutete, vorgeben zu müssen, Weihnachten zu mögen.

Ihr Team würde die Wahrheit sowieso nie herausfinden.

Schon bald stand im Foyer ein riesiger Baum, den sie gemeinsam mit allen anderen bewundern würde. An strategisch günstigen Stellen würden Mistelzweige hängen, obwohl Beziehungen innerhalb der Belegschaft nicht erwünscht waren (und die Anzahl der küssenswerten Personen in der Agentur deprimierend gering war, wie Janie nach mehreren Gläsern Wein, in denen definitiv noch sämtlicher Alkohol enthalten gewesen war, einmal beklagt hatte). Und dann stand auch noch der Hundetag an.

Womit sie wieder bei Midas war.

Seufzend betrachtete sie das Foto auf ihrem Schreibtisch. Der Fotograf hatte Midas beim eifrigen Schwanzwedeln eingefangen.

Er war wirklich ein süßer Hund.

Nur dass er leider nicht ihrer war.

Ebenso wie sie die Weihnachtsfeiertage leider nicht mit ihrer chaotischen, lärmigen Großfamilie verbringen würde.

Sie liebte das Familienfoto auf ihrem Schreibtisch. Aber bei den Menschen darauf handelte es sich nicht um ihre Familie. Imogen kannte sie gar nicht, auch wenn sie fand, dass sie alle ungemein sympathisch aussahen.

Sie hatte das Weihnachtsfest von jemand anderem beschrieben.

Es gab kein großes Landhaus. Keinen übergroßen Baum und kein Kaminfeuer. Onkel George würde nicht krumm und schief singen, weil Onkel George ebenso wenig existierte wie irgendwelche anderen Onkel. Oder Nichten und Neffen, die sie davon abhalten musste, ihre Geschenke zu schütteln. Es würde kein Scharadespiel geben und auch keinen angebrannten Weihnachtsbraten. Weil ihre Mutter noch nie in ihrem ganzen Leben einen Weihnachtsbraten zubereitet hatte.

Aber das war gerade nicht ihr größtes Problem. Ihr größtes Problem war der Hundetag.

Alle wollten Midas kennenlernen. Doch es gab keinen Midas.

Imogen hatte keinen Hund. Und eine liebevolle Familie hatte sie auch nicht.

Imogen hatte niemanden.

Das Privatleben, das sie den anderen vorspiegelte, war reine Erfindung.

2. Kapitel

Dorothy

Dorothy hatte sich gerade auf den Heimweg aus der Stadt gemacht, als Imogen sie zurückrief.

»Tut mir leid, dass ich vorhin nicht erreichbar war, Dorothy. Sie wissen ja, wie gern ich mit Ihnen telefoniere.«

Imogen klang ein wenig außer Atem, und ihr Bedauern wirkte aufrichtig. Dorothy musste lächeln. Es war nahezu unmöglich, Imogens positive, ausnahmslos gut gelaunte Art nicht zu bewundern. Ihre Energie war ansteckend, sie lächelte immer fröhlich und besaß einen unermüdlichen Arbeitseifer.

»Kein Problem. Ich wollte Ihnen nur eben persönlich sagen, wie begeistert wir von Ihrem Angebot sind und dass wir Ihnen grünes Licht geben. Über die Details können wir uns ja später noch austauschen.« Sie sah kurz zu ihrer Tochter hinüber, die mit im Schoß gefalteten Händen neben ihr auf dem Beifahrersitz saß.

Sara warf ihr einen vielsagenden Blick zu, den sie geflissentlich ignorierte. Das hier war ihre Entscheidung. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Und was sie wollte, war eine Zusammenarbeit mit Imogen. Weil es niemanden gab, der den Auftrag mehr verdient hätte.

»Toll! Das sind ja fantastische Neuigkeiten! Ich freue mich so!« Imogens Enthusiasmus schien den gesamten Wagen auszufüllen. »Ich versuche, übers Wochenende noch an den Details zu feilen, und schicke Ihnen das Ergebnis am Montag zu.«

»Keine Eile. Machen Sie am Wochenende frei, Imogen. Ich habe den Eindruck, dass Sie rund um die Uhr arbeiten.« Dorothy sah in den Seitenspiegel und wechselte auf die Überholspur. »Ich dachte, vielleicht können wir uns einfach zum Mittagessen treffen, wenn ich das nächste Mal in London bin. Dann stoßen wir auf unsere hervorragende Zusammenarbeit an. Und auf Weihnachten natürlich.«

»Das wäre schön! Sagen Sie mir einfach wann, und ich erledige den Rest. Ich freue mich schon.«

»Die kommende Woche verbringe ich in den Cotswolds, aber die Woche darauf bin ich wieder in der Stadt. Passt Ihnen das?«

Nachdem sie sich verabredet hatten, wünschte sie Imogen ein schönes Wochenende und beendete das Telefonat.

Schweigen senkte sich über das Auto.

Dorothy wartete. Ihr fehlte heute die nötige Energie für das Gespräch, das jetzt unweigerlich folgen würde.

Nach einer Weile ergriff Sara wie befürchtet das Wort. »Mum …«

»Ich will es nicht hören, Sara.«

»Aber …«

»Imogen leistet hervorragende Arbeit. Sie ist klug, fleißig und kreativ. Ich kenne niemanden, mit dem ich lieber zusammenarbeiten würde. Hast du sie nicht gehört? Ihre Begeisterungsfähigkeit ist einfach ansteckend.«

Sara atmete tief durch. »Niemand hat behauptet, sie wäre nicht gut. Aber …«

»Weißt du, dass unsere Kunden und Lieferanten immer noch von dem Event schwärmen, das sie letztes Jahr für uns organisiert hat? Sogar die, die gar nicht dabei waren, reden darüber. Weil sie es bereuen, dass sie nicht gekommen sind. Es ist wirklich schade, dass du es verpasst hast.«

Sara wandte sich ab und sah aus dem Fenster. »Ava war krank.«

»Ich weiß doch.« Sie wollte noch etwas hinzufügen, schloss den Mund aber wieder. Lass es gut sein, Dorothy.

»Ich weiß, dass du Imogen den Auftrag geben willst«, sagte Sara. »Aber meinst du nicht, wir sollten auch ein paar anderen Agenturen die Chance geben zu pitchen?«

»Nein.« Dorothy beobachtete skeptisch ein Auto vor ihnen, das sich aggressiv durch den Verkehr schlängelte. »Imogen macht ihre Sache hervorragend, das Angebot passt in unser Budget, und solange sie für die Planung verantwortlich ist, kann ich mich darauf verlassen, dass die Sache läuft. Warum sollte ich andere Bewerber pitchen lassen? Wir sind ein kleines Familienunternehmen und haben keine Zeit für das alles. Was macht der denn da? Glaubt der wirklich, er passt in diese kleine Lücke? Am Freitagnachmittag sind manche Leute irgendwie nicht ganz sie selbst.« Sie wollte nichts lieber, als dass dieses Gespräch aufhörte. Aber den Gefallen tat ihre Tochter ihr nicht.

Sara trommelte mit den Fingern auf der Akte herum, die auf dem Armaturenbrett lag. »Ich finde einfach nur, dass wir …«

»Ich weiß, was du sagen willst, und ich bin immer dankbar für deine Meinung, Sara. Aber diese Entscheidung liegt bei mir, und ich habe sie bereits getroffen.« Sie sagte das, als wäre es ihr leichtgefallen. Dabei stimmte das gar nicht. Ob Sara wohl ahnte, dass sie sich von früh bis spät selbst hinterfragte? Große, wichtige Entscheidungen sollte man mit kristallklarer Sicherheit treffen. Aber diese hier war verschwommen und trüb. »Ihr Konzept ist perfekt, die Idee mit der Drohnenshow ausgefallen. Alles findet auf unserem Gelände statt, sodass sich die Kosten im Rahmen halten. Und ich finde es toll, dass wir all unsere Nachbarn aus dem Dorf einladen können. Das wird eine richtige Party.«

»Ich gebe ja zu, dass sie das hervorragend geplant hat. Aber es geht mir ja auch gar nicht um die Qualität von Imogens Arbeit, und das weißt du genau.« Sara seufzte. »Ich mache mir einfach Sorgen um dich.«

»Und das ist vollkommen unnötig. Ich weiß schon, was ich tue.« Was nicht der Wahrheit entsprach. Eigentlich hatte sie nämlich keinen blassen Schimmer, was sie tat. Sie improvisierte, gab ihr Bestes. Ließ es drauf ankommen und hoffte, dass auf ihr Bauchgefühl in Zukunft mehr Verlass sein würde als in der Vergangenheit. Hieß es nicht, aus Fehlern würde man klug? In ihrem Fall hatten die Fehler sie einfach nur vorsichtig gemacht.

»Mum …«

»Was ich wirklich brauche, sind die neusten Zahlen. Und wenn wir das erledigt haben, können wir abschalten, aufs Land fahren und in den Wochenendmodus wechseln.« Der Verkehr lichtete sich nach und nach, und sie ließen London hinter sich.

Eine Zeit lang spürte sie Saras Blick noch auf sich ruhen, doch schließlich richtete ihre Tochter ihre Aufmerksamkeit auf ihr Handy.

»Patrick hat mir vor einer Stunde die Zahlen geschickt. Der Umsatz ist um vierzig Prozent höher als im vergangenen Jahr um diese Zeit. Wir können uns vor Bestellungen kaum retten, aber das hat natürlich damit zu tun, dass die Feiertage vor der Tür stehen. Ich habe mit der Agentur geredet. Der neue Slogan Weihnachten ohne Kopfschmerzen kommt insbesondere bei den Vierzig- bis Fünfzigjährigen gut an. Das ist natürlich ideal, weil wir ja gerade bei dieser Altersgruppe die Verkaufszahlen steigern wollten.«

Dorothy musste lächeln. »Das sind die ganzen Eltern, die das Weihnachtsessen zubereiten müssen. Und deine neue Social-Media-Kampagne?«

»War ein Hit bei den Influencern. Viele von den Lifestyle-Fotos waren einfach traumhaft. Die neue Flasche und das Label kommen auf Bildern hervorragend zur Geltung. Das schönste wurde in einer Weihnachtsbaumschule geschossen. Ich schicke es dir zu. Die Geschenkflasche im Miniaturformat mit Weihnachtsetikett ist schon fast ausverkauft, die Nachbestellung ist raus, und …«

Die folgende Stunde lang redete Sara weiter. Als sie mit ihrem Update für Dorothy fertig war, hatten sie die Autobahn wieder verlassen und schlängelten sich entlang der Landstraßen in die Cotswolds.

Unwillkürlich legte sich Dorothys Großstadtstress. Dafür entstand ein ganz neuer, der allerdings nichts mit der Gegend zu tun hatte, sondern mit der Jahreszeit.

»Ist das kalt heute«, sagte sie in lebhaftem Ton. »Nicht zu fassen, dass nächste Woche schon der 1. Dezember ist. Weihnachten steht vor der Tür.« Als sie Weihnachten sagte, legte Sara ihr tröstend die Hand aufs Bein. Mit dieser kleinen Geste fiel jegliche Spannung, die das Gespräch vorhin zwischen ihnen erzeugt hatte, von ihnen ab.

»Ja, ich weiß.« Sara drückte ihr Bein. »Aber das wird schon. Wart’s nur ab, wir machen es uns richtig schön.«

»Genau. So wie immer.« Was hätte sie ohne ihre Tochter nur tun sollen? Dorothy richtete sich auf und konzentrierte sich auf den Verkehr. Sara war so viel sortierter als sie. Ihre Tochter besaß die unbezahlbare Fähigkeit, die Vergangenheit einfach auszublenden. Was hätte Dorothy dafür gegeben, dasselbe von sich behaupten zu können! »Sind die Mädchen schon sehr aufgeregt?

»Aufgeregt ist stark untertrieben. Sie haben extra einen Kalender gebastelt, in dem sie ankreuzen, wie oft sie noch schlafen müssen, bis der Weihnachtsmann kommt. Und sie haben genügend Weihnachtskarten für die halben Cotswolds gebastelt. Keine Ahnung, was ich damit anstellen soll.«

»Schlag den Mädchen doch vor, dass sie den Tieren welche schicken. Die Alpakas freuen sich sicher über Weihnachtspost.«

»Tolle Idee. Allerdings müsstest du dann dafür sorgen, dass sie die Karten nicht fressen.« Sara lachte auf. »Apropos Alpakas, Mrs. Nolan wollte gern wissen, ob sie sich Benson für die Schulaufführung leihen können. Da du im Publikum sitzt, könntest du auf ihn aufpassen.«

»Sie haben Verwendung für ein Alpaka? Was ist das überhaupt für ein Stück?«

»Die Kinder haben es selbst geschrieben«, erzählte Sara. »Es scheint um alle Arten von Tieren zu gehen, aber für Benson haben sie sich eine richtige Rolle ausgedacht, weil die Kinder ihn so mögen. Und sie wissen ja, dass er sie nie beißen würde, egal, wie sie sich aufführen.«

»Stimmt, Benson tut keiner Fliege was zuleide. Sie können ihn gern ausleihen.«

»Glaubst du, er würde sich ein Geweih aufsetzen lassen?«

»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.« Bei der Vorstellung musste Dorothy lächeln. »Soll ich sonst noch jemanden mitbringen? Die Herdwick-Schafe sind sanftmütig, von denen könntet ihr euch auch ein paar leihen.«

»Ich dachte eher an Romeo und Juliet.«

Dorothy zog eine Grimasse und schüttelte den Kopf. »Die beiden besser nicht. Außer natürlich, ihr wollt, dass das Stück im Chaos endet. Du weißt doch, wie Ziegen sind.«

»Ja, niedlich.«

»Und sie fressen alles, was ihnen in die Quere kommt, Sara.«

»Stimmt, da hast du recht. Gut, dann einfach nur Benson. Und vielleicht eins von den Schafen, ich frage noch mal nach.«

»Du könntest sicherheitshalber doch Miles bitten mitzukommen«, schlug Dorothy vor. »Es wäre sicher nützlich, einen Tierarzt dabeizuhaben.«

Sara lachte. »Als ob Miles sich blicken lassen würde. Seit Bryony Wilson damals in der Pause ein Glas Wein zu viel hatte und ihn im Flur abgepasst und nicht mehr weggelassen hat, bekommen ihn keine zehn Pferde mehr zu solchen Veranstaltungen.«

»Da hast du auch wieder recht. Dann übernehme ich eben die Alpaka-Betreuung.«

»Toll, danke, Mum. Willst du Holly Cottage jetzt, wo es endlich fertig renoviert ist, eigentlich wieder über die Agentur vermieten lassen?«

»Nein, das Thema wollte ich erst im Januar angehen.«

Holly Cottage war das ehemalige Pförtnerhaus des Anwesens, aber Dorothy vermietete es inzwischen schon seit zehn Jahren an Feriengäste. Dieses Jahr hatte sie die Handwerker aus dem Ort beauftragt, es über die Sommermonate zu renovieren, was dank der Unberechenbarkeit alter Cottages leider viel länger gedauert hatte als erwartet. Dafür konnte sich das Ergebnis aber sehen lassen. Charakter und Charme waren erhalten geblieben, doch von der Heizung bis zu den Wasserrohren hatte alles modernisiert werden müssen.

»Es sieht toll aus«, sagte Sara. »Wo wir beim Thema Weihnachten sind, wir haben noch gar nicht genauer abgesprochen, wie wir es dieses Jahr machen wollen. Die Mädchen hoffen, dass wir alle zusammen bei dir im Haus wohnen können. Wäre das in Ordnung?«

Auf einmal hatte Dorothy einen Kloß im Hals. »Das ist nicht nötig, Sara. Ehrlich, ich komme wunderbar zurecht. Ihr wart doch letztes Jahr schon über Weihnachten bei Patricks Familie. Wollt ihr nicht endlich mal in eurem eigenen Zuhause feiern? Ich könnte den Tag einfach bei euch verbringen.«

»Ich verbringe mehr als genug Zeit in meinem eigenen Zuhause«, erwiderte Sara. »Wir würden viel lieber zu dir kommen. Natürlich nur, wenn wir dir nicht auf die Nerven gehen. So komme ich zu einem herrlich entspannten Weihnachtsfest, bei dem ich faul auf dem Sofa herumliegen kann, während du in der Küche werkelst und deine hyperaktiven Enkeltöchter bei Laune hältst. Glaub mir, für mich sind das mehr als verlockende Aussichten.« Ihr Handy gab ein Ping! von sich, und während sie die eingegangene Nachricht las, fragte sich Dorothy, wie Sara es nur schaffte, ihr immer wieder ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern und ein gutes Gefühl zu geben, wenn es um Weihnachten ging. Was einem Wunder gleichkam, denn ein Teil von ihr hatte so wie jedes Jahr panische Angst vor den Feiertagen. Es spielte keine Rolle, wie viel Zeit verstrich – weh tat es immer noch. Und das wusste Sara genau. Vermutlich, weil sie sich mit Weihnachten ähnlich schwertat wie Dorothy. Immerhin hatten sie jene Tage damals gemeinsam durchgestanden, und manchmal fragte sie sich, ob sie ohne die Unterstützung ihrer Tochter damals überhaupt noch am Leben wäre.

Bei dem Gedanken durchflutete sie eine Welle aus Liebe und Stolz.

Was für eine großartige Frau Sara doch war. Und zu Weihnachten noch mehr als sonst. Sie hatte sich bewusst dafür entschieden, Weihnachten zu einem besonders schönen Erlebnis zu machen und die Feiertage ausgiebig zu zelebrieren, anstatt den Kopf in den Sand zu stecken.

Sie musterte ihre Tochter von der Seite. Sara tippte gerade eine Antwort in ihr Handy und hielt den Kopf gesenkt, sodass ihr das Haar wie ein blassgoldener Vorhang ins Gesicht fiel. Nur die Rundung ihrer Wange und ihre langen Wimpern lugten hervor. Für einen Moment erkannte Dorothy in der verheirateten Frau, die inzwischen selbst zwei Kinder hatte, wieder das kleine Mädchen von früher.

Sara. Die stets so verantwortungsbewusste, aufmerksame Sara. Andere Kinder bereiteten ihren Eltern ständig Sorgen. Nicht so Sara.

»Patrick hat geschrieben, dass wir Pizza-Abend machen.« Sara schickte ihre Nachricht ab. »Er fragt, ob du auch kommst. Die Mädchen und er haben den Teig und den Sugo schon vorbereitet, was bedeutet, dass ich später die ganze Küche schrubben darf. Du siehst: Weihnachten bei dir wäre für mich ein Traum.«

Dorothy lachte. Einen Augenblick lang war sie verlockt, die Einladung zum Pizzaessen anzunehmen. Ein Abend mit ihren Enkelkindern würde sie ablenken und ihre triste Stimmung heben. Aber andererseits hatte sie das Bedürfnis, etwas Zeit zu Hause zu verbringen. »Danke, aber heute lieber nicht.«

»Sicher?« Sara klang besorgt. »Du hast doch wohl nicht vor, allein auf dem Sofa zu sitzen und vor dich hin zu trauern, oder?«

»Nein, aber ich war die ganze Woche in London. Viel zu lange für meinen Geschmack. Ich möchte nach den Tieren sehen und nachfragen, was in meiner Abwesenheit alles so passiert ist.«

»Falls du es dir anders überlegen solltest, kannst du jederzeit vorbeikommen. Patrick wird garantiert wie immer viel zu viel kochen.«

»Danke, vielleicht komme ich darauf zurück.«

»Und? Hast du dich wegen Weihnachten schon entschieden? Sag es bitte ganz ehrlich, wenn es dir mit uns zu anstrengend wird. Ich verspreche auch, dass ich nicht faul auf dem Sofa herumliegen werde. Wir helfen alle mit, die Mädchen auch. Wobei ihre Hilfe allerdings meist bedeutet, dass wir Erwachsenen am Ende doppelt so viel Arbeit haben.«

Dorothy lächelte. »Du weißt doch genau, wie sehr ich mich freuen würde, wenn ihr kommt.« Die Aussicht hob ihre Stimmung merklich. Sie würde alle Weihnachtsregister ziehen, so wie Sara es auch immer machte. Inklusive riesigem Baum. Die Mädchen wären bestimmt begeistert. »Das wird schön. Die Kinder könnten mir in den kommenden Wochen ja helfen, das Haus zu schmücken.«

In ihrer Brust breitete sich ein dumpfer Schmerz aus. Wie glücklich sie sich schätzen konnte, sie alle zu haben: ihre wunderbare Tochter, ihren liebenswürdigen Schwiegersohn und ihre beiden hinreißenden Enkeltöchter. Das Weingut, das Unternehmen und ihr wunderschönes Landhaus. Nicht zu vergessen die Tiere. Sie lächelte. Die Tiere waren der Grund dafür, dass sie sich niemals wirklich einsam fühlte. Insgesamt hatte das Schicksal es mehr als gut mit ihr gemeint, das war ihr bewusst. Und doch …

Und doch war es möglich, Dankbarkeit zu empfinden und zugleich Vergangenes zu bereuen. Und zu dieser Jahreszeit meldete sich die Reue immer wieder besonders hartnäckig zu Wort.

Sie setzte Sara vor ihrem Haus im Dorf ab, stieg ebenfalls kurz aus, um ihre Enkelinnen zu umarmen, und fuhr dann die paar Meilen weiter bis zum Winterbury Estate.

Ihre Eltern hatten Haus und Land seinerzeit in einem heruntergewirtschafteten Zustand erworben und Stück für Stück wiederaufgebaut. Es war ihr Vater gewesen, der die Idee gehabt hatte, Weinberge anzulegen. Die Inspiration dazu war ihm während einer Frankreichreise gekommen. Er war überzeugt davon gewesen, dass die geschützte Lage des Geländes und die Bodenqualität einen exzellenten Wein ermöglichen würden – und die Zeit hatte ihm recht gegeben.

Dorothy fuhr die schmalen Landstraßen entlang. Als sie in das kleine Dorf Winterbury abbog, streiften ihre Scheinwerfer Trockenmauern und reetgedeckte Cottages. Kaum war sie dort, überkam sie ein tiefes Gefühl der Ruhe und Gelassenheit. Obwohl in diesem idyllischen kleinen Winkel von England alle Annehmlichkeiten, die die moderne Welt zu bieten hatte, vorhanden waren, kam es ihr hier manchmal vor, als würde die Zeit stillstehen.

Mitten durchs Dorf plätscherte ein Bach, flankiert von Häusern aus honigfarbenem Sandstein. Es gab einen Dorfplatz, ein Pub, das von Leuten aus dem gesamten Umland besucht wurde, eine hervorragende Bäckerei und verschiedene kleine Läden mit lokalen Produkten, darunter natürlich auch der Wein aus Winterbury Estate. In den Sommermonaten quollen die Straßen nur so über vor Touristen, die die typische Atmosphäre der Cotswolds in sich aufnehmen wollten. Aber im Winter erinnerte das Dorf noch ganz an den Ort ihrer Kindertage.

Laut Wetterbericht würde es nun einen Kälteeinbruch geben, aber es war ein gutes Jahr für die Reben gewesen. Patrick, der nicht nur ihr Schwiegersohn, sondern auch ihr Winzer war, hatte ihr im vergangenen Monat sogar eröffnet, dass es ihr bisher bestes Jahr überhaupt war. Schon jetzt war der Ertrag so hoch wie nie. Der Juni war trocken und warm gewesen – förderlich für die Blüte –, und als es später zu stärkeren Unwettern gekommen war, gediehen die Reben bereits so prächtig, dass sie eine Rekordernte eingefahren hatten.

Eine Meile hinter dem Dorf bog sie auf die Hauptstraße ab, fuhr durch das Tor von Winterbury Estate, passierte Holly Cottage und folgte der Allee, die zum Haus führte.

Die Aussicht auf ein Wochenende ohne Gesellschaft bereitete ihr keine Bauchschmerzen. Sie lebte seit Phillips Tod allein und war daran gewöhnt.

Sara befürchtete immer, sie könnte vereinsamen, aber Dorothy fühlte sich auf dem Weingut niemals allein. Einerseits, weil normalerweise immer irgendjemand dort war, entweder aus dem kleinen Team aus Angestellten, die ihr mit der Winzerei halfen, oder ihre Haushälterin Jenny, die im Dorf wohnte. Vor allem aber, weil es ihr Zuhause war.

Sie hielt vor dem Eingang. Die Haustür wurde geöffnet, und ein einladender Lichtschein erhellte die Treppe. Dann schoss ein wild mit dem Schwanz wedelnder Spaniel auf sie zu.

»Bailey!« Sie bückte sich, um ihn ausgiebig zu streicheln. »Ich hab dich ja so vermisst.«

Sie nahm ihr Gepäck, das nur aus einem kleinen Koffer bestand. Sie reiste lieber ohne unnötigen Ballast.

»Er benimmt sich jedes Mal, als wärst du ein Jahr lang weg gewesen und nicht nur eine Woche. Ist die Reise gut gelaufen?« Jenny erwartete sie bereits im Mantel auf der Treppe.

»Ja, danke. Toll, dass du hier nach dem Rechten gesehen hast, Jenny.« Sie umarmte die andere Frau herzlich. Sie kannten sich bereits seit Jahrzehnten, und ihre Freundschaft war ihnen auch in schweren Zeiten stets eine Stütze gewesen. »Und gibt es irgendwelche Neuigkeiten?«

»Nein, alles bestens. Vorhin habe ich noch nach den Alpakas gesehen und ihnen frisches Heu gebracht.«

»Danke, Jenny. Fahr vorsichtig. Wir sehen uns am Montag.« Dorothy sah ihrer Haushälterin hinterher, bis die Rücklichter in der Dunkelheit verschwunden waren, dann betrat sie mit Bailey an ihrer Seite das Haus.

Es war schön, wieder daheim zu sein.

Als sie in die Küche weiterging, empfing sie dort eine wohlige Wärme.

Jenny hatte ihr die Post auf den Tisch gelegt, aber sie beschloss, den Stapel erst später durchzusehen. Jetzt würde sie sich erst einmal einen Becher sahnige heiße Schokolade machen und sich damit in die Bibliothek setzen. Es war der Raum, in dem sie sich Phillip am nächsten fühlte, hier drinnen konnte sie seine Präsenz immer noch ganz genau spüren. Seit über zwanzig Jahren war sie nun schon verwitwet, aber so schön sie es sich im Leben auch eingerichtet hatte – es verging kein Tag, an dem sie ihn nicht vermisste.

Sie setzte sich in die Ecke, die auf den Garten und die Koppel hinausging. Im Sommer konnte sie von hier aus ihre kleine Alpaka-Herde beobachten, aber heute hatten sich die Tiere vor der Kälte in ihren Stall geflüchtet.

Rechts von der Koppel befand sich der Gemüsegarten, und dahinter begannen die Weinberge.

Bailey kam zu ihr in die Bibliothek und machte es sich zu ihren Füßen gemütlich.

»Wir sollten heute früh zu Bett gehen.« Sie kraulte ihm den Kopf. »Morgen liegt ein anstrengender Tag vor uns.«

So wie in der Vorweihnachtszeit eigentlich jeder Tag anstrengend war. Was allerdings nichts war im Vergleich zur Erntezeit mit ihren endlosen Überstunden, die keinerlei Raum für Freizeit ließen. Auch wenn sie die logistische Seite des Unternehmens ihrem kleinen Team überließ, in dem Patrick eine zentrale Rolle spielte, war es am Ende doch ihre Aufgabe als Chefin, den Überblick zu wahren. Und hin und wieder half sie auch dabei, die Reben zurückzuschneiden. Dann fühlte sie sich wieder ein wenig wie damals in den arbeitsreichen, aber glücklichen Tagen, in denen Phillip und sie gemeinsam einen Großteil der anfallenden Aufgaben selbst übernommen hatten.

Es war an der Zeit, dass sie sich Gedanken über Weihnachten machte. Wenn ihre Enkelinnen kamen, musste das Haus schließlich ordentlich geschmückt sein.

Außerdem würde sie jetzt schon anfangen müssen zu backen, zu kochen und einzufrieren, damit sie nicht so hetzen musste, wenn ihre Familie da war.

Von früh bis spät würde sie auf den Beinen sein, aber sie scheute die viele Arbeit nicht, sondern begrüßte sie als willkommene Ablenkung.

Und auch wenn sie wusste, dass Sara nicht ernsthaft vorhatte, faul auf dem Sofa herumzuliegen, wollte sie ihr unbedingt ein entspanntes Weihnachtsfest ermöglichen. Sara sollte Zeit mit Patrick und ihren Töchtern verbringen. Sich auf die Mädchen konzentrieren, statt am Herd zu kleben. Es gab nichts Wichtigeres als die Familie, und die frühen Kinderjahre verstrichen so schnell.

Mit ihrer leeren Tasse kehrte sie in die Küche zurück, wo sie Imogens Angebot aus ihrer Laptoptasche holte. Konzept und Details waren genial – aber von Imogen hatte sie auch nichts anderes erwartet. Sie war eine beeindruckende junge Frau und hatte Dorothys Vertrauen und damit auch diesen großen Auftrag mehr als verdient.

Sie wusste, dass es Sara Sorgen bereitete, wie eng ihr Verhältnis zu Imogen war.

Es war der eine, einzige Punkt zwischen ihnen, in dem sie nicht einer Meinung waren.

Dorothy konnte Saras Besorgnis nachvollziehen, aber das änderte nichts an ihrem Entschluss.

Sie tat, was am besten für sie war.

3. Kapitel

Sara

»Und? Wie war es in der großen bösen Stadt?« Patrick zog sie an sich, um sie zu küssen, kaum dass sie zur Tür herein war.

»Groß und böse.« Sie ließ ihre Koffer fallen, um seinen Kuss zu erwidern. »Ich fürchte, mein Aufenthalt hat mich verdorben.«

»Echt?« Er löste seine Lippen von ihren und lächelte. »Was für erfreuliche Neuigkeiten. Könntest du mir bitte mehr darüber erzählen? Oder noch viel besser – führst du es mir vor?«

»Vielleicht.«

»Mummy!«, quietschten zwei Stimmchen in der Küche, dann kamen die Mädchen in den Flur getobt.

»Hm, wohl eher nicht«, murmelte sie und warf Patrick ein Lächeln zu, dann schloss sie ihre Töchter in die Arme.

Zuerst war Ava dran, die sechs war und die Wildere der beiden.

»Wir machen Pizza!«, rief sie.

»Wirklich? Da muss ich unbedingt mitmachen.« Sie küsste Ava und streckte die Arme nach Iris aus. Sie war neun und deutlich ruhiger als ihre Schwester. Doch sie verströmte denselben Duft von Shampoo, Zucker und Unschuld.

Sie drückte sie fest an sich. Eigentlich gab es nur eins, was Sara wirklich etwas bedeutete, und das war ihre Familie. Es verstrich kein Tag, an dem sie keine aufrichtige Dankbarkeit dafür empfand, Patrick und die Kinder zu haben. Sie waren ihr Lebensinhalt, und sie würde niemals zulassen, dass sich etwas zwischen sie drängte.

»Wir haben schon mit deiner angefangen«, sagte Iris. »Weil wir dachten, dass du bestimmt zu müde bist, um sie selbst zu machen. Wieso ist Granny denn gar nicht mit reingekommen?«

Das war so typisch für Iris: diese aufmerksame Art. Immer hatte sie die anderen im Blick.

Sara drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und stand auf. »Granny war ein bisschen müde und wollte gern nach ihren Tieren sehen.«

»Komm schon«, sagte Ava zu ihrer Schwester und zog sie an der Hand zurück in die Küche.

Was wiederum typisch für die stets rastlose Ava war – in Gedanken immer bereits beim nächsten Abenteuer.

Der Anblick der Mädchen, die Hand in Hand davonliefen, versetzte ihr einen Stich ins Herz. Hoffentlich würde das Verhältnis der beiden für immer so eng bleiben. Schwestern.

Am liebsten hätte sie die Zeit angehalten.

Gemeinsam mit Patrick folgte sie ihnen in die Küche. »Und? Haben sie sich benommen?«

»Absolut. Aber du weißt ja, wie es jetzt weitergeht. Sie freuen sich so darüber, dass du wieder hier bist, dass wir sie unmöglich ins Bett bekommen.«

»Es wird ihnen schon nicht schaden, wenn sie mal einen Abend später schlafen gehen.« Sara streifte ihre Schuhe ab und band sich eine Schürze um. Es war so schön, wieder zu Hause zu sein. Zwar machte sie sich immer noch Sorgen um ihre Mutter, aber hier im Kreis ihrer Familie traten diese Gedanken zeitweise in den Hintergrund. »Ich will keine Tomatensaucenflecken auf meiner besten Seidenbluse riskieren.«

»Dann zieh sie doch einfach aus.« Patrick warf ihr seinen besonderen Blick zu, und sie reagierte mit ihrem.

Vielleicht hätten sie sich für heute Abend einen Babysitter organisieren und ausgehen sollen.

»Ich musste mein T-Shirt ausziehen, weil ich Tomate draufgekleckert hab.« Ava verteilte Käse auf ihrer Pizza. »Jetzt bin ich traurig. Das war mein Lieblings-Shirt.«

»Beim Waschen geht der Fleck bestimmt raus.« Iris schob das Backblech mit dem Pizzateig näher zu ihrer Schwester, damit weniger Käsekrümel auf der Arbeitsfläche landeten. »Ich hab es schon eingeweicht und Seife auf den Fleck gegeben. Sie hat geweint, aber ich hab ihr erklärt, dass du es wieder sauber bekommst. Du bekommst doch alles sauber.«

Sara musste lächeln. Eigentlich war sie froh, keinen Babysitter organisiert zu haben. Den heutigen Abend wollte sie mit ihrer Familie verbringen. Später, wenn die Mädchen schliefen, hatte sie noch genügend Zeit mit Patrick allein. »Du bist so lieb zu deiner Schwester.«

»Hier ist deine Pizza.« Patrick schob ihr ein Backblech hin, und sie machte große Augen.

»Wow. Das sind aber viele Oliven.«

»Zu viele?« Iris musterte sie nervös. »Ich hab dir meine abgegeben, weil du Oliven doch so magst.«

»Es sind ganz genau richtig viele! Und das war sehr großzügig von dir.« Sara bewunderte pflichtbewusst ihre Pizza. »Wie hast du das nur so perfekt hinbekommen?«

Iris bekam vor Stolz rote Bäckchen und machte sich zufrieden wieder an die Arbeit an ihrer eigenen Pizza, die ebenso ein Sinnbild ihrer Persönlichkeit war wie die von Ava.

Iris’ war akkurat belegt und mit Schinkenstreifen symmetrisch in vier Quadranten unterteilt.

»Deine Pizza sieht aus wie ein Kunstwerk«, bemerkte Sara bewundernd.

Dann schob ihr Ava ihre Pizza hin. »Und meine? Ist die auch ein Kunstwerk?«

»Ja, ein klarer Fall von moderner Kunst«, sagte Patrick und zwinkerte Sara zu.

Avas Pizza sah aus, als hätte jemand die Zutaten von einem Hubschrauber abgeworfen.

»Die sieht lecker aus.« Sara schob die Pizzen in den Ofen und setzte sich an den Tisch.

»Lange Woche? Dann hilft ein Glas von unserem besten Weißen aus Winterbury.« Patrick stellte ihr ein großes Weinglas hin, und Sara prüfte eingehend den Inhalt.

»Eine schöne Farbe.«

»Und der Geschmack ist sogar noch besser.« Er setzte sich neben sie und drückte ihr die Hand. »Das war bisher unser bestes Weinjahr. Unglaublich. Einmal im Leben war das Wetter auf unserer Seite. Danke übrigens für deine Mail mit dem Update. Klingt, als wäre der Termin mit dem Großhändler gut gelaufen.«

»Sehr gut sogar. Er kennt sich aus im alkoholfreien Marktsegment. Und er ist überzeugt, dass in diesem Bereich noch viel Raum für Wachstum ist.« Sara spielte mit ihrem Glas. »Ich hoffe, es klappt.«

Ava hielt sich die Ohren zu. »Hört jetzt auf, über die Arbeit zu reden! Arbeit ist langweilig.«

Sara stellte ihr Glas weg. »Du hast recht. Schluss mit Arbeit.«

Aber Ava kritzelte schon wild mit grünem Wachsmalstift auf einem Blatt Papier herum. »Ich male einen Weihnachtsbaum.«

Iris blickte auf. »Das ist hübsch geworden. Jetzt fehlt nur noch der Schmuck.«

»Wann bekommen wir endlich unseren richtigen Baum?«, fragte Ava, während sie wahllos pinke Kleckse auf dem Bild verteilte.