Schnelles Lesen, langsames Lesen - Maryanne Wolf - E-Book

Schnelles Lesen, langsames Lesen E-Book

Maryanne Wolf

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Beschreibung

Was wir verlieren, wenn wir keine gedruckten Bücher mehr lesen

Bücherlesen ist kein exzentrisches Hobby. Smartphones, E-Reader, Tablets sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken, und es hat keinen Sinn, sich die Zeit ohne digitale Medien zurückzuwünschen. Maryanne Wolf macht jedoch deutlich, dass wir zwar nicht der völligen digitalen Demenz anheimfallen, wenn wir vor allem über digitale Kanäle Informationen und Unterhaltung konsumieren, dass wir aber enorm viel verlieren, wenn wir daneben nicht von klein auf lernen, gedruckte Bücher zu lesen. Unser Gehirn reagiert anders, verarbeitet anders und bildet andere Strukturen aus als beim digitalen Lesen. Für unsere offene, demokratische Gesellschaft so wichtige menschliche Fähigkeiten wie das Erfassen, Analysieren, Durchdenken komplexer Zusammenhänge sowie Empathie drohen zu verkümmern. Kurz gesagt: Erst das Lesen gedruckter Bücher macht uns zu ganzen Menschen.

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Seitenzahl: 396

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Zum Buch

Bücherlesen ist kein exzentrisches Hobby. Smartphones, E-Reader, Tablets sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken, und es hat keinen Sinn, sich die Zeit ohne digitale Medien zurückzuwünschen. Maryanne Wolf macht jedoch deutlich, dass wir zwar nicht der völligen digitalen Demenz anheimfallen, wenn wir vor allem über digitale Kanäle Informationen und Unterhaltung konsumieren, dass wir aber enorm viel verlieren, wenn wir daneben nicht von klein auf lernen, gedruckte Bücher zu lesen. Unser Gehirn reagiert anders, verarbeitet anders und bildet andere Strukturen aus als beim digitalen Lesen. Für unsere offene, demokratische Gesellschaft so wichtige menschliche Fähigkeiten wie das Erfassen, Analysieren, Durchdenken komplexer Zusammenhänge sowie Empathie drohen zu verkümmern. Kurz gesagt: Erst das Lesen gedruckter Bücher macht uns zu ganzen Menschen.

Zur Autorin

Maryanne Wolf ist Professorin für kindliche Entwicklung, Kognitions- und Literaturwissenschaftlerin. Sie beschäftigt sich vor allem mit den Zusammenhängen zwischen dem Gehirn und dem Lesen sowie Leseschwächen. Sie forscht und lehrt an der Tufts University in Massachusetts und an der University of California in Los Angeles. Für ihre Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet. Auf Deutsch erschien von ihr zuvor Das lesende Gehirn (2009).

Zitat zum Buch

»[Wolf] hat recht, dass die digitalen Medien nicht automatisch das vertiefte Lesen bedrohen, dass sie es sogar bereichern können. Sie hat aber auch recht, dass wir viel zu verlieren haben, wenn wir nicht darauf achten, was […] Technologien mit uns anstellen.«     Washington Post

»Wolf zeigt sehr überzeugend, was wir verlieren, wenn wir das Lesen verlieren.«     San Francisco Chronicle

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MARYANNE WOLF

Schnelles

Lesen,

langsames

Lesen

Warum wir dasBücherlesen

nicht verlernendürfen

Aus dem Englischen von

Susanne Kuhlmann-Krieg

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Reader, Come Home.

The Reading Brain in a Digital World 2018 bei Harper, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © der Originalausgabe 2018 Maryanne Wolf

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ulla Mothes, Berlin

Illustrationen: Catherine Stoodley

Bildbearbeitung: Helio Repro, München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagmotiv: FAVORITBUERO, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-25273-1V001

www.penguin-verlag.de

Für meine Mutter und beste Freundin

Mary Elizabeth Beckman Wolf

26. Juni 1920 – 5. Dezember 2014

Könnten wir Struktur und Verkabelung des Gehirns beeinflussen, würde das in einschneidender Weise verändern, wer wir sind, wie wir entscheiden, was wir denken […]. Wir befinden uns in einer weiteren Phase der Evolution, aber die Zukunft des Lebens liegt nun in unseren Händen. Wir haben es nicht mehr allein mit der natürlichen Evolution zu tun, sondern mit einer vom Menschen vorangetriebenen.

JUAN ENRÍQUEZ UND STEVE GULLANS1

Die Frage ist nicht, was in einer Welt des elektronischen Lesens aus den Büchern wird. Die Frage ist, was aus den Lesern wird, die wir einst waren.

VERILYN KLINKENBORG2

INHALT

ERSTER BRIEF

Lesen, der Kanarienvogel des Gehirns

ZWEITER BRIEF

Eine große weite Welt – ein etwas anderer Blick auf das lesende Gehirn

DRITTER BRIEF

Weltvergessenes Lesen – eine gefährdete Kunst?

VIERTER BRIEF

»Was wird aus den Lesern, die wir einst waren?«

FÜNFTER BRIEF

Aufwachsen in digitalen Zeiten

SECHSTER BRIEF

Vom Schoß zum PC auf dem Schoß in nur fünf Jahren – immer schön langsam

SIEBTER BRIEF

Wissenschaft und Poesie des Lesenlernens (und -lehrens)

ACHTER BRIEF

Ein zwiefach kompetentes Gehirn

NEUNTER BRIEF

Zurück zu den Wurzeln, liebe Leser – schnelles Lesen, langsames Lesen

DANK

ANMERKUNGEN

ERSTER BRIEF

Lesen, der Kanarienvogel des Gehirns

[Henry] Fielding spricht alle paar Absätze direkt zu Ihnen, als wolle er sich versichern, dass Sie das Buch nicht zugeschlagen haben, und jetzt beschwöre ich Sie, aufmerksamer Geist, dunkle schweigende Gestalt auf der Schwelle zu diesen Worten.

BILLY COLLINS [KURSIVIERUNGEN VON MIR]3

Liebe Leserin, lieber Leser,

willkommen auf der Schwelle zu meinen Worten; gemeinsam stehen wir am Beginn galaktischer Veränderungen, die sich im Verlauf der nächsten paar Generationen Bahn brechen werden.4 Mit den folgenden Briefen lade ich Sie ein, sich Gedanken über die Fülle an schier unglaublichen Erkenntnissen über das Lesen und das lesende Gehirn zu machen und über die massiven kognitiven Veränderungen bei uns selbst, den Generationen nach uns und möglicherweise unserer Art insgesamt, die diese ahnen lassen. Meine Briefe sollen außerdem dazu auffordern, auch nach anderen – subtileren – Veränderungen Ausschau zu halten und darüber nachzudenken, ob nicht auch Sie selbst sich unbemerkt bereits aus jenem Rückzugsort fortbegeben haben, den das Lesen einst für Sie dargestellt hat. Bei den meisten von uns haben diese Veränderungen nämlich bereits begonnen.

Lassen Sie uns mit einer zunächst einmal fast banal anmutenden Feststellung beginnen, die mich das vergangene Jahrzehnt hindurch bei meiner Arbeit über das lesende Gehirn inspiriert hat, und uns von da aus Schritt für Schritt voranarbeiten: Wir Menschen sind keine geborenen Leser.5 Die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, ist eine der wichtigsten epigenetischen Errungenschaften des Homo sapiens. Unseres Wissens hat keine andere Art diese Fähigkeit je erworben. Der Prozess des Lesenlernens hat dem Repertoire unseres Hominidengehirns einen komplett neuen Schaltkreis hinzugefügt. Im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte haben sich die Verknüpfungen dieses Schaltkreises umgebildet, das wiederum führte zu neuen Verkabelungen mit dem übrigen Gehirn, und Letzteres hat das menschliche Denken verändert.

Was wir lesen, wie wir lesen und warum wir lesen, beeinflusst unsere Art zu denken, und die wandelt sich gerade in immer rascherem Tempo. In einem Zeitraum von nur sechs Jahrtausenden wurde das Lesen zu einem machtvollen Katalysator, der die intellektuelle Entwicklung des Einzelnen ebenso verändert hat wie die aller alphabetisierten Kulturen. Wie gut wir lesen ist nicht nur ein Indikator für die Qualität unseres Denkens, sondern gutes Lesen hilft auch völlig neuen Entwicklungen bei der Gehirnevolution unserer Spezies den Weg zu bereiten. Es geht um viel bei der künftigen Entwicklung des lesenden Gehirns und seiner Auseinandersetzung mit den immer rascher wechselnden Reizen, die auf seine Verarbeitungsprozesse gegenwärtig einprasseln.

Sie müssen nur einmal sich selbst beobachten. Vielleicht ist Ihnen bereits aufgefallen, dass sich die Beschaffenheit Ihrer Aufmerksamkeit verändert, je mehr Sie auf Bildschirmen und digitalen Geräten unterwegs sind. Vielleicht hat sich das schmerzliche Gefühl eingestellt, dass Ihnen irgendetwas abgeht, wenn Sie versuchen, sich in ein einstiges Lieblingsbuch zu vertiefen. So ähnlich wie beim Phantomschmerz bei einem fehlenden Glied erinnern Sie sich womöglich daran, was für ein Leser Sie einst waren, vermögen jedoch den »aufmerksamen Geist« nicht mehr mit derselben Inbrunst aufzubringen, die Sie einst spürten, als Sie das Gefühl hatten, dass das Lesen »der Initiator ist, dessen Zauberschlüssel uns in der Tiefe unseres Selbst das Tor zu Räumen öffnet, in die wir sonst nicht einzudringen vermocht hätten«.6 Noch problematischer ist es bei Kindern, die in ihrer Aufmerksamkeit ständig abgelenkt und mit Reizen überflutet werden, die sich im Reservoir ihres Wissens niemals verankern, was nichts anderes bedeutet, als dass bei ihnen die Fähigkeit, beim Lesen Analogien zu bilden und Rückschlüsse zu ziehen, womöglich künftig immer weniger gut ausgebildet sein wird. Junge Lesergehirne entwickeln sich, ohne dass die meisten Leute auch nur einen Gedanken daran verschwenden, wie. Dabei lesen mehr und mehr unserer Jugendlichen nicht mehr als das Allernötigste, und oft nicht einmal das: »tl;dr« (too long, didn’t read – zu lang, hab’s nicht gelesen) heißt es nicht selten unter einem Beitrag im Netz.

Bei unserem Übergang in eine digitale Kultur, der so ziemlich all unsere Lebensbereiche berührt, verändern wir uns auf eine Weise, die wir als Kollateralfolge der größten Explosion an Kreativität, Erfindungsreichtum und Entdeckerschaft in unserer Geschichte nie vorhergesehen hätten. Wie ich in diesen Briefen nachzeichnen möchte, gibt es angesichts der speziellen Veränderungen, die mit der gegenwärtig ablaufenden oder in wenigen Jahren möglicherweise zu erwartenden Evolution des lesenden Gehirns einhergehen, genauso viel Grund zur Begeisterung, wie es Grund zur Vorsicht gibt. Das liegt darin begründet, dass der Übergang von einer auf Lesen und Schreiben fußenden Kultur hin zu einer digitalen sich radikal von allen vorangegangenen Übergängen zwischen zwei Kommunikationsformen unterscheidet. Anders als in der Vergangenheit verfügen wir heute aber sowohl über das Wissen als auch über die Technologie, potenzielle Veränderungen unserer Art zu lesen – und damit auch unserer Art zu denken – aufzuzeigen, bevor diese Veränderungen die Menschheit völlig durchdrungen haben und ohne Überdenken der Konsequenzen akzeptiert worden sind.

Dieses Wissen kann uns als theoretische Basis für praktische Maßnahmen dienen, die den inhärenten Schwachstellen entgegenwirken – mögen diese nun in einer Optimierung digitaler Formen des Lesens bestehen oder in der Entwicklung alternativer hybrider Entwicklungsansätze zum Lesenlernen. Daher wird das, was wir über den Einfluss unterschiedlicher Formen des Lesens auf Kognition und Kultur in Erfahrung bringen können, tiefgreifende Folgen für kommende lesende Gehirne haben. So gerüstet werden wir auf die Veränderung der Leseschaltkreise bei unseren Kindern und Kindeskindern umsichtiger und besser informiert reagieren können.

Ich heiße Sie zu meinen gesammelten Gedanken über das Lesen und die Evolution des lesenden Gehirns willkommen wie einen Freund an meiner Haustür und freue mich auf unseren Austausch über die Bedeutung des Lesens, bei dem ich zu Beginn kurz schildern möchte, warum das Lesen mir so wichtig geworden ist. Als ich selbst Kind war und lesen lernte, habe ich darüber nicht weiter nachgedacht. Ich bin wie Alice einfach in das Kaninchenloch unter der Hecke gesprungen und war den Rest meiner Kindheit großenteils verschwunden. Noch als junge Frau machte ich mir keine Gedanken über das Lesen. Ich wurde einfach, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab, zu Elizabeth Bennet, Dorothea Brooke und Isabel Archer. Manchmal auch zu Männern wie Aljoscha Karamasow, Hans Castorp und Holden Caulfield. Aber immer trug es mich an Orte, die weit weg waren von meiner kleinen Stadt Eldorado, Illinois, und immer brannten in mir Gefühle, die ich mir auf andere Weise nie hätte ausmalen können.

Als ich mit meinem Literaturstudium fertig war, dachte ich noch immer nicht sonderlich viel über das Lesen nach. Vielmehr brütete ich über jedem Wort, jeder verschlüsselten Aussage in Rilkes Duineser Elegien7 oder den Romanen von George Eliot und John Steinbeck und zersprang förmlich vor geschärfter Weltwahrnehmung und großem Eifer, meine Aufgabe im Leben zu erfüllen.

Dabei wäre ich in der ersten Runde beinahe elendig gescheitert. Mit der ganzen Leidenschaft einer jungen unerfahrenen Lehrerin begab ich mich zusammen mit einer kleinen wunderbaren Gruppe von Lehrern in spe auf eine Art Friedenskorps-Einsatz im ländlichen Hawaii.8 Tag für Tag stand ich dort vor 24 absolut tollen Kindern, die mit unerschütterlichem Vertrauen auf mich schauten und mich mit derselben uneingeschränkten Zuneigung betrachteten wie ich sie. Und eine ganze Zeit war jenen Kindern und mir überhaupt nicht klar, dass ich ihre Lebensumstände entscheidend verändern würde, wenn ich ihnen einfach nur half, Lesen und Schreiben zu lernen – eine Fähigkeit, die vielen ihrer Familienangehörigen abging. Dann, erst dann fing ich ernsthaft an, darüber nachzudenken, was Lesen bedeutet. Das hat mein Leben verändert.

Plötzlich sah ich mit großer Klarheit, was geschähe, wenn diesen Kindern der scheinbar so einfache Schritt in die Schriftkultur versagt blieb. Sie würden nie wie Alice in ein tiefes Loch springen und die erlesenen Freuden der Teilhabe an der literarischen Welt genießen können. Dinotopia, Hogwarts, Mittelerde oder Pemberley blieben ihnen auf immer versagt. Sie würden sich nie die Nacht mit Ideen um die Ohren schlagen, die viel zu groß sind für ihre kleine Welt, nie jenen wichtigen Schub bekommen, der ihnen aus dem Lesen über Gestalten wie Ares, den Blitzdieb, oder Roald Dahls Matilda heraus das Zutrauen vermittelt, selbst zu Helden und Heldinnen werden zu können. Und am allerwichtigsten: Sie würden sich vielleicht nie der unendlichen Möglichkeiten in ihrem eigenen Denken erfreuen, die ihnen ihre Fantasie durch jede neue Begegnung mit Welten außerhalb ihrer eigenen eröffnen würde. Mir wurde schlagartig klar, dass jene Kinder, die ein Jahr lang mein sein würden, nie ihr volles Potenzial als menschliche Wesen würden ausschöpfen können, wenn sie nicht lesen lernten.

Von dem Augenblick an begann ich ernstlich darüber nachzudenken, dass Lesen wirklich die Macht hat, das Leben eines Menschen tiefgreifend zu verändern. Wovon ich seinerzeit keine Ahnung hatte, war das zutiefst Schöpferische an unserer Schriftsprache, davon, was es für das Entwickeln neuer Gedanken bedeutet – nicht nur für ein Kind, sondern für unsere Gesellschaft insgesamt. Ich hatte auch kein Bild von der außerordentlichen Komplexität der Prozesse, die zum Lesen gehören, und davon, dass der Akt des Lesens wie nichts sonst die ans Wunderbare grenzende Fähigkeit des Gehirns verkörpert, über seine ursprünglichen, genetisch programmierten Fertigkeiten wie Sehen und Sprechen hinauszugehen. Das sollte erst später kommen, so wie in diesen Briefen auch. Ich warf meinen gesamten Lebensplan über den Haufen, tat den Schritt von der Liebe zum geschriebenen Wort zu der Wissenschaft dahinter und machte mich daran, zu ergründen, wie Menschen sich geschriebene Worte aneignen und geschriebene Sprache nutzen – zum Wohle ihrer eigenen intellektuellen Entwicklung und der künftiger Generationen.

Ich habe nie zurückgeblickt. Jahrzehnte sind ins Land gegangen, seit ich die Kinder von Waialua unterrichtete, sie sind heute erwachsen und haben selbst Kinder. Ihretwegen wurde aus mir eine kognitive Neurowissenschaftlerin und Leseforscherin. Genauer gesagt, ich untersuche, was beim Lesen im Gehirn passiert und warum manche Kinder und Erwachsene größere Probleme haben, lesen zu lernen, als andere. Dafür gibt es viele mögliche Ursachen, angefangen von äußeren, wie einem verarmten Erziehungsumfeld des Kindes, bis hin zu eher biologischen, wie einer andersgearteten Organisation von Sprache im Gehirn von Menschen mit dem so krass missverstandenen Phänomen Legasthenie. Aber diese Fragen sind Gegenstand anderer Zweige meiner Forschung und werden in diesem Buch nur hier und da kurze Auftritte haben.

Die folgenden Briefe handeln von einem anderen Aspekt meiner Arbeit: der naturgegebenen Formbarkeit – der Plastizität – des Gehirns, die alldem zugrunde liegt, und den schwer absehbaren Folgen, die daraus für uns alle erwachsen. Welch hohes Gut durch eben diese Plastizität des Leseschaltkreises auf dem Spiel steht, schwante mir vor über einem Jahrzehnt, als ich anpackte, was ich für eine relativ geradlinig definierte Aufgabe hielt: Ich wollte eine populärwissenschaftliche Arbeit schreiben über den Beitrag, den das Lesen zur Entwicklung der Menschheit geleistet hat, das Buch trug den Titel Das lesende Gehirn: Wie der Mensch zum Lesen kam – und was es in unseren Köpfen bewirkt (Originaltitel: Proust and the Squid: The Story and Science of the Reading Brain).9 Ursprünglich hatte ich die Absicht, in großem Bogen die Entwicklung der Fähigkeit zum Lesen und Schreiben darzustellen und dann mit einer neuen Einordnung der Legasthenie aufzuwarten. Ich wollte damit den Reichtümern in den Gehirnen der Betroffenen gerecht werden, die nur zu häufig übersehen werden, weil Leute, deren Gehirne für die Verarbeitung von Sprache in anderer Weise organisiert sind, von ihren Zeitgenossen schlicht nicht verstanden werden.

Aber während ich an diesem Buch arbeitete, geschah etwas Unerwartetes: Das Lesen selbst veränderte sich. Was ich als Kognitionswissenschaftlerin und Entwicklungspsychologin über die Herausbildung von geschriebener Sprache wusste, hatte begonnen, sich vor meinen Augen und unter meinen Händen zu wandeln. Sieben Jahre lang hatte ich mich mit den Anfängen der sumerischen Keilschrift und des griechischen Alphabets befasst, die Ergebnisse aus Gehirnstudien mit bildgebenden Verfahren analysiert und mein eigenes Gehirn großenteils in Forschungen vergraben gehabt. Als ich fertig war, hob ich den Kopf, schaute mich um und fühlte mich wie Rip Van Winkle, der aus seinem Zauberschlaf erwacht. In den sieben Jahren, die ich gebraucht hatte zu beschreiben, wie das Gehirn im Verlauf von fast 6 000 Jahren allmählich zum Lesen fand, hatte die gesamte auf der Schriftsprache basierende Kultur angefangen, sich in eine ganz andere zu wandeln, die auf digitalen Fundamenten ruht.

Ich war fassungslos. Ich schrieb das erste – das historische – Kapitel meines Buches um und ging den verblüffenden Parallelen nach zwischen dem Übergang zu einer digitalen Kultur, den wir gegenwärtig erleben, und einem ganz ähnlich gearteten Umbruch im antiken Griechenland, wo einst die Kultur der mündlichen Überlieferung vom geschriebenen Wort abgelöst wurde. Dass ich es dabei vergleichsweise leicht hatte, verdanke ich der umsichtigen wissenschaftlichen Nachhilfe, die mir Steven Hirsh, ein ausgesprochen großzügiger Kollege aus der Altphilologie, angedeihen ließ.10 Alles andere als einfach aber war es, auf der Grundlage der Erkenntnisse über das lesekundige Gehirn der Gegenwart Voraussagen über dessen nächsten Anpassungsschritt zu treffen. Und genau an dieser Stelle stand ich 2007. Meine selbst gewählte Rolle als Berichterstatterin über die Einsichten der wissenschaftlichen Welt zum bewusstseinsverändernden Potenzial des Lesens begann den Horizont meines Wissens zu übersteigen.

Es gab damals so gut wie keine Untersuchungen zur Entwicklung eines digital lesenden Gehirns, auch keine aussagekräftigen Studien darüber, was im Gehirn von Kindern (und Erwachsenen) geschieht, wenn diese in einer Umgebung lesen lernen, die sechs bis sieben Stunden am Tag von digitalen Medien dominiert wird (eine Zeitspanne, die sich für viele unserer Jugendlichen seither verdoppelt hat). Ich wusste, wie Lesen das Gehirn verändert, und dass die Plastizität des Gehirns es diesem ermöglicht, sich durch äußere Faktoren – ein bestimmtes Schriftsystem beispielsweise wie Englisch oder Chinesisch – in ganz unterschiedlicher Weise formen zu lassen. Im Unterschied zu Wissenschaftlern wie Walter Ong11 und Marshall McLuhan hatte ich mich nie vorrangig mit dem Einfluss des Mediums (Buch versus Bildschirm zum Beispiel) auf die Struktur dieser plastischen Schaltkreise befasst. Am Ende meiner Arbeit an Das lesende Gehirn änderte sich das. Mich ließ die Frage nicht mehr los, ob und wie das lesende und insbesondere das jugendliche lesende Gehirn durch die besonderen Eigenschaften digitaler Medien geprägt werden würde.

Der kulturelle, also nicht naturgegebene Ursprung unseres Umgangs mit der Schrift, die eingangs geäußerte so trivial anmutende Feststellung, dass wir eben keine geborenen Leser sind, bedeutet, dass junge Leser nicht über ein genetisch verankertes Programm für die Entwicklung der entsprechenden Netzwerke verfügen. Die Leseschaltkreise des Gehirns werden von natürlichen und von umweltbedingten Faktoren geformt, und zu diesen gehört auch das Medium, mittels dessen die Lesefertigkeit erworben und entwickelt wird. Jedes Lesemedium spricht bestimmte kognitive Prozesse an und bevorzugt die einen oder die anderen. Der Leseanfänger von heute kann sich also die mannigfaltigen neuronalen Prozesse einer intensiven, vertieften Lektüre (englisch: »Deep Reading«12 – sinngemäß so etwas wie welt- und selbstvergessenes, versunkenes Lesen, jener Zustand der intensiv erlebten Lektüre, in dem man sich in dem Erzählten ganz und gar verliert) antrainieren, die im Gehirn eines versierten Lesers unserer Tage ablaufen. Sein angehendes Lesergehirn kann in seiner Entwicklung aber auch durch neue Medien »kurzgeschlossen« werden oder womöglich völlig neue Netzwerke ausbilden. Das, was die Entwicklung der Leseschaltkreise eines Kindes dominiert, wird die Art und Weise prägen, wie es später einmal liest und denkt.

Das bringt uns wieder zur Gegenwart und den schwierigen Fragen, vor denen wir heute stehen, und mit uns die Kinder, die in einem digitalen Umfeld aufwachsen. Werden sich junge Leser, wenn sie neue kognitive Fähigkeiten erwerben, die im Umgang mit digitalen Medien gefragt sind, noch den zeitaufwendigeren kognitiven Prozess leisten, den das gedruckte Medium uns abverlangt? Werden beispielsweise die Kombination aus dem Aufnehmen digitaler Leseformate und die tägliche Überschwemmung mit einer Vielfalt an anderen digitalen Formaten – von sozialen Netzwerken bis zu virtuellen Videospielen – der Entwicklung langsamerer kognitiver Prozesse wie kritischem Denken, Selbstreflexion, Fantasie und Empathie entgegenstehen, die allesamt mit dem intensiv erlebten Lesen zusammenhängen? Wird die Mischung aus fortwährend auf die Aufmerksamkeit von Kindern einprasselnden ablenkenden Außenreizen und dem jederzeit vorhandenen unmittelbaren Zugang zu den verschiedensten externen Informationsquellen jungen Lesern den Ansporn nehmen, sich ein individuelles Wissensreservoir anzueignen und eigenständiges kritisches Denken zu entwickeln?

Mit anderen Worten: Wird die zunehmende Hinwendung unserer Jugend zu reinen Wissensverteilern von jedermann unbeabsichtigt zur größten Bedrohung für den Erwerb eines soliden eigenen Wissensfundaments werden und darüber hinaus auch für das Bedürfnis, eigene Gedanken zu entwickeln und die eigene Fantasie spielen zu lassen? Oder werden diese neuen Technologien die perfekte Brücke zu immer ausgefeilteren Formen der Kognition und Vorstellungskraft bauen und es unseren Kindern ermöglichen, in neue Wissenswelten vorzustoßen, die wir uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt in unseren kühnsten Träumen nicht ausmalen können? Werden sich bei ihnen ganz anders geartete Arrangements von Schaltkreisen entwickeln? Wenn ja, worin werden die Folgen jener neuen Strukturen für unsere Gesellschaft bestehen? Wird die ungeheure Vielfalt dieser Verschaltungen jedermann zum Wohle gereichen? Kann ein einzelner Leser sich bewusst verschiedene Schaltkreise aneignen – so wie Menschen, die in zwei Sprachen zu Hause sind, verschiedene Schriften lesen können?

Die systematische Untersuchung der Einflüsse unterschiedlicher Medien auf Erwerb und Aufrechterhaltung des vertieft lesenden Gehirns auf kognitiver, sprachlicher, physiologischer und emotionaler Ebene ist Grundvoraussetzung dafür, den Erhalt einer leistungsfähigen kritischen Vernunft bei unserer Jugend und uns selbst zu garantieren. Wir müssen die entscheidenden kognitiven Fertigkeiten des versierten Lesergehirns unserer Tage verstehen, wenn wir seinen Schaltkreisen neue kognitive und perzeptorische Dimensionen hinzufügen wollen. Dabei wird ein Entweder-oder-Ansatz an die Fragen der Entwicklung und Aufrechterhaltung eines erfahrenen und mündigen Lesergehirns nicht hinreichen, unsere Bedürfnisse und die der nächsten Generation zu befriedigen. Die Themen, um die es geht, lassen sich nicht einfach auf die Unterschiede zwischen druck- und technologiebasierten Medien reduzieren. Wie die Zukunftsforscher Juan Enríquez und Steve Gullans in Evolving Ourselves: How Unnatural Selection and Nonrandom Mutation Are Changing Life on Earth (sinngemäß im Deutschen: »Wie wir unsere eigene Evolution betreiben: Wie künstliche Selektion und gerichtete Mutationen das Leben auf der Erde verändern«) schreiben, müssen wir in Bezug auf unsere Evolution Entscheidungen treffen, wird diese doch künftig nicht mehr allein von der Natur, sondern auch vom Menschen geprägt werden.13 Was diese Entscheidungen bewirken und wohin sie gehen, wird nur dann deutlich, wenn wir innehalten, um genau zu verstehen, was mit den einzelnen größeren Veränderungen einhergeht. Mit Ihnen als Gesprächspartner möchte ich in diesen Briefen einen Augenblick aus der Zeit heraustreten, um die Themen und Optionen auszuloten, die vor uns liegen, bevor die Veränderungen im Gehirn der Lesenden so fest verankert sind, dass es kein Zurück mehr gibt.

Es mag Ihnen vielleicht seltsam vorkommen, dass ich eine doch selten gewordene, ja geradezu anachronistische Form dafür gewählt habe: eine Reihe von Briefen, in denen ich verschiedene Fragen über eine Zukunft behandeln möchte, die sich Stück für Stück verändert. Ich habe mich aus meinen Erfahrungen als Leserin und Autorin dazu entschieden. Briefe laden zu einer Art Atempause ein, in der wir gemeinsam nachdenken und, wenn wir sehr viel Glück haben, eine besondere Art von Begegnung erleben können, die Marcel Proust im Zusammenhang mit dem Lesen einmal »das fruchtbare Wunder einer Kommunikation« nannte, das einem zufällt, ohne dass man seinen Sessel dafür verlassen muss.14 In diesem Zusammenhang noch etwas Persönliches: In meinen Jugendtagen haben mich Rainer Maria Rilkes Briefe an einen jungen Dichter sehr beeinflusst.15 Als ich älter wurde, war es dann aber nicht mehr vorrangig die lyrische Sprache, die mich so sehr anrührte, sondern seine hingebungsvolle Freundlichkeit gegenüber einem aufstrebenden Poeten, dem er nie begegnet war: Franz Xaver Kappus, ein junger Mann, den er mit Briefen in seinem Werden begleitete. Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass sich beide durch diesen Austausch veränderten. Was für eine bessere Definition eines Lesers gäbe es? Welch besseres Vorbild für einen Autor? Ich hoffe, dasselbe gilt für uns.

Italo Calvinos Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend berührten mich in ganz ähnlicher Weise, wenngleich seine Harvard-Vorlesungen jeden konventionellen Rahmen des Begriffs »Brief« sprengen und es ein Verlust für uns alle ist, dass sie nie vollendet wurden.16 Beides, Briefe und Vorschläge, sind Genres, die Calvinos ewigem Bemühen entgegenkommen, auch solchen Themen Leichtigkeit zu verleihen, deren großes Gewicht eine Diskussion sonst schwer auszuhalten machen würde. Briefe erlauben Gedanken, die, selbst wenn sie so dringlich sind wie einige von denen, die hier angesprochen werden sollen, jenes Element von Leichtigkeit und Verbundenheit enthalten, das jeden echten Dialog zwischen Verfasser und Leser auszeichnet, in allem getragen von dem Wunsch, bei dem anderen wenn möglich neue Gedanken anzustoßen, die in eine ganz andere Richtung gehen werden als die des Verfassers.

Ich selbst bin auf besondere Weise seit geraumer Zeit Teil eines solchen Austausches. Als ich mit meinem Buch Das lesende Gehirn fertig war, erhielt ich Hunderte Briefe von Lesern aller Altersstufen und jedweder Couleur: berühmten Literaten, die sich um ihre Leser sorgten, Neurochirurgen, die sich Gedanken um ihre Studenten in den Lehrkrankenhäusern machten, sogar von Highschool-Schülern, denen man den Abschnitt über die »Mental State Examination« – eine Untersuchung zur Feststellung geistiger Defizite – zu lesen gegeben hatte. Es war herzerfrischend, wie überrascht die Schüler registrierten, wie viele Gedanken ich mir über ihre Generation machte. Diese Briefe zeigten mir, dass das, was als Buch über die Geschichte des Lesens und die Lesewissenschaft begonnen hatte, zu einem mahnenden Appell geraten war über Themen, die längst Wirklichkeit sind. Die Auseinandersetzung mit den Fragen, die meine Briefeschreiber besonders umgetrieben haben, hat mich bei der Auswahl der Themen für die einzelnen Briefe in diesem Buch und auch bei der Entscheidung für dieses Genre geleitet.

Mit diesen Texten möchte ich ein gutes Stück über meine zurückliegenden Arbeiten hinausgehen, wobei natürlich jeder Brief von all dem zehren wird, womit ich mich in der Vergangenheit beschäftigt habe, und natürlich von den Forschungen in meinen jüngsten Artikeln und Büchern; sie alle sind in ausführlichen Anmerkungen am Ende des Buches belegt, die das hier Gesagte zum Teil erheblich erweitern. Brief Nummer zwei umreißt diese Forschung in großen Zügen, er ist mit seinem bewusst locker gehaltenen Überblick über den gegenwärtigen Stand des Wissens über das lesende Gehirn der wohl unbeschwerteste Brief an Sie. Ich hoffe, darin einigermaßen anschaulich zu zeigen, wie die Plastizität des hirneigenen Leseschaltkreises und die Komplexität unseres Denkens miteinander zusammenhängen, und auch, wie und warum dieser Schaltkreis im Begriff ist, sich zu ändern. Im dritten Brief führe ich Sie zu den zentralen Prozessen des intensiven, vertieften Lesens – angefangen von dessen Einfluss auf die empathischen und logischen Kompetenzen des Lesers bis hin zur Erweiterung seiner Fähigkeit zu kritischer Analyse und Erkenntnis. Diese drei ersten Briefe liefern eine gemeinsame Basis, von der aus wir ergründen können, in welchem Maße die jeweiligen Eigenheiten verschiedener Medien – namentlich des gedruckten Wortes und des Bildschirmlesens – angefangen haben, sich nicht nur in den plastischen Netzwerken der Schaltkreise in unserem Gehirn niederzuschlagen, sondern auch zu bestimmen, wie und was wir heute lesen.

Die Auswirkungen der Plastizität unseres lesenden Gehirns sind weder trivial noch vorübergehender Natur. Die Verknüpfung zwischen dem, was und wie wir lesen, und dem, was geschrieben wird, ist für unsere Gesellschaft von entscheidender Bedeutung. In einer Umgebung, die uns unablässig mit einem Wust an Informationen konfrontiert, besteht für viele von uns eine große Versuchung, sich in vertraute Gefilde mit leicht verdaulichen, weniger geballten und intellektuell weniger anspruchsvollen Informationen zurückzuziehen. Die Illusion, durch eine tägliche Flut an mundgerechten Informationshäppchen wirklich informiert zu werden, hat das Zeug dazu, die kritische Auseinandersetzung mit komplexen Wirklichkeiten zu korrumpieren. Im vierten Brief werden wir uns mit der Frage befassen, wie sehr eine demokratische Gesellschaft auf dem furchtlosen Gebrauch unserer Fähigkeit zur kritischen Betrachtung basiert und wie leicht diese bei jedem von uns unbemerkt verkümmern kann.

In den Briefen fünf bis acht betätige ich mich als eine Art »Lesekrieger« für die Kinder der Zukunft. Ich werde eine Reihe von Überlegungen erörtern – über die Wichtigkeit der verschiedenen Funktionen des Lesens für die intellektuelle, sozial-emotionale und ethische Prägung von Jugendlichen zum Beispiel und über das Verschwinden ganzer Aspekte des Kindseins. Viele Eltern und Großeltern haben mir vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen höchstpersönlichen Bedenken das Äquivalent der drei Kant’schen Fragen gestellt: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?17 In den Briefen sechs bis acht folgt der Vorschlag für einen Entwicklungsfahrplan, der meine Gedanken zu jeder dieser drei Fragen enthält und in der vielleicht unerwarteten Empfehlung gipfelt, sich ein »zweigleisiges«, zwiefach kompetentes Lesergehirn zuzulegen.

Aus diesem Grund verzichtet dieses Buch auf Entweder-oder-Lösungen. Eine der wichtigsten aktuellen Missionen meiner Forschung ist es, die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben weltweit zu etablieren, und ich werbe in der Öffentlichkeit sehr für die Entwicklung von digitalen Medien – Tablets zum Beispiel – als Mittel der Wahl gegen das Analphabetentum, insbesondere für Kinder ganz ohne oder mit nur eingeschränktem Zugang zu Schulen.18 Denken Sie nicht, ich sei ein Gegner der digitalen Revolution. Es ist nur von höchster Bedeutung, dass wir über den Einfluss verschiedener Medien genauestens im Bilde sind, wenn wir all unsere Kinder, wo immer sie leben, dazu bringen wollen, engagiert und intensiv zu lesen, in oder auf welchem Medium auch immer. Meine Briefe sollen Sie, liebe Leser, motivieren, die unterschiedlichen Fragen selbst kritisch zu beleuchten und dabei bei der eigenen Person anzufangen. Im letzten Brief wollen wir darüber nachdenken, wer in unserer Zeit des Wandels noch zu den echten »guten Lesern« zu zählen ist, und uns klarmachen, was für eine unermesslich wichtige Rolle diese Menschen für eine demokratische Gesellschaft spielen – das galt niemals so sehr wie heute. Der Begriff guter Leser hat in diesem Zusammenhang übrigens weniger mit der Frage zu tun, wie gut jemand imstande ist, Wörter zu entziffern, als vielmehr damit dem treu zu sein, was Proust als »Herz der Idee des Lesens« bezeichnet hat: über die Weisheit des Autors hinauszugehen, um die eigene zu entdecken.19

Auf dem Weg zum guten Leser gibt es keine Abkürzung, aber es gibt Aspekte des Lebens, die diesem Weg dienlich sind und ihn mitgestalten. Aristoteles schrieb dereinst, ein gutes Gemeinwesen kenne drei Lebensformen: das Genussleben, das politische Leben und das der geistigen Schau, der Kontemplation.20 Dasselbe gilt für den guten Leser: Im letzten Brief möchte ich darlegen, inwiefern er – genau wie das Gemeinwesen – diese drei Lebensformen des Aristoteles verkörpert, wiewohl die dritte darunter, das Leben in Kontemplation, in unserer Kultur tagtäglich bedroht wird. Gestützt auf Erkenntnisse aus Neurowissenschaft, Literatur und der Entwicklungsphysiologie des Menschen bin ich der festen Überzeugung, dass es genau diese Art von Lesen ist, mit der wir den nächsten Generationen am besten zu einem Fundament für jene spezielle Form von unabhängigem Geistesleben verhelfen können, das sie für eine Welt brauchen werden, die sich bisher niemand von uns voll und ganz ausmalen kann. Die komplexen Prozesse, die der Einsicht und Reflexion im Gehirn eines versierten Lesers zugrunde liegen, sind unser bestes Gegenmittel gegen die kognitiven und emotionalen Veränderungen, die sich durch die vielschichtigen, unser Leben intensivierenden Entwicklungen des digitalen Zeitalters ergeben werden.

Somit werden Sie und ich uns in meinem letzten und persönlichsten Brief den Dingen stellen und uns fragen, ob wir selbst der drei Lebensformen des guten Lesers noch mächtig sind oder ob wir, von uns selbst kaum bemerkt, die Fähigkeit verloren haben, uns auf unser drittes Leben einzulassen und damit unser inneres Zuhause als Leser verloren haben. Ich bin der festen Ansicht, dass wir als menschliche Art die größten Errungenschaften unserer kollektiven Intelligenz, Empathie und Weisheit am besten dadurch für die Zukunft erhalten und weitergeben können, dass wir die kontemplative Dimension des lesenden Gehirns nähren und schützen.

Kurt Vonnegut hat die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft mit der des Kanarienvogels untertage verglichen: Beide machen uns auf drohende Gefahren aufmerksam. Das lesende Gehirn ist der Kanarienvogel unseres Geistes. Wir wären die größten Toren, würden wir ignorieren, was er uns zu lehren hat.

Sie werden nicht an allen Stellen mit mir einig sein, und so soll es auch sein. Ich betrachte Uneinigkeit wie Thomas von Aquin, der sich an das Bibelwort hielt: »Eisen wird an Eisen geschliffen« – Sprüche 27,17.21 Oberstes Ziel beim Verfassen dieser Briefe war es, dass sie ein Ort werden mögen, an denen meine besten Gedanken mit den Ihren aufeinandertreffen, hin und wieder auch kollidieren und einander dabei zu größerer Schärfe schleifen. Mein zweites Ziel besteht darin, Ihnen die nötigen Belege und Informationen zukommen zu lassen, um Ihnen die Optionen vor Augen zu führen, die Sie bei der Gestaltung der Zukunft Ihrer Nachkommen haben. Mein drittes Ziel schließlich besteht einfach in dem, was Proust sich von jedem seiner Leser erhoffte:

»Denn sie würden meiner Meinung nach nicht meine Leser sein, sondern Leser ihrer selbst, da mein Buch nur etwas wie ein Vergrößerungsglas sein würde […], durch das ich ihnen ermöglichen würde, in sich selbst zu lesen.«22

Hochachtungsvoll

Ihre Autorin

ZWEITER BRIEF

Eine große weite Welt – ein etwas anderer Blick auf das lesende Gehirn

Mehr als der Himmel fasst – das Hirn –

Legst du sie Seit an Seit – 

Umschließ das eine auch den andern –

Und Dich – mit Leichtigkeit –

Das Hirn ist tiefer als das Meer – 

Hältst du sie – Blau an Blau – 

Saugt eins – wie Schwamm den Eimer leert – 

Das andre in sich auf.

So schwer wie Gott ist das Gehirn – 

Hebst du sie – Pfund um Pfund – 

Sind sie verschieden allenfalls – 

Wie’s Laut und Silbe sind –

EMILY DICKINSON23

Liebe Leserin, lieber Leser,

Emily Dickinson ist meine amerikanische Lieblingsdichterin des 19. Jahrhunderts. Sie war es schon, bevor mir überhaupt auffiel, wie viel sie über das Gehirn geschrieben hatte – und alles von dem ewig gleichen und beschränktesten Beobachtungsposten aus, der sich denken lässt: einem Fenster im zweiten Stock ihres Hauses an der Main Street in Amherst, Massachusetts. Als sie schrieb »Sag Wahrheit ganz, doch sag sie schräg – Erfolg liegt im Umkreisen«24 konnte sie auch nicht ansatzweise etwas von den vielen Schaltkreisen des Gehirns wissen. Aber wie die großen Neurologen des 19. Jahrhunderts hatte sie ein intuitives Verständnis von der Vielgestaltigkeit seiner »himmelweiten« Möglichkeiten, will sagen, seiner ans Wunderbare grenzenden Fähigkeit, die eigenen Grenzen zu überschreiten und neue, zuvor nie gekannte Funktionen anzunehmen.

Der Neurowissenschaftler David Eagleman schrieb vor Kurzem über die Zellen des menschlichen Gehirns: »Das Netzwerk, zu dem sich diese Zellen zusammensetzen, ist von einer derart gewaltigen Komplexität, dass die menschliche Sprache zu seiner Beschreibung nicht ausreicht und wir uns bei den neuesten Zweigen der Mathematik Unterstützung suchen müssen. Ein gewöhnliches Neuron hat etwa 10 000 Verbindungen zu benachbarten Neuronen. Angesichts der Milliarden von Neuronen bedeutet dies, dass es in einem einzigen Kubikzentimeter Ihres Gehirns so viele Verbindungen gibt wie Sterne in unserer Milchstraße.«25 Es ist die Fähigkeit, diese unfassbaren Mengen an Verknüpfungen zu bilden, die es unserem Gehirn ermöglicht hat, über seine bestehenden Funktionen hinauszuwachsen und einen völlig neuen Schaltkreis für das Lesen einzurichten.26 Und ein neuer Schaltkreis war nötig, weil Lesen nicht von Natur aus in uns angelegt ist, sondern eine künstliche kulturelle Errungenschaft darstellt, die uns erst seit knapp 6 000 Jahren zur Verfügung steht. Auf der »Evolutionsuhr« nimmt die Geschichte des Lesens nicht mehr als die sprichwörtliche Millisekunde vor zwölf ein, und doch ist das zugehörige Bündel an Fertigkeiten so ungemein wichtig: Es hat das Potenzial, unser Gehirn nachhaltig zu verändern, und es beschleunigt die Entwicklung unserer Art – zum Guten und manchmal auch zum Schlechten.

Der Aufbau eines lesenden Gehirns

Alles hat seinen Anfang in dem Prinzip der »Plastizität« unseres Gehirns. Was mich daran am meisten erstaunt, sind nicht die zahllosen hochentwickelten Funktionen, die ihm dadurch erwachsen, sondern der Umstand, dass es imstande war und ist, sich über seine ursprünglichen, biologisch angelegten Funktionen wie Sehen und Sprechen hinauszuentwickeln und bis dahin nie gekannte Fähigkeiten wie das Lesen und den Umgang mit Zahlen zu erlernen. Es musste dazu eine Reihe von neuen Verschaltungen eingehen, indem es Teile seiner älteren Grundstrukturen verknüpft und hier und da umfunktioniert hat. Denken Sie daran, wie ein Elektriker vorgeht, wenn man ihn bittet, die Verkabelung eines alten Hauses so aufzurüsten, dass man es mit einem modernen Beleuchtungssystem ausstatten kann, das ursprünglich nie geplant war. Ohne dem Elektriker zu nahe treten zu wollen – unser Gehirn geht noch um einiges genialer vor, wenn es sich daranmacht, neue Verkabelungen einzurichten. Konfrontiert mit etwas Neuem, das es zu lernen gilt, arrangiert das menschliche Gehirn nicht nur Vorhandenes (das heißt die Strukturen und Neuronen, die für die Verarbeitung essenzieller Funktionen wie Sehen und Hören verantwortlich sind) neu, sondern ist überdies imstande, einige der vorhandenen Neuronengruppen am selben Ort umzuschneidern, um den speziellen Notwendigkeiten der neuen Funktion gerecht zu werden.

Es ist allerdings kein Zufall, dass die Neuronengruppen, die da umgewidmet werden, von vornherein gewisse Funktionen mit dem neuen System teilen. Wie der Pariser Neurowissenschaftler Stanislas Dehaene festgestellt hat, recycelt das Gehirn neuronale Netzwerke und funktioniert sie um zugunsten von Fertigkeiten, die der neuen Funktion kognitiv oder wahrnehmungsphysiologisch nahestehen.27 Das Ganze ist ein wunderbares Beispiel für die Plastizität unseres Gehirns.

Diese Fähigkeit, aus recycelten Strukturen neue Schaltkreise zu bilden, erlaubt uns alle möglichen genetisch nicht vorgesehenen Aktivitäten zu erlernen – von der Herstellung des ersten Rades über das Erlernen des Alphabets bis hin zum Surfen im Internet bei gleichzeitigem Twittern und Anhören von Coldplay. Keine dieser Tätigkeiten ist fest verkabelt oder wird in ihrer Entwicklung von eigens dafür vorgesehenen Genen gesteuert, sondern es handelt sich um kulturelle Neuerwerbungen, in deren Dienst Teile der Großhirnrinde gekapert werden. Wie dem auch sei, im Falle des Lesens kann das Ganze beträchtliche und unter Umständen problematische Folgen haben, weil diese nicht in derselben Weise verkabelt ist wie Sprache.

Gesprochene Sprache ist im Unterschied zum Lesen im Grundrepertoire des Menschen genetisch fest verankert, in eigens dafür bestimmten Genen, die nur minimalster Anschübe bedürfen, um in uns die Fähigkeit hervorzubringen, Worte zu sprechen und zu verstehen und in Worten zu denken. Beim Sprechenlernen gehen Anlagen und Spracherwerb, geleitet von den jeweiligen Erfordernissen, auf der ganzen Welt in einer nahezu universellen Abfolge von Schritten Hand in Hand. Deshalb lernen kleine Kinder, in welchem Sprachumfeld auch immer sie aufwachsen, die Sprache ihrer Umgebung mehr oder weniger ohne große Anweisungen. Das ist erstaunlich.

Anders bei solchen modernen Errungenschaften wie dem Lesen: Keine Frage, auch hier sind Gene für die Grundfertigkeiten wie Sprechen und Sehen involviert und werden zum Lesenetzwerk zusammengeschaltet, aber diese Gene bringen allein und aus sich heraus noch nicht die Fähigkeit zu lesen hervor. Wir Menschen müssen das Lesen lernen. Das bedeutet, wir brauchen eine Umgebung, die uns hilft, eine komplexe Palette an grundlegenden und nicht ganz so grundlegenden Abläufen zu entwickeln und zusammenzuführen, auf dass jedes junge Gehirn sein ureigenes nigelnagelneues Lesenetzwerk bilden kann.

Ich möchte an dieser Stelle gleich auf etwas Entscheidendes hinweisen: In Ermangelung einer genetischen Blaupause für das Lesen gibt es auch keinen einzig richtigen, idealtypischen Leseschaltkreis. Es kann verschiedene geben. Das Fehlen einer genetisch manifesten Vorlage für den Leseschaltkreis bedeutet aber, dass dessen Ausbildung, anders als beim Erlernen von Sprache, in Abhängigkeit von den speziellen Anforderungen des Lesers an seine Sprache und seiner Lernumgebung in verschiedenen Spielarten abläuft. So weist zum Beispiel ein Leseschaltkreis, der durch chinesische Schriftzeichen geprägt ist, sowohl Ähnlichkeiten als auch charakteristische Unterschiede zu einem Leseschaltkreis auf, der zu einem auf das Alphabet geeichten Lesergehirn gehört.28 Ein großer fundamentaler Fehler – mit vielen unseligen Folgen für Kinder, Lehrer und Eltern auf der ganzen Welt – ist die irrige Annahme, dass Lesen dem Menschen von Natur aus in die Wiege gelegt ist und sich genau wie Sprache einfach »aus dem Nichts« ergeben wird, wenn das Kind dafür bereit ist. Dem ist nicht so: Den meisten von uns müssen die Grundprinzipien dieser nicht naturgegebenen kulturellen Erfindung mühsam beigebracht werden.29

Glücklicherweise ist das Gehirn durch seine Grundstruktur von Natur aus gut darauf vorbereitet, sich alle möglichen kulturellen Dinge anzueignen. Das am besten untersuchte Gestaltungsprinzip – die neuronale Plastizität30 – liegt so gut wie allem zugrunde, was am Lesen so interessant ist – angefangen von der Ausbildung neuer Schaltkreise durch die Verknüpfung der Bestandteile älterer Systeme über das Recyceln vorhandener Neuronen bis hin zum Ausbau des neuen Netzwerks durch das Hinzufügen neuer und immer feinerer Verästelungen. Am wichtigsten für unsere Diskussion hier ist jedoch, dass diese Plastizität auch die Grundlage dafür bildet, dass das Lesenetzwerk des Gehirns von Hause aus grundsätzlich formbar (sprich: veränderbar) ist und von wichtigen Schlüsselfaktoren seiner Umwelt beeinflusst wird – insbesondere durch das, was es liest (sowohl in Bezug auf das jeweilige Schriftsystem als auch auf den Inhalt), wie es liest (das betrifft das jeweilige Medium – Druck oder Bildschirm – und dessen Einfluss auf die Art, wie es liest) und wie es geformt wird (das betrifft die Lehrmethoden). Der Haken an der Sache ist der Umstand, dass die Plastizität unseres Gehirns es uns zwar einerseits erlaubt, je nach den herrschenden Umweltbedingungen immer raffiniertere, feiner verästelte Netzwerke auszubilden, aber umgekehrt eben auch, deren Komplexität immer mehr zu reduzieren.

Das zweite Prinzip kennen wir aus den Beiträgen des Psychologen Donald Hebb, der um die Mitte des 20. Jahrhunderts eine Vorstellung davon formuliert hat, wie Zellen Funktionsgruppen oder Zusammenschlüsse von Zellen bilden, die ihnen helfen, Spezialisten für bestimmte Funktionen zu werden.31 Beim Lesenlernen schaffen es neuronale Funktionsgruppen in einzelnen strukturellen Unterabteilungen des Leseschaltkreises (beispielsweise dem Sehen und Sprechen), sich für hochspezifische Aufgaben zu koordinieren. Diese Spezialistengruppen bilden Netzwerke, die es uns erlauben, minimalste Eigenarten von Buchstaben zu erkennen und die winzigsten Klangelemente gesprochener Sprache (Phoneme) binnen Bruchteilen einer Sekunde wahrzunehmen.

Genauer gesagt (und nicht minder wichtig) ermöglicht die zelluläre Spezialisierung es jeder Funktionsgruppe von Neuronen, in ihrer jeweiligen Region automatisch zu reagieren und ebenso automatisch die Verknüpfungen zu anderen Gruppen und Netzwerken im Lesesystem zu bedienen. Mit anderen Worten: Damit Lesen stattfinden kann, muss in den neuronalen Netzwerken auf lokaler Ebene (das heißt in strukturellen Regionen wie der Sehrinde, dem visuellen Kortex) ein Automatismus herrschen, der mit Schallgeschwindigkeit arbeitet und seinerseits genauso rasche Verknüpfungen zu neuronalen Strukturen und Systemen quer durch das gesamte Gehirn (zum Beispiel zu den Seh- und Sprachregionen) ermöglicht. Wann immer wir daher einen einzelnen Buchstaben benennen, aktivieren wir ganze Netzwerke hochspezialisierter Neuronengruppen im visuellen Kortex, die mit anderen Netzwerken ähnlich hochspezialisierter Zellgruppen des Sprachsystems in Verbindung stehen, welche ihrerseits mit Netzwerken spezialisierter motorischer Zellgruppen im Dienste der Artikulation (artikulatorisch-motorischer Zellgruppen) stehen – all das mit höchster Präzision in Tausendstelbruchteilen von Sekunden. Vervielfachen Sie dieses Szenario hundertfach, dann wissen Sie, was abläuft, wenn Sie besagten Buchstaben mit geballter (oder auch mit nur halber) Aufmerksamkeit lesen und seine tiefere Bedeutung erfassen.

Im Wesentlichen bildet die Kombination dieser drei Prinzipien die Basis eines gehirnweiten Systems, von dessen Existenz die wenigsten von uns etwas ahnen: ein Lesenetzwerk, das Input aus den beiden Großhirnhälften und deren vier Bereichen – Stirn-, Schläfen-, Scheitel- und Hinterhauptlappen – über alle fünf großen Hirnregionen (vom äußersten Zipfel des Endhirns (Telencephalon) und dem darin eingebetteten Zwischenhirn (Diencephalon) über das Mittelhirn (Mesencephalon) bis hin zu Hinterhirn (Metencephalon) und Markhirn (Myelencephalon), auch genannt Medulla oblongata, tief innen erhält. Jeder, der noch glaubt, dass der archaische Kanarienvogel, den wir da fliegen lassen, nur einen winzigen Teil unseres Gehirns beansprucht, ist sich nicht darüber im Klaren, was wirklich passiert, wenn wir lesen.

Scheinwerfer an im Zirkuszelt

Wenn wir als Gesellschaft mit der ganzen Bandbreite an Veränderungen zurande kommen sollen, die sich in unserem lesenden Gehirn soeben entfalten, müssen wir »unter die Motorhaube« des Leseschaltkreises blicken oder auch, wie Sie vielleicht mit ein bisschen ungläubigem Staunen zur Kenntnis nehmen werden, unter das Dach eines Zirkuszelts. Denn um die vielfältigen Prozesse im lesenden Gehirn, die beim Erfassen eines einzelnen Wortes gleichzeitig ablaufen, lebendig werden zu lassen, fällt mir als Metapher kein besseres Bild ein als ein Zirkus mit mehreren Manegen. Nicht irgendein beliebiger Zirkus, versteht sich, sondern einer, in dem es von Akteuren und fantastischen Geschöpfen wimmelt, wie sie sich im Cirque du Soleil tummeln, wo Magie über die Wirklichkeit siegt. Mithilfe der Neurowissenschaftlerin und begnadeten Künstlerin Catherine Stoodley möchte ich Ihnen zu genau dieser Erfahrung verhelfen.

Ein Blick aus der Kuppel

Stellen Sie sich vor, Sie säßen in einem hölzernen Käfig hoch oben in der Kuppel eines riesigen Zirkuszelts und blickten auf das Geschehen unten herab. Von hier oben erinnert das Wirken des Leseschaltkreises sehr an das, was in den verschiedenen Nummern eines Zirkusses mit mehreren Manegen passiert. In unserem Lesezirkus gibt es fünf davon – alle bevölkert von fantasievoll kostümierten Artisten-Ensembles, die bereitstehen, das volle Programm an buntem Treiben abzuspulen, das es braucht, damit wir auch nur ein Wort lesen. Zum Glück für uns beide sehen wir auf mein Bitten für den Augenblick nur das, was in der linken Hemisphäre abläuft, und, was noch wichtiger ist, wir sehen es in Zeitlupe, sodass wir das, was da vor sich geht, in Ruhe betrachten können, ohne dass uns durch die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der diese Dinge in Wirklichkeit ablaufen, schwindelig wird.

Schenken Sie Ihre Aufmerksamkeit zunächst den Künstlergruppen in den drei großen, sich teilweise überschneidenden Manegen und anschließend denen in den etwas kleineren, die mit den großen ebenfalls in Verbindung stehen. Jede der großen Manegen steht für ein umfangreiches Funktionspaket des Gehirns: Sehen, Sprache und kognitive Informationsverarbeitung – seit Urzeiten vorhandene Gehirnkompetenzen, die nun für das neue Lesenetzwerk mitbeansprucht werden. Die erste der beiden kleineren Manegen steht für motorische Funktionen, ihre Artisten werden für die Artikulation von gesprochener Sprache und noch ein paar einigermaßen erstaunliche Kunststücke gebraucht, über die wir in Kürze mehr erfahren werden. Es ist keine Überraschung, dass diese Manege mit der Sprachmanege verbunden ist, eher schon, dass sie auch Verbindungen zur Manege der kognitiven Informationsverarbeitung pflegt. Die andere kleine Manege ist ebenfalls mit den Manegen von Sprache und kognitiver Informationsverarbeitung verknüpft; sie beherbergt das Reich der Affektion, vernetzt das Riesenspektrum unserer Gefühle mit unseren Gedanken und Worten. Richten Sie nunmehr Ihren Blick auf den erleuchteten Glaskasten ganz links, in dem alle möglichen überaus wichtigen Persönlichkeiten ihren überaus wichtigen Tätigkeiten nachgehen. Dieser Kasten ist so etwas wie die Schaltzentrale unseres Gehirns und befindet sich in einem Areal direkt hinter unserer Stirn, dem sogenannten präfrontalen Kortex, hier haben verschiedene Arten von Aufmerksamkeit und Gedächtnis ihren Sitz, hier werden Hypothesen geschmiedet und Entscheidungen gefunden.

Stellen Sie sich nun vor, diese Manegen fügten sich in die großen Strukturen unseres Gehirns (siehe Abbildung 1, in der Catherine Stoodley unnachahmlich wie immer nur die oberste, die Großhirnrinde des lesenden Gehirns, dargestellt hat).32 Die Manege des Sehens nimmt einen Großteil des Hinterhauptlappens der linken Hemisphäre und einen Teil der rechten ein, das gilt zumindest für unsere diversen Alphabete. Genau wie die Manegen für Sprache und kognitive Informationsverarbeitung umfasst die Manege des Sehens Areale in Mittel- und Kleinhirn, deren Aktivitäten in Turbogeschwindigkeit koordiniert werden. Im Unterschied zu den Anforderungen alphabetischer Lesesysteme an die visuellen Bereiche der Großhirnrinde beanspruchen das chinesische und das japanische Kanji-Schriftsystem verstärkt die visuellen Regionen der rechten Hemisphäre, weil sie die optisch sehr viel anspruchsvolleren Schriftzeichen verarbeiten müssen, die ihre Leser erinnern und mit Begriffen verknüpfen müssen.33

Die Sprachmanege belegt in beiden Hemisphären ein ausgedehntes Gebiet mit Regionen in unterschiedlichen Tiefen des Gehirns, insbesondere die dem visuellen Kortex benachbarten Areale der Scheitel- und Schläfenlappen und darüber hinaus Areale im Stirnlappen, die den motorischen Regionen benachbart sind. Ganz ähnlich überlappen die Kognitionsmanege und die weiter innen liegende Affektmanege (deren Netzwerke zum Teil im unmittelbar unter der Großhirnrinde liegenden Diencephalon wurzeln) in beträchtlichem Maße die Sprachregionen des Gehirns.

Die mannigfachen Überschneidungen dieser Manegen und ihre unmittelbare Nachbarschaft zueinander versinnbildlichen das Ineinandergreifen und die wechselseitige Abhängigkeit der Ereignisse an den verschiedenen Schauplätzen. Dieses Bild von den Manegen liefert uns einen ersten flüchtigen Einblick in das Lesenetzwerk für das englische oder deutsche Schriftsystem.

Spots on

Lassen Sie uns nun näher betrachten, was in den unterschiedlichen Sektoren im Vordergrund und in der Tiefe der Manegen passiert, wenn wir ein englisches oder deutsches Wort lesen: Wie auf Kommando wird ein riesiges Abbild dieses Wortes, das wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht erkennen, auf die oberste rechte Zeltwand unmittelbar unter unserer Blickhöhe projiziert. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit rasch verlagern, um den plötzlich aufflammenden Lichtkegeln der verschiedenen Scheinwerfer zu folgen, die soeben von der präfrontalen Kontrolleinheit im Glaskasten eingeschaltet wurden. Die Aufmerksamkeitssysteme des Gehirns sind so etwas wie biologische Bühnenscheinwerfer: Solange das Licht nicht an ist, passiert nichts.34 Dazu muss allerdings gesagt werden, dass es verschiedene Arten von Scheinwerfern gibt, denn das Gehirn muss in der Lage sein, den vielen am Lesen beteiligten Schritten oder Schrittfolgen in unterschiedlicher Weise Aufmerksamkeit zu widmen. Den meisten Menschen ist nicht im Geringsten bewusst, wie entscheidend wichtig Aufmerksamkeit ist für alles, was wir tun, und auch nicht, dass lange bevor unsere Augen ein Wort überhaupt sehen, bereits in verschiedenerlei Weise Aufmerksamkeit vorhanden ist und beansprucht wird.

Die ersten Scheinwerfer unserer Aufmerksamkeit dienen der Orientierung und haben drei Aufgaben, die rasch erledigt sind:35 Sie helfen uns erstens, uns von dem, was immer wir gerade zu tun vorhatten, abzuwenden – das findet im Scheitellappen unserer Großhirnrinde statt (der allerobersten äußersten Schicht). Zweitens helfen sie uns, unsere Aufmerksamkeit auf das hinzulenken