Schockästhetik:  Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq - Lena Schönwälder - E-Book

Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq E-Book

Lena Schönwälder

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Beschreibung

Die vorliegende Studie erforscht am Beispiel skandalöser Texte des 19., 20. und 21. Jahrhunderts systematisch literarische Schreibweisen, die beim Rezipienten einen Schockeffekt produzieren. Die untersuchten Werke (der Autoren G. Flaubert, O. Mirbeau, Sade und P. P. Pasolini, A. Nove und N. Ammaniti sowie Michel Houellebecq) werden nicht allein in Hinblick auf ihre formale Beschaffenheit befragt, sondern auch auf etwaige ethische Implikationen. Wirkungsmechanismen literarischer Provokation werden damit aufgezeigt und die Funktion einer Schockästhetik im gesellschaftlichen Diskurs offengelegt.

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Lena Schönwälder

Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

Umschlagabbildung: © Lena Schönwälder

 

 

© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0108-0

Inhalt

VorwortEinleitung1 Theoretische Vorüberlegungen1.1 Böses schreiben – böses Schreiben: Überlegungen zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik1.1.1 Karl Heinz Bohrer und das Böse als ästhetische Kategorie1.1.2 Sabine Friedrich: Bohrer und Bataille revisited1.1.3 Die Ästhetik des Bösen nach Peter-André Alt: Wiederholung, Transgression und Paradoxie1.1.4 Zwischenfazit1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik1.2.1 Das Böse und (ästhetische) Empfindungen1.2.2 Das Böse und (ästhetischer) Genuss1.2.3 Das Erhabene1.2.4 Der Ekel1.2.5 Das Obszöne1.2.6 Zwischenfazit1.3 Das Böse und ethische Implikationen1.3.1 Vorverständnis von Ethik und Moral1.3.2 Das ethische Moment der ästhetischen Erfahrung1.3.3 Der ethical turn und narrative Ethik1.4 Skandal1.4.1 Skandal: Zur Etymologie und Bedeutung des Begriffs1.4.2 Literaturskandale1.4.3 Überlegungen zu einer Poetik des Skandals oder: die Performativität des Skandals2 Textanalysen2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862)2.1.1 »La bataille de Salammbô«2.1.2 »Un livre cruel«: Flauberts Schreibweisen der Grausamkeit2.2 Octave Mirbeau: Le Jardin des supplices (1899)2.2.1 Entstehung und Rezeption2.2.2 »Une monstruosité littéraire«: Le Jardin des supplices und das Prinzip der Dualität2.3 Pier Paolo Pasolinis Salò o le 120 giornate di Sodoma und der Marquis de Sade2.4 Gioventù cannibale: Aldo Nove und Niccolò Ammaniti2.4.1 Blut, Sex, Gewalt und Konsum: Die giovani cannibali und die letteratura pulp2.4.2 Aldo Noves Bagnoschiuma: Wenn der Freiheitskampf beim Duschschaum beginnt…2.4.3 Niccolò Ammaniti und die Apokalypse in der Postmoderne2.4.4 Zwischenfazit zu den giovani cannibali2.5 Michel Houellebecq2.5.1 Les Particules élémentaires (1998)2.5.2 La Possibilité d’une île (2005)2.5.3 La Carte et le Territoire (2010)2.5.4 Zwischenfazit zu den Romanen Michel HouellebecqsSchlussBibliographieA. PRIMÄRLITERATURB. PHILOSOPHISCHE UND ÄSTHETISCHE SCHRIFTEN, ABHANDLUNGENC. HISTORISCHE QUELLEN, KORRESPONDENZ, INTERVIEWS UND LITERATURKRITIKD. SEKUNDÄRLITERATUR

Meinen Eltern

Vorwort

Diese Untersuchung entspringt dem Wunsch, Literatur und ihren Wirkungsweisen näher auf den Grund zu gehen – im Besonderen dann, wenn sie aufreibt, erhitzt, provoziert, kurzum: schockiert. Es schien und scheint mir noch ein großes Faszinosum, dass das geschriebene Wort – eigentlich nicht mehr als Tinte auf Papier – so viel intellektuelle und emotionale Energie freisetzen kann. Ich erinnere mich noch bestens an ein Gespräch mit Prof. Dr. Christine Ott und Prof. Dr. Heidi Marek, in dem sie mir die Romane Michel Houellebecqs empfahlen. Neugierig kam ich dem nach und in der Tat enttäuschte Houelle­becq nicht: Die Lektüre hinterließ mich fragend und irritiert. Davon ausgehend richtete ich meinen Blick auf die Literaturgeschichte, die eine Vielzahl an Texten kennt, die ihrerzeit und in der Folge die Leserschaft zu schockieren vermochten. Es folgte eine Reihe an nicht selten nervenaufreibenden Textlektüren, bei denen mich die Frage nach ihren Mechanismen umtrieb. Dabei zeigte sich, dass es nicht nur die brisanten Themen sind, die die Texte behandeln, sondern auch die Art und Weise, wie diese besprochen werden, die zu ihrer besonderen Wirkmacht beitragen. Die vorliegende Studie ist schließlich eine Ausei­nander­setzung mit der Frage nach der Macht der Literatur – nämlich die Macht zu bewegen und dadurch Denkprozesse anzuregen.

Zu tiefem Dank bin ich Christine Ott verpflichtet, die mir in allen Fragen und Anliegen mit äußerst hilfreichen Ratschlägen und kritischen Anregungen stets zur Seite stand. Eine engagiertere Betreuung hätte ich mir nicht wünschen können: Ich habe mich stets auf das Beste gefordert und gefördert gefühlt. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Roland Spiller, der mir mit großem Interesse an der Fragestellung und wertvollen Anregungen begegnete.

Ein herzlicher Dank gilt nicht zuletzt meinen Eltern, Anita und Eberhard Schönwälder, und meiner Familie, die mich stets unterstützt haben. Hilfreiche Anregungen habe ich auch im Austausch mit der Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe „Form und Emotion“ erhalten sowie in zahlreichen Gesprächen mit Dr. Francesco Giusti, Zsófia Török und lieben FreundInnen, die mich auf dem Weg begleitet haben.

Besonders danken möchte ich auch dem Forschungszentrum Historische Geisteswis­senschaften, das den Druck dieses Buchs großzügig fördert.

Einleitung

[D]as Choquante, sei es abenteuerlich, ekelhaft oder gräßlich, [ist] die letzte Konvulsion des sterbenden Geschmacks.

Friedrich Schlegel, Über das Studium der Griechischen Poesie (1795–1797)1

»Choquant« benannte Schlegel im ausgehenden 18. Jahrhundert eine Form der Literatur, der es vielmehr an »ästhetischer Energie«, denn am Schönen selbst gelegen sei. In abenteuer­lichen, ekelhaften und grässlichen Bildern suche sie um der Interessantheit willen, stets intensivere Reize einzugeben. Noch heute handelt es sich bei der literarischen bzw. künstlerischen Produktion von Schockmomenten um ein probates Mittel der Provokation, die dem Werk bzw. Autor nicht zuletzt eine größere Reichweite im öffentlichen literarisch-künstlerischen Feld verschafft. Ist das »Choquante« zwar bei Schlegel noch unweigerlich seiner eigenen Aufhebung durch Abstumpfung geweiht und damit tendenziell unproduktiv, wird spätestens im 19. Jahrhundert und den Avantgarde-Poetiken des 20. Jahrhunderts der künstlerisch generierte Schock bzw. der als produktiv verstandene Schockzustand im Moment der Kreation zum Distinktionsmerkmal einer innovativen Kunst erhoben. In Baudelaires kunsttheoretischem Konzept von künstlerischer Kreation gestaltet sich der Moment der Inspiration als Gehirnschlag bzw. als Erschütterung der Nerven – eine beson­dere »Chockerfahrung«, wie Walter Benjamin herausarbeitete.2 Auf ähnliche Weise ver­steht später auch André Breton Inspiration als geistigen Kurzschluss bzw. als Moment der plötzlichen Ergriffenheit, den es in der Kunst zu übersetzen und wirkungs­poetisch zu re­pro­du­zieren gilt.3 Seien dies also das revolutionäre Programm der Sur­realisten oder ferner das »théâtre de la cruauté« Antonin Artauds oder auch »Abject Art«: Es handelt sich dabei um Poetiken, die entweder den Moment der künstlerischen Inspiration selbst schon als schockhaften Reizimpuls fassen oder auf die gezielte Produk­tion von sensorisch-emo­tionalen Schockmomenten rekurrieren.

Der Begriff des »Schocks«, per definitionem »eine starke seelische Erschütterung« bzw. »ei­­ne Erschütterung des Nervensystems«, wurde dem Französischen entlehnt.4 »Choc« meint neben seiner primären Bedeutung von »Stoß, Schlag, Erschüt­terung« vor allen Dingen auch »[é]motion violente et inattendue pouvant provoquer de grandes perturbations physiques et psychiques chez l’individu«, bezeichnet also einen Gefühlszustand, der durch das Erleiden einer Aggression herbeigeführt wird; ferner wird »choc« vom Trésor de la langue française gleichsam spezifisch im Kontext der Kunstrezeption als »[é]motion intellectuelle frappant l’individu à la vue d’une œuvre artistique« definiert.5 Der choc wird damit zum Schirmbegriff für einen heftigen, sowohl physischen bzw. psychischen als auch intellektuellen Gemütszustand. Das Verb »schocken« bzw. »schockieren« impliziert gleich­wohl einen moralischen Normbruch: »beleidigen, bestürzt machen, sittlich ent­rüsten«. Inwiefern im Falle des Schocks bei der vom Trésor de la langue française geleisteten Definition tatsächlich von einer »Emotion«, wie sie die Psychologie versteht,6 die Rede sein kann, ist sicherlich insofern problematisch, als er weniger den Basis­emotionen bzw. Primäraffekten wie Interesse/Neugier, Überraschung, Ekel, Freude, Ärger, Traurigkeit und Furcht zugerechnet,7 denn als Zustand einer mit Angst oder Ekel bewerteten Situation psychischer Überlastung verstanden werden kann. Sigmund Freud spricht beispielsweise im Zusammenhang von traumatischen Neurosen von Schock als »ausgiebigen Durchbruch[s] des Reizschutzes«.8 Im Kontext der Ästhetik wiederum wird der Begriff des Schocks mit dem des Schreckens enggeführt.9 Vor allen Dingen Karl Heinz Bohrer entwickelt in Anlehnung an die »Augenblicks«-Denker Nietzsche, Kierkegaard, Max Scheler, Carl Schmitt und Heidegger eine Theorie über die besondere Zeitstruktur moderner Literatur, die sich beispielhaft in der »Konzentration des Zeitbewußtseins auf einen ›gefährlichen Augenblick‹« manifestiere.10 Der künstlerisch produzierte Schrecken bzw. Schock wird zu einem intensiven Moment plötzlicher Entgrenzung und damit zu ei­nem ästhetischen Schlüsselereignis.

Im Kontext der Kunst sind demnach zwei Paradigmen des Schocks zu unterscheiden, wobei ersteres die Ebene der Poeisis (Schock als Kreationsprinzip) und zweites die Ebene der Aisthesis, d.h. der Rezeption (Schock als Wirkziel), betrifft. Für die vorliegende Arbeit sollen jedoch jene Texte relevant sein, die weniger auf dem poetischen Prinzip der schock­haften Inspiration beruhen, als gezielt eben solche Schockmomente im Rezi­pienten provo­zieren wollen; d.h. die hier untersuchten Texte sollten formal und inhaltlich so beschaffen sein, dass von einer intentionalen Provokation ausgegangen werden kann. Dies schließt beispielsweise Texte aus, die mehr oder weniger unvorhergesehen einen Skandal provo­zierten, wie dies bei Flauberts Madame Bovary der Fall war. Das relative Novum des unpersönlichen Erzählens veranlasste das damalige Publikum zu einer Fehldeutung der Darstellungsabsicht: Die Erzählinstanz schien sich jeglicher moralischer Beurteilung der ehebrecherischen Emma Bovary zu enthalten und damit implizit ihr verwerfliches Verhalten zu lizenzieren.11 Die Absicht Flauberts bestand jedoch weniger in der Provo­kation denn in der Kreation eines neuen Erzählstils und er konnte sein Werk schließlich rehabilitieren, indem er darauf verwies, dass die moralische Botschaft eines Textes nur indirekt zu ermitteln sei.12

Für die Auswahl der hier besprochenen Texte ist in erster Linie die Grundannahme maßgeblich, dass ein intendierter Normbruch vorliegt: Dieser kann einerseits die Ebene der formalästhetischen Gestaltung betreffen, d.h. er kann zum Beispiel durch Techniken der Montage, Dekonstruktion, Parodie, Kollage zustande kommen oder es können – wie im Falle Flauberts – durch spezifische Erzähl­strategien provokative Dissonanzen mit gängigen stilistischen Normen erzielt werden. Andererseits kann sich der Normbruch jedoch gleichwohl auf den mora­lisch-ethischen Normbereich des Rezipienten beziehen. Gerade am Beispiel von Flauberts Madame Bovary lässt sich veranschaulichen, dass durchaus eine Innovation des litera­rischen Erzählstils intendiert war, doch das eigentliche Skandalon letzt­lich in der vermeint­lichen Apologie des Ehebruchs bestand. Darauf basierend lässt sich die These aufstellen, dass das »Choquante« in seiner vollen Wirkmacht eigentlich erst zum Tragen kommt, wenn die im ersten Moment rein ästhetische Erfahrung in eine ethische übergeht. Um einer Schockästhetik13 auf den Grund zu gehen, bedarf es demnach einer Unter­suchung sowohl der formalen Strukturen eines Werks als auch seines Darstellungs­gegenstands.

Nach dem Potential der Literatur zu fragen, den Rezipienten zu erschüttern, scheint selbst in Zeiten des postmodernen anything goes noch relevant. Der Annahme, dass der moderne Mensch – durch (provokante, bisweilen grausame) Medienbilder und Kunst­er­zeug­nisse mittlerweile übersättigt und unbeeindruckt – kaum noch zu überraschen, geschweige denn zu schockieren sei, scheint zu widersprechen, dass ein Großteil der gegenwärtig erfolgreichen Literatur vor allem mit Schockästhetiken arbeitet, wobei sich gerade dies als potentes Marketinginstrument erweist.14 Die mitunter prominen­testen Bei­spiele sind die Romane des französischen Autors und enfant terrible Michel Houellebecq. Die Veröffent­lichung von nahezu jedem seiner Werke wurde von teil­weise harschen Polemiken begleitet, insbesondere sein zweiter Roman Les Particules élémentaires (1998) sowie der darauf­folgende, Plateforme (2001). Dabei stellt sich vor allen Dingen die Frage, welcher Natur der Skandal rund um die Romane Houellebecqs ist. Betrifft der Normbruch literaturspezifische Kriterien der formalästhetischen Gestaltung oder vielmehr die Ebene des Vermittelten? Auf den ersten Blick erweist sich im Falle Houel­le­becqs sicherlich das in seinen Texten inszenierte pessimistische Gesellschafts- und Menschenbild als brisant: Der Kulturpes­simismus Houellebecqs ist in seinem Werk omni­präsent und weist die Welt, wie wir sie kennen, als verderbtes, korrumpiertes Gesell­schafts­konstrukt aus, in dem das Individuum die Fähigkeit zur Liebe und Nähe verloren hat. In seinem ersten Roman, Extension du domaine de la lutte (1994) formuliert er die These, dass der Liberalismus zu einem unerbittlichen Kampf auf einer weiteren Ebene – die von ökonomischen Prinzipien bisher unberührt geblieben war – geführt habe, und zwar der der Sexualität: Es handele sich um eine Form der Merkantilisierung, die ein inkommensurables Gefälle zwischen Reich und Arm erzeuge, wobei letztere aufgrund ihres geringen (Attrak­tivitäts-)Kapitals unweigerlich vereinsamen würden. Diese negative Anthropologie liegt auch den Romanen Les Particules élémentaires, La Possibilité d’une île (2005) und La Carte et le Territoire (2010) zugrunde und findet sich durch die Houellebecq’schen Protagonisten exemplifiziert. Für die vorliegende Arbeit ist jedoch von Interesse aufzu­zeigen, inwiefern textspezifische Phänomene der Narration an der Produktion rezeptions­gebundener Schockmomente beteiligt sind. Die Prüfung textueller Emotioniali­sie­rungs­strategien erlaubt es ferner auch, im Kontext des Gesamtwerks Rückschlüsse auf deren Funktion zu ziehen. Geht es dabei um sensationalistische Publikumslenkung und strate­gische Selbstvermarktung, um die Affirmation des eigenen Autonomiestatus – oder wird die Schockästhetik dergestalt funktionalisiert, dass sie einer ethischen Reflexion zugutekommt? Die vorliegende Untersuchung hat es sich zum Ziel gesetzt, die Mechanismen aufzu­decken, die die ästhetische mit der ethischen Erfahrung verschalten, und damit eine interpretatorische Sensibilität sowohl gegenüber der formalästhetischen Beschaffenheit des Textes als auch seines Bedeutungs­gehalts zu entwickeln. Letztendlich liegt dem die Idee zugrunde, dass das Romanwerk Houellebecqs durchaus ethisch engagiert ist und fernab von postmoderner Sinnver­weigerung einen Diskurs über einen in der Gegenwart problema­tisch gewordenen Begriff anstrengt, und zwar das Böse.

Der Terminus »böse« meint in Analogie zur Polyvalenz des Begriffes »gut« das »Unheilvolle, Verderbenbringende, Zerstörerische, das Verdorbene, vor allem das sittlich Verwerfliche«, findet aber vor allen Dingen Verwendung bei der »Stigmatisierung des Krankhaften, des Untüchtigen, Schwachen, des Unangenehmen, des Unzweck­mäßigen«.15 Geistesgeschichtlich ist das Böse wiederum in der Vormoderne als ein selbst­ständiges Prinzip aufzufassen, das sich kontinuierlich im Widerstreit mit der ihm gegen­übergestellten Macht des Guten befindet; damit handelt es sich gleichwohl um eine in den metaphysischen Denkstrukturen fest etablierte Grunderscheinung der Welt, die sich in der Allegorie des Teufels personifiziert findet.16 Mit dem Erscheinen der modernen Wissen­­schaften wurde jedoch die Idee des extramundanen, metaphysischen Bösen zum Ver­schwinden gebracht. Naturkatastrophen wie das Erdbeben von Lissabon 1755 provo­zierten angesichts ihrer fatalen Auswirkungen Zweifel an der Idee einer prästabilisierten Harmonie und der Gewissheit, in der besten aller möglichen Welten zu leben, wie es Leibniz noch 1710 in seinen Essais de théodicée formuliert hatte. Metaphysikkritik, Rationalismus und Aufklä­rung sollten einen irreversiblen konzept­ualistischen Umschwung zeitigen und damit einhergehend einen neuen Begriff des Bösen, das nun zunehmend innerweltlich verortet – und somit nicht länger als eine dem Menschen entzogene, über­wirk­liche Kraft verstanden – wird. Es erscheint nun vielmehr als anthro­pologisch begründet, als eine dem Menschen innewohnende okkulte Kraft bzw. eine krankhafte, natürliche Neigung und wird damit zuneh­mend psychologisiert. Damit erweist sich auch aus heutiger Perspektive die Idee eines substantiellen Bösen17 als problematisch. Wie Kapferer beobachtet,

steht, moderner Wissenschaft zufolge, die Natur, auch wenn sie sich katastrophisch gebärdet, jenseits von »Gut und Böse«. Von »bösen Zeiten« oder von »bösen Zuständen« kann demzufolge nur mit Blick auf den menschlichen Verursacher sinnvollerweise und wissenschaftlich zulässig geredet werden [...]. In der wissen­schaftlich »entzauberten Welt« (Max Weber) der Moderne gab es sonach für »Das Böse« keine Daseinsberechtigung mehr. Vereint im wissenschaftlichen Geist der Moderne schaffen Theologie und Philosophie gemeinsam den Teufel und seine höllischen Spießgesellschaften ab.18

Wenn im Folgenden der philosophische und vor allen Dingen literaturwissenschaftliche Diskurs19 über das Böse aufgerufen wird, dann weniger in dem Bestreben, den ontolo­gischen Status des Phänomens des Bösen für die Gegenwart zu prüfen, als mit der Absicht, bestehende Theorien (vor allem über die Ästhetik des Bösen) für eine Unter­suchung ästhetischer und ethischer Qualitäten eines Textes fruchtbar zu machen.

Zur Methodik der vorliegenden Arbeit

Eine Studie zum Bösen als ästhetischem Phänomen nahm erstmals Karl Heinz Bohrer vor, wobei er sich besonders auf einen Text bezog, der diesbezüglich als paradigmatisch gelten kann: Flauberts Roman Salammbô (1862).20 Um sich also dem Begriff einer Schock­ästhetik zu nähern, wird im ersten Teil der vorliegenden Studie zunächst auf den literatur­theore­tischen Diskurs über das Böse als ästhetische Kategorie nach Karl Heinz Bohrer zurückgegriffen, welcher durch die Überlegungen Sabine Friedrichs21 und Peter-André Alts22 ergänzt wird. Bohrers Konstrukt eines ästhetischen Bösen erweist sich in diesem Zusammenhang insofern als fruchtbar, als er die spezifische Stimmung der schock­artigen Entgrenzung als ein Produkt der literarischen Imagination versteht. D.h. er sucht, die besondere Wirkmacht eines Textes auf konkrete Vertextungsstrategien zurück­zuführen, anstatt sie ausschließlich vom moralisch-ethischen Wertgehalt des Darge­stellten als Skandalon herzuleiten. Der Tatsache, dass sich die Absolutsetzung des Ästhe­tischen im Zusammenhang mit dem Phänomen des Bösen als problematisch erweist, sucht Friedrich insofern Rechnung zu tragen, als sie Bohrers Konzept mit Batailles Prinzip der Trans­gression kombiniert, um dergestalt sowohl semantische, inhaltliche Bestim­mungen des Bösen innerhalb des Textes, als auch jene literarischen Strategien, die diese ästhetisch zersetzen und defigurieren, identifizieren zu können. Auch Alt versteht das Böse nicht als gänzlich ästhetisch verschränktes Konstrukt, sondern vielmehr als Reizphänomen, dessen Wirkmacht sowohl aus seiner moralischen Transgressivität als auch seiner ästhetischen Modellierung hervorgeht: Die Strukturfiguren der Wiederholung, Trans­gression und Para­doxie scheinen in diesem Zusammenhang grundlegend für die literarische Konzeption des Bösen zu sein.

Um sich in der Folge der Frage zu nähern, welcher Beschaffenheit die Empfindungen tatsächlich sind, die das Böse als ästhetisches Phänomen bzw. eine auf Schock und Provokation ausgerichtete Schreibweise provozieren, wird das Augenmerk auf die Natur der ästhetischen Erfahrung23 und der ästhetischen Empfindungen gelenkt. Im Zusam­men­hang mit einer Theorie der Schockästhetik ist es notwendig, besonders auf jene Erlebniskategorien zurückzugreifen, die bereits in der Antike, besonders aber im 18. und 19. Jahrhundert im Kontext einer Ästhetik des Hässlichen diskutiert wurden: das Erhabene,24 den Ekel25 und das Obszöne.26 Die Theorie des Erhabenen bietet einen Ansatz, das Phänomen des Bösen in der Literatur auch aus rezeptionsästhetischer Perspektive zu beschreiben, da es sich sowohl im Fall des »klassisch« Erhabenen als auch in dem des Bösen um ein wahrnehmungs­spezifisches Grenzphänomen handelt, das den Geist des Rezipienten herausfordert, der drohenden Überwältigung durch die Sinne standzuhalten. Besonders in der Moderne wird diese wirkungsästhetische Kategorie durch weitere Paradigmen ergänzt: Allgemein kann in den Medien eine Tendenz zum Ekelhaften und Obszönen verzeich­net werden, sei es Film, Kunst, Theater oder Literatur. Hannelore Schlaffer registriert gar einen »ästhetischen Stilwandel im Zeitalter der nicht-mehr-schönen Künste«27 und führt insbesondere das Ekelhafte als kennzeichnendes Charak­teristikum der Kunst des 20. Jahrhunderts an – was sich augenscheinlich im Werk Houelle­becqs fortsetzt. Diese beiden Kategorien verbinden sich dabei nicht selten mit der Idee des Bösen, wie bei de Sade: Die obszöne Lust am Transgressiven und die dezidierte sprach­liche Vergegenwärtigung von Leid, Qualen und Gewalt provozieren gerade den für den Rezipienten erlebten Schock­moment, in dem ein moralisch-ethisch bzw. theologisch begründetes Tabu berührt wird – und damit auch die Idee des Bösen. Eine Prüfung der Erlebniskategorien des Erhabenen, des Ekels28 und Obszönen29 soll ein Dispositiv schaffen, sich dem Phänomen als einem litera­rischen, materiellen und damit auch sinnlich erfahr­baren Gegenstand anzunähern und damit seine wirkungsästhetischen Qualitäten beschreib­bar zu machen.

In einer Analyse der Wirkungspotentiale des »bösen Textes« erschöpft sich eine umfassende Betrachtung jedoch nicht. Geht man mit Gadamer und Ricœur30 davon aus, der Text sei letztendlich das aus einem Kommunikationsbedürfnis entsprungene Produkt, das ein Autor innerhalb einer abstrakten Kommunikationssituation an einen nicht näher bestimmten Empfänger/Leser sendet, dann muss danach gefragt werden, welcher Natur diese Botschaft ist. Dies bedeutet auch: Welche Aussage über die Welt, ihre Referenz, wird getroffen? Und damit einhergehend: Welcher Natur ist das Böse, welches im Text insze­niert wird? In einer Untersuchung, der die Wirkungsästhetik als Selbstzweck zugrunde liegt, können jene Aspekte nicht hinlänglich behandelt werden. Daher soll in dieser Arbeit nicht allein die Form Gegenstand der Untersuchung sein, sondern auch die Idee, die schließlich im Text entwickelt wird: und damit etwaige ethische Implikationen, die fern eines rein ästhetischen Konzeptes des Bösen transportiert werden. Die vorliegende Studie folgt damit grundsätzlich den Annahmen der Hermeneutik, um den im Text gegebenen Ideengehalt unter Berücksichtigung des historischen Kontexts und damit seiner außer­literarischen Referenz adäquat entschlüsseln zu können. Eine Auseinandersetzung mit dem Text, die also sowohl nach den Sinnpotentialen als auch nach der Verfasstheit des Textes (und folglich den Mitteln, mit denen der Rezeptionsakt seitens des Lesers in Hinblick auf Wirkung und Reflexion gelenkt werden kann) fragt, ist daher auch mit Isers31 Modell der Rezeptions­ästhetik vereinbar: Welcher Bedeutungsgehalt erschließt sich dem Leser und wie kann er von jenem reflexiv nachvollzogen werden? Stellt sich gar eine Form der ethischen Erfahrung ein, die dem Leser Rückschlüsse auf und Erkenntnisse über seinen eigenen Bezugshorizont erlaubt? Ziel ist es demnach, die Wirklichkeitsreferenz zu betrach­ten, d.h. die Möglichkeit ethischer Implikationen, und zudem die spezifisch literarischen Mittel aufzudecken, die eine solche ethische Lektüre befördern können.32 Dies erlaubt darüber hinaus auch, die Grenzen einer solchen Lektüre zu bestimmen, d.h. jenen Moment zu lokalisieren, an dem eine Form des »inkommensurablen Bösen« auftritt, das nicht mehr aufhebbar ist und sich damit dem von Bohrer skizzierten präsentischen Phänomen des ästhetischen Bösen annähert.

Ferner wird es für die vorliegende Arbeit notwendig sein, auf den Begriff und die Theorie des Skandals33 zurückzugreifen. Dieser lässt sich in seiner Dramaturgie als ein dem Theater nicht unähnlicher, mehrschrittiger, öffentlicher Kommunikationsprozess zwischen einem Skandaliertem, einem Skandalierer und einem Publikum beschreiben. Auslöser für einen Skandal ist dabei stets ein tatsächlich vorliegender oder lediglich angenommener Norm­bruch seitens einer Person, einer Gruppe oder Institution, welcher in der Folge publik gemacht wird und öffentliches Ärgernis erregt. Die Theorie des Skandals ist im Kontext der vorlie­genden Arbeit deswegen so fruchtbar, weil sie systematisch Aspekte, die die Wir­kungs­ästhetik betreffen, mit ethikbezogenen vereint. Nicht nur ist ein Skandal als öffentliche Insze­nierung zu verstehen, die den Mechanismen der Schaulust gehorcht, sondern er kann gleichsam als Normenbarometer fungieren, indem er aufzeigt, welche Themen und Normen im öffentlichen Bewusstsein besonders sensibel sind. Über­tragen auf die Literatur ermöglicht ein solches Verständnis von der Dynamik des Skan­dals, Rückschlüsse auf den Status der Literatur im Allgemeinen zu ziehen. Gerät ein literarisches Werk öffentlich unter Beschuss, indiziert dies einerseits, welche Art der Normverletzung vorliegt, andererseits aber auch, welchen Einfluss Literatur und Kunst generell in der Öffentlichkeit haben bzw. welchen Status sie genießen.

Zur Textselektion

Im Rahmen dieser Arbeit sollen Texte untersucht werden, die als paradigmatisch für eine »böse Schreibweise« gelten können. Im Titel dieser Arbeit sind dabei bereits wichtige Momente in der Literaturgeschichte benannt. Zunächst sollen literarische Erzeugnisse der Ecole du mal des 19. Jahrhunderts, genauer: Texte von Gustave Flaubert und Octave Mirbeau, betrachtet werden, da diese einerseits den Wandel markieren, der sich inner­halb des literarischen Diskurses über das Böse vollzogen hat: und dies sowohl auf der Ebene der Wirkungsästhetik als auch auf der des Inhalts. Die Literatur sucht, sich in Ablehnung der bürgerlichen Moral einen autonomen Bereich zu erschließen. Andererseits erlaubt eine Analyse eben dieser Texte, die Systematiken einer Schockästhetik weiter auszudif­ferenzieren, welche sich dann auf das Werk Michel Houellebecqs übertragen lassen. Somit soll zunächst am Beispiel von Gustave Flauberts Salammbô Bohrers These zum ästhe­tischen Bösen nachvoll­zogen werden. Gleichermaßen sollen jedoch auch die Grenzen einer solchen Deu­tung aufgezeigt werden – und dies auch unter Berücksichtigung von Sabine Friedrichs Überlegungen zur Imagination des Bösen. Von besonderem Interesse werden im Zuge einer textanaly­tischen Betrachtung des Gegenstandes vornehmlich auch narrato­logische Aspekte sein – insbesondere der narrateur impassible. Dabei soll aufge­zeigt werden, inwiefern die Narration bzw. die Erzählsituation und der im Text verhandelte Gegenstand interagieren und in Abhängigkeit voneinander ein spezifisch literarisches Böses hervor­bringen. Bei Flauberts Roman Salammbô handelt es sich gewiss um einen bereits umfassend diskutierten Text, für den ich in diesem Kontext keine Neuinterpretation vor­schlage. Dennoch soll der Roman die Referenzfolie für die folgenden Analysen darstellen, da die durch Bohrer und Friedrich bereits durchexerzierte Interpre­tation mit Schwerpunkt auf den ästhetischen Qualitäten des Textes gleichwohl für eben jene Dimension des literarischen Werks im Allgemeinen sensibilisiert. Doch findet sich dieser Ansatz zusätzlich durch Aspekte der narrativen Ethik sowie der Theorie des Ekels und des Skan­dals komplementiert.

Ein weiterer Text, den ich im Rahmen dieser Untersuchung in Hinblick auf thematische Schwerpunkte und Wirkungsästhetik untersuchen möchte, ist Octave Mirbeaus dekadenter Roman Le Jardin des supplices (1899). Mehr noch als Flauberts Salammbô lässt sich diesem Werk eine ausnehmend aggressive Wirkungspoetik zuschreiben, die auf den ersten Blick sämt­liche positiven ethisch-moralischen Werte in ihr Gegenteil verkehrt und im Raum des Literarischen ein neues Regime des Bösen in Kraft treten lässt. Wirkungs­ästhetisch besteht der Auftrag des Romans zunächst in der Irritation des Lesers durch eine Initiation in den Raum des Sadistischen, Obszönen und Ekelhaften. Zugleich wird aber auch eine Aus­sage über die Natur des Menschen getroffen, eine Idee des Bösen verhandelt, die als Teil der menschlichen Natur verstanden wird. Wie die Schock- und Ekelstrategien Mirbeaus verwen­det werden, um eine Reflexion philosophisch-anthropologischer Natur zu befördern, soll im Zuge dieser Analyse berücksichtigt werden.

Als Urvater der Schockästhetik kann sicherlich Alphonse-Donatien-François Marquis de Sade gelten. Sein unvollendeter Roman Les 120 Journées de Sodome, den er während seiner Gefangenschaft in der Bastille verfasste, diente als Vorlage für Pier Paolo Pasolinis letzten Film Salò o le 120 giornate di Sodoma (1975), welcher ob seiner schonungslosen Darstel­lung von Folter, Exzess und Grausamkeit zunächst bis 1978 beschlagnahmt wurde.34 Pasolini transportiert die Sade’sche Schockästhetik in das Medium des Films – welches gegenüber dem der Schrift den Vorzug hat, mehrere Sinneskanäle unmittelbar anzusprechen –, um dergestalt in aller Drastik die Anarchie der Macht vorzuführen. Die Libertinage de Sades wird ihm zur Allegorie des Faschismus und ferner des vom Konsu­mismus beherrschten Italiens. Eben diese visuelle Umsetzung einer originär literarischen Schock­ästhetik mit den Mitteln der Filmkunst wird sich insofern als beson­ders interessant erweisen, als Pasolini den modus operandi des Films bereits poeto­logisch mitreflektiert. So wie auch Sade den Leser zu einem ›empa­thisch‹ engagierten Teilnehmer an der Lektüre zu machen sucht, so stellt auch Pasolini eine Komplizenschaft zwischen dem Zuschauer und den Figuren des Films her. Eine Untersuchung des Films vor dem Hintergrund der literarischen Vorlage, auf der er basiert, soll aufzeigen, dass es Pasolini nicht nur um die Provokation des Publikums ging, sondern dass ihm dabei durchaus an der Formulierung einer ethischen Botschaft gelegen war: Das Bild, das er dabei vom Menschen, seinem Körper und seiner Sexualität sowie von gesellschaftlichen Mechanismen und Machtge­fügen zeichnet, antizi­piert dabei schon in gewisser Weise Positionen, die auch Houellebecq in seinen Romanen beziehen wird.

Die Analyse von Schockstrategien der Literatur (und des Films) soll nicht nur auf diachroner Ebene, sondern auch auf synchroner Ebene vorgenommen werden. Zwei Jahre bevor Houellebecqs Roman Les Particules élémentaires erschien, wurde beim Verlag Einaudi eine Anthologie von Erzählungen, nämlich der Band Gioventù cannibale. La prima antologia dell’orrore estremo, veröffentlicht. Diese war das erste literarische Zeugnis einer neuen Autorenge­ne­ration, die sich von der nach wie vor durch Italo Calvino beherrschten Höhenkamm­literatur bewusst verabschiedete und vielmehr eine neue blutrünstige Ästhetik entwickelte: die sogenannte letteratura pulp (in Anlehnung an den 1994 erschienenen Kultfilm Pulp Fiction von Quentin Tarantino). Repräsentativ für diese Literatur sind einerseits exzessive Gewaltdarstellungen, andererseits ein spielerischer Umgang mit diversen Genres der Popkultur sowie eine starke Medienbezogenheit. Aldo Nove und Niccolò Ammaniti waren unter anderem als Autoren an der Anthologie Gioventù cannibale beteiligt und publizierten im gleichen Jahr jeweils eigene Erzählsammlungen: Noves Woobinda o altre storie senza lieto fine und Ammanitis Fango. Sowohl Woobin­da als auch Fango erweisen sich als paradigmatisch für die Poetik der »giovani cannibali«. Anhand einer detail­lierten Analyse von Noves Eingangserzählung Il bagnoschiuma und Ammanitis Kurzroman L’ultimo capodanno dell’umanità soll jedoch gezeigt werden, dass die effekthascherische Schockästhetik der »cannibali« durchaus einem gesellschafts- und medien­kritischen Impetus folgt. Die Werke sowohl Pasolinis als auch die der letteratura pulp markieren dabei einen Moment in der Zeitgeschichte, in dem sich die Kunst in Protest gegen die Konsum­gesellschaft wendet, sich aber gleichzeitig als Teil eben dieser erweist.

Schließlich sollen also die bereits erwähnten Romane Houellebecqs untersucht werden. Im Zentrum steht dabei die Frage, welcher Schockstrategien sich Houellebecq auf individu­elle Weise bedient. Gegenstand der Analyse soll dabei zunächst sein Roman Les Particules élémentaires sein, der zu seinen wohl wirkmächtigsten Werken zählt. Eine Untersuchung dieses Romans halte ich in diesem Zusammenhang für besonders lohnend, da Houellebecq hier thesenartig eine radikal negative Anthropologie ausformuliert, welche gemeinhin als die wohl skandal­trächtigste Qualität seiner Romane verhandelt wird. In der Tat wird eine Analyse des Textes jedoch erweisen, dass die beson­dere Wirkmacht des Romans nicht allein auf die Brisanz des énoncé zurückzuführen ist, sondern dass sie gleichwohl Resultat spezifischer narrativer (Schock-)Strategien ist. Stetige Stil-, Perspek­tiv- und Diskurswechsel verun­ein­deutigen den Darstel­lungs­gegenstand dergestalt, dass der Leser zu einer intensiven, enga­gierten und vor allen Dingen auch reflektierten Lektüre angeregt wird. Auf den ersten Blick wohl weniger enragiert, doch auf ähnliche Weise pessimistisch, präsentiert sich Houellebecqs Dystopie La Possibilité d’une île. Auch diese mutet zunächst wie eine deutlich formulierte Absage an die Menschheit an, doch erweist sich bei näherer Betrach­tung auch diese als ambivalent: So zielt der Roman darauf ab, traditionelle Bezugs­horizonte zu zersetzen, moralisch zu destabilisieren und dergestalt zum Gegenstand der kritischen Reflexion zu machen. Dass gerade diese Unbestimmtheit besonders provokativ wirkt, soll ferner ein Vergleich mit Cormac McCarthys dysto­pischem Roman The Road verdeutlichen.

Der 2010 erschienene Künstlerroman La Carte et le Territoire wiederum ist in Hinblick auf seine romanesken Vorgänger wohl weniger aggressiv und vermag aufgrund seiner vorder­gründigen Reflexion des Status des Künstlers und der Kunst zunächst minder ergiebig in Hinblick auf eine Untersuchung von Schockstrategien scheinen. Doch versäumt Houellebecq auch hier nicht, der Welt den gewohnt pessimistischen Spiegel vorzuhalten – und dies auf besonders zynisch-parodistische Art und Weise. Die Besonderheit des Romans ist wohl auch, dass Houellebecq sich selbst als Figur auftreten lässt, um sich schließlich auf grausame Art und Weise töten zu lassen. Der Mord an der Figur »Michel Houellebecqs« markiert dann auch den Wendepunkt, an dem die Geschichte in eine(n) Krimi(-Parodie) umschlägt und im Zuge dessen die Frage nach dem Ursprung des Bösen aufgeworfen wird. Mehr noch als in Les Particules élémentaires scheint hier eine Schreib­weise des Bösen, wie sie bei Flaubert und Mirbeau ausgemacht werden kann, anzi­tiert zu werden; sie durchläuft dabei aber einen »postmoder­nen« Umgestal­tungs­prozess, der sie zersetzt, dekonstruiert, neukonfiguriert und dadurch gewissermaßen ihre Mecha­nismen offenlegt. Inwiefern die Romane Houellebecqs vor dem Hintergrund der Literatur der Moderne und Postmoderne einer Autonomieästhetik verpflichtet sind oder vielmehr am ethical turn partizipieren, soll im Rahmen dieser Untersuchung diskutiert werden.

Zweifelsohne ließe sich eine Vielzahl weiterer Texte einer solchen Untersuchung unterziehen, darunter Werke E.A. Poes, E.T.A. Hoffmanns, Huysmans, Oscar Wildes, Célines, André Bretons, Georges Batailles’, Bret Easton Ellis’, Will Selfs – um nur einige zu nennen. Notwendigerweise musste sich die hier vorgenommene Auswahl auf exempla­rische Momente der (jüngeren) Literaturgeschichte beschränken. Doch die im Theorieteil ent­wickel­te Methode der Textanalyse bietet ein Modell nicht nur zur Untersu­chung der hier betrachteten Werke, sondern lässt sich gleichermaßen auf andere Texte anwenden.

Forschungsstand

Tatsächlich ist »Schockästhetik« in Zusammenhang mit Kunst ein geläufiger Begriff, besonders im Kontext von moderner Literatur (so z.B. Baudelaire)35 oder von Avantgarde-Poetiken (wie die des Surrealismus).36 Auch im Kontext der Gegenwarts­literatur findet der Begriff Erwähnung, so z.B. in Sarina Schnatwinkels Monographie zu den Romanen von Bret Easton Ellis (Das Nichts und der Schmerz. Erzählen bei Bret Easton Ellis, 2014).37 Doch eine so bezeichnete Systematik ästhetischer Schockerfahrung sowie eine umfassende Studie von literarischen Strategien, die eben solche auslösen, liegt in diesem Sinne noch nicht vor. Indem die vorliegende Arbeit also methodisch auf bestehende Diskurse über das (ästhetische) Böse, Wirkungsästhetik, literarische Ethik und Skandaltheorie zurückgreift, sucht sie, sich dem Begriff der Schockästhetik und einer Systematik von literarischen Strategien der Provokation sowohl theoretisch als auch praktisch zu nähern.

Zu Flauberts Roman Salammbô liegt bereits eine Reihe an Untersuchungen vor,38 allen voran natürlich die für den hier thematisierten Aspekt der Schockästhetik und des Phänomens des Bösen relevanten Studien von Karl Heinz Bohrer und Sabine Friedrich. Im Zusammenhang mit der Ästhetik des Bösen in selbigem Roman erschienen auch jüngst Beiträge von Jacques Neefs39 und Stefan Bub.40 Die vorliegende Studie wird im We­sent­lichen den bestehenden Ansätzen folgen, wobei diese um Aspekte der Skandal­theorie sowie der narrativen Ethik ergänzt werden. Als Neuerung ist jedoch zu betrachten, dass das Werk im Kontext dieser Arbeit mit denen Mirbeaus, Noves, Pasolinis und Houellebecqs in Beziehung gesetzt wird, um Parallelen und Unterschiede aufzuzeigen, die in dieser Form noch nicht untersucht worden sind.

Im Jahre 1993 wurde die Zeitschrift Cahiers Octave Mirbeau gegründet, im Rahmen derer bereits eine Vielzahl an Artikeln zum literarischen Opus Mirbeaus veröffentlicht wurden. Außerhalb des Publikationsorgans der Société Octave Mirbeau ist die Anzahl an Publikationen zu dem hier untersuchten Text, Le Jardin des supplices, jedoch überschau­bar.41 Erwähnung findet der Text in Alts Ästhetik des Bösen und auch in Achim Geisen­hans­lükes Monographie Die Sprache der Infamie.42 Im Rahmen dieser Arbeit soll die Diskussion um den Roman aktualisiert werden, der in vielerlei Hinsicht paradigmatisch für das ästhetische Programm der Dekadenzliteratur ist. Doch in seinem Bestreben, dem Menschen ein schockierendes Abbild seiner Natur und Welt aufzuzeigen, weist er bereits auf zukünftige Literaturen, vor allen Dingen auch die Romane Houellebecqs, voraus.

Wie auch bei Flaubert handelt es sich bei Pasolini um einen Autor und Regisseur, zu dessen Werken (sowohl filmisch als auch literarisch) bereits gearbeitet wurde. Auch sein letzter Film Salò o le 120 giornate di Sodoma fand und findet in der Wissenschaft nach wie vor Beachtung.43 Umfassend setzt sich besonders Klaus Theweleit mit dem Aspekt des Faschismus in Pasolinis Film auseinander.44 Im Rahmen dieser Arbeit soll vor allen Dingen die filmische Umsetzung der Schockästhetik Sades in Salò Beachtung finden,45 wobei gleichwohl ihre unterschiedlichen Funktionen sowie die Umdeutungs­prozesse, die Pasolini vornimmt, herausgearbeitet werden sollen. Verfahren der Zuschauer- bzw. Leser­akt­i­vierung46 und die Frage nach den Möglichkeiten einer ethischen Erfahrung durch visuelle Grenzerfahrungen (oder diesen zum Trotz) stehen dabei im Mittelpunkt. Diese Arbeit sucht damit insofern einen neuen Blickwinkel auf Pasolinis Salò zu bieten, als dieser in Bezug zu Texten des 19., 20. und 21. Jahrhunderts gesetzt wird, um Parallelen aufzuzeigen, die so noch nicht erarbeitet wurden.

Die literarische Bewegung der giovani cannibali kann in gewisser Weise als repräsentativ für einen Trend der Kunst der 90er Jahre gelten. So erschienen in den Folgejahren nach der Veröffentlichung des Sammelbands Gioventù cannibale mehrere Studien, die diesem literarischen Zeitgeist-Phänomen Rechnung zu tragen suchten.47 Zu Aldo Noves und Ammanitis Erzählsammlungen liegen bisher vornehmlich kleinere Beiträge vor, die vor allen Dingen den Aspekt der im Text abgebildeten Konsumgesellschaft besprechen.48 Im Kontext dieser Arbeit sollen jedoch bereits vorgenommene Interpretationen durch Überle­gungen zu der Bedeutung des Textes im europäischen Vergleich ergänzt werden. Beson­ders die Gegenüberstellung mit den Romanen Houellebecqs wird sich dabei als auf­schluss­reich erweisen.

In Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei letzterem um einen äußerst medien­präsenten Autor handelt, überrascht es wenig, dass besonders in den letzten Jahren eine Reihe an Publikationen zu seinen Werken erschienen ist. Dass sich in seinem Falle gar von einem »Phänomen« sprechen lässt, bestätigen diverse Titel, die es sich zum Ziel setzen, eben diesem analytisch auf den Grund zu gehen, darunter z.B. der von Thomas Steinfeld herausgegebene Sammelband Das Phänomen Houellebecq (2001), die 2005 erschienene Monographie Houellebecq non autorisé: enquête sur un phénomène von Denis Demonpion, ferner Dominique Noguez’ Titel Houellebecq, en fait (2003) oder auch der von Murielle Lucie Clement und Sabine van Wesemael herausgegebene Band Michel Houellebecq sous la loupe (2007) sowie der vornehmlich an literaturpraktischen und ästhetischen Aspekten interessierte Sammelband von Sabine van Wesemael und Bruno Viard (Hg.), L’unité de l’œuvre de Michel Houellebecq. Paris 2013. Houellebecq, der zunächst als enfant terrible den Literaturmarkt aufmischte, wurde damit auch zunehmend Gegenstand des wissen­schaftlichen Interesses. Dass sich sein Œuvre nicht allein in einer aggressiven Provoka­tionsgeste und der Vulgarität des Obszönen erschöpft, sondern darüber hinaus über einen gewissen Ideenreichtum philosophischer Natur verfügt, legen Publikationen wie Dietmar Horsts Houellebecq der Philosoph: ein Essay (2006) und Julia Prölls Monographie Das Menschenbild im Werk Michel Houellebecqs: die Möglichkeit existenzorientierten Schrei­bens nach Sartre und Camus49dar. Letztere stellt – wie der Titel impliziert – eine Verbin­dung zum Existentialismus Sartres und Camus’ her, die Aufschluss über das Gesell­schafts­bild gibt, welches Houellebecq in seinen bis einschließlich 2005 veröffent­lichten Romanen transportiert. Wie eben jenes Gegenwarts­porträt sich im Vergleich zu anderen Werken der internationalen Gegenwartsliteratur verhält, untersucht Constanze Alt.50 Größer angelegte Untersuchungen, die sich mit dem von Houellebecq gezeichneten Welt- und Gesellschafts­bild (vornehmlich auch im Roman Les Particules élémentaires) ausei­nander setzen, liegen damit bereits vor – und im Fall Julia Prölls auch in national literatur­histo­rischer Perspek­tive. Damit wird auch ein Diskurs über intertextuelle bzw. diachrone Beziehungen des Houellebecq’schen Œuvres eröffnet, der es erlaubt, nicht nur einen thematischen, sondern auch stilistischen Zusammenhang zwischen den Werken Houelle­becqs und Schriftstellern wie Lautréamont oder H.P. Lovecraft (vgl. Murielle Lucie Clément, Michel Houellebecq révisité. L’écriture houellebecquienne) oder Émile Zola und der realistischen bzw. naturalistischen Schule (Rita Schober, Auf dem Prüfstand. Zola – Houellebecq – Klemperer. Berlin 2003) herzustellen. Auch Jochen Mecke stellt in seinem Aufsatz »Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literatur­skandals« eine Beziehung zwischen den Erzählstrategien Houellebecqs und denen Flauberts bzw. Balzacs her.51 Seine Überlegungen zum »Stil der Indifferenz« sollen auch im Rahmen dieser Arbeit aufgegriffen und weiter vertieft werden.

Ein Novum ist es jedoch, konkret nach der Natur des Houellebecq’schen literarischen Bösen bzw. nach den Funktionen und Formen von Schockstrategien zu fragen und dies unter Berücksichtigung von Verfasstheit und Wirkung sowie von ethischen Implikationen. Neu ist dabei auch, sein Œuvre mit einer literarischen Tradition in Verbin­dung zu bringen, die Bohrer einst die »Schule des Bösen« taufte bzw. durch einen kompa­ra­tistischen Vergleich auf synchroner Ebene zur italienischen und amerikanischen Literatur und Filmkunst in Beziehung zu setzen. In Bezug auf die Möglichkeit einer literarischen Ethik im Werk Houellebecqs (u.a.) hat Susanna Frings52 jüngst ein Werk veröffentlicht, dem weniger die Annahme eines absoluten Pessimismus zugrunde liegt, als vielmehr die Diagnose eines »retour au roman« und gleichbedeutend damit der Möglich­keit einer kritischen Weltbe­sprechung im Raum der Literatur, die dem Leser das Angebot der ethi­schen Erfahrung macht. Ihr Ansatz einer literarischen Ethik, der nach den Bedeu­tungs­potentialen für den Leser fragt, kann damit auch im Rahmen dieser Arbeit nutzbar gemacht werden.

Während also für Houellebecqs Romane Extension du domaine de la lutte, Les Parti­cules élémentaires, Plateforme und La Possibilité d’une île durchaus bereits (größere) Publikationen vorliegen, ist der preisgekrönte Roman La Carte et le Territoire (natürlich auch aufgrund seiner relativen Neuheit) bisher nur in kleineren Beiträgen53 zur Sprache gekommen, darunter u.a. »Von Körper-Bildern und Zerstückelungen: Zu thematisch-poetologischen Text-Bild-Beziehungen in Michel Houellebecqs La carte et le territoire und zur Autofiktion als Aktionskunst« von Betül Dilmac54 sowie Christine Ott: »Literatur und die Sehnsucht nach Realität. Autofiktion und Medienreflexion bei Michel Houellebecq, Walter Siti und Giulio Minghini«.55 Die vorliegende Arbeit kann damit auch neueren Entwicklungen innerhalb des Houellebecq’schen Œuvres Rech­nung tragen. Es wird damit insofern eine Lücke geschlossen, als Verfahren der literarischen Provokation in Hinblick auf Funktion und Wirkungsweise sowohl in synchroner als auch diachroner Perspektive aufgedeckt werden. Damit kann schließlich ebenfalls eine Aussage über den Status der Gegenwartsliteratur bzw. über einen wichtigen Trend eben dieser getroffen werden.

1Theoretische Vorüberlegungen

1.1Böses schreiben – böses Schreiben: Überlegungen zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik

1.1.1Karl Heinz Bohrer und das Böse als ästhetische Kategorie

Die Literatur des 18. und insbesondere 19. Jahrhunderts scheint den sich vollziehenden Umwertungsprozess der Kategorie des Bösen zu belegen: Die Tatsache, dass sich Gattungen wie die des Schauerromans besonderer Beliebtheit erfreuen, bescheinigt den Reiz am Abseitigen. Darüber hinaus erfährt das Böse in den Werken einflussreicher und viel disku­tierter Autoren wie de Sade, Choderlos de Laclos, Lautréamont, Baudelaire, Flaubert oder Huysmans unbestreitbar eine fundamentale Radikalisierung – und Positi­vierung. Der Titel von Baudelaires skandal­trächtigem Gedichtband Les Fleurs du mal vermag bereits exem­plarisch die zunehmende Annäherung der Kategorie des Schönen und der des Bösen zu veran­schaulichen. Hinzu kommt, dass – wie Peter-André Alt vermerkt – ein »Wechsel im Register der Darstellung« zu beobachten ist: eine Herauslösung des Bösen aus dem metaphysischen Gefüge und eine Verlagerung in die Innerlichkeit, in die Psyche des Menschen. Es

vollzieht sich eine Anreicherung der Kategorie des Bösen, die durch den Vorgang der Inklusion dichter als zuvor in ein Netzwerk von Nachbarbegriffen – Trieb, Gewalt, Häßlichkeit – integriert wird. Das Böse gewinnt über seine Einschließung in einer seelischen Topographie eine Vielfalt von Merkmalen und Qualitäten, die es auf neue Weise ubiquitär werden läßt. Die Omnipräsenz des Bösen ist fortan nicht mehr jene des Teufels, sondern die der Eigenschaften des Individuums.1

Die Psychologisierung und die damit einhergehende »Invisibilisierung«2 des Bösen offenbart scheinbar vollkommen neue Potentialitäten einer ›bösen Kunst‹, die sich den traditionellen Funktionalisierungs- und Darstellungsverfahren ver­weigert und das Böse so auf neue Art und Weise ästhetisch erfahrbar macht.

Karl Heinz Bohrer nahm die im Vergleich zu anderen europäischen Literaturen deutlich radikalere Entwicklung der französischen Literatur zum Anlass, das Phänomen des Bösen in der Kunst einer Revision zu unterziehen. In den Aufsätzen »Das Böse – eine ästhetische Kategorie?« (1985)3 und »Die Ästhetik des Bösen: Oder gibt es eine böse Kunst?« (2007)4 argumentiert er auf Basis einer Konzeption des Bösen, die es weniger als ethisches denn als ästhetisches Phänomen fasst. Es geht ihm dabei zuvorderst um eine Ablösung der Kategorie des Bösen vom ›Stigma‹ des Ethischen, welches verhindere, dass die Tendenzen der literarischen Moderne in ihrem vollen Potential erfasst werden könnten.

Bohrer bemüht sich zunächst um die Klärung der Frage, warum ein an sich missfälliger Gegenstand einen Reiz ausübt. Dabei bezieht er sich zunächst u.a. auf Schillers Schrift Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792),5 um die Verwandt­schaft der Kategorie des Bösen zu jener des Tragischen herauszustellen und so die rezeptions- und produktionsästhetischen Qual­itäten des Bösen hervorzuheben, da sich auch bei der Betrachtung des bösen Gegenstands das Gefühl der Erhabenheit über den Schrecken oder auch der Reiz des Erschreckens einstellen könne. Eben diese Qualitäten seien auf der inhaltlichen Ebene nicht zu finden, d.h. allein die provokante Beschreibung eines bösen Inhalts könne nicht die eigentümliche Faszinationskraft des Bösen erklären. Vielmehr sei der Ursprung des Gefallens am Bösen im Reiz der Stimmung, der Atmo­sphäre zu lokalisieren; es handele sich um

die Herstellung einer Atmosphäre, einer Stimmung des Unerklärbaren, des außerhalb sozialer Koordinaten Seienden. Die Herstellung des Bösen qua Phantasie des Unendlich-Vagen. Das ist unser eigentliches Thema: die mögliche Beteiligung der künstlerischen Phantasie am Bösen, nicht bloß das nicht leugbare Faktum böser Inhalte in der Literatur.6

Es geht also um die Schaffung eines – wie Bohrer es mit Rekurs auf Kierkegaard formu­liert – Zustands »radikalästhetischer Stimmung«,7 in dem moralisch-ethische Werte abwesend sind und das Böse allein durch seine schiere Präsenz die Phantasie vereinnahmt. Dies veranschaulicht er anhand einer Passage aus E.A. Poes The Imp of the Perverse, die in besonderer Weise die präsentische Wirkmacht des Reizes am Bösen illustriere:

We stand upon the brink of a precipice. We peer into the abyss – we grow sick and dizzy. Our first impulse is to shrink from the danger. Unaccountably we remain. By slow degrees the sickness and dizziness and horror become merged in a cloud of unnamable feeling. By gradations, still more imperceptible, the cloud assumes shape, as did the vapour from the bottle out of which arose the genius in the Arabian Nights. But out of this our cloud upon the precipice’s edge, there grows into palpability a shape, far more terrible than any genius or any demon of a tale, and yet it is but a thought, although a fearful one, and one which chills the very marrow of our bones with the fierceness of the delight of its horror. It is merely the idea of what would be our sensations during the sweeping precipitancy of a fall from such a height. And this fall – this rushing annihilation – for the very reason that it involves that one most ghastly and loathsome of all the most ghastly and loathsome images of death and suffering which have ever presented themselves to our imagination – for this very cause we do now the most vividly desire it. 8

Die Leistung des Künstlers bestehe nun in der Generierung einer Stimmung, welche Resultat der Imagination sei. Die Literatur produziere dann ein ästhetisches Böses, wenn sie – wie in Poes Darlegung der Gedanke des Absturzes, »this rushing annihilation« – das eigentümlich lustvolle Gefühl der Entgrenzung ermöglicht, den Leser also in eben einen solchen Zustand zu versetzen vermag: Und es sei erst die Verfasstheit des Textes, die Sprechweise, die jenes ästhetische Böse kreiert, das jeglichen Zeitbezug sprenge und in seiner Plötzlichkeit jene Vorstellung des »Unendlich-Vagen« auslöse, die laut Bohrer charakte­ristisch für es sei. Halten wir also fest: Das ästhetisch Böse zeichnet sich durch das Vorherr­schen einer besonderen Stimmung, seine Momenthaftigkeit, die Absenz jeglicher ethischen Bezüge, die Möglichkeit der Bewusstseinsentgrenzung aus. Es handelt sich dabei nicht um einen Inhalt, der per se als »böse« zu bezeichnen wäre, sondern um eine Imagination, die erst durch ihre besondere semantische Organisation, d.h. ihre Ver­fasst­heit, generiert werde.9

Dieser Konzeption des Bösen liegt damit also ein Ästhetikbegriff zugrunde, der gemäß dem Prinzip der aisthesis, d.h. der sinnlichen »Wahrnehmung«, den Akzent auf die Erlebnisqualitäten, d.i. die Intensität und Plötzlichkeit, des Phänomens verlegt. Es wird damit die ästhetische Dimension betont, d.h. eine Lektüre befördert, die den Text zuvor­derst als Kunstwerk begreift, das außerhalb des lebenspraktischen Bezugs rezipiert wird. Damit trägt er der Auffassung von »Ästhetik [als] Theorie reiner Anschauung des ästhe­tischen Gegenstandes, der keiner Nützlichkeitsbeziehung, sondern in erster Linie um der Anschauung selbst willen gegeben ist«,10 Rechnung. Dabei vollzieht sich für den Leser, was Martin Seel in Bezug auf die Wahrnehmung des Naturschönen neben der korresponsiven und imaginativen als »kontemplative ästhetische Erfahrung« beschreibt: Der Wahrneh­mende distan­ziert sich im Moment der Kontemplation vom wahrge­nom­menen Gegenstand, der ihm nun­mehr ohne Referenz und (Zeit-)Bezug zur Außenwelt in all seiner ›Materia­li­tät‹ erscheint.11 Es wird also ein Effekt erzielt, den man mit Gumbrecht auch »präsentisch« nennen könnte.12

Das Böse ist also insofern als eine ästhetische Kategorie beschreibbar, als es im Kunstwerk der ästhetischen Erfahrung zugänglich gemacht wird. Und diese hat »eine reflexive Dimension, insofern sie uns mit möglichen Sichtweisen der Welt, mit Erleb­nis­weisen und Empfindungsqualitäten konfrontiert«.13 Doch damit sich ein solcher Präsenz­effekt einstellt, muss der wahrgenommene Gegenstand bzw. das rezipierte Werk von einer bestimmten Beschaffenheit sein. Konkret in Bezug auf den literarischen Text als Kunst­werk bedeutet dies: Es muss bestimmte Schreibweisen geben, Techniken der literari­schen Praxis – oder um mit Bohrer zu sprechen: »semantische Organisationen« von sprach­lichen Zeichen –, die das böse Sujet inkommensurabel machen. »Inkommen­surabel« insofern, als es nicht mehr als Komplementärkraft des Guten verstanden werden kann und so im Kontext des Gesamtwerks durch eine ethisch positivierende Interpretation aufhebbar wäre.

Mit Bohrers Theorie des Bösen als ästhetischer Kategorie wird der Fokus also auf die Darstellungsebene gelegt, was zunächst eine von ethischen Aspekten unvorbelastete Perspektive eröffnen soll. Dieser Versuch, das Böse aus einem ethisch-moralisch und meta­­physisch konstruierten Bezugssystem herauszulösen und im Rahmen der Ästhetik theore­tisch neu zu begründen, ist jedoch nicht ganz unproblematisch – strittig ist er vor allen Dingen aufgrund der Unbestimmtheit des von Bohrer entwickelten Begriffs.14 Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, inwiefern das Böse überhaupt als rein ästhetische Kategorie ohne ethischen Bezugsrahmen gedacht werden kann. So heißt es auch im Themenheft Das Böse als literarische Vorlage, hg. von Erich Dauenhauer: »Die Annahme eines referenzlosen Bösen ist allerdings mit erheblichen Schwierigkeiten belastet. Schon die Annahme selber setzt eine göttliche Perspektive voraus. Weiterhin widerspricht das Apriori aller real- und geistesgeschichtlichen Erfahrung. […] ohne Referenz ist auch kein ästhetisch Böses denkbar.«15 Selbst wenn der (kundige) Rezipient dem Werk mit dem Kant’schen »interesse­losen Wohlgefallen« begegnet, was impliziert, dass ein Bewusstsein über die ästhetische Differenz vorhanden ist, bleibt fraglich, inwiefern diese »göttliche Perspek­tive« tatsächlich eingenommen werden kann.

1.1.2Sabine Friedrich: Bohrer und Bataille revisited

Auch Sabine Friedrich1 unterzieht die Theorie Bohrers einer eingehenden Revision. In Ihrer Untersuchung zur Imagination des Bösen unternimmt sie den Versuch, die Theorie Bohrers mit der These der »dépense improductive« – der unproduktiven Verausgabung – George Batailles zu kombinieren bzw. auf Basis beider Theorien narrative »Model­lierungen der Transgression« bei Laclos, Sade und Flaubert aufzudecken. Bataille, der sich u.a. in seinem Aufsatz La Littérature et le mal gleichfalls mit der Schule des Bösen auseinandersetzt, setzt das Phänomen des Bösen in Bezug zur Transgression, welche er auch in seinen übrigen Schriften zum Gegenstand der Untersuchung erhebt.2 Das Konzept der Transgression ist mit einem kulturanthropologischen Ansatz zu beschreiben. Archa­ische Gesellschaften zeichnen sich durch die Ausbildung zweier Bereiche aus: einen produktiven Bereich der Arbeit, welcher – um sein Fortbestehen zu garantieren – mit Verboten belegt ist, sowie einen Bereich der nutzlosen Verausgabung, der rituellen »sinnlosen Energieverschwendung«, welcher der Trieb­eindämmung dient.3 In diesem Zusammenhang sind rituelle Opferungen beispielsweise als solche Verausgabungshandlungen zu verstehen, da sie die Lust an der Gewalt, die normalerweise aus dem rationalen Bereich der Produktivität ausgegrenzt wird, in momentaner Aufhe­bung4 des Tabus kanalisieren und in der Überschreitung ekstatisch als das Heilige erfahr­bar machen.5

Im Christentum ist der Begriff des Heiligen jedoch nicht länger an den Moment der Ekstase, der Lust und der Gewalt gekoppelt. Der Bereich der Sexualität, der für Bataille jedoch unauflösbar mit der Erfahrung des Heiligen verbunden ist, wird vollständig ausgegrenzt, die Transgression wird nur noch als »Sünde« begriffen. Besonders proble­matisch wird die Erfahrung der Transgression dann in der Moderne mit dem Tod Gottes, denn die Überschreitung setzt schließlich das Anerkennen einer metaphysischen Kraft voraus; die Sünde kann nicht mehr Sünde sein, wenn sie sich nicht auf etwas Göttliches bezieht: »Die Transgression öffnet sich in die Leere, die der Tod Gottes hinterlassen hat«.6 Das Transgressive manifestiert sich nunmehr im Heterogenen:7 Damit meint Bataille vornehmlich die »›niedere[n]‹ Phänomene, die von der homogenen – bürgerlichen – Welt als ekelerregend und anormal ausgegrenzt werden«.8 Damit lässt sich nun der Bogen zum Bösen schlagen, welches per definitionem auch die abgründigen, tabuisierten, als krankhaft und moralisch verwerflich stigmatisierten Gegenstände bezeichnet. Für Bataille markiert das Böse jedoch – neben der Erotik – einen Bereich der Überschreitung. Es agiert, wie er in La Littérature et le mal anhand der Werke Sades veranschaulicht, als »Entfesselung der Leidenschaften« (»déchaînement des passions«)9 und somit als das Andere der Vernunft, als Kraft, die vorherrschende Diskurse zerlegen und revoltieren kann, indem es präexistente rationalistische Diskurse (das Homogene) aufgreift und gleichzeitig zersetzt. Darin besteht laut Friedrich auch der Ertrag der Theorie der Transgression für eine Konzeption des Bösen, wie es sich in der Ecole du mal manifestiert:

Durch die transgressive Dynamik werden die zugrundeliegenden Begriffe entsub­stantialisiert und ihre Scheinhaftigkeit bloßgelegt. Das impliziert jedoch zugleich, daß sich das transgressive Böse nur auf der Kehrseite derjenigen Diskurse entfalten kann, deren Grenzen es zugleich sprengt. Die Transgression entfaltet sich in Form der Dekonstruktion, und aus der Dekonstitution tradierter Diskurse konstituiert sich ein ambivalentes, substitutives Böses.10

Friedrich zufolge bietet Bataille damit jedoch nur ein Sprungbrett, um auch die ästhetische Dimension des Bösen beschreibbar zu machen, an der es Bohrer gelegen war (ohne dabei jedoch – wie bereits hervorgehoben wurde – konkrete Ansätze zu liefern, wie sich dieses ästhetische Böse genau formiert). Der Berührungspunkt beider Theorien liegt im Moment der Ekstase, die bei Bohrer jedoch als Intensität bzw. imaginative Entgrenzung gedacht wird. Während Bataille also die Ästhetik des Bösen größtenteils ausklammert – dabei jedoch einen inhaltlichen Ansatz zur Erfassung des Phänomens des Bösen bietet –, »lehnt Bohrer sozialhistorische oder funktionshistorische Erklärungen literarischer Konstrukte grundsätz­lich ab, weil diese dadurch nicht als autonome ästhetische Akte verstanden würden«.11

Friedrich sucht nun, einen »Mittelweg« einzuschlagen, indem sie ihre Textanalysen dreischrittig ausrichtet: Zunächst geht es ihr um eine inhaltliche Analyse des Bösen auf der histoire-Ebene, d.h. sie sucht, das im Text repräsentierte Konzept des Bösen zu klassi­fizieren, z.B. als Profanation oder Sünde, und seine strukturelle Bedeutung für den Gesamthand­lungsverlauf herauszuarbeiten. Im Zuge der Betrachtung der histoire-Ebene soll zudem Bohrers Theorie insofern fruchtbar gemacht werden, als die Semantiken des Bösen im Text identifiziert werden. In einem zweiten Schritt gelte es nun, die Diskurs­ebene einer Untersuchung zu unterziehen, d.h. das Augenmerk liege nun auf der Ebene der Vertextungs­strategien. Die »Figurationen des Bösen«, die sich inhaltlich beschreiben lassen, unterschei­det sie hier deutlich von einer »transgressiven Bewegung«, »die sich nun nicht mehr auf ein diskursiv bestimmbares Böses als Objekt der Darstellung bezieht, sondern die durch die spezifischen ästhetischen Inszenierungsverfahren die Kehrseite, die Prämissen bzw. die blinden Stellen des Diskurses, welcher der Figuration des Bösen zugrunde liegt, aufdeckt«.12 Das, was also zunächst mithilfe tradierter Diskurse beschreib­bar ist, wird in seiner defi­gurativen Potenz aufgedeckt, wodurch sich eine neue Form des Bösen konstituiert, ein ästhetisches Böses, welches wie das Heterogene Batailles Frag­mente bestehender Diskurse rekonfiguriert.

Mit ihrem Beitrag verleiht Friedrich Bohrers Theorie des Bösen als ästhetische Kategorie ein deutlich festeres Fundament, indem sie sie mit Bataille und der Diskurs­analyse in Verbindung bringt. Demgemäß ist das Böse bei Friedrich vor allen Dingen ein aggressives Konstrukt, das subversiv bestehende Diskurse unterläuft und damit vielleicht dem Konzept der Literatur als Gegendiskurs des frühen Foucault nahekommt. Die Methodik, die sie zur Analyse eines ästhetischen Bösen entwickelt, revidiert überdies Bohrers Theorie insofern, als das böse Sujet hier miteinbezogen wird – was eine Notwen­digkeit zu sein scheint. Sie verweist auf die Ambiguität des Begriffes der »Ästhetik des Bösen«, der per se schon zweierlei impliziert: Geht es um die Ästhetisierung des Bösen oder ist die Ästhetik selbst böse? So argumentiert sie bezüglich der Schule des Bösen: »Einerseits wird immer wieder betont, daß es nicht um die dargestellte Thematik des Bösen geht, sondern um den Status der Fiktion; andererseits aber ist für den Kanon der Ecole du mal doch zunächst ein inhaltliches Kriterium entscheidend. Laclos, Sade und Flaubert werden dieser Tradition zugerechnet, weil sie etwas Böses darstellen.«13

1.1.3Die Ästhetik des Bösen nach Peter-André Alt: Wiederholung, Transgression und Paradoxie

Die Unmöglichkeit, die Ästhetik des Bösen als autonome, von moralisch-ethischen Referenzen freigestellte Kategorie zu denken, betont auch Peter-André Alt. Hier verortet Alt auch die Problematik des Bohrer’schen Ansatzes: Wie kann ein (literarisches) Phänomen – das Böse – überhaupt als solches wahrgenommen werden, wenn es, um in seiner Evidenz zum Tragen zu kommen, der Überschreitung eines moralisch-ethischen Bezugs bedarf?

Anders als oft nahegelegt, stellt die Ästhetik des Bösen keine Autonomieästhetik dar. Die Akte der Entgrenzung, die sie produziert, sind nur dort wahrnehmbar, wo die Grenze, die sie überschreiten, bewußt gehalten wird. Auch der böse Text sieht sich, so scheint es, durch das moralische System beherrscht, das er negiert.1

Alt verweist – wie die Mehrheit von Bohrers Kritikern – darauf, dass ein solcher Ansatz, der die Ästhetik und den Autonomieanspruch absolut setze, die Bedeutung des Rezeptionsaktes, der auch Reflexionen moralischer Natur involviert, verkenne; es gelte, »die Autonomie, die das Böse im Prozeß der literarischen Imagination und ihrer Model­lierung durch die Fiktion gewinnt, von der moralischen Prägung, die in der ästhe­tischen Erfahrung mitwirkt«2, zu unterscheiden. Demgemäß sucht Alt, dies in seiner Untersu­chung der Ästhetik des Bösen insofern zu berücksichtigen, als er voraussetzt, dass in der ästhetischen Wirkung zuallererst ein »herausfordernder, regelwidriger Grundzug durch die Verletzung moralischer Normen«3 zu Tage tritt, d.h. die ästhetische Wirkung des Bösen beruht auf der Alteritäts­erfahrung des vermittelten Gegenstands bzw. seiner Fremd­heit sowohl als das kulturell vermittelte »Andere«4 als auch das a-historische, »objektiv« fremdartige Böse, das sich im Text ästhetisch als »Primitivismus, Gewalt, Barbarei, Terrorismus«5 modelliert. Die besondere Leistung der Literatur seit dem 18. Jahrhundert liege aber nun besonders im Spiel von Alterität und Identität bzw. in der Familiarisierung eines primär als fremdartig empfundenen Bösen.6 Und eben dies sei die Grundlage der eigentümlichen Wirkung des Bösen, die zwischen Andersartigkeit und Intimität, zwischen Abstoßung und Anziehung oszilliere. Strukturelle Formprinzipien, in denen sich die Alterität des Bösen textuell model­lieren lasse, seien Alt zufolge wiederum die »Muster[n] der Paradoxie, der Zweideutigkeit und Wiederholung, des Ex­zesses und der Grenzver­letzung«7.

Dass es sich dabei um grundlegende Strukturmuster handelt, die das Böse im Text formal konstituieren, sucht er mittels einer Analyse paradigmatischer literarischer Texte zu veran­schau­lichen. So sei der Roman Justine, ou les Malheurs de la vertu (1791) des Marquis de Sade ein Beispiel dafür, wie sich das Strukturprinzip der Wiederholung als grundlegend für die Imagination des Bösen erweise. Das Motiv der verfolgten Unschuld dient in diesem Werk der Pervertierung sämtlicher gültiger Moralcodes: Die mit vierzehn Jahren verwaiste Justine wird ein ums andere Mal zum Opfer von Misshandlung, Folter und Demütigung, ohne dass sie sich dabei durch das Festhalten an der Tugend jemals aus dem brutalen Kreislauf der ihr widerfahrenden Grausamkeiten befreien könnte. In der Welt, die hier gezeigt wird, siegt allein das Laster: Während ihre Peiniger sowie ihre tugendlose Schwester Juliette (deren Geschichte in Histoire de Juliette, ou les Prospérités du vice, 1796 erzählt wird) trotz (oder gerade wegen) ihrer ruchlosen Grausamkeiten sozial aufsteigen und prosperieren, wird Justine am Ende vom Blitz erschlagen und die Tugend damit endgültig als vergeblich abgestraft.8 Die Unausweichlichkeit des Bösen, der natur­hafte Trieb zum Verbrechen, die die Basis der Sade’schen Philosophie bilden, fänden nun ihre Entsprechung in der narrativen Organisation des Werkes:

Dem Spiel der ewigen Reproduktion [des Bösen] gleicht das ästhetische Prinzip der Erzählung, das die Protagonistin in identischen Situationen der moralischen Gefährdung zeigt. Monoton sind nicht nur die Erfahrungen, die Sades Heldin durchläuft; monoton ist auch die Sprache, die Orgien, Vergewaltigungen, Folte­rungen und Mordtaten mit durchgehender Nüchternheit und Kälte schildert.9

Alt betont hier, es sei eben nicht die Geste der Überschreitung,10 die bei Sade die Erzählung bestimme, sondern »die serielle Logik automatisierter Wiederholung«.11 Eine Beobachtung, die auch Sabine Friedrich macht, obgleich sie mit dem Transgressionsmodell Batailles arbeitet.12 Damit wird die Wiederholungsstruktur als essentielles Formkriterium des Bösen im literarischen Text etabliert, wie Alt auch an weiteren Werken (Blake, Bar­lach, Sartre, Mann, Mirbeau, Süßkind, Huysmans, Sacher-Masoch, Wilde) nachzuweisen sucht.13 Erst durch die narrative Reproduktion des Ereignisses, die Unendlichkeit und Unausweichlich­keit sugge­rierende Repetitio wird der Gegenstand wahrhaft »böse«. Auf die Bedeutsamkeit dieser Feststellung wird in den folgenden Kapiteln noch detaillierter einzugehen sein.

Neben die Wiederholungsstruktur treten darüber hinaus die Formen der Paradoxie und der Transgression als konstitutive Grundfiguren des Bösen. Erstere ließe sich besonders an Goethes Mephisto veranschaulichen, der als Exemplum des Heterogenen (nicht im Bataille’schen Sinne), des unsteten, permanent im Wandel begriffenen Nicht-Greifbaren das Böse als Paradoxie erfahrbar macht. Mephisto könne sich nur durch widersprüchliche Begrifflichkeiten und Bestimmungen definieren, ohne dabei jemals eine konkrete Gestalt zu gewinnen (und dies sowohl auf begrifflich-konzeptueller Ebene als Vertreter des Prin­zips des »malum« sowie auf rein textueller Ebene, insofern als Mephisto wortwörtlich die Gestalt wechselt).14 Damit wird das durch Mephisto inkarnierte Prinzip des Bösen weniger in dualistischer Abhängigkeit zum Guten, oder auch ex negativo gedacht, sondern vielmehr als irrationale Kraft, die die Regeln der Logik und traditionelle diskursive Bestimmungen unterläuft.15 Anders als die ›konventionelle‹ Allegorie des Teufels (und damit der Sünde) gewinne Goethes Mephisto eine neue subversive Potentialität, die sich in der Figur der Paradoxie modelliert: »Die ästhetische Erfahrung des Bösen vermittelt sich über die Dekonstruktion jeglicher Kohärenz im Entwurf einer Multipersonalität, welche die paradoxe Beschaffenheit des Höllenboten als Spielart seiner auf neue Art bedrohlichen Ubiquität ausweist«.16

Das dritte Grundmodell, das Alt vorschlägt, ist schließlich die Transgression, die Überschreitungsgeste. Wie auch Bohrer sich schon auf Edgar Allan Poe berief, verweist er im Zusammenhang damit auf dessen Erzählung The Black Cat (1843), welche die Trans­gres­sionsbewegung exemplarisch veranschauliche. In der Retrospektive erläutert ein verur­teilter Krimineller kurz vor seiner Hinrichtung seinen Werdegang vom vormals verant­wortungsbewussten Ehemann und liebevollen Tierliebhaber zum kaltblütigen, grau­samen Mörder. Die Ich-Perspektive gestattet somit einen beun­ruhigenden Blick in die Tiefen der Verbrecherpsyche bzw. in die Genese des Verbrecherbewusstseins, welche sich in einer kontinu­ierlichen Überschreitungsbewegung vollzieht und so mit dem novel­listischen Grund­muster der dramatischen Zuspitzung korrespondiert.17 Der anfangs noch sittsame Protagonist verfällt dem Alkohol und verliert im Zustand der Trunkenheit zunehmend die Beherrschung – bis er eines Tages seinen Lieblingskater Pluto zu quälen beginnt. Es treibt ihn dabei eine dem Erzähler zufolge primitive, menschliche Kraft (»one of the primitive impulses of the human heart«) an, der Geist der Perversität (»spirit of perverseness«).18 Bewegt von diesem Geist, Böses zu tun, bringt er den Kater schließlich kaltblütig (»in cold blood«)19 um, woraufhin kurze Zeit später ein Kater auftaucht, der bis auf einen kleinen hellen Fleck am Hals dem toten Kater bis zum Verwechseln ähnlich sieht. Die anfängliche Zuneigung, die er dem Tier entgegenbringt, wandelt sich jedoch schnell in Hass und in die Unmöglichkeit, die mahnende Präsenz des Katers ertragen zu können. Durch die perma­nente Anwesenheit des Tieres wortwörtlich in den Wahnsinn (»madness«) getrieben, er­greift der Protagonist schließlich eine Axt, um dem Kater den Garaus zu machen, doch wirft sich seine Frau schützend dazwischen und wird somit zum Opfer des rasenden Erzählers, der ihr besessen von einer »rage more than demoniacal« den tödlichen Axthieb verabreicht.20 Sofortig setzt er alles daran, die Leiche seiner Frau zu verstecken und beglückwünscht sich selbst ob seiner exzellenten Idee, sie im Keller des eigenen Hauses einzumauern. Zwar leicht irritiert angesichts des Verschwindens des Katers, der seit dem Mord an seiner Frau nicht mehr gesehen ward, doch selbstsicher aufgrund seiner kriminellen Gewitztheit, tritt der Erzähler auch dann noch selbstbewusst auf, als die Polizei unangekündigt sein Haus zu durchsuchen beginnt. Zunächst scheint das ›Grab‹ im Gemäuer übersehen zu werden, doch werden die Anwesenden bald eines klagenden Lautes aus der Kellerwand gewahr. Man macht sich unverzüglich daran, die Wand aufzubrechen und schließlich wird so die Leiche mitsamt dem Kater, den der Erzähler versehentlich mit eingemauert hatte, gefunden.

Wie aus der Nacherzählung der Kurzgeschichte ersichtlich wird, vollzieht sich die Bewegung des Bösen in einer graduellen Transgressionsbewegung: Folter des einstmals geliebten Katers Pluto, Mord an eben jenem und schließlich Mord an der Ehefrau. Und diese Transgression sei notwendigerweise an einen moralischen Normhorizont gebunden,21 da jede Überschreitung einer Grenze bedarf, um überhaupt als solche wahrgenommen zu werden. Diese Limitierungen, meint Alt zudem, scheinen in The Black Cat