Schockmomente - Harold James - E-Book

Schockmomente E-Book

Harold James

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Beschreibung

Harold James' neues Buch ist eine Geschichte der modernen Weltwirtschaft, die die großen wirtschaftlichen (und im Gefolge politischen) Krisen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute miteinander in Beziehung setzt. Von den Hungersnöten ab 1840 über die Hyperinflation 1923, die Ölkrise der 1970er-Jahre, die Finanzkrise 2008/09 bis zur Coronakrise lässt sich, so James, beobachten, wie Versorgungsengpässe und steigende Preise politische Systeme wie Unternehmen zum Besseren verändern oder hinwegfegen. Daraus ergeben sich Mechanismen, die all diese Krisen prägen und in Zukunft zur Überwindung neuer Rückschläge beitragen können. So entsteht eine fulminante Darstellung der Beziehungen von modernem Staat und Wirtschaft und den sich wandelnden Vorstellungen ihres Miteinanders. Und eine Einbettung der aufgrund von Corona zu beobachtenden globalen Umwälzungen in eine sehr viel längere Geschichte der Globalisierung. 

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Harold James

SCHOCKMOMENTE

Harold James

SCHOCKMOMENTE

Eine Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung 1850 bis heute

Aus dem Englischen von Andreas G. Förster und Sigrid Schmid

Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: Weltwirtschaftskrise in Australien 1929–32. Menschenmenge

vor der Bank von New South Wales.

Bildnachweis: akg-images

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

ISBN Print: 978-3-451-39325-9

ISBN E-Book (E-Pub): 978-3-451-82195-0

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-82834-8

Inhalt

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Danksagung

Einleitung: Preise gestalten Globalisierung

Modernes Wirtschaftswachstum

Gedanken über Zusammenhänge

Nachfrage und Angebot

Aussichten

1. Die große Hungersnot und der große Aufstand

Marx, die »Krisenhefte« und die Globalisierung

2. Krach an den Grenzen

Jevons’ Suche nach Wellen und Mustern

3. Der Erste Weltkrieg und die Große Inflation

Mangelwirtschaft

Kriegskosten

Inflation und Hyperinflation

Der überforderte Ökonom: Karl Helfferich

4. Die Weltwirtschaftskrise

Globalisierte Euphorie

Finanzielle Spannungen

Internationale Rettungsmaßnahmen?

Der Magier: Keynes

Eine Globalisierungspause

5. Die »große Inflation« der 1970er-Jahre

Wachstum und Produktivität

Die Überwindung der Inflation

6. Die »große Rezession« von 2008

Multilaterale Reaktionen

Geld- und Währungspolitik

Neuer Wirtschaftsnationalismus

Bernankes Heilmittel

7. Der große Lockdown: 2020–2021

Der Zusammenhang von Krankheit und Wirtschaft

Ungleichheiten

Steigerung von Kompetenz und Kontrolle

Eine Geschichte von zwei Analysemethoden

Schlusswort: Die nächste große Globalisierung

Anhang

Literatur

Anmerkungen

Über den Autor

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abb. E.1: Anteil der globalen Exporte am Welt-BIP (Prozent)

Quelle: Luis Catão und Maurice Obstfeld, Introduction, in: Luis Catão und Maurice Obstfeld (Hg.), Meeting Globalization’s Challenges. Policies to Make Trade Work for All, Princeton: Princeton University Press 2019.

Abb. 1.1: Der Weizenpreis im Vereinigten Königreich (UK), 1845–1850

Quelle: Global Financial Data

Abb. 2.1: Die allgemeine Inflation/Deflation in den 1870ern

Quelle: Global Finance Data

Abb. 2.2: Anzahl der börsennotierten Unternehmen, 1866–1880

Quelle: Global Finance Data

Abb. 2.3: Aktienkurse in Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den USA, 1871–1880

Quelle: Global Finance Data

Abb. 3.1: Staatsverschuldung als Anteil des BIP 1912–1931

Quelle: IWF HPDD (Historical Public Debt Database)

Abb. 4.1: Aktienkursindizes in Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten 1925 bis 1934

Quelle: Global Financial Data

Abb. 4.2: Jährliche Wachstumsrate der totalen Faktorproduktivität in den Vereinigten Staaten für die vorangegangenen zehn Jahre 1900–2012

Quelle: Robert J. Gordon, The Turtle’s Progress: Secular Stagnation Meets the Headwinds, in: Coen Teulings and Richard Baldwin (Hg.), Secular Stagnation: Facts, Causes and Cures, London: CEPR 2014, S. 53.

Abb. 5.1: Anteil der Energieimporte 1960–2014, in Prozent

Quelle: World Bank Data

Abb. 5.2: Relativer Anstieg der Verbraucherpreisindizes 1960–2020

Quelle: World Bank Data

Abb. 5.3: Aktienindizes 1969–1980

Quelle: Global Finance Data

Quelle: St. Louis Federal Reserve FRED Daten

Abb. 6.2: Wertpapierkäufe der Zentralbanken

Quelle: Yardeni Research Inc.

Abb. 6.3: Börsenindizes 2006–2020

Quelle: Global Financial Data

Abb. 7.1: Stahlpreis 2002–2021

Quelle: FRED Fiscal Monitor Database April 2021

Abb. 7.2: Reale Rendite der zehnjährigen US-Staatsanleihen

Quelle: berechnet mit Daten von Global Financial Data

Tab. 6.1: »Sudoku für Ökonomen«, Daten 2008

Mervyn King, Rede an der Universität Exeter, 19. Januar 2010

Danksagung

Mehr als dreißig Jahre lang habe ich mir schon Gedanken über die Globalisierung und den damit verbundenen Unmut gemacht. Dabei faszinierten mich stets sowohl historische Rückschläge wie die Weltwirtschaftskrise als auch neue Phasen enger Vernetzung und des institutionalisierten Multilateralismus. Doch ohne die Covid-19-Pandemie und die dramatischen Veränderungen, die sie für uns alle auch geopolitisch mit sich brachte, hätte es dieses Buch wohl nie gegeben. Von Anfang an wies die Corona-Krise offenbar Parallelen zu früheren Momenten – zu den Hungersnöten und Revolutionen Mitte des 19. Jahrhunderts sowie zu den Angebotsschocks der 1970er – auf, in deren Zuge man die Globalisierung neu interpretiert und ausgestaltet hat.

Meine Analysen erschienen zunächst in Form zweier Artikel: der eine eher akademisch unter dem Titel »Seven Transformative Crises from European Revolution to Corona: Globalization and State Capacity« in der Financial History Review 27, Nr. 2 (2020), der andere für die breitere Öffentlichkeit als »Globalization’s Coming Golden Age: Why Crisis Ends in Connection« in der Foreign Affairs 100, Nr. 3 (Mai/Juni 2021). Danken muss und möchte ich an dieser Stelle den Organisatoren verschiedener Workshops und Konferenzen für die Gelegenheit, diverse Aspekte der hier dargelegten Argumente vorzustellen, nämlich: David Bell vom Davis Center for Historical Studies und Markus Brunnermeier vom Bendheim Center for Finance in Princeton; Giancarlo Corsetti vom Institute for New Economic Thinking (INET) und der Cambridge University; Piroska Nagy und Erik Berglof vom LSE Institute for Global Affairs; Wolfgang Quaisser von der Akademie für Politische Bildung; Piotr Pysz von der Konrad Adenauer Stiftung Warschau; Liz Mohn, Wolfgang Schüssel und Joerg Habich von der Bertelsmann Stiftung Trilogue; Raphael Gross und Nike Thum vom Deutschen Historischen Museum in Berlin. Andrew Koger hat mit mir in Cambridge auf einer Tagung zum 100-jährigen Jubiläum von Keynes’ Krieg und Frieden die Ergebnisse seiner Abschlussarbeit an der Princeton University vorgestellt. Sehr hilfreich waren auch die Hinweise von Michael Bordo und Luís António Vinhas Catão sowie die ausführlichen Gespräche mit Markus Brunnermeier und Jean-Pierre Landau.

Stets standen mir Seth Ditchik von der Yale University Press und Patrick Oelze vom Herder Verlag zur Seite. Auch möchte ich mich bei den hervorragenden Übersetzern des Textes, Andreas G. Förster und Sigrid Schmid, bedanken. Als Forschungsassistenten unterstützten mich, dank der Finanzierung vom Princeton University’s Anonymous Fund, Kevin Polanish und Harril Saunders. Unschätzbare Hilfe bei den Abbildungen leisteten Kelly Lin-Kremer und Duy Trinh. Meine ganze Anerkennung und tiefe Dankbarkeit gebührt nicht zuletzt den Impulsen von Marzenna James sowie unseren Kindern Maximilian, Marie Louise und Montagu James.

Einleitung: Preise gestalten Globalisierung

Unsere vernetzte Welt gerät aktuell ins Wanken. Die Nahrungsmittelknappheit führt zu Hungersnöten, Infektionskrankheiten breiten sich aufgrund der Unterernährung wieder aus, Preise steigen, man klagt über Inflation, soziale Unruhen flammen auf, politische Systeme werden in Zweifel gezogen, bröckeln und zerfallen. Die Aufmerksamkeit der Welt konzentriert sich auf geografische Brennpunkte, die in geopolitischen Überlegungen eine überragende Rolle spielen: das östliche Mittelmeer und die Dardanellen. Die Meerenge zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer ist von globaler Bedeutung, ein schmaler Kanal, der die Kornkammern der autokratisch kontrollierten osteuropäisch-westasiatischen Regionen mit den hungrigen bzw. hungernden Verbrauchern verbindet. Dieses Schreckszenario hat sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten regelmäßig wiederholt: Ende der 1840er Jahre, im Ersten Weltkrieg und natürlich jetzt im Jahr 2022. In den 1970er-Jahren rückte der Nahe Osten in den Mittelpunkt einer intensiven globalen Debatte über Energiesicherheit. Die Traumata, die durch eine unzureichende Versorgung mit Nahrungsmitteln oder Energie entstehen, die Befürchtung, dass sie von feindlichen, bösartigen oder einfach völlig andersartigen Mächten kontrolliert werden, die Herausforderungen, die die Koordinierung einer wirksamen Innen- und Außenpolitik für die Regierungen mit sich bringt – dies sind die grundlegenden Triebkräfte, die die Welt umgestalten. Sie erhöhen die Bereitschaft der Menschen, sich vorzustellen, wie menschlicher Erfindungsreichtum und neue Techniken eingesetzt werden können, um Probleme zu lösen und Völker in der ganzen Welt zu verbinden. Krisen, die auf den ersten Blick nur verheerend wirken und Tod und Zerstörung bringen, erweisen sich letztlich als transformativ. Das vorliegende Buch umreißt den Ablauf dieses Transformationsprozesses und unser Prozessverständnis: oder besser gesagt, wie er das Denken revolutioniert und die Weichen der Globalisierung neu stellt.

Was ist die Triebkraft der Globalisierung, für die zunehmend engere wirtschaftliche und politische Vernetzung der Welt? Meist begreift man das Phänomen Globalisierung als zwangsläufigen und eigendynamischen Prozess, als spezifisches Merkmal zeitgenössischer Zivilisation und Konsequenz des technologischen Wandels im Zuge des sogenannten Modernen Wirtschaftswachstums (popularisiert wurde der Begriff Modern Economic Growth vom späteren Wirtschaftsnobelpreisträger Simon Kuznets).1 Doch in Wirklichkeit ist diese Vernetzung eine unstete und erratische Entwicklung, ein Ausdruck kollektiven Verhaltens gegenüber Störungen und Krisen. In solchen Momenten orientieren sich die Reaktionen an Signalen, die in Form von Preisen (oder einer angestrebten Preissenkung) zustande kommen. Deren Jo-Jo-Bewegungen können Verwirrung und Verunsicherung stiften, in jedem Fall führen sie jedoch zu neuen Gedankengängen und auch zu neuen Lösungen – die entweder produktiv oder gefährlich sind.

Erschütterungen nehmen ihren Ausgang oft in kleinen, zunächst unscheinbaren Vorfällen. Etwa im Auftreten des Pilzes Phytophthora infestans in Irland, Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Ausbreitung eines neuen Coronavirus in Wuhan Ende 2019 oder auch im Attentat auf einen österreichischen Erzherzog im Jahre 1914. Die Ökonomen Ian Goldin und Mike Mariathasan beschreiben dieses Phänomen als »Schmetterlingsdefekt« der Globalisierung.2 Die Eskalation der auf die genannten Beispiele folgenden Krisen mahnt uns, auch kleine Ereignisse zu beachten und zu begreifen. Sie veranschaulichen zudem, wie anspruchsvoll es ist, einen geeigneten Verständnisrahmen zu umreißen.

Im vorliegenden Buch wird dargelegt, dass neue Institutionen (Marktinnovationen wie auch erstarkende Staaten mit ihrem Kapazitätszuwachs) gemeinhin Reaktionen auf eine bestimmte Art der Erschütterung zur Grundlage haben: Sie sind Reaktionen auf Angebotskrisen. Jene Reaktionen verändern die Wahrnehmung gesellschaftlicher Wechselwirkungen – oder auch des Wirtschaftslebens. In solchen Krisenmomenten werden grundlegende Güter wie Lebensmittel oder Treibstoff knapp, die Preise steigen und man benötigt neue Produktions- und Distributionskanäle.

Eine wichtige Frage für die Politik lautet, wie man auf dramatische Preisbewegungen reagieren soll. Das Auf und Ab führt zu Umwälzungen in den Bereichen der Regierung und der Unternehmensorganisation. Manche Systeme sind allerdings so starr, dass die Effekte der Mangelwirtschaft sie gänzlich sprengen: Der glänzende ungarische Ökonom János Kornai legte überzeugend dar, wie die Verknappung sowie die damit einhergehende Hamsterei und Dysfunktionalität die (kommunistischen) Zentralverwaltungswirtschaften untergruben und schließlich zerstörten.3

Die Reaktion auf die Corona-Krise veranschaulicht das Dilemma, das dem Denken über die Richtung oder Linearität der Globalisierungsdynamik innewohnt: Zunächst schien es, als würde die Pandemie die Welt fragmentieren, den Multilateralismus ausschalten, die komplexen grenzübergreifenden Lieferketten zerfetzen und die Globalisierung rückgängig machen. Die Unterbrechung des normalen Handels drückte angesichts blockierter Lieferketten zunächst die Preise; als dann die Nachfrage nach Dienstleistungen von einer erhöhten Güternachfrage ersetzt wurde, traten Versorgungslücken auf und die Preise stiegen deutlich. Hier zeigte sich der Bullwhip- oder Peitscheneffekt.4 Die Länder versanken in Auseinandersetzungen um knappe Ressourcen und einige, insbesondere Russland, versuchten ihren Zugriff auf die Energie- und Lebensmittelversorgung auszunutzen. Dann störte der Krieg die Produktion noch stärker: Die Welterntemenge fällt 2022 geringer aus, Nahrungsmittellieferungen gehen zurück und es kommt zu beträchtlichen Engpässen.

Die großen Länder schienen seit 2020 schon den Rückzug anzutreten. China fokussierte weniger auf exportgestütztes Wachstum, sondern eher auf einen neuen Weg mit dem Binnenkonsum als Wirtschaftsmotor. Die Vereinigten Staaten besannen sich auf sich selbst (auch die neue Administration seit 2021 befürwortet zwar rhetorisch den Multilateralismus, behielt die Trump’schen Einfuhrzölle im Wesentlichen aber bei). Die Aggression Russlands richtet sich nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen die gesamte ökonomische und politische Weltordnung. Im Gegensatz dazu sind kleinere Länder für die Versorgung mit wichtigen Gütern wie Nahrungsmitteln, aber auch komplexen Maschinenbau- und Elektronikprodukten sowie medizinischen und pharmazeutischen Erzeugnissen weiterhin vom Welthandel abhängig.

Wie die historische Erfahrung lehrt, führen einige Globalisierungskrisen nicht zu weniger, sondern zu mehr Globalisierung: Sie setzen neue Energie für Kommunikation und Innovation frei. Eine Frage hängt somit wie ein Damoklesschwert über der aktuellen Politik – die Frage nach dem Effekt von Covid-19 und von Russlands Angriffskrieg auf die Globalisierung. Bereits seit der Weltfinanzkrise von 2007/2008 mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Globalisierung ins Gegenteil umschlagen oder in einen Zustand der Verlangsamung und Stagnation, einer »slobalization« übergehen dürfte. Vielfach glaubte man, die Globalisierung wirke sich hauptsächlich auf Löhne sowie Preise aus und erzeuge eine konstante Deflation, indem sie zahlreiche neue Arbeitskräfte in die Welterwerbsbevölkerung integriere und in den reichen Ländern die Tätigkeiten der traditionellen Arbeiterschaft entwerte. Es folgte eine populistische Wendung gegen Migration und Welthandel, die Staaten suchten die Finanzströme einzuschränken: Die Einwanderungsländer sorgten sich um Löhne und Arbeitsmärkte, während die Auswanderungsländer einen brain drain beklagten, der den betreffenden Gesellschaften und deren Steuersystemen kostenintensiv ausgebildete Individuen entziehe. In den Volkswirtschaften, die von starken Arbeitsplatzverlusten betroffen waren, erschien der Welthandel vielen als Nullsummenspiel, bei dem Importe die Existenzgrundlage zerstörten. Die Kapitalbewegungen wurden als potenziell unkontrollierbar, ja zerstörerisch verteufelt und die Politik reagierte mit Regulierungsvorhaben. Zwölf Jahre später stellte das Coronavirus als globale Gefahr eine weit größere Herausforderung für die Globalisierung dar. Viele populistische oder globalisierungskritische Politiker urteilten gleich, für Corona sei die Globalisierung verantwortlich.

Die Erkenntnis, dass Pandemien und der Klimawandel globale Gefahren darstellen, dürfte konzertierte Reaktionen hervorrufen. In Krisen erkennen viele, wie die Globalisierung zu steuern bzw. zu regulieren ist; Skeptiker hingegen verweisen gern auf eine oft komplexe Wirklichkeit. Corona veranlasste viele Menschen, zunächst ein nationales Eigeninteresse ins Auge zu fassen: America First. Natürlich blicken politische Entscheidungsträger auch über den Tellerrand, sie beobachten und vergleichen, was andere Länder tun und was man sich wohl abschauen kann. Die Länder stürzten sich sogleich in ein Wettrennen um den ersten Impfstoff, mit dem sie eine längerfristige wissenschaftlich-technologische Vormachtstellung sichern wollen: Der Impfstoffnationalismus ließ vor allem die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Russland und China klarer aneinandergeraten, führte aber auch in der Europäischen Union zu heftigem Streit. Die protektionistische Wende und der schärfere Wettbewerb zwischen den Staaten bildeten den Hintergrund für den erstmaligen aggressiv erpresserischen Einsatz von Energielieferungen sowie für Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022. Auch andere weltweite Herausforderungen befeuerten anfangs einen neuen Nationalismus und Protektionismus. Wie Corona kann auch der Klimawandel die Grundlage für neue strategische Vorteile bilden: Insbesondere die nördlichen Länder – allen voran Russland, aber auch Kanada und Norwegen – könnten von höheren Temperaturen und Schiffspassagen in der Arktis profitieren. Folglich zeigt sich im Nachgang zur Pandemie und in Reaktion auf den Krieg in der Ukraine die Geopolitik omnipräsent. Eine geopolitische Grundhaltung begrenzt die Fähigkeit zu konzertiertem Vorgehen, und die Globalisierung scheint folglich in die Defensive zu geraten, ja auf dem Rückzug zu sein.

Ist sie das? Wo liegt wohl die Haltelinie? Internationale Koordinierung, die gemeinschaftliche Zusammenarbeit der Regierungen, wird sicherlich schwieriger. Man muss sich also auf andere, privat erzeugte Dynamiken stützen, die die Welt zusammenhalten. Doch werden diese neuen Initiativen genügen, größeren Angebotsengpässen zu begegnen?

Modernes Wirtschaftswachstum

Globalisierung im ökonomischen Sinne ist der freie Fluss von Gütern, Arbeitskräften, Kapital und auch Ideen über nationale Grenzen hinweg. Solche Ströme reagieren hauptsächlich auf Informationen über Verknappung, die sich klassisch in Preissignalen ausdrücken. Die vormoderne Welt war regelmäßig mit schweren Angebotslücken geschlagen gewesen: Am bedrohlichsten und häufigsten war ein Nahrungsmittelmangel infolge von Wetterkapriolen oder anderen Naturereignissen, durchaus aber auch infolge von Verheerungen im Zuge menschlicher Auseinandersetzungen. Die Zukunft war ungewiss, und die Vorsorge gegen Knappheit erforderte Intelligenz oder übernatürlichen Beistand. So etwa Josef, der den Traum des Pharao von sieben schönen und fetten Kühen, die von sieben hässlichen und mageren Kühen aufgefressen werden, dahingehend deutet, dass in den Jahren des Überflusses Vorräte anzulegen seien, um die sieben Hungerjahre zu überstehen. Oder Moses, der sein Volk von den Fleischtöpfen Ägyptens fortführt und den darbenden Israeliten erklärt, Gott werde Brot vom Himmel regnen lassen.

Neu ist das Phänomen von Wanderungsbewegungen nicht, es gibt sogar archäologische Hinweise auf Verbindungen zwischen den östlichen und westlichen Teilen der eurasischen Landmasse bereits in der klassischen Antike.5 Im modernen Sinne aber entwickelte sich das Phänomen, mit zahlenmäßig sehr viel wesentlicheren Bewegungen, seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Und es spielt eine wesentliche Rolle in der theoretischen Beschreibung dessen, was man mitunter als Modernes Wirtschaftswachstum oder Modern Economic Growth (MEG) bezeichnet. Erstaunlicherweise fand der Begriff Wirtschaftswachstum (geschweige denn MEG) bis in die 1940er-Jahre hinein kaum Verwendung; quasi popularisiert wurde er erst als sozialwissenschaftliche Entsprechung einer »kybernetisch-systemischen Perspektive«, wie sie in den Naturwissenschaften mit der Konstruktion einer nuklearen Kettenreaktion zum Ausdruck kam. Damit wurde die Welt zu einer »Reihe von Objekten oder Systemen, die man modellieren, prognostizieren und manipulieren konnte«.6 Es kam zu logischen Wechsel- und Rückwirkungen, die ihrerseits jene Grenzen überschritten, die Staaten und Imperien voneinander schieden.

Der springende Punkt im neuen Blick auf die Ökonomie bestand darin, dass Kapital und Arbeit im Standardwachstumsmodell nun austauschbar waren: Die Produktion bestimmt sich durch eine Funktion, die Kapital- und Arbeitsanteile mit einem Koeffizienten technologischer Verbesserung kombiniert. In den 1950er-Jahren entwarfen Moses Abramovitz und Robert Solow Wachstumsmodelle, die später von John Kendrick untermauert wurden: Die Analysten wiesen für das 20. Jahrhundert einen bemerkenswerten Produktivitätsanstieg nach, den sie auf die technologische Innovation zurückführten.7 Diese Wachstumsmodelle wurden insbesondere durch Paul Romer weiterentwickelt und fassen die Technologie nun nicht mehr als äußerlichen Deus ex machina, der die Transformation der Menschheit hätte erklären können, sondern als endogenen Faktor im Wachstumsprozess. Einsatz und Adaption der Technologie gingen demnach auf »zielgerichtetes Handeln von Menschen [zurück], die auf Marktanreize reagierten«. Entscheidend für den Prozess war die Anzahl der interagierenden Menschen, und ein größerer Humankapitalbestand würde mehr Wachstum hervorbringen. Folglich trieb die Bestandssteigerung durch freien Welthandel den Wachstumsprozess weiter voran.8

Im 19. Jahrhundert erwuchs die grundsätzliche Triebkraft aus dem Vergleich der Renditen mobiler Faktoren (Arbeit und Kapital), aber auch des immobilen Faktors Boden. Kennzeichnend für die Globalisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war, dass Menschen (die Arbeitskräfte) sich dorthin bewegten, wo Arbeitskraft knapp, die Löhne entsprechend hoch und der Boden in Siedlungsgebieten billig war: Die größten Zuströme verzeichneten die Vereinigten Staaten, Kanada, Argentinien und Australien. Im Gegensatz dazu hatte Europa, insbesondere außerhalb Großbritanniens, teuren Boden und geringere Löhne. Und eine politisch äußerst einflussreiche Aristokratie wollte diesen Zustand erhalten. Die Massenbewegungen steigerten die Produktion (steigerten letztlich aber auch die Löhne in den Auswanderungsländern), sodass die relativen Lebenshaltungskosten sanken. Zudem erfolgte die Auswanderung aus ärmeren Ländern. Die Siedlungs- bzw. Einwanderungsgebiete waren auch von Kapitalknappheit betroffen, sie boten also höhere Kapitalrenditen – und das Kapital floss in großen Mengen zu, es steigerte die Produktion in den Anbaugrenzgebieten durch Investitionen in Infrastruktur, Bauwirtschaft und Ausrüstungsproduktion etc. Der überwiegende Teil des britischen Kapitalabflusses erfolgte in Richtung Nord- und Südamerika, Australasien und Russland.9 Ergebnis dieser Globalisierung war ein Zusammenwachsen, das seinerzeit aber im Wesentlichen auf die gemäßigten Klimazonen der Welt beschränkt blieb, die sich für eine Landwirtschaft nach europäischem Bilde eigneten. Die Technologie war nur begrenzt einsatzfähig, und insbesondere konnte sie nicht einfach in Weltteile transportiert werden, die nach westlichen Maßstäben eine große Bevölkerung, niedrige Löhne und einen geringen Bildungsstand aufwiesen. Vor diesem Hintergrund flossen Kapital und Arbeit regelmäßig nur gemeinsam zu, als Kombination befeuerten sie die Entwicklung – aber nicht überall auf der Welt.

Diese Frühphase der Globalisierung unterscheidet sich denn deutlich von ihrer heutigen Form, in der die Waren nun in komplexen weltumspannenden Lieferketten hergestellt werden und Informationstechnologie die Kommunikation erleichtert.10 Höhere Bildungsabschlüsse führten dazu, dass sich Technologien leichter durchsetzen konnten. Daher war der Globalisierungsprozess im ausgehenden 20. Jahrhundert geografisch breiter aufgestellt, da das Kapital oftmals in Gebiete mit geringen Arbeitskosten und einem Potenzial für wesentliche Produktivitätssteigerungen strömte. Doch auch zuletzt bestand ein vielfach beschriebenes Paradox: Das Kapital fließt nicht stets in arme Länder, durchaus fungieren auch reiche Länder (allen voran die USA und das UK) als relevante Kapitalimporteure.

Ein Kennzeichen des Wachstumsmodells ist die Grundannahme einer allgemeinen technischen Innovationsrate. Zwar lässt sich einwenden, die Entdeckung von Tatsachen sei kein planbarer Prozess, allerdings steigt die Wahrscheinlichkeit von Innovationen (langfristig auch in der Breite) mit dem zahlenmäßigen Zuwachs von Wissenschaftlern und Erfindern. Die wesentliche Schwierigkeit liegt in der technologischen Anwendungsreife: Real klaffte meist eine Lücke vieler Jahre zwischen einer potenziell transformativen Innovation und deren allgemein praktischem Einsatz. Bereits 1776 konstruierten Matthew Boulton und James Watt eine funktionsfähige Dampfmaschine, doch die erste britische Eisenbahn – auf der kurzen Strecke zwischen Stockton und Darlington – ging als Verbindung der Kohlegruben zur Nordsee erst 1825 in Betrieb; das erste Dampfschiff, die schaufelradbetriebene SS Great Western nach den Plänen von Isambard Kingdom Brunel, überquerte den Atlantik 1838. Es brauchte bis Mitte des 19. Jahrhunderts, bevor Eisenbahnen auf der ganzen Welt die Binnenräume erschlossen und Dampfschiffe weltweit Güter transportierten.

Bereits 1903 flogen Orville und Wilbur Wright in North Carolina erstmals mit einem Motorflugzeug, doch den Weg zum Massentransport ebnete das Düsenflugzeug erst in den 1960ern. Anilin wurde von Otto Unverdorben bereits 1826 isoliert, doch erst 1854 ermöglichte die von Antoine Béchamp entwickelte Reduktionsmethode die Massenproduktion von Farbstoffen; medizinische oder pharmazeutische Verwendungen ließen noch bis 1908 auf sich warten, als das synthetische Derivat namens Sulfanilamid in der Breite als Antibiotikum eingesetzt wurde. Einige andere medizinische Entdeckungen brauchten für ihre weltweite Verbreitung sogar noch mehr Zeit: Bereits 1796 entwickelte Edward Jenner die Praxis der Pockenschutzimpfung, doch erst 1977 waren die Pocken vollständig ausgerottet. Jenners Sohn und Frau sowie seine Schwestern starben allesamt an Tuberkulose, gegen die erst seit 1921 ein Impfstoff (Bacillus Calmette-Guérin, BCG) zur Verfügung steht.

Der lange Zeitraum zwischen Entwicklung und Einsatz einer Innovation kann sich durch neue politische Konstellationen verkürzen. So war das Containerschiff eine revolutionäre Triebfeder, es wurde in den 1950ern entwickelt, hatte aber erst in den 1970ern durchschlagenden Einfluss auf die Transportkosten und Transportpraxis – und zwar aufgrund von Veränderungen in der Frachtschiffregulierung und deren Wechselwirkungen mit den Reedern. Großflächige Störungen und insbesondere Kriege beschränkten den Welthandel immer wieder, befeuerten aber auch die intensive Suche nach raschen Lösungen, beispielsweise die Ammoniaksynthese sowohl für Sprengstoffe als auch für Düngemittel im Ersten Weltkrieg und die Entwicklung von Penicillin im Zweiten Weltkrieg. Es wäre also falsch anzunehmen, die Verbreitung von Technologie sei ein steter und gleichmäßiger Prozess. Vielmehr wird dieser Prozess klar von einer amtlichen Priorisierung bestimmter Produkte geprägt: Eisenbahnen, Dampfschiffe, Flugzeuge, Impfstoffe usw.

Was für die technologische Entwicklung gilt, gilt auch für finanzökonomische Innovationen. Das Theoretisieren neuer Ansätze, neuer Finanzinstrumente oder Organisationsformen entwickelt sich meist langsam, über längere Zeiträume hinweg; doch plötzlich zeigen Preissignale die Möglichkeit überdurchschnittlicher Gewinne an, und damit die Notwendigkeit einer neuen Theorie und radikalen Innovation.

Die Frage lässt sich auch allgemeiner betrachten. Die Globalisierung und das Moderne Wirtschaftswachstum bildeten einen Konnex, wobei globale Schranken im Austausch die Entwicklung regelmäßig verlangsamen und behindern. Wachstum verspricht Überfluss. Am Anfang von Henry James’ letztem Meisterwerk Die goldene Schale hören wir von der Geschichte eines Imperiums und dessen materiellen Erzeugnissen. James stellt die Vereinigten Staaten in eine Linie mit dem imperial raumgreifenden Großbritannien im 19. Jahrhundert und dem antiken Rom, er stellt uns einen römischen Fürsten vor, der in London einkaufen geht: »Der Fürst hatte sein London geliebt, wann immer es zu ihm gekommen war. Er gehörte zu jenen modernen Römern, die in der Stadt an der Themse ein Sinnbild von der Gültigkeit des römischen Staates erblicken, welches sie mehr überzeugt als alles, was sie am Tiber zurückgelassen haben. Die altüberlieferte Vorstellung von der Stadt, der die Welt zu Füßen liegt, hatte von jeher zu den Selbstverständlichkeiten seines Daseins gehört, und so erkannte er im heutigen London mehr als im zeitgenössischen Rom die Züge einer echten Metropole.« James’ Fürst sah sich hin und wieder veranlasst, »vor einem Schaufenster stehenzubleiben, in dem mit Edelsteinen besetzte Prunkstücke aus massivem Gold und Silber ebenso wie Hunderte zum Gebrauch und Mißbrauch bestimmte Dinge aus Leder, Stahl oder Messing bunt zusammengewürfelt lagen wie weiland die Beute aus den Raubzügen des Empire«.11

Doch die Gewalt der Verbundenheit betrifft nicht allein den Transport von Produkten: Die Menschen produzieren, mit der Globalisierung werden sie produktiver. Gleichsam erklärte Amazon-Chef Jeff Bezos in einem seiner Aktionärsbriefe: »Wenn Sie im Geschäft (eigentlich im Leben) erfolgreich sein wollen, müssen Sie mehr schaffen, als Sie konsumieren. Ihr Ziel sollte es sein, für jeden, mit dem Sie interagieren, einen Wert zu schaffen. Jedes Unternehmen, das keinen Wert für diejenigen schafft, mit denen es in Berührung kommt, ist – auch wenn es an der Oberfläche erfolgreich zu sein scheint – nicht lange auf dieser Welt. Es ist dabei, sie zu verlassen.«12 Würden alle mehr produzieren, als sie verbrauchen, gäbe es stets nur Überschüsse.

Zwischenmenschliches Handeln weckt auch Bedürfnisse und Wünsche, und die Globalisierung verspricht, sie zu erfüllen: den Mangelzustand zu beenden. Ebendieses Versprechen bereitet Henry James’ Fürst mit dem passenden Namen »Prince Amerigo« Kopfzerbrechen: Will jeder die eigenen Bedürfnisse oder Wünsche befriedigen, so führt das zu Verknappung und die Verknappung befördert einen weiteren, stärkeren Globalisierungsschub, um unerfüllte Bedürfnisse zu stillen.

Gedanken über Zusammenhänge

Zu den Dauerbrennern der Forschung zählt die Frage, inwieweit Ideen die Globalisierung gestaltet hätten. Oft ist zu hören (vereinfacht gesprochen), der Globalisierungsschub Mitte des 19. Jahrhunderts gehe auf mächtige, rhetorisch begabte Männer zurück. Diese hätten die Aussagen von Geistesgrößen wie Adam Smith und David Ricardo über den komparativen Kostenvorteil aufgegriffen, verständlich dargestellt und verbreitet. Schließlich lebte man im Napoleonischen Zeitalter, und eine Geschichtstheorie der »Großen Männer«, wie sie etwa ein hellsichtiger Thomas Carlyle propagierte, stand hoch im Kurs. Die Anti-Corn Law League, also die Liga zur Abschaffung der Getreidezölle unter Führung von Richard Cobden und John Bright erschien geradezu als Paradebeispiel, dass politisches Engagement hinter einem bestimmten Wirtschaftsgrundsatz, hinter Freihandel und Laissez-faire stehe. Im späten 20. Jahrhundert galten Milton Friedman und Friedrich Hayek als die Triebkräfte einer neuen neoliberalen Globalisierung. Ökonomen jedoch stehen solchen Thesen zum intellektuellen Einfluss von Ökonomen im Allgemeinen recht skeptisch gegenüber und bevorzugen interessenbasierte Erklärungen.13 Auch Historiker wenden sich gegen die Heldenerzählungen und betonen, der reformfreudige britische Premierminister Robert Peel habe im 19. Jahrhundert in einem vordemokratischen System agiert, musste sich allerdings zu durchaus unverhohlenen ökonomischen Interessen verhalten und in dem Konflikt zwischen Grundeigentümern und Landwirten einerseits, deren Einkommen von den Zöllen abhängig waren, und Arbeitgebern sowie Arbeitern andererseits, für die die Zölle Kosten darstellten, vermitteln.14

Der Ökonom George Stigler erkannte die Grenzen des intellektuellen Einflusses und klagte: »Warum wird der Ökonom, der seiner Gesellschaft Ratschläge gibt, so häufig und gefühlskalt ignoriert? Unablässig predigt er den Freihandel, wiewohl er auf diesen zuletzt seltener schwor, und doch nimmt der Protektionismus in den Vereinigten Staaten zu.« Stigler räsoniert denn auch: »Ich bin vielmehr der Überzeugung, hätte Cobden nur Jiddisch gesprochen und noch dazu gestottert, und wäre Peel ein engstirniger Idiot gewesen, so hätte sich England doch dem Getreidefreihandel zugewandt, waren doch seine agrarischen Klassen im Niedergang und seine produzierenden wie handeltreibenden Klassen im Aufschwung begriffen […] Die Aufhebung der ›Corn Laws‹ war die entsprechende gesellschaftliche Reaktion auf eine politische und ökonomische Machtverschiebung.«15 Eigentlich, so fuhr Stigler fort, belege der Fakt, dass Wirtschaftswissenschaftler weder so zahlreich noch so kostenintensiv mit Forschungseinrichtungen ausgestattet seien wie etwa Krebsforscher, die doch recht angemessene soziale Wertschätzung ihrer Nützlichkeit: »Auch wenn Ökonomen effizient eingesetzt würden, das muss man wohl zugestehen, wird ihr Einfluss auf die Politik doch gering bleiben. Man erinnere sich meiner Schätzung, dass sich unsere wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsaufwendungen vielleicht auf 250 Millionen Dollar belaufen, und ein Großteil davon für Ökonomen mit einander widersprechenden Ansichten ausgegeben wird. Wer glaubt, dass Ökonomen wichtiger sind als dieses so geringe wie übliche Größenmaß, muss wohl glauben, die Gesellschaft investiere deutlich zu wenig in die Ökonomik.«16 Stigler schrieb diese Zeilen 1976, als Wirtschaftswissenschaftler im Zuge der Keynesianischen Revolution bereits an politischem Einfluss gewonnen hatten, jedoch bevor die Demokratisierung von Finanzdienstleistungen sowie der Bedeutungszuwachs der Finanzwirtschaft zahlreiche Privatunternehmen dazu veranlasst hatten, Ökonomen anzustellen (was für Letztere eine bessere Entlohnung zur Folge hatte).

Für das Nachdenken über die Einflussdynamik lohnt ein Blick darauf, wann und wie Langfristtrends entstehen und gebrochen werden. Denn es gibt große historische Bewegungen wie das Moderne Wirtschaftswachstum oder auch das damit einhergehende Phänomen der Jahrhunderte übergreifenden Abwärtsspirale sinkender Realzinssätze (r).17 Diese Megatrends lassen offenkundige »Gesetze« vermuten, die mit nur zwei Variablen formuliert werden können: nämlich die Aufwärtsbewegung des Wachstums und die Abwärtsbewegung der Zinssätze. Die Globalisierung steigerte die Wachstumsraten (g), während gleichzeitig politische Modernisierung, institutionelle Reformen und die Zunahme repräsentativer Regierungen auf der Basis eines vermögensfundierten Zensuswahlrechts für einen größeren Bestand sicherer Wertpapiere (safe assets) und folglich für eine geringere Rentabilität (r) verantwortlich waren. Die Englische Fiskalrevolution schuf Ende des 17. Jahrhunderts ein vorbildliches Modell, und die niedrigeren Garantiesätze reduzierten damals auch die Kosten für andere Kapitalformen, wobei diese durchaus variablen Risikoprämien unterliegen konnten.18

Einflussreiche Theorien über die Stagnation oder die kapitalistische Katastrophe, etwa von Marx und Keynes, argumentierten stets mit dem im Zuge zunehmender Kapitalakkumulation sinkenden Kapitalgrenzertrag. Keynes beschrieb eine abnehmende Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals. Und Marx hatte die Idee gar bei einer älteren und einflussreicheren Traditionslinie aufgeschnappt, nämlich bei Adam Smiths und David Ricardos Überlegungen zur statischen Wirtschaft (stationary state).

Das Wesen der Langfristdynamik ist zwar zu Recht Kernbestandteil jeder Beurteilung von Zukunftsaussichten, war aber stets schwer zu fassen und umstritten. Marx scheiterte bekanntermaßen daran, sein Gesetz vom Fall der Profitrate zu erklären, das (in seinen Worten) »vom historischen Standpunkt aus das wichtigste Gesetz« sei: »ein Gesetz, das trotz seiner Einfachheit bisher nie begriffen und noch weniger bewußt ausgesprochen worden ist«.19 Marx dachte weiter über die Frage fallender Profite nach und schrieb 1868 an Engels: »Wenn man die enorme Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit selbst nur in den letzten 30 Jahren, verglichen mit allen frühern [sic] Perioden, betrachtet, […] so tritt an die Stelle der Schwierigkeit, welche bisher die Ökonomen beschäftigt hat, nämlich den Fall der Profitrate zu erklären, die umgekehrte, nämlich zu erklären, warum dieser Fall nicht größer oder rascher ist.«20 Schocks treten unerwartet auf und erzwingen eine Neubewertung bisheriger Auffassungen zur Langfristdynamik. Die Möchtegerninterpreten von Großtrends sind folglich immer genötigt, den Fokus ihrer Aufmerksamkeit neu auszurichten.

Ein besonderes Problem besteht in der Frage, welcher Indikator als r einzusetzen ist, als der inflationsbereinigte (reale) Ertrag sicherer Wertpapiere wie etwa der Staatsanleihen starker Industrieländer. Die Grenzkosten des Kapitals? Oder der durchschnittliche Kapitalertrag bereits getätigter Investitionen? Die Analyse langfristiger Trends des Durchschnittsgewinns führte zu einer einflussreichen Formel über die Profitrate des Kapitals, welche auf immer höhere Akkumulationsgrade hinweist (»Prinzip der unbegrenzten Akkumulation«) – diese war der Gegenstand einer berühmten Analyse von Thomas Piketty.21 Pikettys Durchschnittsrate ist stets höher als die Grenzraten, insbesondere in Rezessions- oder Stagnationsphasen: Das liegt unter Umständen daran, dass es hier eigentlich vor allem um Grund- oder Immobilienerträge geht, die nur als Mietpreise für begrenzte Räume (im Herzen von Paris, New York, des Silicon Valley oder Shanghai) angemessen zu fassen sind.22 Dieses Phänomen ist die Haupttriebkraft für Ungleichheit, sowohl im 19. als auch wieder im ausgehenden 20. Jahrhundert: Piketty will im 21. Jahrhundert gar eine noch höhere Zuwachsrate der Ungleichheit erkennen.23 Sein Blick auf r > g ist womöglich einfach nur das Abbild einer Globalisierung, die Bodenwerte insbesondere in global vernetzten Zentren in die Höhe treibt (und tatsächlich nehmen seine Ungleichheitsindikatoren während der Entglobalisierungsphase Mitte des 20. Jahrhunderts ab). Piketty insistiert folglich darauf, dass auch der technologische Fortschritt, den man als Triumph des menschlichen Erfindungsgeistes oder des Humankapitals über die kalten Gestalten toten Kapitals (nach seiner Definition Grundstücke, Gebäude, Finanzkapital) ansehen mag, zu einem Mehrbedarf an Gebäuden, urbanen Zentren und Wissenspatenten führen und somit die Kapitalerträge steigern werde. In dieser Perspektive ist die Menschheit mit »Launen der Technologie« nicht zu retten.24

Es lohnt sich, über diese Launen der Technologie genauer nachzudenken. Der Langfristtrend ist nicht immer bestimmend. In Krisenphasen und Ungewissheit verschiebt sich das Verhältnis zwischen Zinsfuß und Wachstum radikal. Der Kapitalreingewinn verliert in Momenten sehr starker Preisbewegungen seine Stabilität. Entwicklungen sub specie aeternitatis zu betrachten, ist ein Luxus der Philosophen, dabei ist eine Gesamtsicht auf die Haupttendenzen nicht immer hilfreich im Angesicht der Frage, auf welche Technologien Einzelpersonen oder Unternehmer am besten setzen sollten. Insbesondere in Krisenmomenten stehen wir der Zukunft, ihrem Inhalt und Kurs unsicher gegenüber. Ein Bankrott steht und fällt nicht mit der langfristigen Tragfähigkeit eines Gedankens oder Geschäftsmodells, sondern mit der Fähigkeit, unmittelbare finanzielle Erfordernisse zu bedienen (bzw. mit der Interpretation von Vermögen und Verbindlichkeiten in einer Bilanz). Just in Momenten des Zweifels und des Zögerns sind Menschen, Regierungen und Märkte dem Einfluss von Überredungskünstlern zugänglich: mächtigen Analysten, Interpreten und Rednern, die Licht ins Dunkel bringen und die Zukunft kennen wollen. Deren Antworten zählen dann zu den Faktoren, die die Zukunft prägen: Noch stehen viele Möglichkeiten oder Wege offen.25 Stellen wir uns diese statisch vor, denkt man an verschiedene Gleichgewichtsformen. Für John Maynard Keynes bestimmte »die unkontrollierbare und unbotmäßige Psychologie der Geschäftswelt« die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals.26

In den letzten Jahrhunderten ist der Lauf der Globalisierung also davon geprägt worden, wie Länder auf Krisen, auf ökonomische Schocks und die oftmals damit einhergehenden Finanzkrisen reagiert haben. Kommt es zu solchen dramatischen Schocks, verkehren sich alle Erwartungen und Vorstellungen von Normalität bzw. von der reibungslosen Fortsetzung bestehender Trends. Der deutlichste historische Bruch im Zuwachs einer immer intensiveren Globalisierung war die schmerzliche Deflation der Weltwirtschaftskrise in der Zwischenkriegszeit, die zum Aufschwung eines aggressiven Nationalismus und des Nullsummendenkens führte. Es ist unmittelbar verlockend, in zahlreichen aktuellen Entwicklungen ein Abbild der 1930er-Jahre zu erkennen. Doch der Preissturz in der Zwischenkriegszeit war nicht der einzige Faktor für die Neubewertung dessen, was Globalisierung bedeutet, wem sie schadet und wem sie nützt.

Nachfrage und Angebot

Nicht jede Krise zerstört oder revidiert die Globalisierung. Im Gegenteil, einige dramatische Wendepunkte führten zu mehr und nicht zu weniger Globalisierung. Die Ölpreisschocks in den 1970ern veränderten das politische Paradigma: Zunächst galt verstärkter Protektionismus als angemessene Reaktion auf die großen Handelsdefizite der Industrieländer und als Abhilfe für eine globale Risikoposition; unter Wynne Godley entwickelte sich das Cambridge Department of Applied Economics zur Hochburg der Verfechter einer Belagerungswirtschaft (siege economy). Doch statt den internationalen Handel zu beschränken, verlegte sich die Politik auf Deregulierung, Inflationsabbau (disinflation) und mehr Offenheit, wobei gemäßigt linke Regierungen die Vorhut bildeten: Jimmy Carter in den Vereinigten Staaten, James Callaghan im UK und Helmut Schmidt in der Bundesrepublik.

Krisen, Einbrüche und Schocks nehmen unterschiedlichste Formen an. Daher laufen jene Beobachter, für die alle diese Ereignisse gleich oder Variationen desselben Phänomens sind, Gefahr, in die Falle falscher Äquivalenzen zu tappen. Dabei warnen viele historische Krisendarstellungen vor der Neigung der Ökonomen wie der Generäle, auf Strategien aus dem letzten Krieg zu setzen und damit zwangsläufig ungeeignete Mittel einzusetzen.27

Beispiele dafür, dass Krisen eine vertiefte Integration stimulieren können, finden sich in den Anfängen der modernen Globalisierungsära. Der Vernetzungszuwachs im 19. Jahrhundert begann zunächst als Reaktion auf einen Schock: auf die Missernten, Hungersnöte sowie Banken- und Unternehmensbankrotte Mitte der 1840er-Jahre. Europa erlebte daraufhin die länderübergreifende Revolutionswelle des Jahres 1848, und Marx legte eine bestechende Analyse vor: Die globale Integration war der Motor für die Welt, und sie brachte Anfälligkeit und Risikopositionen mit sich. Doch der ökonomische Schock der 1840er kehrte den Trend zur Integration nicht um. Stattdessen stiegen die Preise, der Welthandel wuchs, die Regierungen senkten die Zollschranken, das Kapital nahm zu und die Menschen zogen von Kontinent zu Kontinent – sie reagierten damit auf erlittene Not, folgten aber auch dem Versprechen vom neuen Wohlstand.

Wieso wirken sich einige Schocks positiv auf die Globalisierung aus, während andere offenbar eine negative Wirkung entfalten? Nicht selten lautet die Antwort, die Art der Reaktion sei Ausdruck einer intellektuellen Modeerscheinung; dies gelte etwa für den Triumph der Freihandelsökonomie eines David Ricardo und John Stuart Mill Mitte des 19. Jahrhunderts oder auch für den Siegeszug des sogenannten Neoliberalismus eines Milton Friedman und Friedrich Hayek in den 1970er-Jahren. Doch die Frage nach dem Einfluss der Theoretiker wirft nur eine weitere Frage auf: Warum zeigt sich die Politik in gewissen Momenten bestimmten Einflüssen zugänglich oder nicht?

Die plausiblere Erklärung für die Nachwirkung von Traumata liegt im Charakter des Schocks selbst. Nicht alle Krisen sind gleich. Insbesondere ist zwischen Angebots- und Nachfrageschocks zu unterscheiden. Ökonomen differenzieren daher die Beeinflussung der Schlüsselindikatoren (Output und Preis) nach einerseits Impulsen, die das Gesamtangebot betreffen, und andererseits nachfragerelevanten Faktoren.

Ein Angebotsschock verändert die Fähigkeit der Hersteller zur Produktion von Gütern, mit denen sich der Gesamtoutput erhöht, und berührt damit unmittelbar die Preise, die Mengenzufuhr (quantity inputs) oder die Produktionstechnologie: Ein negativer Schock reduziert die Importe und steigert die Preise, ein positiver Schock steigert die Importe und senkt die Preise. Beide Arten von Angebotsschocks verschieben also den Gleichgewichtspreis und die Gleichgewichtsmenge in entgegengesetzte Richtungen.

Im Gegensatz dazu betrifft ein Nachfrageschock die Ausgaben seitens der Abnehmer, also der Individuen, Unternehmen oder Regierungen. Mit einem Einfluss auf Output und Produktion ist zu rechnen: Ein positiver Schock steigert die ökonomische Aktivität, ein negativer vermindert sie. Gleichgewichtspreise und -menge bewegen sich hier allerdings beide in dieselbe Richtung, mit einem positiven Nachfrageschock nach oben und mit einem negativen nach unten. Sofern sie aus einem dysfunktionalen, schlecht konstruierten oder falsch regulierten Finanzsystem erwachsen, sind Finanzkrisen bloß negative Nachfrageschocks, sie schädigen die Kaufkraft der Individuen wie der Unternehmen und drücken sowohl die Preise als auch die Produktion. Gestört wurde die Entwicklung der Globalisierung bisher durch zwei ernsthafte, äußerst negative Nachfragekrisen, die jeweils durch finanzökonomische Turbulenzen verursacht und verstärkt worden sind: die Weltwirtschaftskrise (Great Depression) von 1929 bis 1933 und die realwirtschaftlich wirksame Weltfinanzkrise (Great Recession) von 2007 bis 2008.

Umgekehrt führen Momente radikaler Innovation im Bereich der Finanzdienstleistungen zu einer Art Zucker- oder Adrenalinschub: Preise und Produktion steigen. Mitunter resultieren Finanzkrisen auch aus negativen und positiven Angebotsschocks, beide bieten gleichermaßen Chancen für innovative Unternehmer (wie auch für Betrüger, doch klar unterscheiden kann man diese voneinander eigentlich erst ex post). Hier verschwimmt das Bild, wenn Elemente sowohl des Angebots- als auch des Nachfrageschocks im Spiel und wir kaum in der Lage sind, klare Schlüsse aus den Preisbewegungen und dem Preisverhalten zu ziehen.

Negative Angebotsschocks können vorübergehend sein, dabei wäre mit einem kurzen Inflationsschub zu rechnen, gefolgt von einem deflationären Zwischenspiel und einer ungefähren Rückkehr zur Normalität bzw. zum bisherigen Preisverhaltensmuster. Oder der Negativschock ist permanent, dann wäre ein dauerhaft hoher Preis für eine knappe Ware zu erwarten: Berechnungen für dieses Szenario deuten darauf hin, dass der Langfristeffekt auf den Inflationssockel bzw. die Kernteuerung (nach einer anfänglichen Spitze) in einem leichten Zuwachs besteht. Der Schock kann aber auch der Beginn einer langfristig andauernden Aufwärtsbewegung beim Preis des knappen Produkts sein, und hier würden die Berechnungen darauf hindeuten, dass die Kerninflation kontinuierlich steigt.28 Alle derartigen Modellierungsbemühungen unterstellen die Existenz eines klar erkennbaren Musters. Doch die historisch großen Schocks, die den Lauf der Globalisierung verändert haben, waren ganz anderer Art: Bei ihnen handelte sich nicht um normale oder absehbare Ereignisse. Sie führten zu wesentlichen Verwerfungen. Ihr Ausgang war ungewiss. Sie verursachten tiefgreifende politische Erschütterungen.

Die Reaktionen intelligenter Menschen, die sich intensiv um einen Blick in die Zukunft bemühten, veränderten unter diesen Umständen tatsächlich die Produktions- und Distributionsstruktur. Der radikale Charakter des Schocks beflügelte die Suche nach Alternativen: nach neuen Produkten, aber auch neuen Gütertransporttechnologien. In den 1840er- und 1970er-Jahren, die hier um Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen, führten Versorgungsengpässe und Angebotsklemmen zu einer Revolution im Transportsektor. Die Transformationstechnologien, nämlich die Eisenbahn und das Containerschiff, waren zwar nicht völlig neu gewesen, doch die Ungewissheit sowie die politische Verunsicherung drängten auf eine deutlich allgemeinere Anwendung (bzw. ebneten ihr den Weg), womit das Angebotsproblem durch die radikale Verringerung der Transportkosten völlig transformiert wurde.

Der Charakter eines Schocks bestimmt, ob und wie er die Haltung zur Integration, zur Globalisierung verändert. Die moderne Globalisierung begann als Reaktion auf einen überaus plötzlichen negativen Angebotsschock, insbesondere als Reaktion auf das traditionelle Problem vormoderner Gesellschaften, in denen Missernten und Pflanzenkrankheiten regelmäßig zu Hungersnöten führten. Die Preise für Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs schossen in die Höhe, und der Konsum brach ein. Negative Schocks verändern auch die Distributionsnetze ganz radikal: Kleine Zwischenhändler werden eliminiert, was oft mit zunächst hohen Kosten für die Allgemeinheit verbunden ist. In vielen derartigen Krisen sind stets die gleichen Anbieter gefährdet: Ladenbesitzer in den Hungersnöten der 1840er-Jahre sowie im Ersten Weltkrieg, kleine Geschäfte und Restaurants in der 2020er-Pandemie. Die Problemursache sucht man häufig bei ihnen selbst, während zeitgleich ihr Geschäftsmodell wegbricht und der Bankrott unausweichlich naht.

Die negativen Angebotsschocks in der Mitte des 19. Jahrhunderts und in den 1970ern erzeugten unübersehbare Globalisierungsschübe, bemessen am Parameter der Beziehung zwischen internationalem Handel und Produktion (siehe Abbildung E.1). Doch der Schock des Ersten Weltkriegs führte auch zu einem Versorgungsengpass: Die kriegführenden Staaten Europas waren bis dato auf die transatlantischen Schifffahrtsrouten angewiesen, weil diese allerdings durch die Seeblockaden stark eingeschränkt wurden, kam es zu Lebensmittelmangel; es mangelte aber auch an Gummi, Ammoniak und Buntmetallen. Auch dieser Schock befeuerte eine kurze Erholung des Welthandels in den 1920er-Jahren.

Abb. E.1: Anteil der globalen Exporte am Welt-BIP (Prozent)

Die Great Depression in den USA, die im 20. Jahrhundert zu einem weltweiten Entglobalisierungsschub führte, war in erster Linie ein Nachfrageschock. Man deutete die Katastrophe als »Elend im Überfluss«: ein Überangebot von Getreide (und anderen Waren) hatte die Preise nach unten gedrückt. Die Antwort der Politik lautete Nachfragesteuerung: Die Regierungen hatten für einen Nachfragezuwachs zu sorgen und die Preise nach oben zu treiben. Der Verstand schien zu sagen, Kapitalismus und Marktwirtschaft hätten versagt. Der Fluch der Unterkonsumption lasse sich brechen, wenn die Regierungen irgendwie einen Anstieg der Konsumption bewerkstelligen könnten.29

Komplizierter ist die Entwicklung der 1970er-Jahre, als in der internationalen Ordnung ein neuer Globalisierungs- und Innovationsschub einsetzte: Man kann sie als negativen Angebotsschock begreifen, der allerdings das Resultat einer unglaublichen globalen Nachfrage war; Angebots- und Nachfrageschocks können zusammenhängen. Hier verursachte ein großer positiver Nachfrageschock in den 1960ern, der teils von den geldpolitischen Maßnahmen der USA befeuert wurde, zunächst eine Warenverknappung und führte dann zu angebotsseitigen Maßnahmen der Rohstoffproduzenten, die durch monopsonistisches Vorgehen die Preise anheben wollten. Angebotsbeschränkungen ergaben sich teils auch aus traditionellen Ursachen, etwa weil schlechte Witterungsbedingungen den Anbauertrag geschmälert oder zu Missernten geführt hatten. Das erstaunlichste Beispiel einer Angebotskontrolle bot indes das Erdölkartell der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC); vielen weiteren Rohstoffexporteuren diente es in der Folge als attraktives und nachahmenswertes Vorbild. Kräftige Ölpreisaufschläge in den Jahren 1973 und 1974 (sowie nach dem Sturz des Schahs und der Iranischen Revolution 1979) führten in Verbindung mit den Angebotsrestriktionen zu Mangelerscheinungen: Die Probleme der 1840er-Jahre feierten fröhliche Urständ. Es kam zur allgemeinen Verknappung von Waren (etwa von Lebensmitteln sowie Erdöl) und anschließend zu einem Wettrennen um Rohstoffe. Damals glaubte man auch, die Angebotsbeschränkungen seien reine Einmaleffekte: die Missernten würden sich nicht wiederholen und das Ölkartell sowie andere herstellerseitige Kartellbestrebungen würden an Kraft verlieren. Die Regierungen der reichen Länder versuchten folglich, die erforderliche Anpassungsleistung an das neue Gefüge relativer Preise durch expansive Maßnahmen hinauszuzögern – dadurch erzeugten sie allerdings keine vorübergehende, sondern eine permanente Inflation.

Auch in dem seit 2020 fortdauernd aktuellen Angebotsschock stellt sich Verknappung ein, bei Lebensmitteln ebenso wie bei einigen wichtigen Gliedern der Lieferketten (angefangen mit den Glasphiolen für die Lagerung und Auslieferung von Impfstoffen bis hin zu Laptops und Computerchips). Die Probleme, die der Covid-19-induzierte ökonomische Zusammenbruch aufgeworfen hat, sind nicht die Folge eines nachfrageseitigen Ungleichgewichts; vielmehr ergeben sie sich unmittelbar aus dem Herunterfahren der Volkswirtschaften, mit dem die Regierungen weltweit ihre medizinische Infrastruktur vor Überlastung haben schützen wollen.

In den negativen Angebotsschocks des letzten Jahrhunderts beschränkt sich die Verknappung auf bestimmte Wirtschaftssektoren und eine Reihe produktionsrelevanter Vorprodukte. Im Zentrum des Mangels während des Ersten Weltkriegs stand die Versorgung mit Munition und Lebensmitteln. In den 1970ern war es das Erdöl, es folgte ein Nachfrageschub nach treibstoffsparenden Autos und besseren Heizungsanlagen. Nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie waren erst medizinische Ausrüstung sowie pharmazeutische Produkte und Impfstoffe betroffen, dann elektronische Bauteile und insbesondere Mikrochips (was zu einem »Chipaggedon« führte). Verknappungen eskalieren dann gewissermaßen, wenn Angebotsschranken weitere Produktionsprobleme anstoßen und zusammenhängende Netzwerke unter Spannung geraten und reißen. Die Knappheit ist Auslöser für Wettbewerb und Preisschlachten zwischen verschiedenen Ländern um die knappen Produkte. Die Debatte über die möglichst rasche Anpassung an die Verknappung gerät schnell zu einer Debatte, wie man die Allokationsprozesse am besten steuert: mit Experten und Technokraten oder durch öffentliche und demokratische Mechanismen. Dann kommt die Forderung nach stärkerer öffentlicher Kontrolle auf: Im Zuge des Ersten Weltkriegs entlud sich die Unzufriedenheit in einer revolutionären Welle, die von Russland und Mittelosteuropa nach Westen brandete, in den 1970ern führte sie zu einer Unregierbarkeitskrise und heute befeuert sie den Streit um die Steuerungskompetenz. Oftmals kommt es zu kurzlebigen Kontroversen über Themen wie die Lieferung von Mais nach Irland während der Hungersnöte in den 1840ern, über die Lieferung von Stahl für Geschosshülsen im Ersten Weltkrieg, über Erdöl in den 1970ern oder heutzutage über Impfstoffe und Halbleiter. Und die konkreten Probleme werden zwar gelöst, doch die wachgerufenen starken Auffassungen bleiben als dauerhaftes Element der politischen Vorstellungskraft bestehen.

Die anhaltende Furcht vor und die Erwartung von Verknappung ist eine Reaktion auf den gewaltsamen Charakter des Schocks. In der Verzweiflung scheinen nur unbändige, utopische Lösungen überhaupt eine Chance auf Erfolg zu bieten.

Die Unternehmer werden von Angebotsschocks auf dem falschen Fuß erwischt. Es schlägt die Stunde der Financiers, die von neuen Kombinationen der Zukunftsadaption träumen: Die Ungewissheit verleitet mutige Menschen, Risiken einzugehen – und dafür müssen sie ein Narrativ beschwören, eine Vision von der künftigen Wirklichkeit. Sie müssen überzeugen, sie ventilieren ihre Produkte und ihre weltpolitischen wie ökonomischen Neuordnungsgedanken. Decken sich diese später nicht mit der realen Entwicklung, erscheinen die Visionen oft in neuem Licht: nicht nur falsch, sondern betrügerisch. Die Helden verwandeln sich dann in schwache Menschen, die gründlich blamiert sind. Auf den folgenden Seiten widmen wir uns jenen geradezu magischen Figuren, die ehrlos und beschämt endeten: Bethel Henry Strousberg in der Mitte des 19., Ivar Kreuger im 20. und Lex Greensill im 21. Jahrhundert.

Bei Angebotsschocks stehen Regierungen vor demselben Problem wie Unternehmer: Man muss eine Vision umreißen und weiß doch nicht, wie die reale Zukunft aussehen wird. In der Konsequenz steht auch die Kompetenz der Regierungen nicht selten in Zweifel. Die 1840er und 1970er mündeten in beachtliche Legitimitätskrisen. In den 1840ern machte man die reaktionären, autokratischen Regierungen verantwortlich. In den 1970ern waren viele der Meinung, die Demokratie habe versagt oder (so ein Bestseller von Jean-François Revel) gehe auf ihr Ende zu, die Industriegesellschaften seien unregierbar geworden und autokratische Regimes würden bald die Oberhand gewinnen.30 Alle Zweifel an der Demokratie sind seit 2020 wieder aktuell – wegen eines weiteren negativen Angebotsschocks, mit dem die chinesische Regierung anfangs offenbar effizienter umging als ihre westlichen Gegenspieler.

In den Augen mancher Pandemiebeobachter haben populistische Regierungen und sogenannte illiberale Demokratien (Trump, Johnson, Putin, Bolsonaro, Modi, Duterte) die Krise grundfalsch gemanagt. Gegenüber den Vorteilen eines Lockdowns als unmittelbarer Eindämmungsmaßnahme nahmen sie eine populistische Haltung ein, sie verwahrten sich auch gegen den Rat von Experten oder »Technokraten«. Selbst in reichen Ländern, in denen – etwa in Deutschland und Japan – das Krisenmanagement professionell erscheint, kam es zu Protestwellen. Vor dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 war im August 2020 der deutsche Reichstag angegriffen worden. Viele Menschen suchen verzweifelt nach neuer Führung und neuen Visionen.

Wenn Spitzenpolitiker nach Auswegen suchen, weist das Geld einen einfachen und verlockenden Weg. Inflation ist die naheliegende Sofortreaktion auf Angebotsschocks. Mehr Geld in mehr Geldbeuteln erzeugt den Eindruck, für die Bekämpfung der Verknappung stünden Mittel zur Verfügung. In den Preisschlachten kann ein Mehr an Geld zu einem Mehr an Ressourcen führen. Das Resultat ist freilich teils eine Täuschung, dann im Ergebnis steigen die Preise. Außerdem kommt es zu Folgeeffekten: Nur wer sich in der Preisschlacht durchsetzt, sichert sich einen Zugriff auf die konkreten Betriebsmittel. In der Folge schaffen diese Zuwächse neue Nachfragen, und neue Allokationen. Politische Erstmaßnahmen können in eine Inflationsspirale führen, insbesondere wenn mächtige Gruppen von der Regierung noch mehr Entlastung einfordern. Die Reaktion auf negative Angebotsschocks im 20. Jahrhundert war daher sehr viel inflationärer als im 19. Jahrhundert. In dessen zweiter Hälfte kam es sowohl zu einer Ausweitung des Münzgeldes (nach dem kalifornischen Goldrausch von 1849 und dessen australischem Pendant von 1851) als auch zur Zunahme des Buchgeldes infolge der Gründung zahlreicher Kreditinstitute. Auch der Erste Weltkrieg stellte einen Angebotsschock dar, denn die Regierungen schlossen zivile Fabriken zugunsten der militärischen Produktion. Im Ergebnis kam es zu einer allgemeinen Inflation. Mit dem Angebotsschock in den 1970ern begann schließlich das Jahrzehnt der Great Inflation. Die Inflation machte den Umgang mit dem Angebotsschock offenbar einfacher und schmierte das ökonomische Getriebe für Investitionen und Innovationen.

Auf den ersten Blick stabilisieren Inflationsentwicklungen die Gesellschaften, doch dann erscheinen sie selbst zunehmend als Bedrohung. Sie drängen Interessengruppen zu verstärkter Bewegung und Aktivität und zu intensiverer Lobbyarbeit in der Hoffnung, einen größeren Teil von den monetären und fiskalischen Mitteln abzubekommen. Das Ausmaß dieser Bewegung droht die Gesellschaft zu spalten und führt im Endeffekt weniger zu einer Stabilisierung als zu einer Destabilisierung. So lässt sich argumentieren, dass die Anfänge einer weltweiten Inflation in den 1960er-Jahren die Ölproduzenten überhaupt erst dazu bewegt hätten, sich effizient zu organisieren. Höhere Inflationsraten erzeugen letztlich also eine Gegenbewegung zum Inflationskonsens. Begünstigt werden dadurch geldpolitische Experimente und die Globalisierung, die einen neuen Ordnungsrahmen erzeugen können: Nach dem Wachstumsschub der 1850er und 1860er-Jahre schickte die Welt sich an, den in Großbritannien geltenden Goldstandard zu internationalisieren. Nach der Inflation und Liberalisierung der 1970er suchten die politischen Entscheidungsträger nach einer neuen Lösung für das geldpolitische Chaos, sie fanden diese innenpolitisch in der direkten Inflationssteuerung31 und international in einem neuen Modell institutionalisierter Zusammenarbeit in Körperschaften wie der G5, später der G7, der G20 usw. Die Krisenerfahrung prägt den Lauf der Globalisierung auf Jahre hinaus und diktiert deren grundsätzliche Regeln und Verfahren.

Die systematische Reaktion auf eine global vernetzte Welt weist ein Muster auf: die zunehmende Erschütterung der bestehenden Autorität, zunehmende monetäre Instabilität, zunehmende Inflation – aber auch zunehmende Globalisierung. Eine Antwort darauf erfordert letztlich das vollständige Überdenken globaler Regeln. Die Staaten stehen vor zunehmend komplexen und vielschichtigen Aufgaben, und ihre bürokratische Kapazität gerät unter Druck. Inwiefern beeinflussen ökonomische Schocks die »innere Landkarte«, die Vorstellung von den Abläufen in der Welt? Inwiefern ändern sich zunächst die Erwartungen und dann die Verhaltensweisen?

Aussichten

In diesem Buch untersuchen wir sieben kritische Momente, betrachten aber auch, wie sie durch Personen imaginiert und interpretiert wurden, die die Reaktionen und das Verhalten der nachfolgenden Generationen prägen sollten: Der negative Angebotsschock der 1840er schuf das Ausgangsmaterial für Karl Marx und seine Theorie vom Zusammenbruch des Kapitalismus. Es folgte ein positiver Angebotsschock in den 1870ern, der sich aus der Transportrevolution durch Dampfschiff und Eisenbahn ergab und die Getreidepreise senkte. Auf die Krisentheorien der vorangegangenen Generation folgte eine neue Vision, bestehend aus den Ansichten eines Trios fürderhin einflussreicher Autoren in Großbritannien sowie der französisch- und deutschsprachigen Welt. William Stanley Jevons in Manchester und London, Léon Walras in Lausanne und Carl Menger in Wien entwickelten gleichzeitig, doch recht unabhängig voneinander eine neue Werttheorie und eine individualistische Sicht auf die wirtschaftliche Entscheidungsfindung. Keine dieser Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts war aktiv in der Tagespolitik tätig oder beeinflusste Entscheidungen unmittelbar – der Theoretiker des großen Zusammenbruchs ebenso wie die Exponenten der Marginalistischen Revolution waren randständige Männer. Doch sie prägten die Vorstellung von der Zukunft.

Die Persönlichkeiten des 20. und 21. Jahrhunderts hingegen, die in diesem Buch eine Rolle spielen, waren oder sind allesamt Wirtschaftswissenschaftler, nahmen aber auch im öffentlichen Leben eine beachtliche Rolle ein und wirkten nicht selten als politische Entscheidungsträger. Karl Helfferich beispielsweise war ein prominenter deutscher Nationalökonom, der ein wichtiges Lehrbuch über das Geld verfasste (vorliegend in englischer und in vielen anderen Übersetzungen) und darin den Goldstandard gegen grantige Kritiker verteidigte, bevor er als politisch gut vernetzter Banker arbeitete. Im Ersten Weltkrieg wurde er Staatssekretär im Reichsschatzamt, sprich Finanzminister, und entwarf ein System der Kriegsfinanzierung, das sich nach seiner Überzeugung aus seiner Geldtheorie ergab. Den Deutschen wollte er die Kosten ersparen, denn – wie er in einem denkwürdigen Wort formulierte – das Bleigewicht der Milliarden hätten die unterlegenen Mächte des Krieges verdient, sie sollten es durch die Jahrzehnte schleppen. Doch nach dem verlorenen Krieg missverstand er das Wesen der sich zusammenbrauenden deutschen Inflation und Hyperinflation vollends, verstieg sich in wilde Polemiken gegen die Spitzenpolitiker der frühen Weimarer Republik und erarbeitete einen Stabilisierungsplan, der auf eine Beendigung der Inflation abzielte. Er hatte nie ganz begriffen, in welchem Maße der Erste Weltkrieg als Angebotsschock gewirkt hatte. Sein Name steht als Synonym für die heute sogenannte fiskalische Dominanz.

Berühmt wurde John Maynard Keynes als Kritiker der Reparationen im Anschluss an den Ersten Weltkrieg, später auch als Kritiker der orthodoxen Fiskal- und Geldpolitik angesichts des großen Nachfrageschocks während der Weltwirtschaftskrise, bevor ihm schließlich eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau einer tragfähigen Weltwirtschaftsordnung für die internationale Gemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zufiel. Eine zentrale und grundlegende Rolle in seinem Denken spielte die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, die er auch auf den Zweiten übertrug: Sein Internationalismus in den 1940ern wirkt wie das genaue Gegenteil seiner Haltung in den 1930ern, ist tatsächlich aber konsequent. Keynes hielt die Nachfragesteuerung in Kriegszeiten für unverzichtbar, um derartige inflationäre Zusammenbrüche zu vermeiden, wie sie Mitteleuropa geplagt und vergiftet hatten.

Die 1970er waren ein großer Angebotsschock, in dessen Zuge ein Kartell ölproduzierender Länder sich die Abhängigkeit vom Erdöl kurzzeitig für den Versuch einer globalen Neuordnung zunutze machte – und weitere Rohstoffproduzenten es den nahöstlichen Produzenten gleichtun wollten. Letzten Endes aber bewegte sich die Welt in Richtung einer größeren globalen Integration, um die Bezugsquellen insgesamt robuster zu organisieren. Eine Möglichkeit, den Angebotsschock aufzufangen, war die Inkaufnahme einer höheren Inflation; doch bald zeigte sich, dass höhere Inflationsraten den gesellschaftlichen Zusammenhalt der wichtigsten Industrieländer schwächten und organisierte Gruppen gegeneinander in Stellung brachten. Die Lösungen für die Inflation und das allgemeine soziale Unbehagen, die Milton Friedman und Friedrich Hayek formulierten, fokussierten programmatisch auf eine neue Globalisierungswelle.

Die Weltfinanzkrise 2007/2008 erzeugte einen negativen Nachfrageschock, der in den großen Volkswirtschaften des nordatlantischen Raumes nur mit der Great Depression zu vergleichen war, dabei aber die kraftvoll aufstrebenden Marktwirtschaften (emerging markets) weitgehend verschonte. Die Lösungen, die die Zentralbanken und insbesondere die Federal Reserve unter Ben Bernanke formulierten, haben einen allgemeinen Kollaps bzw. die Neuauflage der Weltwirtschaftskrise, die im Oktober 1929 begann, bemerkenswert erfolgreich verhindern können. Doch sie schufen auch ein offenbar unlösbares Exit-Problem, denn es ist ein keineswegs triviales Unterfangen, die eingeleiteten politischen Maßnahmen wieder zu beenden: Jeder Versuch, sie zurückzufahren, führt zu neuen Schocks, so 2013 zum taper tantrum, als die Federal Reserve die Verringerung ihres Wertpapierankaufprogramms debattierte und ein Zinsanstieg einsetzte. Die Politik hing somit am Haken ihrer eigentlich kurzfristigen, provisorischen Lösung.32

Die Corona-Krise ähnelt bisherigen negativen Angebotsschocks, die Lockdowns und Reisewarnungen unterbrachen die Lieferketten. Beim Eintritt in die Krise dominierte eine intellektuelle Ausdeutung, die man in erster Linie mit Larry Summers assoziiert: Demnach bestehe die Zukunft in einer großen Stagnation mit geringem Wachstum und zunehmender Einkommensungleichheit, in einem langfristigen negativen Nachfrageschock. Solche Theorien über eine ewige Stagnation mit anhaltend geringem Produktivitätszuwachs und Nachfrageausfällen beschworen die 1930er-Jahre und die Great Depression; hierbei handelte es sich allerdings um eine Fehlinterpretation der Weltwirtschaftskrise: Die mittleren Jahre im 20. Jahrhunderts führten neben einer Nachfragekrise auch zu einer technologiebasierten revolutionären Verlagerung, sie transformierten Angebot und Produktion.

Das Bewusstsein, dass das Jahr 2020 mit der schlimmsten (oder zumindest der schärfsten) Rezession der letzten Jahrhunderte konfrontiert war, sah sich einer Wiederholung der Nachfrageschocks der Zwischenkriegszeit gegenüber. Im Lichte der Erwartung weiterhin dauerhaft niedriger Zinssätze wirkten die großen Konjunkturpakete wie ein ›Free Lunch‹. Doch dann zeichnete sich ein neues Problem ab, und Summers erkannte als einer der Ersten das Ausmaß der Gefahr: Es kam nicht wirklich zu einer Neuauflage des Nachfrageausfalls – nur zu einer vorübergehenden Nachfrageabstinenz während der Lockdowns. Die Pandemie und insbesondere die regierungsseitig verordneten Lockdowns führten recht rasch zu ersten klassischen Anzeichen eines Angebotsschocks: Die Rohstoffpreise stiegen, die Lieferketten waren gestört und Knappheiten traten auf. Beobachter glaubten (nicht anders als in den 1970ern), einen neuen Zyklus steigender Preise ausgemacht zu haben.

Unter den Gegebenheiten eines Angebotsschocks öffnete sich der Raum für eine neue ökonomische Lesart, die ihre Aufmerksamkeit weniger auf Gesamtgrößen richtet als vielmehr auf die Feinjustierungen, die auf örtlich stark begrenzter und spezifischer Grundlage erfolgen. Der Blick aufs große Ganze erschien altmodisch: ein Relikt der Ökonomik des 20. Jahrhunderts. Der innovativste wirtschaftswissenschaftliche Ansatz fragte stattdessen danach, wie beispiellose Datenmengen und bisher ungekannte Rechenkapazitäten zu einer belastbaren Interpretation oder Vision der Zukunft beitragen können. Ökonomen wie Raj Chetty (Harvard) wirkten und wirken auf eine umfassende Methodenreform in der Ökonomik hin.

Immer schon hat man sich gewünscht, die Daten sprechen zu lassen – bereits im 19. Jahrhundert gehörte dieser Traum zur Vision sowohl von Marx als auch von Newmarch und Jevons. Bisher aber hatten sich die Analysten auf ihre Vorannahmen und Systeme gestützt, um die Daten ein Stück weit zu ordnen. Heutzutage bietet sich im Zusammenspiel von Big Data und Künstlicher Intelligenz die Möglichkeit, gleichzeitig eine Vielzahl konkurrierender Narrative zu entwickeln.

Die verschiedenen Schocks haben nachhaltige Wirkungen – etwa durch die Reaktionen, die zwar von einer konkreten Situation konditioniert worden sind, aber politische Reaktionen auch dann noch bestimmen, wenn die ursprüngliche Situation sich vollends geändert hat. Hinzu kommt, dass Menschen, die einen besonders dramatischen Augenblick der Unsicherheit durchleben, in der Vergangenheit nach Rezepten oder Lektionen suchen. Daher interpretieren wir vergangene Momente im Lichte gegenwärtiger Erfordernisse immer wieder neu. Kunsthistorikern geht es ähnlich, wenn sie nicht nur den Einfluss Raffaels auf De Kooning betrachten, sondern auch den Einfluss De Koonings auf Raffael bzw. seinen Einfluss auf den Eindruck von Raffael, den moderne Betrachter haben dürften. Der Philosoph Arthur Danto schrieb daher von einer »rückwirkende[n] Bereicherung der Entitäten« in der Kunstgeschichte;33 in gleicher Weise ändert die Erfahrung der 1970er oder die von 2020 unsere Sicht auf die 1840er.

Aus den sieben Krisen lassen sich sieben Lehren ziehen:

Die Wendepunkte der Globalisierung in einer industrialisierten und vernetzten Welt gleichen einander nicht. Jede Krisenerfahrung fordert die Individuen, die Unternehmen und die Regierungen in neuer und nie dagewesener Weise; jede Krise führt zu neuen Strichen auf der inneren Landkarte.

Die Lehren aus einer vorherigen Krise behindern oft die Findung wirksamer Lösungen für das neue Problem.

Negative Angebotsschocks führen zu einem Bewusstsein von der Bedeutung internationaler Lieferungen (global supplies).

Negative Angebotsschocks bewirken auch Preissteigerungen; daraufhin lassen Regierungen oftmals eine Inflation zu, von der sie hoffen, die Bürger interpretierten den Nominalzuwachs als zusätzliche Ressourcen.

Negative Nachfrageschocks drängen in Richtung nationaler Eigenständigkeit oder gar Autarkie.

Negative Nachfrageschocks sind tendenziell deflationär.

Inflation kann eine attraktive Option in der Bewältigung von (bzw. Anpassung an die) unmittelbaren Folgen des Angebotsschocks sein; sie wird und kann allerdings das zugrundeliegende Problem nicht bewältigen, wie man – über weite geografische Entfernungen hinweg – verlässliche und sichere Ressourcen erhält.

Die Probleme der Globalisierung – der Koordinierung überaus zahlreicher unabhängiger Akteure – bleiben bestehen. Die Regierungen können davor nicht davonlaufen. Vielmehr müssen die Wähler in den Demokratien – aber auch die Bürger in undemokratischen Staaten, die ein größeres Stimmrecht einfordern – darüber nachdenken, wie sich die Ungewissheit von einer Bedrohung zu einer Chance wenden lässt.

1.

Die große Hungersnot und der große Aufstand

Die 1840er gaben den ersten Impuls zur modernen Globalisierung. Europa entwickelte sich damals zum dynamischsten Teil der Weltwirtschaft, erlebte allerdings einen mächtigen negativen Angebotsschock: mit Hungernöten, Mangelernährung, Krankheiten und Aufständen. Die Lehren aus dieser Notlage führten letztlich zu einem starken internationalen Integrationsschub – zur Globalisierung –, der großenteils auf die zentrale Rolle zurückzuführen war, die Getreideimporte aus dem Ausland beim Stillen des akuten Lebensmittelbedarfs in der Krise gespielt hatten. Hatte Frankreich 1845 noch 56 000 Tonnen Getreide importiert, benötigte man 1847 ganze 757 000 Tonnen; die Importe nach Großbritannien und Irland stiegen im gleichen Zeitraum von 354 000 auf 1 749 000 Tonnen. Diese Einfuhren warfen enorme finanzielle und logistische Probleme auf: Wie sollte man sie bezahlen? Welche Opfer waren zu bringen, um ausreichend Nahrung zu erhalten und zu bezahlen? Waren Zahlungen auf Kredit möglich, der Kauf auf Raten? Wie ließ sich dieser Prozess steuern? Und vor allem, welche Institutionen waren erforderlich?

Die Erhebungen zur Mitte des 19. Jahrhunderts führten rasch zu einer drastischen Transformation in Politik und Wirtschaft: Auf Regierungsebene vollzog sich eine Revolution, als die staatlichen Stellen deutlich größere Aufgaben in der Wirtschaftssteuerung übernahmen (dazu zählt auch die Politik der Handelsliberalisierung). Auch die Wirtschaft durchlief eine Revolution in Gestalt der neuen Unternehmensformen, der Aktiengesellschaften (mit beschränkter Haftung) wie auch der Universalbanken, die Kapital auf innovative Weise zu mobilisieren verstanden.

Mitte der 1840er war man mit einer ganz klassischen Hunger- bzw. Subsistenzkrise aus dem Ancien Régime konfrontiert, wie sie Europa zu Beginn des 18. Jahrhunderts mitten im Spanischen Erbfolgekrieg ereilt hatte. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler bezeichnete sie als die »letzte Agrarkrise ›alten Typs‹« in Deutschland bzw. Mitteleuropa,34 hatte es doch im 20. Jahrhundert außerhalb Westeuropas noch zahlreiche Hungersnöte gegeben. Doch die Krise der 1840er war auch ein moderner Konjunkturabschwung mitsamt Finanz- und Bankenkrise: Er setzte vor dem Hintergrund eines außergewöhnlich kräftigen Aufschwungs ein, der die Preise nach oben getrieben und zu ersten Engpässen beigetragen hatte. Die Preise in Großbritannien und Mitteleuropa stiegen drastisch. In gewisser Hinsicht handelte es sich um eine Krise aus dem 18. Jahrhundert und um eine aus dem 20. oder 21. Jahrhundert. Der Historiker Jonathan Sperber bezeichnete die Turbulenzen denn auch zutreffend als eine »Krise des Übergangs«.35

Die Nahrungsmittelkrise war Folge schlechten Wetters und geringer Ernten, wobei das Wetter auch noch Pflanzenkrankheiten und insbesondere die »Kartoffelfäule«, einen Pilzbefall, begünstigte. Der außerordentlich starke Regen schwemmte die Pilzsporen tief in den Boden, die nun die Knollen befielen und zu einem vollständigen Ernteausfall führten. Es handelte sich um eine völlig unvorhersehbare Krise: Wie eine Analyse der Preisbewegungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergibt, war ein solcher Komplettausfall ein ganz und gar absonderliches Ereignis, das »weit jenseits jeden faktischen oder wahrscheinlichen Horizonts in Westeuropa« lag.36 Auf die Lebensmittelkatastrophe folgte eine Epidemie. Britische Zeitungen berichteten 1847 von Fiebererkrankungen, welche die hungerleidende Bevölkerung in Irland fest im Griff hatten: