Schockwellen - Claudia Kemfert - E-Book

Schockwellen E-Book

Claudia Kemfert

5,0

Beschreibung

Die Energiekrise erschüttert die globale Wirtschaft. Gas und Öl werden als geopolitische Waffen eingesetzt. Und plötzlich sind Kohle, Fracking und Atomkraft wieder auf der Tagesordnung. Doch wer zahlt den Preis? Haben wir überhaupt noch eine Chance, uns aus den Abhängigkeiten zu befreien? Energieökonomin Claudia Kemfert gibt Antworten. Und sie benennt die Verantwortlichen für die verfahrene Situation. Ein kleines Zeitfenster bleibt, durch entschlossenes Handeln unsere Energieversorgung zu sichern und gleichzeitig Demokratie, Wohlstand und friedliches Zusammenleben zu stützen. »Dieses Buch ist eine schonungslose Aufarbeitung, rüttelt mit unbequemen Wahrheiten auf und will vor allem eins, nämlich dass wir aus dem Schaden klüger werden.« Ernst Ulrich von Weizsäcker »Claudia Kemfert ist eine herausragende Expertin, die messerscharf versteht, was Phase ist - wie wir so sagen.« Luisa Neubauer »Professor Kemfert zählt zu den weltweit führenden Wissenschaftlern und erklärt immer wieder geduldig Fakten, Hintergründe und Zusammenhänge von Energie, Wirtschaft und Politik. Aktuell wichtiger denn je!« Sven Plöger

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Cover for EPUB

Claudia Kemfert

SCHOCKWELLEN

Letzte Chance für sichere Energien und Frieden

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Die Energiekrise erschüttert die globale Wirtschaft. Gas und Öl werden als geopolitische Waffen eingesetzt. Zugleich spüren wir die Vorboten der drohenden Klimakatastrophe. Daraus baut eine mächtige Lobby den künstlichen Gegensatz zwischen Klima und Frieden auf. Plötzlich sind Kohle, Fracking und Atomkraft wieder auf der Tagesordnung. Doch wer zahlt den Preis? Haben wir überhaupt noch eine Chance, uns aus den Abhängigkeiten zu befreien? Und wie wird die Energie gerecht verteilt? Deutschlands renommierteste Energieökonomin Professor Dr. Claudia Kemfert gibt Antworten. Und sie benennt die Verantwortlichen für die verfahrene Situation. Ein kleines Zeitfenster bleibt, durch entschlossenes Handeln unsere Energieversorgung zu sichern und gleichzeitig Demokratie, Wohlstand und friedliches Zusammenleben zu stützen.

Vita

Claudia Kemfert ist die wichtigste deutsche Wissenschaftlerin für Energie- und Klimaökonomie. Seit 2004 leitet sie die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und ist Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit. Außerdem ist sie stellvertretende Vorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU), der die Bundesregierung berät. Kemfert genießt als Wissenschaftlerin weltweit höchstes Renommee und wurde für ihre Forschung vielfach ausgezeichnet. Die Bestsellerautorin erläutert die wissenschaftlichen Erkenntnisse auch in der breiten Öffentlichkeit und in vielen Medien, so läuft beispielsweise im MDR regelmäßig »Kemferts Klima-Podcast«.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

INHALT

Impressum

INHALT

VORWORT

Kapitel 1

Verpasstes Energieembargo — Was wurde aus der Zeitenwende?

Alle Horrorszenarien werden wahr

»Aber wenigstens sind wir dann schnell tot«

Schrecksekunde in der Nacht

Fassungslos, aber nicht hilflos

Energieembargo – eine Diskussion und ein Irrtum

Warum ein Krieg die Energiepreise steigen lässt

Warum ein Energieembargo richtig gewesen wäre

Auswege aus der Abhängigkeit

Ein souveräner Akt der Selbstverteidigung

Es läuft nach Putins Drehbuch

Fatale Kommunikation der Regierung

Eine letzte Frage und eine schockierende Antwort

Kapitel 2

Machtfaktor Rohstoffe — Was Energieversorgungssicherheit wirklich bedeutet

Erkenntnisse – unbeachtet, aber vorhanden

Wissenschaft ist kein Hexenwerk

Die Trägheit des Energiemarkts als politische Herausforderung

Selbst Getreide ist eine Waffe – eine schmerzhafte Erkenntnis

Das große Geschäft mit dem Öl

Ostpolitik – im Sinne des Friedens oder im Sinne Moskaus?

Energieökonomie – neue Perspektiven gewinnen an Bedeutung

Kapitel 3

Geschäftspartner Eon, BASF, Gazprom — Wie die Abhängigkeit von Russland begann

Putins berühmte Rede im Bundestag

Eine neue Seite in der Geschichte – Standing Ovations

Gute Geschäfte mit einem »lupenreinen Demokraten«

»Eine wahrhafte Herzensangelegenheit«

Ein »historischer Tag« – leider

Eine »rein privatwirtschaftliche« Initiative

Vorgeschichte: Ein innerdeutscher Gaskrieg

Jahrelanges Tauziehen zwischen Gazprom, BASF und Eon

Putin will etwas Größeres

Des Pudels Kern: »Aktiva im Westen«

Finanzielle Förderung eines russischen Staatskonzerns

Das Fiasko im Schnelldurchlauf

Kapitel 4

Die Gasstreits — Energie als Waffe, die keiner sehen wollte

Ein Maschinengewehr im Team

»Gas-Diebstahl«

Gasbündnis zweier Autokraten

Die Antwort auf die Orange Revolution

Eine unverhohlene Kriegsdrohung

2006: »DIW warnt vor Energieabhängigkeit von Russland«

»Von Putins Gnaden« – Energiekrake Gazprom

Das Niveau der Diskussion in Deutschland

Alle Argumente prallen an den Deutschen ab

Bulgarien friert bei klirrender Kälte

Kapitel 5

Falsche Lehren — Deutschland zwischen Ignoranz und Aufbruch

Erstaunliche Schlussfolgerungen …

… trotz massiver Warnungen

Öffentliche Ignoranz

Selbstgefällige Überheblichkeit

Richtige Grundannahmen, falsch verknüpft

Eine Risikoanalyse und das Werkzeugkasten-Problem

Kollektives Nachdenken über Energiepolitik

Energiew… – die Lösung, über die keiner reden will

Bedrohung Klimakatastrophe – Vorreiter Deutschland

Die Wissenschaft ist gefragt: Wie teuer wird’s?

3 000 000 000 000 Euro für die Klima-Katastrophe

Klimaschutz spart 540 000 000 000 Euro

Ein Triumphzug der Wissenschaft, oder?

Kapitel 6

Klimakanzlerin Merkel und die SPD — Kein Interesse am fossilen Ausstieg?

Merkels Wissenschafts-Ader

Sie hatte zugehört und verstanden

Wollte oder konnte sie nicht anders?

Die Gelegenheit, sich umfassend zu erklären

Wohlfühltermin mit der Kanzlerin

»In diesem Sinne war Gas keine Waffe«

Merkels Sinn fürs Kleingedruckte

Ungehörte Kassandra-Rufe

Der Elefant im Raum, den niemand sehen will

»Dialog mit Moskau«, egal, was passiert

Der herausragende Energiepartner … will die EU zerstören

Kapitel 7

Die Verhinderer — Wer wie warum die Energiewende blockiert hat

Eine Knaller-Zahl macht Schlagzeilen

»Bloß nicht den Röttgen machen«

Energiewende-Erfolge gegen eine Mauer politischer Ignoranz

Tricksen, tarnen, täuschen

Clevere Manöver der Energiekonzerne

»Eine Branche muss sich neu erfinden«

Der Schwarze Peter Energiewende

Wohlkalkulierter Billionen-Euro-Hokuspokus

»Merchants of Doubts«

Mit Mafia-Methoden gegen die Wissenschaft

Fossile gegen erneuerbare Energien – die Schlacht ums Weiße Haus

PLURV – Impfung gegen Desinformations-Kampagnen

Kapitel 8

Nord Stream 2 — Deutschland gegen Europa

Zwillingsdebatte um Zwillingspipeline

Europas energiepolitische Bedenken

Europas außenpolitische Bedenken

Vorgetäuschte Souveränität

Putins verdammt gutes Geschäft

Kluge Verhandlungstaktik?

Schnöde Erpressung?

Oder doch grenzenlose Naivität?

»Putins People« und ihr fossiler Krieg

Das wahre Ende des Gasstreits von 2005/2006

Gier schlägt Völkerrecht – Putins Drehbuch

Die Salami-Taktik der KGB-Kapitalisten

Kapitel 9

Mythos Deindustrialisierung — Warum wir keine Brückentechnologien mehr brauchen

Die Sendung mit der Haselmaus

Der Preis der verschleppten Energiewende

Scheinbar billige Übergangslösungen

Fossiles Erdgas ist kein Partner der Energiewende

Der deutsche Gasbedarf und die Pariser Klimaziele

»Die Jugend hat recht, Frau Schwesig!«

Brücken brauchen Lücken: Altmaier-Knick und Sigmar-Senke

Große Personalnot im Wirtschaftsministerium?

Die angebliche Deindustrialisierung

Atomenergie – der ewige Kai aus der Kiste

Es gibt Alternativen – wir müssen sie nur nutzen

Kapitel 10

Wie es endet, liegt an uns — Es geht um mehr als den Wechsel der Energiequelle

Die MacGyvers der Energiewende

Fossile Werbefilme enden im Albtraum

Bürgerenergie bringt frischen Wettbewerb in den Markt

Contra Putins Gas heißt pro Wärmewende

Der faire Schlüssel zur Wärmewende: Warmmiete

Wasserstoff im Tank – eine aussichtslose Champagner-Wette

Der finale Wettkampf zweier Energiesysteme

Was Greta Thunberg kann, können wir alle

ANHANG

LITERATUR

Kapitel 1 Verpasstes Energieembargo

Kapitel 2 Machtfaktor Rohstoffe

Kapitel 3 Geschäftspartner Eon, BASF, Gazprom

Kapitel 4 Die Gasstreits

Kapitel 5 Falsche Lehren

Kapitel 6 Klimakanzlerin Merkel und die SPD

Kapitel 7 Die Verhinderer

Kapitel 8 Nord Stream 2

Kapitel 9 Mythos Deindustrialisierung

Kapitel 10 Wie es endet, liegt an uns

DANKSAGUNG

VORWORT

Schockwelle auf Schockwelle: Kriegsschock, Energieschock, Preisschock, Inflationsschock, Klimaschock. Wir stecken mitten in einem fossilen Krieg, der jetzt ins Finale geht. Der Showdown des fossilen Zeitalters beginnt. Die Kräfte der Vergangenheit kämpfen ihre letzte Schlacht gegen die Kräfte der Zukunft. Es kämpft Autokratie gegen Demokratie. Es kämpft die Tyrannei eines oligopolistischen Imperiums, dem es nur um eins geht, nämlich um sich selbst, gegen die Freiheit der Medien, der Wissenschaft, der Menschen. Es kämpfen Menschen, die wollen, dass die Welt ihnen gehört, gegen Menschen, die wollen, dass die Welt allen gehört. Es kämpft die Lüge gegen die Wahrheit.

Wie furchtbar, dass es so weit kommen musste! Das Land fährt an die Wand. Den Leuten geht es schlecht. Den Armen noch schlechter. In der Ukraine sterben Menschen. Es ist das absolute Horrorszenario.

Aber jetzt sind alle wach. Jetzt wird alles gut. Jeder kümmert sich. Der eine kauft sich ein Balkonkraftwerk, die andere fährt freiwillig nur noch Tempo 100. Ein Dritter installiert eine Wärmepumpe, eine Vierte steigt aus dem Flugzeug aus und fährt mit der Bahn. Im Prinzip ist das die richtige Idee: Wir sind alle ein Teil der Lösung. Jeder und jede Einzelne ist gefordert, einen relevanten Beitrag zu leisten.

Doch leider passiert vieles nur sehr kurzsichtig: Leute kaufen in Panik Heizlüfter und Kaminholz; mancher sogar schnell noch eine neue Gasheizung. Deutschland schließt neue Gasverträge und baut Flüssiggas-Terminals. Eine echte Abkehr von fossiler Abhängigkeit sähe anders aus. Besonders ärgerlich ist, dass die Politik sich nicht traut, dem Volk etwas zuzumuten. Und der SUV-Fahrer denkt: »So schlimm kann’s nicht sein, sonst wäre mein Auto längst verboten.« Statt jetzt endlich zu tun, was zu tun ist, geben wir den Schwarzen Peter weiter und hoffen, dass es schon gut ausgehen wird.

So kommt es, dass immer neue Schockwellen die Welt in Angst und Schrecken versetzen, während die fossile Wirtschaft freudig Geschäfte macht und eimerweise das Geld der Verbraucher:innen in eine Maschinerie schüttet, die eben diese Schockwellen verursacht.

Es ist zum Haareraufen: Muss der Laden erst völlig an die Wand fahren, damit alle verstehen, was los ist? Warum muss erst die Katastrophe passieren? Warum handeln wir immer nur reaktiv und nicht präventiv?

Ich bin nicht die Erste und auch nicht die Einzige, die vieles hat kommen sehen. Ich habe davor gewarnt und Vorschläge gemacht, was besser zu tun wäre. Warum ich mir bei alledem so sicher war und bin? Weil ich mich seit 25 Jahren als Wissenschaftlerin mit nichts anderem beschäftige als mit Wirtschaft, mit Energie, mit Klima- und Umweltschutz, mit Politik – und auch mit Russland!

Wie oft habe ich in all den Jahren erlebt, mit welch absurden Argumenten und wie arrogant und ignorant wissenschaftliche Fakten attackiert, verdreht oder ins Lächerliche gezogen wurden. Wie oft musste ich machtlos ertragen, wie Falschbehauptungen und Populismus politische Entscheidungen beeinflusst und uns letztendlich in diesen entsetzlichen Schlamassel geführt haben.

Wie konnte es so weit kommen?

Seit der Renaissance, dem Beginn der modernen evidenzbasierten Wissenschaft, ist die Zahl an Universitäten, Hochschulen, Instituten, Laboren und Forschungseinrichtungen jeglicher Art stetig gewachsen. Einsame Denkerstübchen sind zu weltumspannenden Denkfabriken geworden, mit einem enormen Output, der nicht nur an Quantität, sondern auch an Qualität exponentiell zugenommen hat. Wurde ein Goethe noch als Universalgelehrter gefeiert, so haben wir 200 Jahre später so viel Wissen, dass ein einzelner Mensch es nicht mehr erfassen kann. Genau das wird jetzt zum Problem. Weil es so viel mehr Wissen gibt, als wir individuell verstehen und begreifen können, müssen wir vertrauen. Oder, wie manche sagen, »glauben«. Aber dieses »Glauben«, das so harmlos daherkommt, ist in Wahrheit ein Begriff der Wissenschaftsfeinde.

Nein, wir glauben nicht. Wir wissen.

Anders als die von Gott auserwählten Kaiser und Könige aus vordemokratischer Vergangenheit behaupten wir nicht, qua göttlicher Eingebung zu einer Erkenntnis gekommen zu sein. Nein, unser heutiges Wissen ist kein aristokratisches Privileg. Uns wird nicht nachts im Traum eine Botschaft von einer spirituell höheren Macht eingeflüstert. Die Erkenntnisse werden auch nicht mit autoritärer Gewalt dem Volk als alleinige Wahrheit übergestülpt.

Nein, unser wissenschaftliches Wissen ist in einem demokratischen, transparenten Verfahren bei Licht des Tages gewachsen. Es wird laufend hinterfragt und überprüft. Dieses Wissen wird einer interessierten bürgerlichen Weltgemeinschaft kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Menschen können darauf aufbauend in freier und fairer Abstimmung miteinander die Schlüsse ziehen, die ihren Werten entsprechen. Auf diese Mechanismen freier Wissenschaft in einer demokratisch geregelten Welt können wir vertrauen.

Das Zusammenspiel von Wissenschaft und Demokratie hat die einstige Allianz von Monarchie und Religion aufgebrochen und ersetzt. Die Aufklärung wurde zum Auftakt einer demokratischen Bewegung, die ihren Weg noch immer nicht abgeschlossen hat. Die Beharrungskräfte des alten Blut-Adels sind stark. Aber die Befreiungskräfte der Menschen sind stärker.

Die heutige Wissenschaftsfeindlichkeit entspringt eben nicht dem Drang nach Aufklärung und Befreiung. Sie entspringt ganz im Gegenteil einer autoritären und nach Großmacht strebenden Kraft. Sie behauptet lediglich, den Menschen zu dienen, während sie den Planeten plündert und den Menschen eine neue Erbschuld auferlegt, die über Generationen abgezahlt werden muss. Das fossile Imperium ist ein gewaltiges Geflecht, das sich um den gesamten Globus spannt. Es sind nicht die Russen, die Amerikaner, die Saudis. Es sind die Fossilen.

Diese Macht hat nicht den einen Stellvertreter Gottes auf Erden, keinen heiligen Vater, vor dem alle niederknien, kein kirchliches Oberhaupt, sondern viele Köpfe – wie Hydra, der Wasserdrachen aus der antiken Mythologie. Hydra war die Schwester von Kerberos, dem Höllenhund, von Chimäre, deren Name zum Synonym für Hirngespinste und Trugbilder geworden ist, und von der Sphinx, jenem Dämon der Zerstörung und des Unheils. Was für eine mafiöse Familie!

Gegen Hydra im Kampf zu gewinnen war schier unmöglich. Immer wenn ein Kopf abgeschlagen wurde, wuchsen zwei neue nach. Erst Herkules, ein Mensch mit übernatürlichen Kräften, fand einen Weg, das Ungeheuer zu töten. Er tat es nicht allein. Er hatte seinen Neffen Iolaos an seiner Seite, der ihn als Wagenlenker bei der Bewältigung aller seiner Aufgaben begleitete. Gemeinsam gelang ihnen der Sieg über Hydra: Sobald Herkules mit seiner Keule einen Kopf abgeschlagen hatte, griff Iolaos zur Fackel und brannte den enthaupteten Hals aus, damit kein neuer Kopf nachwachsen konnte.

Warum ich das erzähle? Weil ich vor vielen Jahren bei der Neujahrsfeier des Bundesverbandes Erneuerbarer Energien (BEE) eine Keynote mit den Worten begonnen habe: »Die Energiewende ist eine gewaltige Aufgabe. Man könnte sagen: eine Herkules-Aufgabe. Zum Glück hat Deutschland jetzt endlich einen Energieminister. Aber ist der auch ein Herkules?«

Der damalige Energieminister, so kam mir später zu Ohren, habe sich durch meine Rede verspottet gefühlt und sei, obwohl er die ursprüngliche Einladung abgesagt hatte, spontan noch auf der Jahresfeier erschienen, um dort ordentlich über mich herzuziehen. Nun denn, ich hatte es ernst gemeint und wollte niemanden verspotten.

Die Energiewende ist eine Herkulesaufgabe. Und wir müssen verstehen, dass niemand sie im Alleingang bewältigen kann. Denn diese Herkulesaufgabe hat mehr zum Ziel als das Ende der fossilen Energien. Es geht um eine sozial-ökologische Marktwirtschaft, die sich in rechtsstaatlich organisierter Gewaltenteilung transparent selbst kontrolliert und permanent erneuert. Es geht um ein faires und fürsorgliches Miteinander. Um Demokratie. Um Freiheit. Um Frieden.

Ich bin keine Kämpferin, aber ich stehe gern helfend bereit, um mit dem Feuer der Wissenschaft den halsstarrigen Hohlköpfen der fossilen Hydra den Garaus zu machen. Wer auch immer aufbricht, um den Kampf gegen den angeblich unbesiegbaren Drachen zu führen – ich werde nicht den Wagen lenken, aber gern den Blick. Und meine Fackel wird hoffentlich hell genug leuchten, damit die vielen Drachenköpfe deutlich zu erkennen sind.

Mit diesem Buch möchte ich den Blick auf die Vergangenheit öffnen, um die Gegenwart besser zu beleuchten. Die letzten 20 Jahre habe ich als Zeitzeugin miterlebt. Meine persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen können hoffentlich dazu beitragen, die Herausforderungen der Zukunft erfolgreicher anzugehen. Ohne eine ehrliche Aufarbeitung vergangener politischer und ökonomischer Entscheidungen wird es keinen kraftvollen Neustart geben.

Deswegen gehe ich in diesem Buch den Schockursachen auf den Grund: Für die Gesellschaft war der Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine eine Art von Erwachen aus einem jahrelangen Dornröschen-Schlaf, für die Wissenschaft nicht.

Energie ist eine Waffe in Putins Masterplan. Was heute so offensichtlich ist, war schon früh als Muster erkennbar. Die Wissenschaft warnte, aber die Politik wollte nicht sehen. Stattdessen wurden falsche Lehren und Schlüsse gezogen – und das, obwohl es schon viele Lösungsansätze gab, die aufgrund anderer Schockwellen bereits im Entstehen waren.

Wieso wussten manche schon so viel früher, was uns erwartete? Wann begann die Abhängigkeit von Russland, wieso haben wir Putin so sehr vertraut, und welche Rolle spielten Wirtschaft und Politik dabei? Hat Angela Merkel als Physikerin das Energieproblem und die Abhängigkeit von Russland wirklich nicht verstanden? Gerhard Schröder jedenfalls war ganz sicher nicht bloß gutgläubig und naiv.

Mächtige und finanzstarke Verhinderer haben die Energiewende strategisch blockiert. Das ist kein rein deutsches Problem. Lobbygruppen und Konzerne beeinflussten gezielt Politik und öffentliche Meinung und beschädigten damit die Grundfesten der Demokratie. Die verantwortlichen Politiker:innen haben bis heute nicht aus den Fehlern gelernt. Brückentechnologien jedenfalls benötigen wir keine mehr. Auch vor einer Deindustrialisierung brauchen wir keine Angst zu haben. Wir müssen nur endlich den Fuß von der Energiewende-Bremse nehmen.

Politik und Bevölkerung, also wir alle, haben es in der Hand, uns aus der fatalen Schockstarre zu lösen und effektive Bewältigungsstrategien der multiplen Krisen in Angriff zu nehmen. Die Energiewende ist mehr als ein simpler Wechsel der Energiequelle. Sie ist unsere letzte Chance für sichere Energien und Frieden.

Berlin/Oldenburg im Winter 2022/2023

Kapitel 1Verpasstes Energieembargo

Was wurde aus der Zeitenwende?

Einführung

Ein schnelles Energieembargo gegen Russland wäre sinnvoll und ökonomisch vertretbar! So lautete die wissenschaftliche Empfehlung an die Bundesregierung gleich zu Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Doch der Bundeskanzler entschied sich dagegen, mit einer überraschenden Begründung: Er vertraute lieber den Empfehlungen der Wirtschaft.

Alle Horrorszenarien werden wahr

Donnerstag, 24. Februar 2022. An jenem Morgen blickte ich auf mein Handy, wo in allen Medien die immer gleiche Eilmeldung aufblitzte. In den frühen Morgenstunden waren russische Truppen von mehreren Seiten in die Ukraine eingedrungen. Medien berichteten von Raketenangriffen und dem Einsatz von Kampfflugzeugen. Kämpfe sollen auch in der Tschernobyl-Zone nahe dem Atommülllager stattgefunden haben. Die in den Wochen zuvor an der ostukrainischen Grenze stationierten russischen Streitkräfte waren entgegen allen Beteuerungen nicht abgezogen worden. Stattdessen rückte weiteres Militär an die Grenze nach.

»Was für ein Albtraum!«, war mein erster Gedanke. »Seit über 20 Jahren habe ich davor gewarnt, dass so etwas passieren kann. Jetzt werden alle Horrorszenarien wahr: Der fossile Energie-Krieg eskaliert!«

Bei der Sitzung des Sachverständigenrats für Umweltfragen an diesem Tag traf ich auf meine Kolleg:innen. Alle waren erschüttert. Nur mit Mühe folgten wir der Tagungsordnung. Immer wieder schweifte unser Gespräch ab, und wir diskutierten Ursachen und Folgen des militärischen Angriffs. Den ganzen Tag behielten wir die Nachrichten im Blick. Wie reagierte Deutschland, wie Europa, wie die westliche Welt?

Schon am Tag zuvor hatte Deutschland die Zertifizierung und damit die Inbetriebnahme der Gas-Pipeline Nord Stream 2 gestoppt. Das war ein letzter verzweifelter Versuch gewesen, dem russischen Autokraten Putin zu drohen: Wenn du es wagst, einen Krieg zu beginnen, wirst du einen hohen Preis bezahlen!

Es hatte nichts genutzt. Am Abend hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Ausnahmezustand verhängt. In der Nacht kam der Angriff. Seit den Morgenstunden galt das Kriegsrecht.

Am Vormittag trat Außenministerin Annalena Baerbock vor die Presse. Ihr erster Satz lautete: »Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.«

Wohl wahr. Dies ist ein Krieg, der alles verändert. Die Energiekrise, die Klimakrise, die Demokratie-Krise, alles. Diesen Warnschuss haben jetzt alle gehört! Jetzt wachen die Menschen auf. Wenn dieser Krieg nicht völlig eskaliert, dann ist jetzt unsere letzte Chance, das Ruder herumzureißen.

»Aber wenigstens sind wir dann schnell tot«

Dies war nicht irgendein Krieg. Er fand nicht irgendwo in der Welt statt, sondern dicht vor den Toren der Europäischen Union. Seine Schlachtfelder lagen näher an Berlin als die Urlaubsstrände auf Mallorca. Der Aggressor war die zweitgrößte Atommacht der Welt, und die russischen Raketen waren nach Westen ausgerichtet – in derselben Richtung, wie jetzt in hohem Tempo die Truppen vorrückten.

Egal, mit wem ich in jenen Tagen sprach, die Menschen hatten Angst. Sie waren geschockt. Sie standen hilflos neben sich und fragten sich, ob irgendetwas in ihrem Alltag gerade noch einen Sinn ergab.

»Vielleicht ist übermorgen alles vorbei«, sagte mein Nachbar und meinte damit nicht den Krieg in der Ukraine, sondern sein eigenes Leben. Ich versuchte, ihm Mut zu machen: »So schnell geht das nicht!«

Er winkte ab: »Sie haben gut reden! Wenn die ganz große Bombe fällt, dann garantiert auf Berlin. Aber wenigstens sind wir dann schnell tot.«

Ich telefonierte mit einem befreundeten Fachkollegen in den USA. »Es ist schrecklich«, sagte er, »seit Jahrzehnten habt ihr Deutschen euch zu abhängig von Russland gemacht und Putin das Geld in den Rachen geworfen. Jetzt müssen die Ukrainer dafür bluten. Hoffentlich verstehen es die Menschen jetzt.«

»Ja«, sagte ich, »die Leute sind ja nicht blöd.«

»Aber wissen sie, was jetzt zu tun ist?«, fragte er. »Entweder schlägt irgendwann die Klimakatastrophe zu oder Europa geht vorher im fossilen Krieg zugrunde. Ihr müsst jetzt handeln!«

»Letztes Jahr die Flutkatastrophe im Erft- und Ahrtal. Mehr als 180 Tote allein in Deutschland, plus 42 in Belgien. Das vergessen die Menschen nicht«, entgegnete ich zuversichtlich. »Dazu die wirtschaftlichen Schäden in den betroffenen Gebieten, schätzungsweise 40 bis 50 Milliarden Euro. Und nun der brutale Angriffskrieg des größten fossilen Imperiums der Welt. Jetzt weiß doch jeder, dass fossile Energien brandgefährlich sind.«

»Wollen wir’s hoffen«, sagte er nachdenklich. »In den USA verstehen das leider längst noch nicht alle.«

Drei Tage nach Kriegsbeginn und nach drei Tagen des Schweigens trat der Bundeskanzler Olaf Scholz vors Parlament. Es war ein Sonntag. Der Bundestag war wegen des Ukraine-Kriegs zu einer Sondersitzung zusammengekommen. Erwartungsvoll blickten alle auf den Kanzler, als er ans Rednerpult trat.

»Wir erleben eine Zeitenwende«, fing er an. »Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.«

Er redete lange, bekam großen Applaus. Hängen blieb das Wort »Zeitenwende«. Es wurde fortan so oft zitiert, dass es Top-Favorit im Wettstreit um den Titel »Wort des Jahres« war. Es wurde in den Feuilletons aller großen Zeitungen in jeglicher Bedeutungsebene rauf und runter diskutiert. Im Laufe der folgenden Monate erschienen unzählige Bücher und Artikel mit dem bald schon fast überstrapazierten Begriff.

Die Zeitenwende, oder besser die Entscheidung, die Olaf Scholz mit der wohl bislang bedeutendsten Rede seiner Karriere einläutete, war viele Milliarden Euro schwer und bedeutete vor allem – und bislang leider fast ausschließlich – erhebliche Veränderungen in der deutschen Sicherheitspolitik: Die Partnerschaft mit Russland wurde auf- und klare Unterstützung für die Ukraine angekündigt, finanziell, wirtschaftlich, humanitär, politisch und durch die Lieferung von Waffen. Zudem sollte das Bemühen um einen EU-Kandidatenstatus der Ukraine und der Republik Moldau verstärkt werden. Das klare Bekenntnis zur NATO drückte sich vor allem durch das wenige Wochen später vom Parlament verabschiedete 100-Milliarden-Euro-Paket für die Bundeswehr aus; schließlich hatte Deutschland jahrelang die Zielmarke der NATO, 2 Prozent der Wirtschaftskraft für Verteidigung auszugeben und davon mindestens 20 Prozent in Rüstungsvorhaben zu investieren, deutlich unterschritten. Jetzt näherte sich der deutsche Verteidigungshaushalt dieser Zahl wenigstens an.

Und sonst? Zumindest in der Bevölkerung kehrte rasch Ernüchterung ein. Schon im Sommer war von dem Gefühl dieser ersten Tage nicht viel übrig geblieben. Mein Nachbar wollte vom Ukrainekrieg nichts mehr hören. Die Angst vor hohen Energiepreisen und die Inflation trieben ihn mehr um. »Alles wird teurer«, stöhnte er. »Der Krieg kann ja noch ewig dauern. Wie soll es denn weitergehen ohne russisches Gas? Das kann doch keiner bezahlen.«

Ich holte Luft, um zu antworten, doch er winkte ab. »Energiewende, ich weiß, Frau Kemfert! Dauert aber zu lange. Dieses Jahr werde ich die Gasnachzahlung noch stemmen. Aber wer zahlt sie nächstes Jahr?«

In mir nagte der Zweifel: Erleben wir tatsächlich eine Zeitenwende? Und wenn ja, ist es die, die ich erhofft und erwartet hatte?

Schrecksekunde in der Nacht

Der Krieg, von dem die meisten zu Beginn gedacht hatten, er sei mit einer schnellen Niederlage der Ukraine nach wenigen Tagen beendet, dauerte an. In den ersten Wochen wachte ich oft nachts auf und fragte mich, wie es wohl weitergehen werde. Die Ereignisse bereiteten mir große Sorgen – wie wohl uns allen. Jeden Moment drohte der Krieg weiter zu eskalieren. Es war eine extrem volatile Situation. Die Lage könnte schnell aus dem Ruder laufen. Alles war möglich.

In der Nacht zum 4. März war ich mal wieder nach unruhigen Träumen erwacht und blickte schläfrig auf mein Handy, um nach der Uhrzeit zu schauen. Dort blitzte die Eilmeldung auf: »Feuer in AKW Saporischschja!«

»Was für ein Horror!«, schoss es mir durch den Kopf. Saporischschja ist Europas größtes Atomkraftwerk und nur wenige Hundert Kilometer von Deutschland entfernt. Ich konnte in dieser Nacht nicht wieder einschlafen, meine Gedanken kreisten: »Hoffentlich gibt es keinen neuen Super-GAU wie in Tschernobyl. Das träfe ganz Europa. Putin will uns in Furcht und Schrecken versetzen, keine Frage. Er spielt mit unserer Angst. Trotzdem ist natürlich so ein Negativ-Szenario nie ausgeschlossen.« Ich hoffte, dass den Menschen die Augen aufgehen würden.

Zahlreiche Wissenschaftler:innen hatten davor gewarnt: Bomben auf einen Atomreaktor konnten eine nukleare Katastrophe auslösen. Die Gefahr eines militärischen oder terroristischen Angriffs auf ein Atomkraftwerk wurde schon seit Jahrzehnten diskutiert. Keines der mehr als 100 Atomkraftwerke in Europa war gegen einen solchen Anschlag gefeit.

Die Menschen waren beunruhigt und stellten Fragen. Aufgrund der verstärkten Suchanfragen bot Googles künstliche Intelligenz automatisch Fragen wie diese an: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Atomkraftwerk explodiert? Wie weit strahlt ein Atomkraftwerk, wenn es explodiert? Was passiert in Deutschland, wenn in der Ukraine das Atomkraftwerk explodiert?

Offenbar wurde plötzlich vielen Menschen klar, wie real die Gefahr war.

Der Krieg währt bei Drucklegung dieses Buches schon fast ein Jahr. Ein Ende ist nicht abzusehen. Selbst erfahrene Militärfachleute scheuen Vorhersagen. Zu sehr hatten sie anfangs danebengelegen. Wie wir heute wissen, ist aus dem »Blitzkrieg« ein langwieriger und brutaler Krieg geworden. Es sind Zehntausende gefallene Angehörige des Militärs auf beiden Seiten zu beklagen, Tausende getötete und verletzte Zivilist:innen, darunter Hunderte Kinder.

Schätzungen gehen allein von 14,6 Millionen Geflüchteten von Kriegsbeginn bis Ende Oktober 2022 aus, die die Ukraine verlassen haben; anfangs kamen teilweise über 200 000 Menschen pro Tag. Fast eine Million ukrainische Staatsangehörige sind bereits bis Ende September nach Deutschland eingereist und wurden erfasst. Deutschland zeigte sich angesichts der Fluchtwelle von seiner freundlichen Seite. Die Hilfsbereitschaft war und ist immer noch groß.

Fassungslos, aber nicht hilflos

Unzählige Bilder und Berichte über Gräueltaten und Massaker gingen um die Welt. »Diese Bilder werden den Krieg in eine neue Dimension katapultieren«, kommentiert Anfang April die Süddeutsche Zeitung. Um die Öffentlichkeit nicht allzu sehr zu verstören, wurden die meisten Aufnahmen verpixelt gezeigt. Trotzdem sind Orte wie Butscha und Mariupol, vorher den wenigsten Deutschen ein Begriff, zum Synonym für Kriegsverbrechen geworden.

Das Entsetzen darüber war groß, aber auch die Wut und die Entschlossenheit, dem Aggressor irgendetwas entgegenzusetzen.

Schon am Morgen des 24. Februar hatte die deutsche Außenministerin Baerbock erklärt: »Wir alle sind heute Morgen fassungslos, aber wir sind nicht hilflos«, und angekündigt: »Wir werden das volle Paket mit massivsten Sanktionen gegen Russland auf den Weg bringen.«

Tatsächlich hatte die Europäische Union schon am Vorabend des Krieges, nämlich am 23. Februar 2022, das allererste Sanktionspaket beschlossen – damals in Reaktion auf die völkerrechtswidrige Anerkennung der »Volksrepubliken« im Donbas durch Russland. Vermögenswerte aller 351 Mitglieder der russischen Staatsduma wurden eingefroren; es gab Reiseverbote und andere restriktive Maßnahmen gegen einzelne Personen, Banken und Geschäftsleute. Und am 25. Februar, keine 48 Stunden nach Kriegsbeginn, hatte man prompt das zweite Sanktionspaket auf den Weg gebracht.

Schnell war klar gewesen, dass es keine direkte Beteiligung der NATO geben würde. Niemand wollte das Risiko einer militärischen Eskalation eingehen. Aber genauso klar war, dass der Angriff Russlands gegen die Ukraine ein Angriff gegen das westliche Lebensmodell, gegen Demokratie und Menschenrechte als Ganzes war und mit aller Entschlossenheit auf politischer und wirtschaftlicher Ebene beantwortet werden müsse.

Im Februar und März 2022 verhängte die EU zwei weitere Sanktionspakete mit Einreise- und Vermögenssperren gegen zahlreiche hochrangige belarussische Militärs und Mitglieder des russischen Föderationsrats, einem Importverbot für Stahl und Eisen, einem Verbot von Investitionen in Ölunternehmen und den Energiesektor sowie einem Exportverbot für Luxusgüter. Das fünfte bis achte Sanktionspaket folgten im April, Juni, Juli und Oktober.

Doch all diese Maßnahmen würden erst nach einer gewissen Zeit ihre volle Wirkung zeigen. Die öffentliche Debatte kreiste deswegen um die Frage, wie man Russland so schnell wie möglich und so stark wie möglich treffen konnte, damit Putin seinen Krieg aufgab oder wenigstens zu Friedensgesprächen bereit war. Ein Druckmittel gab es, das garantiert Wirkung zeigen würde: ein sofortiger Importstopp von Kohle, Öl und Gas aus Russland.

Ein Energieembargo, da waren sich alle einig, würde ohne Frage Russland erheblich treffen. Etwa ein Fünftel des russischen Bruttoinlandsprodukts hängt an der Energiewirtschaft und damit hauptsächlich an Kohle, Öl und Gas. Fossile Energieträger machen rund zwei Drittel der gesamten Exporterlöse Russlands aus.

Der Energiesektor macht rund ein Drittel des russischen Staatshaushalts inklusive Steuern und Abgaben aus. Fiele ein Großteil durch ein Embargo weg, würde Russlands Wirtschaft stark beeinträchtigt werden – und ein wirtschaftlich geschwächtes Land ist auch militärisch geschwächt.

Außerdem basierte der russische Machtapparat im Wesentlichen auf engen personellen und finanziellen Verflechtungen mit der Energiewirtschaft. Putin hatte seit 1999 die Rückverstaatlichung des Energiesektors gezielt vorangetrieben und alle Schlüsselpositionen in der Energiewirtschaft mit engen Vertrauten besetzt. Ein entschlossenes und konsequentes Energieembargo gegen Russland würde diesen Machtapparat also ebenfalls empfindlich treffen.

Energieembargo – eine Diskussion und ein Irrtum

In Deutschland war die Diskussion zu dem Energieembargo besonders intensiv, denn Deutschland ist Putins bester Kunde, was das fossile Geschäft angeht. Kein anderes Land importiert mehr Kohle, Öl und Gas aus Russland als Deutschland. In den ersten beiden Kriegsmonaten soll Deutschland alleine 9,1 Milliarden Euro für Energie an Russland gezahlt haben. Umgekehrt ist Deutschland nach China, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich für Russland der viertwichtigste Handelspartner und Russland machte 2020 etwa 5,5 Prozent seines Exportgeschäfts mit deutschen Unternehmen.

Deswegen gab es zahlreiche prominente Stimmen aus der Politik, die Deutschland aufriefen, die milliardenschweren Lieferungen von Gas, Erdöl und Kohle aus Russland und vor allem den entgegengesetzten Geldfluss zu unterbrechen. Sofort.

Neben US-Außenminister Antony Blinken gehörte dazu vor allem der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Er zeigte sich enttäuscht, dass Deutschland sich schon bei den Waffenlieferungen an die Ukraine extrem zurückhielt, und forderte nunmehr wenigstens deutliche wirtschaftliche Sanktionen ein. Ein Energieembargo befürworteten auch Prominente aus den Regierungsfraktionen, etwa Jürgen Trittin (Grüne), Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und die Juso-Vorsitzende Jessica Rosenthal (SPD). Auch aus der Opposition kam Zuspruch für einen solch radikalen Importstopp von fossilen Energien, beispielsweise von Norbert Röttgen, Jens Spahn und Paul Ziemiak (alle CDU). Aus den Fraktionen der Linken und der AfD sprach sich hingegen niemand für ein Energieembargo aus.

Am deutlichsten aber begrüßte die deutsche Bevölkerung die Idee eines Energieembargos. Laut ZDF-Politbarometer waren Anfang März 55 Prozent der Befragten dafür, kein russisches Öl oder Gas mehr einzuführen, auch wenn es dann in Deutschland zu Versorgungsproblemen käme. Die Menschen wollten offenbar, dass die deutsche Reaktion auf den Angriff für Putin so schmerzhaft wie möglich ausfiel, und scheuten auch keine eigenen negativen Auswirkungen.

Zu einem vergleichbaren Ergebnis kam zur gleichen Zeit auch das Meinungsforschungsinstitut Civey in einer repräsentativen Umfrage. Sie hatten gefragt: »Wären Sie bereit, aufgrund möglicher Sanktionen gegen Russland persönlich wirtschaftliche Konsequenzen zu tragen (z. B. erhöhte Energiekosten)?« 54 Prozent antworteten mit Ja. 37 Prozent sagten, sie seien auf jeden Fall bereit, die Folgen zu tragen, 17 Prozent antworten mit »eher Ja«.

Umso erstaunlicher schien es, dass sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zeitgleich entschlossen gegen einen Importstopp aussprach. Er behauptete, dieser könne nicht von heute auf morgen wirksam werden. Bei überhasteten Schritten drohe Deutschland eine Rezession. Was genau ihn zu dieser Einschätzung bewogen hat, verriet er nicht. Deswegen kann man nur spekulieren, welche Motive seine Entscheidung beeinflussten.

Sicher, ein Bundeskanzler muss immer abwägen, die möglichen Wirkungen auf Gesellschaft und Gemeinwohl im Blick haben und darf sich nicht von Umfragen leiten lassen. Vermutlich befürchtete er einen möglichen Volksaufstand, der ausbrechen könnte, wenn die persönlichen wirtschaftlichen Konsequenzen doch höher ausfielen als gedacht.

Das technisch wirkende Argument, man könne einen Importstopp nicht von heute auf morgen machen, war jedenfalls vorgeschoben. Denn kurz darauf beschloss die EU ein gemeinsames Kohle-Embargo, dann auch ein Öl-Embargo. Beides trat erst zeitlich verzögert ein. So hätte man auch ein Gasembargo gestalten können.

Doch auch das zweite Argument, dass Deutschland eine Rezession einzig und allein durch ein Energieembargo drohe, schien wenig stichhaltig. Denn Deutschland drohte sowieso eine Rezession – mit oder ohne Embargo. Der Krieg würde in jedem Fall – auch ohne jedes Embargo – die Energiepreise auf den Weltmärkten steigen lassen.

Warum ein Krieg die Energiepreise steigen lässt

Fossile Energie wird zu großen Teilen mit sehr viel Vorlauf gekauft. Man muss zum Kaufzeitpunkt also den Verkaufspreis in einer ungewissen Zukunft abschätzen. Je länger im Voraus ich plane, desto ungewisser ist der Preis, aber je größere Mengen ich abnehme, desto billiger wird es. Die Mindestbedarfe werden über Jahre im Voraus in großen Mengen billig vertraglich abgesichert; die Spitzenverbrauchswerte werden kurzfristig teuer dazugekauft. In Friedenszeiten, wo sich alle wie gewohnt verhalten, kann man aufgrund der Erfahrungswerte relativ entspannt Vorhersagen treffen. Im Winter wird mehr Gas gebraucht als im Sommer. Das kann man auf Jahre hinaus am Kalender ablesen. In einem milden Winter wird weniger verbraucht als in einem kalten. Für die Kalkulation werden meteorologische Daten und Prognosen hinzugezogen. Deswegen gibt es im Gashandel ausgeklügelte Computerprogramme, die versuchen, derlei Faktoren bei einer umfassenden Risikobewertung auszubalancieren.

Ein Krieg aber bringt alles durcheinander. Hier taucht eine Vielzahl von neuen Risiken auf, die sich auf die Marktpreise auswirken. Ähnlich wie Menschen in Krisen anfangen, beispielsweise Mehl und Toilettenpapier zu hamstern, gibt es in Krisen auch auf den Energiemärkten verstärkte Aktivitäten. Dazu gehören auch Spekulanten, die auf eine Verschlechterung der Lage und damit auf steigende Preise wetten, indem sie Energie kaufen, ohne sie selbst zu brauchen oder handeln zu wollen. Sie hoffen auf Profit und treiben damit die Preise zusätzlich in die Höhe.

Insofern war auch schon weit vor dem 24. Februar 2022 erkennbar, dass die sich zuspitzende Lage an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine die Preise für fossile Energien steigen ließ. Der Ausbruch des Krieges würde die Preise also garantiert weiter steigen lassen. Denn früher oder später war damit zu rechnen, dass zwischen Russland und Europa kein Gas und kein Öl mehr fließen würde. Und dabei war es egal, ob Putin Stopp sagte oder die EU.

Das Einzige, was die Preissteigerung stoppen konnte, war ein schnelles Ende des Krieges. Und dafür war ein Embargo ein ziemlich vielversprechendes Instrument.

Wenn die Preise steigen, ist die deutsche Wirtschaft belastet. Ist sie überlastet, gibt es eine Rezession. Aber ist es das Ende? Natürlich nicht. Es ist schlimm, das ist keine Frage. Aber es ist machbar. Jedenfalls haben wir das schon in der Corona-Pandemie erlebt – und ganz gut überstanden. Im Jahr 2020 geriet nämlich die deutsche Wirtschaft nach zehn Jahren des Wachstums in eine tiefe Rezession. Das war für manche Branchen – Gastronomie, Luftverkehr, Tourismus, Kultur und so weiter – durchaus dramatisch, aber es bedeutete für Deutschland nicht den Untergang. Manche Branchen haben sogar davon profitiert, der Onlinehandel zum Beispiel.

Warum ein Energieembargo richtig gewesen wäre

Ich persönlich habe mich für ein schnelles Energieembargo eingesetzt. Ein frühzeitiges Energieembargo hätte ein früheres Ende des Kriegs bewirken können – und zwar sowohl ein Ende des brutalen Angriffskriegs gegen die Ukraine als auch ein Ende des Energiekriegs gegen den Westen. Mit einem Energieembargo hätten wir den Spieß einfach umgedreht: Statt dass Putin uns den Gashahn zudreht, drehen wir ihm den Geldhahn zu. Mit einer radikalen Abkehr von fossilen Energien erschweren wir die Finanzierung eines Kriegs und jeglicher Repressalien gegen die russische Bevölkerung. Gleichzeitig machen wir uns unabhängig. Und wir schaden Putin. Schließlich ist der Verkauf von Energien seine Haupteinnahmequelle.

Aus Angst vor Preissteigerungen ein Embargo auszuschließen ist ein Logikfehler, der sich wissenschaftlich klar widerlegen lässt. Auch ohne Sanktionen bekämen wir keine billige Energie, denn ein Verzicht auf Sanktionen führt nicht automatisch zu keinem Energie-Stopp und auch nicht automatisch zu billiger Energie wie bisher.

Um es in formaler Logik auszudrücken: Wenn die Aussage »A bewirkt B« wahr ist, folgt daraus eben nicht automatisch, dass auch »Nicht A bewirkt Nicht B« wahr ist. Wenn es regnet, werde ich nass. Stimmt. Wenn es nicht regnet, werde ich nicht nass. Das stimmt nicht, wenn ich gerade unter der Dusche stehe. Denn B kann auch durch etwas anderes ausgelöst werden. Nicht nur wir könnten mit einem Embargo »Stopp« sagen, sondern mindestens genauso einfach auch Putin – und zwar ganz unabhängig davon, ob wir Sanktionen erheben oder nicht. Und genau so ist es ja auch gekommen.

Zu glauben, Putin würde diesen Schritt nicht gehen, bedeutete, das Ruder aus der Hand zu geben. Dabei war von Anfang an klar: Schnellstmöglich zu Alternativen zur russischen Energie zu wechseln ist folgerichtig und zwingend nötig – und zwar sowohl im Falle eines selbstbestimmten Importstopps als auch bei einem fremdbestimmten Lieferstopp durch Putin. Ein Verzicht auf russische Energie ist energiewirtschaftlich möglich, wie unsere Berechnungen gezeigt haben – und wie sich in der Realität auch bestätigt hat. Die deutschen Speicher waren vor der anvisierten Zeit wieder gefüllt – am Ende auch ohne russisches Gas.

Natürlich hatten wir ohne Embargo noch einige Monate länger Zeit, das russische Gas zu ersetzen. Aber leider haben wir diese Monate über auch Milliarden Euro in Putins Kriegskasse gespült. Ein frühzeitiges Energieembargo wäre schmerzhaft gewesen und hätte vielleicht bedeutet, dass wir den Sommer über hätten stärker Energie sparen müssen. Aber auch das wäre – gerade im Sommer – möglich gewesen, wie wir in unseren Modellrechnungen zeigen konnten.

Ein frühzeitiges Energieembargo wäre ein deutlicher Schlag gegen Putin gewesen und darüber hinaus ein Befreiungsschlag für Deutschland, der uns erlöst hätte aus der Energieabhängigkeit und der Fremdbestimmtheit. Es hätte uns als Nation zusammengeführt und die Solidarität Europas gefestigt, die Deutschland aufgrund seines Zauderns strapaziert hat.

Nun lag offen, dass sich Deutschland nicht von Logik und Vernunft leiten ließ, sondern von einer unlogischen, diffusen Angst vor Wohlstandsverlust. Damit war auch klar, dass Putin mit dem Lieferstopp eine sehr mächtige Waffe in der Hand hatte, die er wie seine Folterinstrumente nach und nach zum Einsatz bringen würde – was er dann ja auch tat.

Auswege aus der Abhängigkeit

Natürlich war Deutschland, aber auch Europa insgesamt enorm abhängig von den russischen Energielieferungen. Etwa ein Viertel des nach Europa importierten Öls und Gases kam aus Russland und sogar rund 50 Prozent der Kohle. Manche Länder kauften deutlich mehr Öl aus Russland, beispielsweise Tschechien, Ungarn oder die Slowakei, die direkt an der sogenannten »Freundschafts-Pipeline« hängen. Deutschland importierte vor allem Gas. Laut Wirtschaftsminister Robert Habeck hatten wir zu Beginn des Angriffskriegs im Frühjahr 2022 einen »Import von 55 Prozent Gas, 50 Prozent Kohle und 35 Prozent Öl aus Russland«. Genau das machte Deutschland wirtschaftlich besonders verletzlich.

Aber war die Lage wirklich so aussichtslos, wie der Kanzler es offenbar befürchtete? Nein, denn es gab Alternativen zur Abhängigkeit. Auf dem Weltmarkt gibt es ein ausreichendes Angebot an Öl, Kohle und auch Gas. Es wäre teuer geworden, aber es wäre machbar gewesen. Russland hat auf keine Energiequelle ein alleiniges Monopol. Und es hat sich ja gezeigt, dass wir alle notwendigen Ressourcen zusammenbekamen.

Öl und Kohle konnten immer schon problemlos aus anderen Ländern bezogen werden. Für Steinkohle gibt es leicht verfügbare alternative Lieferanten, etwa Südafrika oder Kolumbien. Auch Öl ist auf dem Weltmarkt derzeit nicht knapp. Die OPEC kann ihre Förderquoten erhöhen, die USA können das auch tun.

Nur beim Gas war es komplizierter, aber auch hier war russisches Erdgas nicht alternativlos. Deutschland bezog anteilig so viel Gas aus Russland wie kein anderes Land auf der Welt. Aber wir waren nicht nur wegen der enormen Menge an Gas besonders verletzlich, sondern vor allem, weil wir durch die direkte Nord-Stream-Pipeline nach Russland weniger Ausweichmöglichkeiten hatten. Andere EU-Länder hatten – wie in der gemeinsamen Energie-Union vereinbart – die Abhängigkeit zu Russland in den letzten zehn Jahren deutlich vermindert und Flüssiggas-Terminals gebaut. Deutschland hatte das nicht getan, was ein fataler Fehler war, auf den ich immer wieder hingewiesen hatte. Im Frühjahr 2022 steckten wir deswegen in einer vertrackten Lage. Woher und vor allem auf welchem Weg sollte das Gas nach Deutschland kommen, wenn nicht aus Russland?

Genau dazu brauchten wir bei Kriegsbeginn schnell wissenschaftliche Antworten. Mein Team und ich machten uns an die Arbeit und modellierten binnen kürzester Zeit, was passieren würde, wenn die Gaslieferungen ausblieben – egal aus welchem Grund.

Wir fingen nicht bei null an, denn wir erstellen schon seit knapp 20 Jahren Daten, Modellierungen und Studien zum Gasmarkt. Mit einem Ausfall der Lieferungen war auch vor dem Angriff auf die Ukraine jederzeit zu rechnen. Die Pipeline hätte beispielsweise ausfallen können, sei es durch irgendein Naturereignis oder durch einen terroristischen Anschlag. Insofern hatten wir die notwendigen Zahlen für eine solche Berechnung bis ins tiefste Detail der komplexen Datenlage vorliegen.

Schon bei vergangenen Gaslieferunterbrechungen durch Russland in den Jahren 2009 und 2012 hatten wir die Gasversorgungslage in Europa und Deutschland detailliert analysiert. Im Jahr 2014 – als Russland den bewaffneten Konflikt in der Ukraine begann – hatten wir umfassend Russlands Rolle im Europäischen Gasmarkt und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit untersucht. Darauf aufbauend konnten wir jetzt also sehr präzise verschiedene Szenarien durchrechnen und wussten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit, was schlimmstenfalls auf dem Gasmarkt passieren würde.

Unser Ergebnis lautete: Die Gasversorgung ohne russisches Gas zu sichern, ist nicht leicht, aber handhabbar.

Einen Teil des Gases könnten wir im europäischen Kontext über existierende Pipeline-Routen beispielsweise aus Norwegen oder im Süden Europas aus Nordafrika importieren. Ein anderer Teil könnte mittels Flüssigerdgas (LNG) beispielsweise aus Katar oder den USA nach Europa transportiert werden. Die damit verbundenen Umweltschäden wären unter diesen Umständen das geringere Übel.

Kurz: Deutschland könnte über den europäischen Verbund die notwendige Energie weltweit erwerben. Es wird teuer, aber Deutschland ist ein reiches Land und kauft anderen das Gas weg.

Wir gingen sogar noch einen Schritt weiter, denn der Totalausfall von russischer Energie hätte auch Auswirkungen auf den deutschen Strommarkt. Auch das rechneten wir konkret durch und kamen zu dem Schluss, dass auch dies handhabbar wäre. Wir könnten, wie beschlossen und geplant, bis 2030 aus Atom- und Kohleenergie aussteigen, wir müssten dann nur die erneuerbaren Energien deutlich schneller ausbauen. Zwar würden wir kurzfristig etwas mehr Kohle für die Strom- und Wärmeherstellung nutzen müssen, aber niemand müsste im Kalten oder im Dunkeln sitzen.

In ähnlicher Weise rechneten andere Forschungseinrichtungen mit ihrer jeweiligen Expertise weitere Facetten der Szenarien durch, beispielsweise die Folgen eines Embargos für bestimmte Industrie- oder Produktionszweige, die Import-Export-Effekte, die Auswirkungen auf Finanz- oder Arbeitsmärkte sowie natürlich die gesamtwirtschaftlichen Effekte eines Energieembargos. Alle arbeiteten auf Hochtouren. In kürzester Zeit entstanden zahlreiche Studien. Deutschlands Wissenschaft zeigte, was sie draufhatte!

Alle kamen weitestgehend zu demselben Schluss: Es wird nicht leicht, und es wird teuer, aber es ist machbar!

Ein souveräner Akt der Selbstverteidigung

Schon einen Tag vor Kriegsbeginn meldete sich deswegen sehr deutlich die Wissenschaft zu Wort. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) erklärte, ein Handelsstopp mit Gas hätte »einen Einbruch der russischen Wirtschaftsleistung um knapp drei Prozent zur Folge, ein Handelsstopp mit Öl einen Einbruch um gut ein Prozent«. Was die heimischen Kollateralschäden anging, lautete der Befund: »Für Deutschland und die EU wären die wirtschaftlichen Schäden in beiden Fällen äußerst gering.« Dabei spielte es laut IfW keine Rolle, ob ein Einfuhrembargo seitens der EU verhängt würde oder ob Russland ein Lieferembargo beschlösse.

Auch ein spontan gebildetes Team aus neun deutschen Forscher:innen hatte das Importstopp-Szenario mit wissenschaftlicher Akribie durchgespielt und war sicher: Deutschland kann ein Energieembargo verkraften! Fast zeitgleich zogen elf weitere Wissenschaftler:innen von der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina nach. Ein Embargo sei handhabbar. Dafür müsse, könne und solle die Versorgung international diversifiziert und die Energieträger stufenweise ersetzt werden.

Eine der Embargo-Befürwortenden war Volkswirtin und Kollegin Veronika Grimm aus dem Sachverständigenrat für Wirtschaft der Bundesregierung: »Je länger wir warten, desto mehr Zeit bleibt auch Putin und seinen Verbündeten, sich auf die Sanktionen einzustellen«, sagte sie am 8. März dem Handelsblatt und warnte, das nehme einem Embargo unter Umständen die Schlagkraft. Dabei wies sie auf einen wichtigen Umstand hin: dass es nämlich nicht nur um Energie und Wirtschaftsfolgen ginge, sondern um die Stabilität der Demokratie und Sicherheit in Europa und der Welt.

Doch plötzlich hatte auch jeder Laie zur Frage eines möglichen Importstopps russischer Energielieferungen eine Meinung. Aus dem Land der Nationaltrainer war über Nacht ein Land der Energiexpert:innen geworden. Dieses so stark erwachte Interesse habe ich daher wie immer mit Fakten unterfüttert und die gängigen Argumente wissenschaftlich eingeordnet.

Auf Basis der wissenschaftlichen Fakten war auch meine Position klar. »Putins Krieg: Warum ein Importstopp russischer Energielieferungen richtig ist«, lautete die Überschrift meiner Kolumne im Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) am 11. März. Ich votierte für ein Embargo, weil ich es für politisch geboten hielt, die Ukraine zu unterstützen, wenn der Preis verkraftbar war: »Ein proaktives Embargo wäre ein sehr souveräner Akt der Selbstverteidigung, bei dem wir die Handlungshoheit über den Zeitpunkt bewahren.«

Zugleich erinnerte ich daran, dass die hohen Preise in Deutschland nicht allein eine Folge des Kriegs, sondern auch der Preis der verschleppten Energiewende seien. Alle, die rechtzeitig auf erneuerbare Energie umgestiegen waren, schauten nämlich relativ entspannt auf die Energiemärkte. Dänemark zum Beispiel oder auch deutsche Städte wie Höxter oder Paderborn waren eben nicht so stark von teureren fossilen Energien abhängig.

Außerdem könnten wir die Energiekosten reduzieren, indem wir endlich unseren Verbrauch drosselten. Vielleicht wäre mancher bereit, im Kampf für Freiheit und Demokratie auf die eine oder andere Verschwendung zu verzichten. Das betrifft vor allem reichere Haushalte, die viel mehr fossile Energien verbrauchen und vor allem verschwenden als ärmere. Statt »Spritpreisbremsen« bräuchten wir nämlich nur »Verschwendungsbremsen«. Das würde nicht mal unsere Lebensqualität mindern, im Gegenteil. Im Netz, so machte ich Mut, kursierten bereits Slogans wie »Tempo 100 für eine freie Ukraine!« oder »1 Grad weniger ist Feuer unter Putins Hintern!«

Es läuft nach Putins Drehbuch

Es kam bekanntlich anders. Deutschland sperrte sich gegen ein rasches und komplettes Energieembargo. Das führte auf europäischer Ebene zu komplizierten Verhandlungen, die am Ende kleinteilig geregelte und schrittweise eingeführte Sanktionen gegen fossile Rohstoffe zum Ergebnis hatten: Ab August 2022 galt eine Sanktion gegen den Import von Kohle und anderen festen fossilen Brennstoffen wie etwa Kokskohle, Steinkohlenbriketts oder Teer aus Steinkohle. Sanktionen gegen den Import von Rohöl und bestimmten Erdölerzeugnissen treten ab Januar beziehungsweise ab März 2023 in Kraft. Nur der Import von Gas wurde nicht angetastet.

Trotzdem musste sich Deutschland darauf vorbereiten, dass Putin die Gas- und Öllieferungen seinerseits stoppte. Angedroht hatte er es schon.

Die deutsche Ablehnung eines Embargos und ihre Begründung war nicht nur wissenschaftlich fragwürdig, sie war auch in sich widersprüchlich. Denn als Wirtschaftsminister Habeck im März seine Ablehnung eines Embargos begründete, versicherte er quasi im selben Atemzug, dass Deutschland bereits heute damit umgehen könne, falls Russland von sich aus seine Ausfuhren stoppen würde.

Ja, was denn nun? Wenn wir damit umgehen können, dass Putin uns das Gas abdreht, dann könnten wir ja logischerweise auch damit umgehen, wenn wir selbst das Gas abstellen. Ohne Gas ist ohne Gas – egal, wer den Hebel bedient.

Offenbar hatte der Wirtschaftsminister die sehr eindeutigen Stimmen der Wissenschaft durchaus vernommen. Gleichzeitig hatte man sich aber anscheinend durch Stimmen aus der Wirtschaft derart verunsichern lassen, dass man sich für einen seltsamen Mittelweg entschied: kein aktives Embargo, damit die Wirtschaft der Regierung keine Vorwürfe machen kann – und insgeheim darauf vertrauen, dass die Wissenschaft recht behält, falls Putin seine Ausfuhren stoppt.

So ging der Wirtschaftsminister auf Shoppingtour, sein Ministerium arbeitete rund um die Uhr, um all das zu tun, was die Wissenschaft als kurzfristige Notmaßnahmen empfohlen hatte. Das war dann wohl der Weg des angeblich kleinsten gemeinsamen Nenners.

Am Ende geschah, was wir in unseren Modellen errechnet und ich in meiner RND-Kolumne erklärt hatte: »Die Preis-Explosion bei fossilen Energien belastet die gesamte Wirtschaft schon jetzt und sie belastet auch die privaten Haushalte. Derzeit noch durch steigende Energiepreise, zunehmend auch durch allgemeine Preissteigerungen. Denn ob Zahnpasta oder Mountainbike – überall steckt teure Energie drin.«

Welche sozialen und politischen Folgen solche Preissteigerungen haben würden, war wissenschaftlich auch klar gewesen. »Uns drohen starke soziale Verwerfungen. Vor allem Menschen mit niedrigen Einkommen und wenig Vermögen werden die steigenden Preise schmerzlich spüren«, hatte ich in meiner Kolumne vorhergesagt. »Und es ist durchaus wahrscheinlich, dass vor allem anti-demokratische Kräfte diese Situation versuchen werden auszunutzen, um die Stimmung spalterisch aufzuheizen. Ohne Zweifel spielen die sozialen Verwerfungen innerhalb der westlichen Demokratie in Putins Karten. Nicht umsonst sind russische Medien stetig aktive Treiber von Fake News und Verschwörungsgeschwurbel.«

Gerade deswegen dürfe man sich nicht politisch erpressbar machen und aus Angst vor »Gelbwesten« auf einen Importstopp verzichten. »Den sozialen Verwerfungen durch die Preissteigerungen müssen wir sowieso begegnen!« Dazu hatte ich konkrete Ansätze benannt: »Wir müssen einkommensschwachen Haushalten helfen, ihre Heizkosten zu bezahlen, den ÖPNV billiger machen, ein Mobilitätsgeld bezahlen. Auch dafür gibt es Studien und wissenschaftliche Modelle, wie sich dergleichen gezielt, gerecht und wirkungsvoll organisieren ließe.«

In den Monaten darauf trat alles ein, was wir prognostiziert hatten. Es gab eine Preis-Explosion bei fossilen Energien und dadurch allgemeine Preissteigerungen. Menschen mit niedrigen Einkommen und wenig Vermögen machten und machen die steigenden Preise zu schaffen. Zwar gab es für einkommensschwache Haushalte Hilfen für Heizkosten, Mobilitätsgeld für den Mittelstand und billigen ÖPNV für alle. Aber trotzdem war die Bevölkerung verunsichert und wütend.

Fatale Kommunikation der Regierung

Die Begründung des Kanzlers, als er sich Anfang März gegen ein Energieembargo aussprach, war also in der Sache nicht überzeugend. Aber sie hatte einen Effekt, leider einen negativen. Scholz argumentierte mit einem kausalen Zusammenhang, den es tatsächlich gab – die Folge eines Energieembargos wäre eine Rezession –, aber er vernachlässigte dabei, dass auch die Folgen des Krieges ohne Energiesanktionen eine Rezession bedeuten würden. Anders gesagt: Der Krieg ist der Grund für die Rezession, nicht die Energiesanktionen. Die Energiesanktionen verstärken die Rezession nur.

Es schien wie eine Bestätigung, dass sich schon eine Woche später das Meinungsbild leicht verschoben hatte. In einer YouGov-Umfrage befürworteten die Deutschen zwar zu 65 Prozent grundsätzlich weitere Wirtschaftssanktionen. Wenn dies allerdings bedeuten würde, dass die Energiepreise signifikant ansteigen, befürworteten nur noch 38 Prozent eine weitere Verschärfung der Sanktionen gegen Russland. 44 Prozent der Befragten lehnten sie sogar eher ab.

Die Aussagekraft solcher Umfragen ist sicherlich begrenzt, und sie sind in hohem Maße von der Art der Fragestellung abhängig. Zwar geben sie ein Stimmungsbild, sie beruhen aber auf hypothetischen – und ziemlich unrealistischen – Annahmen. Die Vorstellung, wir hätten die Wahl, ob es zu Preissteigerungen im Energiemarkt käme oder nicht, war eine völlige Fehleinschätzung der Situation. Wie wir inzwischen wissen, kam es auch ohne das Embargo zu eklatanten Preissteigerungen im Energiemarkt.

Doch eine solche (sehr wahrscheinliche) Prognose wurde von der Regierung Anfang März nicht verlautbart. Im Gegenteil, in großer Geschlossenheit stellten sich wie der Kanzler auch der Finanzminister, der Wirtschaftsminister und die Außenministerin gegen ein Energieembargo, alle im Kern mit derselben Begründung: »Putin wollen wir schwächen, nicht uns selbst.« Wenn man von heute auf morgen jegliche Energieimporte einstellen würde, »würde das bedeuten, dass wir keinen Strom und keine Wärme in ein paar Wochen mehr haben würden«, so Annalena Baerbock. Das sei doch genau die Destabilisierung, die sich der russische Präsident nur wünschen würde. Mit einem sofortigen Ende russischer Energielieferungen seien gesamtgesellschaftliche Schäden »schwersten Ausmaßes« verbunden.

Wenn aus der Regierung ohne Unterschied solche Sätze kommen, zeigt das Wirkung – weniger bei den Menschen als bei den Medien. Als der Spiegel Ende April erneut eine Umfrage in Auftrag gab, waren immer noch sehr viele Menschen auch zu konkretem Verzicht bereit: 500 Euro weniger? 42 %. – 750 Euro weniger? 4 %. – 1 000 Euro weniger? 15 %. – Tempolimit? 70 %. – Weniger Auto fahren? 42 %. – Kein Auto mehr? 10 % – Weniger heizen? 76 %. – Kalt duschen im Winter? Immerhin 10 %.

Aber was steht über dem Artikel? »Die Angst der Deutschen vor der kalten Dusche«. Die FAZ fasst die Studie am 28. April folgendermaßen zusammen: »Nur knapp die Hälfte der Deutschen wäre bereit, persönliche Einbußen hinzunehmen, um ein Energieembargo gegen Russland zu ermöglichen.«

Dabei waren – um es mal journalistisch zu formulieren – drei von vier Deutschen bereit, in Solidarität mit den Ukrainern im Winter zu frieren (76 %). Und knapp zwei Drittel der Deutschen wäre die Schwächung Putins mindestens 500 Euro wert (42 + 4 + 15 = 61 Prozent). Das ist viel, wenn man bedenkt, dass knapp ein Fünftel der Deutschen von Armut betroffen ist, also schwerlich auf irgendeinen Cent verzichten kann. Da bleiben nicht viele, die real Nein zu finanziellen Einbußen gesagt haben. Und wer weiß, vielleicht hätten sie bei 400 Euro oder 250 Euro doch »Ja« angekreuzt.

Die Kommunikation der Regierung in dieser Frage war doppelt fatal. Statt Stärke zu zeigen, strahlte sie Sorgen und Bedenken aus. Nicht vor Putin, sondern vor dem eigenen Volk. Zugleich weckte sie die Erwartung, dass »keine Sanktionen« das Land vor gesamtgesellschaftlichen Schäden schwersten Ausmaßes schützen würden. Das war eine Illusion!

Wenige Wochen später sollte es dafür die Quittung geben, weil sich die Bevölkerung über steigende Energie- und Lebensmittelpreise empörte. Aufgrund der missverständlichen Kommunikation der Regierung fühlte sich das Volk nämlich betrogen. Prompt versuchten anti-demokratische Kräfte die Stimmung spalterisch aufzuheizen.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass uns eine »Blut, Schweiß und Tränen«-Rede des Kanzlers und ein schnelles, umfassendes Energieembargo davor gefeit hätten. Zugleich wäre es ein starkes Signal in die Europäische Union hinein gewesen, dass Deutschland aus den Fehlern der Vergangenheit lernt und sich nunmehr kraftvoll und solidarisch Seite an Seite mit anderen willigen demokratischen Ländern gegen den aggressiven Despoten in Russland stellt.

So aber ging die Regierung mit ihrer halbherzigen Entscheidung Putin auf den Leim, der genau darauf setzte: die Angst der deutschen Regierung vor der eigenen Courage.