Schöner Schein - Donna Leon - E-Book

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Donna Leon

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Beschreibung

Nichts als Schöner Schein das denken sich wohl die Leute, wenn sie »la Superliftata« in der Calle begegnen. Brunetti aber merkt, dass sich hinter den starren Zügen von Franca Marinello Geheimnisse verbergen. Nicht anders als hinter den feinen Fassaden von Venedig: Den Machenschaften der Müllmafia auf der Spur, entdeckt Brunetti die Kehrseite der Serenissima.

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Donna Leon

Schöner Schein

Commissario Brunettis achtzehnter Fall

Roman Aus dem Amerikanischen von

Titel des Originals:

›About Face‹

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2010 im Diogenes Verlag

Das Motto aus: Mozart, Così fan tutte,

Akt I, Szene II

Covermotiv:

Foto von David Angel

Copyright ©David Angel/Alamy

Für Petra Reski-Lando und Lino Lando

All Rights reserved

Alle Rechte vorbehalten

Copyright ©2020

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24098 6

Che ti par di quell’aspetto?

Wie gefällt dir dies Gesicht?

[7] 1

Die Frau fiel ihm auf, als sie beide sich zu ihrer Abendeinladung auf den Weg gemacht hatten. Er und Paola waren vor einer Buchhandlung stehen geblieben, und während er sich vor der spiegelnden Scheibe die Krawatte richtete, sah Brunetti in seinem Rücken die Frau, die sich, Arm in Arm mit einem älteren Mann, Richtung Campo San Barnaba entfernte. Er sah sie von hinten, der Mann zu ihrer Linken. Als Erstes bemerkte Brunetti ihr Haar, hellblond wie Paolas, zu einem sanften Knoten tief in ihrem Nacken geschlungen. Als er sich umwandte, um sie genauer zu sehen, war das Paar schon an ihnen vorbei und näherte sich der Brücke, die Richtung San Barnaba führte.

Ihr Mantel – vielleicht Hermelin, vielleicht Zobel: auf jeden Fall etwas Teureres als Nerz, dachte Brunetti – reichte bis knapp über sehr zierliche Fesseln und Schuhe mit Absätzen, die eigentlich zu hoch waren für die noch von Schnee- und Eisresten bedeckten Calli.

Brunetti kannte den Mann, kam aber nicht auf seinen Namen: Nur eine vage Erinnerung an Reichtum und Einfluss stieg in ihm auf. Kleiner und breiter als die Frau, bemühte sich der Mann mehr als sie, den vereisten Flächen auszuweichen. Am Fuß der Brücke machte er plötzlich einen Schritt zur Seite und suchte mit einer Hand am Geländer Halt. Die Frau an seinem Arm wurde mitgezogen und drehte sich auf einem Fuß, den anderen noch in der Schwebe, [8] so dass der immer noch neugierige Brunetti sie nun nicht mehr richtig sehen konnte.

»Wenn du Lust hast, Guido«, sagte Paola neben ihm, »kannst du mir zum Geburtstag die neue William-James-Biographie schenken.«

Brunetti riss sich von dem Pärchen los und folgte dem Zeigefinger seiner Frau, der auf ein dickes Buch im hinteren Teil des Schaufensters wies.

»Ich dachte, der heißt Henry«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen.

Sie zog ihn mit einem Ruck enger an sich. »Stell dich nicht dumm, Guido Brunetti. Du weißt, wer William James ist.«

Er nickte. »Aber warum interessiert dich die Biographie des Bruders?«

»Mich interessiert die ganze Familie und überhaupt so ziemlich alles, was ihn zu dem gemacht haben könnte, der er war.«

Brunetti dachte an die Zeit vor über zwanzig Jahren, als er Paola kennengelernt und den brennenden Wunsch verspürt hatte, alles über sie in Erfahrung zu bringen: über ihre Familie, ihre Vorlieben, ihre Freunde, alles, was ihm mehr über diese wunderbare junge Frau sagen konnte, die ein gütiges Schicksal ihm zwischen den Regalen der Universitätsbibliothek über den Weg geschickt hatte. Brunetti fand eine solche Wissbegier durchaus normal, wenn es um einen lebenden Menschen ging. Aber bei einem Schriftsteller, der seit fast hundert Jahren tot war?

»Was fasziniert dich nur so an ihm?«, bohrte er nicht zum ersten Mal. Brunetti merkte selbst, dass er sich wieder einmal wie der reizbare, eifersüchtige Ehemann aufführte, den [9] ihre Schwärmerei für Henry James schon oft aus ihm gemacht hatte.

Sie ließ seinen Arm los und trat zurück, als wollte sie sich den Mann, mit dem sie aus irgendeinem Grund verheiratet war, einmal genauer ansehen. »Weil er viele Dinge versteht«, sagte sie endlich.

»Aha«, meinte Brunetti nur wortkarg. »Sonst nichts?« Ihm schien, das sei das mindeste, was man von einem Schriftsteller erwarten konnte.

»Und weil er auch uns dazu bringt, diese Dinge zu verstehen«, fügte sie hinzu.

Und damit war das Thema erledigt.

Paola schien der Ansicht, sie hätten jetzt mehr als genug Zeit damit verbracht. »Komm. Du weißt, wie mein Vater es hasst, wenn man zu spät kommt.«

Sie ließen die Buchhandlung hinter sich. Am Fuß der Brücke blieb Paola stehen und sah ihm ins Gesicht. »Du weißt, ich habe dir das schon oft gesagt«, fing sie an. Er wusste, was jetzt kam, und es stimmte, sie hatte ihm das schon oft gesagt. »Du bist Henry James wirklich sehr ähnlich.«

Wie jedes Mal, wenn sie ihm das sagte, wusste Brunetti nicht, ob er sich durch diesen Vergleich geschmeichelt oder gekränkt fühlen sollte. Zum Glück hatte er im Lauf der Jahre gelernt, nicht jedes Mal die Grundlagen ihrer Ehe in Frage zu stellen.

»Und du willst die Dinge verstehen, Guido. Sonst wärst du wohl nicht Polizist geworden.« Sie überlegte einen Moment. »Aber du willst auch, dass andere Leute diese Dinge verstehen.« Sie wandte sich ab, ging die Brücke hinauf und rief noch über die Schulter: »Genau wie er.«

[10] Brunetti ließ ihr bis zur Mitte der Brücke einen Vorsprung, ehe er ihr nachrief: »Heißt das, dass ich das Zeug zum Schriftsteller habe?« Wie schön, wenn sie mit Ja antworten würde.

Sie tat die Frage mit einer Handbewegung ab und drehte sich nach ihm um: »Das macht es so interessant, mit dir zusammenzuleben.« Damit ging sie die Brücke auf der anderen Seite hinunter.

Noch besser als Schriftsteller sein, dachte Brunetti und folgte ihr.

Brunetti sah auf seine Uhr, während Paola am portone ihres Elternhauses klingelte. »So viele Jahre, und du hast immer noch keinen Schlüssel?«, fragte er.

»Stell dich doch nicht so an«, sagte sie. »Natürlich habe ich einen Schlüssel. Aber wir sind eingeladen, und da ist es besser, wenn wir uns wie Gäste anmelden.«

»Heißt das, wir müssen uns auch wie Gäste benehmen?«, fragte Brunetti.

Was auch immer Paola darauf hätte antworten können, blieb ungesagt, da ihnen in diesem Moment ein Mann, den sie beide nicht kannten, das Hoftor öffnete. Er lächelte, deutete etwas zwischen einem Nicken und einer Verbeugung an und zog das Tor vollständig auf.

Paola dankte ihm, und sie gingen über den Hof auf die Treppe zu, die zum Palazzo hinaufführte. »Keine Livree«, flüsterte Brunetti entrüstet. »Keine Perücke? Mein Gott, wie tief ist die Welt gesunken? Demnächst essen die Dienstboten noch bei den Herrschaften mit an der Tafel, und dann verschwindet nach und nach das Silberbesteck. Wo soll das [11] nur enden? Dass Luciana deinem Vater mit einem Fleischerbeil nachrennt?«

Paola blieb abrupt stehen und drehte sich schweigend zu ihm um. Sie strafte ihn mit jenem Blick, den sie immer zur Schau trug, wenn er zu weit gegangen war.

»Si, tesoro?«, fragte er honigsüß.

»Ich schlage vor, Guido, wir warten hier ein Weilchen, bis du deine komischen Bemerkungen über die gesellschaftliche Stellung meiner Eltern losgeworden bist, und wenn du dich beruhigt hast, gehen wir nach oben zu den anderen Gästen, und du benimmst dich beim Essen wie ein halbwegs zivilisierter Zeitgenosse. Was sagst du dazu?«

Brunetti nickte. »Gefällt mir, besonders der ›halbwegs zivilisierte Zeitgenosse‹.«

Sie strahlte ihn an: »Das dachte ich mir, mein Lieber.« Dann wandte sie sich um, und als sie die Treppe hochstieg, folgte Brunetti ihr auf dem Fuß.

Paola hatte die Einladung ihres Vaters bereits vor einiger Zeit angenommen und Brunetti erklärt, Conte Falier wolle seinen Schwiegersohn mit einer guten Freundin der Contessa bekannt machen.

Die Liebe seiner Schwiegermutter hatte Brunetti im Lauf der Jahre anzunehmen gelernt, ohne sie zu hinterfragen, aber was den Conte betraf, war er sich nie sicher, ob jener eigentlich in ihm einen Emporkömmling sah, der sich die Zuneigung seines einzigen Kindes erschlichen hatte, oder einen Mann von Talent und Verdiensten. Nach kurzem Nachdenken akzeptierte Brunetti, dass dem Conte ohne weiteres zuzutrauen war, beides zugleich in ihm zu sehen.

Ein zweiter Unbekannter erwartete sie oben an der [12] Treppe, und als er mit einer leichten Verbeugung die Eingangstür aufschwingen ließ, strömte ihnen die Wärme aus dem Inneren des Palazzo entgegen. Paola dankte mit einem Nicken; Brunetti folgte ihr hinein.

Schon im Vestibül vernahmen sie die Stimmen aus dem großen Salon, der auf den Canal Grande hinaussah. Der Mann nahm ihnen schweigend die Mäntel ab und zog die Tür einer beleuchteten Garderobe auf. Brunetti riskierte einen Blick hinein; im hintersten Winkel hing, abgesondert von den anderen, ein besonders kostbarer Pelzmantel.

Die Stimmen lockten sie in den Salon. Als Brunetti und Paola eintraten, standen ihre Gastgeber vor dem mittleren Fenster. Sie wandten Brunetti und Paola das Gesicht zu, während die sie umringenden Gäste die Aussicht auf die Palazzi am anderen Ufer des Canal Grande genossen, und Brunetti, der die Gäste nur von hinten sah, erkannte unter ihnen das Paar, dem sie vorhin auf der Straße begegnet waren; oder aber es gab noch einen zweiten untersetzten, weißhaarigen Mann mit einer großen blonden Gefährtin, die schwarze Stöckelschuhe trug und ihr Haar zu einem kunstvollen Knoten geschlungen hatte. Sie hielt sich ein wenig abseits, schaute aus dem Fenster und schien sich wenig für die Gäste zu interessieren.

Zwei weitere Paare standen links und rechts von seinen Schwiegereltern. Er erkannte den Anwalt des Conte und seine Frau; die anderen beiden waren eine alte Freundin der Contessa, die sich ebenso wie die Contessa für wohltätige Zwecke engagierte, und ihr Mann, der Rüstungsgüter und Bergbautechnik an Länder der Dritten Welt verkaufte.

Der Conte unterbrach seine angeregte Unterhaltung mit [13] dem Weißhaarigen, als er Paola bemerkte. Er stellte sein Glas ab, sagte noch etwas zu dem Mann, trat um ihn herum und ging auf seine Tochter und Brunetti zu. Als sein Gastgeber sich entfernte, wandte der Mann sich neugierig um. Und jetzt fiel Brunetti auch der Name ein: Maurizio Cataldo, ein Mann, von dem es hieß, er habe Beziehungen zur Stadtverwaltung. Die Frau sah weiter aus dem Fenster, als sei sie bezaubert von der Aussicht und habe das Verschwinden des Conte gar nicht bemerkt.

Brunetti und Cataldo kannten sich, wie so oft in dieser Stadt, nur vom Sehen; dennoch wusste Brunetti in groben Umrissen über Cataldo Bescheid. Die Familie war, soweit Brunetti wusste, irgendwann zu Beginn des letzten Jahrhunderts aus dem Friaul nach Venedig gekommen, hatte es in der Zeit des Faschismus zu Wohlstand gebracht und war im großen Boom der sechziger Jahre sogar noch reicher geworden. Bauwesen? Transportwesen? Er wusste es nicht genau.

Der Conte begrüßte Brunetti und Paola beide mit zwei Wangenküssen und drehte sich wieder zu dem Paar um, mit dem er zuvor gesprochen hatte. »Paola, du kennst die beiden«, und zu Brunetti: »Aber du vermutlich nicht, Guido. Sie möchten dich unbedingt kennenlernen.«

Das mochte für Cataldo gelten, der ihnen mit hochgezogenen Augenbrauen und zur Seite geneigtem Kinn entgegensah und seinen Blick mit unverhohlener Neugier zwischen Paola und Brunetti hin- und hergehen ließ. Die Miene der Frau hingegen war unmöglich zu deuten. Oder genauer gesagt, ihr Gesicht drückte eine andauernde Erwartung aus, hineingepflanzt von einem hilfsbereiten Chirurgen. Ihr Mund war bis ans Ende seines irdischen Daseins zu jenem [14] kleinen Lächeln geöffnet, das man zeigt, wenn die Hausangestellte einem ihr Enkelkind vorstellt. Als Ausdruck von Freude mochte das Lächeln etwas dünn sein, aber die Lippen, die lächelten, waren voll und von einem dunklen Rot, wie man es von Kirschen kennt. Ihre Augen wurden von den hochstehenden Wangen zusammengedrückt, die zu beiden Seiten ihrer Nase als pralle rosa Polster von der Größe einer längshalbierten Kiwi prangten. Die Nase selbst begann höher an der Stirn, als Nasen es gewöhnlich tun, und war seltsam flach, als habe sie jemand nach dem Einsetzen mit einem Spachtel geglättet.

Von Falten und Flecken keine Spur. Ihre Haut war perfekt, die Haut eines Kindes. Das blonde Haar gab durch nichts zu erkennen, dass es etwas anderes sein könnte als gesponnenes Gold, und Brunetti wusste genug über Mode, um zu erkennen, dass ihr Kleid kostspieliger war als jeder Anzug, den er je besessen hatte.

Das also musste Cataldos zweite Frau sein, »la Superliftata«, eine entfernte Verwandte der Contessa, von der Brunetti zwar gelegentlich gehört, die er aber nie persönlich kennengelernt hatte. Kurzes Stöbern in seinem Gedächtnisspeicher für Gesellschaftsklatsch ergab, dass sie irgendwoher aus dem Norden kam, angeblich die Öffentlichkeit scheute und irgendwie seltsam war.

»Ah«, unterbrach der Conte Brunettis Grübeleien. Paola küsste die Frau auf die Wange, dann gab sie dem Mann die Hand. Zu der Frau gewandt sagte der Conte: »Franca, ich möchte dir meinen Schwiegersohn vorstellen, Guido Brunetti, Paolas Mann.« Und dann zu Brunetti: »Guido, darf ich vorstellen: Franca Marinello und ihr Mann Maurizio [15] Cataldo.« Er trat zur Seite und winkte Brunetti nach vorn, als überreichte er Brunetti und Paola dem anderen Paar auf dem Präsentierteller.

Brunetti gab erst der Frau die Hand, die überraschend fest zupackte, dann dem Mann, dessen Hand sich so trocken anfühlte, als müsste sie mal abgestaubt werden. »Piacere«, sagte er und sah erst ihr und dann dem Mann mit einem Lächeln in die Augen.

Der Mann nickte, aber es war die Frau, die etwas sagte. »Ihre Schwiegermutter hat in all den Jahren so gut von Ihnen gesprochen; ich bin sehr erfreut, Sie endlich kennenzulernen.«

Bevor Brunetti eine Antwort einfiel, schwang die Doppeltür zum Speisesaal von innen auf, und der Mann, der die Mäntel entgegengenommen hatte, verkündete, das Essen sei serviert. Während man hinüberging, kramte Brunetti in seinem Gedächtnis nach irgendetwas, was die Contessa ihm über ihre Freundin Franca erzählt haben mochte, erinnerte sich aber nur daran, dass die Contessa sich vor Jahren, als Franca zum Studieren nach Venedig gekommen war, ihrer angenommen hatte.

Beim Anblick des Tischs – schwer beladen mit Porzellan und Silberbesteck und einem wahren Blütenmeer – musste er an die letzte Mahlzeit denken, die er nur zwei Wochen zuvor in diesem Haus eingenommen hatte. Er war vorbeigekommen, um der Contessa, mit der er seit Jahren Lektüre austauschte, zwei Bücher zu bringen, und hatte seinen Sohn bei ihr angetroffen. Raffi hatte erklärt, er wolle seinen Italienischaufsatz abholen, den seine Großmutter sich angesehen habe.

[16] Die beiden hatten im Arbeitszimmer gesessen, nebeneinander am Schreibtisch der Contessa. Vor ihnen lag Raffis Aufsatz, die acht Seiten über und über bedeckt mit Kommentaren in drei verschiedenen Farben. Links davon stand ein Teller mit Sandwiches, oder eher das, was einmal ein Teller mit Sandwiches gewesen war. Während Brunetti die Reste aß, erklärte die Contessa ihr System: Rot für Grammatikfehler, Gelb für alle Formen des Verbs essere und Blau für sachliche Fehler und Fehlinterpretationen.

Raffi, der eher ungehalten reagierte, wenn Brunetti seinen historischen Ansichten widersprach oder Paola seine Grammatik korrigierte, schien vollständig davon überzeugt zu sein, dass seine Großmutter wusste, was sie tat, und tippte ihre Vorschläge eifrig in seinen Laptop, während Brunetti die Erläuterungen aufmerksam mitverfolgte.

Paola riss ihn aus diesen Erinnerungen: »Such nach deinem Namen«, flüsterte sie. Tatsächlich, vor jedem Gedeck war eine kleine, handbeschriftete Karte aufgestellt. Rasch fand er die seine und stellte beruhigt fest, dass Paola links von ihm sitzen sollte, zwischen ihm und ihrem Vater. Er sah sich am Tisch um, inzwischen hatten alle ihren Platz gefunden. Jemand, der mit der Etikette der Tischordnung vertrauter wäre, hätte mit Entsetzen registriert, wie nah die Ehefrauen bei ihren Männern platziert waren. Nur die Tatsache, dass Conte und Contessa einander an den Enden des rechteckigen Tischs gegenübersaßen, hätte das Schicklichkeitsgefühl eines solchen Beobachters ein wenig besänftigen können. Der Anwalt des Conte, Renato Rocchetto, rückte der Contessa den Stuhl zurecht. Als sie saß, nahmen zunächst die anderen Frauen Platz, dann die Männer.

[17] Brunetti unmittelbar gegenüber saß Cataldos Frau. Ihr Mann sagte etwas, und sie neigte sich zu ihm hinüber, den Kopf fast an seinen gelehnt, aber Brunetti wusste, damit war das Unvermeidliche nur ein wenig hinausgeschoben. Paola widmete sich kurz Brunetti, murmelte »Coraggio« und tätschelte sein Knie.

Als Paola ihre Hand wegnahm, lächelte Cataldo seiner Frau zu und wandte sich an Paola und ihren Vater; Franca Marinello sah Brunetti an. »Es ist schrecklich kalt, finden Sie nicht?«, begann sie, und Brunetti machte sich auf eine dieser typischen Essensunterhaltungen gefasst.

Bevor ihm eine hinreichend nichtssagende Erwiderung einfiel, ergriff die Contessa das Wort: »Ich hoffe, es stört niemanden, wenn es zu dieser Mahlzeit kein Fleisch gibt.« Sie blickte lächelnd in die Runde und fügte in einem halb belustigten, halb verlegenen Ton hinzu: »Aufgrund der Essgewohnheiten meiner Familie und weil ich es versäumt habe, jeden Einzelnen von Ihnen anzurufen und nach den seinen zu fragen, hielt ich es für das Einfachste, auf Fleisch und Fisch ganz zu verzichten.«

»›Essgewohnheiten‹?«, flüsterte Claudia Umberti, die Frau des Anwalts. Sie schien aufrichtig verwirrt, und Brunetti, der neben ihr saß und sie und ihren Mann oft genug bei Familienessen erlebt hatte, wusste, dass für sie die einzige Essgewohnheit der ausgedehnten Falier-Familie – von Chiaras wenig konsequentem Vegetariertum einmal abgesehen – von jeher in reichlichen Portionen und mächtigen Nachspeisen bestand.

Zweifellos, um ihre Mutter davor zu bewahren, bei einer so krassen Lüge ertappt zu werden, erklärte Paola in das [18] allgemeine Schweigen hinein: »Ich ziehe es vor, kein Rind zu essen; meine Tochter Chiara isst weder Fleisch noch Fisch – jedenfalls diese Woche; Raffi isst nichts Grünes und mag keinen Käse; und Guido«, sagte sie und legte ihm eine Hand auf den Arm, »isst überhaupt nichts, es sei denn, er bekommt eine große Portion.«

Alle am Tisch lachten beifällig, und Brunetti gab Paola zum Beweis seiner Gutmütigkeit und Fairness einen Kuss auf die Wange, nahm sich aber vor, eisern abzulehnen, falls man ihm einen Nachschlag anbieten sollte. Lächelnd sah er sie an und flüsterte: »Was soll das Ganze eigentlich?«

»Sag ich dir später«, antwortete sie und wandte sich mit einer höflichen Frage an ihren Vater.

Franca Marinello schenkte den Bemerkungen der Contessa weiter keine Aufmerksamkeit; als Brunetti sich ihr wieder zuwandte, sagte sie vielmehr: »Der Schnee auf den Straßen ist ein schreckliches Problem.« Brunetti lächelte, als seien ihm ihre Schuhe noch gar nicht aufgefallen und als habe er sich diese Bemerkung nicht seit zwei Tagen ständig anhören müssen.

Nach den Regeln höflicher Konversation war jetzt er mit irgendeiner sinnlosen Bemerkung an der Reihe; er fügte sich in die Rolle und sagte: »Aber für Skiläufer ist es gut.«

»Und für die Bauern«, ergänzte sie.

»Verzeihung?«

»Wo ich herkomme«, sagte sie in einem Italienisch, das keinerlei dialektalen Einschlag erkennen ließ, »haben wir ein Sprichwort: ›Unter dem Schnee ist Brot. Unter dem Regen ist Hunger.‹« Ihre Stimme war angenehm tief; als Sängerin wäre sie ein Alt gewesen.

[19] Brunetti, ein ausgemachter Stadtmensch, lächelte kleinlaut. »Ich glaube, davon verstehe ich nichts.«

Ihre Lippen hoben sich – offenbar ihre Art zu lächeln –, und der Ausdruck in ihren Augen wurde milder. »Das soll heißen, dass der Regen einfach wegläuft und nur vorübergehend Gutes bewirkt, während der Schnee auf den Bergen liegt und das Schmelzwasser den ganzen Sommer hindurch langsam abfließt.«

»Und daher das Brot?«, fragte Brunetti.

»Ja. So die Überlieferung.« Bevor Brunetti etwas dazu sagen konnte, fuhr sie fort: »Der Schnee hier in der Stadt ist nur eine Ausnahmeerscheinung und so wenig, dass der Flughafen gerade mal für ein paar Stunden geschlossen werden musste; höchstens ein paar Zentimeter. In Südtirol, wo ich herkomme, hat es in diesem Jahr noch gar nicht geschneit.«

»Also Pech für die Skiläufer?«, fragte Brunetti lächelnd, indem er sich vorstellte, wie sie in einem langen Kaschmirpullover und Skihosen vorm Kamin eines Fünf-Sterne-Skihotels posierte.

»Die interessieren mich nicht. Nur die Landbewohner«, sagte sie mit einer Heftigkeit, die ihn überraschte. Sie sah ihm forschend ins Gesicht. »›Überglücklich wäre der Bauer, würde er die Vorzüge des Landlebens erkennen.‹«

Brunetti blieb fast die Spucke weg. »Das ist Vergil, oder?«

»Aus den Georgica«, antwortete sie, indem sie höflich über seine Verblüffung und alles, was sie verriet, hinwegging. »Sie haben das Gedicht gelesen?«

»In der Schule«, sagte Brunetti. »Und dann noch einmal vor einigen Jahren.«

[20] »Warum?«, erkundigte sie sich höflich und drehte sich von ihm weg, um dem Diener zu danken, der einen Teller risotto ai funghi vor sie hinstellte.

»Warum was?«

»Warum haben Sie es noch einmal gelesen?«

»Weil mein Sohn es in der Schule gelesen hat, und als er erzählte, es habe ihm gefallen, wollte ich es mir auch noch einmal ansehen.« Lächelnd fügte er hinzu: »Meine Schulzeit ist schon so lange her, dass ich mich an nichts mehr erinnern konnte.«

»Und?«

Brunetti musste erst nachdenken, bevor er antwortete, so selten bekam er Gelegenheit, über Bücher zu reden. »Ich muss gestehen«, sagte er, während der Diener ihm seinen Risotto servierte, »das ganze Gerede über die Pflichten eines guten Landbesitzers hat mich nicht besonders interessiert.«

»Welche Themen interessieren Sie denn?«

»Was die Klassiker zum Thema Politik zu sagen haben«, antwortete Brunetti und bereitete sich darauf vor, dass das Interesse seiner Gesprächspartnerin jetzt unweigerlich nachlassen würde.

Sie nahm einen kleinen Schluck Wein, neigte ihr Glas in Brunettis Richtung, ließ den Inhalt sachte kreisen und sagte: »Ohne den guten Landbesitzer hätten wir das hier nicht.« Sie nahm noch einen Schluck und stellte das Glas wieder hin.

Brunetti beschloss es zu riskieren. Er hob die rechte Hand und umschrieb mit ihr einen kleinen Kreis, der den Tisch, die Leute daran und darüber hinaus auch den [21] Palazzo und die ganze Stadt umfassen mochte. »Ohne Politik«, sagte er, »hätten wir das hier nicht.«

Da sie keine große Augen machen konnte, bekundete sie ihre Überraschung mit einem glucksenden Lachen, das sich zu einem mädchenhaften Kichern steigerte; es half nichts, dass sie eine Hand vor den Mund nahm, nur dass aus dem Kichern zuletzt ein Hustenfall wurde.

Köpfe drehten sich zu ihnen herum, ihr Mann entzog dem Conte seine Aufmerksamkeit und legte ihr fürsorglich eine Hand auf die Schulter. Die Unterhaltung verstummte.

Sie nickte, machte eine abwiegelnde Handbewegung, nahm ihre Serviette und tupfte sich, immer noch hustend, die Augen ab. Schließlich hörte der Husten auf, und nachdem sie ein paarmal tief Luft geholt hatte, sagte sie in die Runde: »Entschuldigung. Mir ist was in den falschen Hals geraten.« Sie legte beschwichtigend ihre Hand auf die ihres Mannes und sagte etwas zu ihm, worauf er sich lächelnd wieder seinem Gespräch mit dem Conte zuwandte.

Sie nahm ein paar kleine Schlucke aus ihrem Wasserglas, probierte den Risotto und legte die Gabel hin. Als habe es keine Unterbrechung gegeben, sah sie Brunetti an und sagte: »Zum Thema Politik lese ich am liebsten Cicero.«

»Warum?«

»Weil er so gut hassen kann.«

Brunetti zwang sich, auf das zu achten, was sie sagte, und nicht auf den schauerlichen Mund, aus dem die Worte kamen; und sie diskutierten immer noch über Cicero, als die Diener ihre kaum angerührten Teller mit Risotto wieder abräumten.

Sie sprach von der Verachtung des römischen [22] Schriftstellers für Catilina und alles, was dieser Mann verkörperte; sie sprach von dem erbitterten Hass, den Cicero für Marc Anton empfand; sie unternahm keinen Versuch, ihre Freude darüber zu verhehlen, dass Cicero am Ende zum Konsul gewählt worden war; und Brunetti konnte nur staunen, wie vertraut sie mit den Schriften des Römers war.

Die Diener räumten gerade den nächsten Gang ab, eine Gemüsetorte, als Signora Marinellos Mann sich zu ihr umdrehte und etwas sagte, das Brunetti nicht mitbekam. Lächelnd widmete sie sich wieder ihrem Mann und sprach auf ihn ein, bis das Dessert – eine mächtige Sahnetorte und ein vollgültiger Ersatz für das bei dieser Mahlzeit fehlende Fleisch– beendet und der Tisch abgeräumt war. Brunetti, der Konventionen des gesellschaftlichen Umgangs eingedenk, widmete seine Aufmerksamkeit der Frau von Avvocato Rocchetto, die ihn über die jüngsten Skandale innerhalb der Verwaltung des Teatro La Fenice informierte.

»…letztlich entschieden, unser abbonamento nicht zu verlängern. Das ist alles so schrecklich mittelmäßig, und sie wollen auch weiterhin diesen erbärmlichen Mist aus Frankreich und Deutschland bringen«, sagte sie, geradezu bebend vor Missbilligung. »Man kommt sich vor wie in einem kleinen Theater in einem winzigen französischen Provinznest«, fügte sie noch hinzu und fegte Theater und französisches Provinzleben mit einer Handbewegung in den Orkus. Brunetti dachte an Jane Austens Empfehlung: »Spar dir den Atem zum Suppeblasen«, und verkniff sich die Bemerkung, das Teatro La Fenice sei auch nichts anderes als ein kleines Theater in einer winzigen italienischen Provinzstadt, weshalb man auch nichts Großartiges erwarten könne.

[23] Der Kaffee wurde serviert, und dann rollte ein Diener einen Wagen mit Grappa und diversen digestivi herein. Brunetti bat um einen Domenis, der nicht enttäuschte. Er drehte sich zu Paola um und wollte sie den Grappa kosten lassen, aber sie lauschte gerade Cataldo, der etwas zu ihrem Vater sagte. Sie hatte das Kinn in die Hand gestützt, so dass ihre Armbanduhr in Brunettis Richtung zeigte. Es war bereits weit nach Mitternacht. Behutsam schob er einen Fuß über den Boden, bis er an etwas stieß, das fest, aber nicht so hart wie ein Stuhlbein war, und tippte sachte zweimal dagegen.

Keine Minute später sah Paola auf ihre Uhr. »Oddio, morgen um neun kommt ein Student zu mir ins Büro, und ich habe noch nicht mal seinen Aufsatz gelesen.« Sie beugte sich vor und sagte über den Tisch hinweg zu ihrer Mutter: »Wenn ich nicht selber schreibe, muss ich lesen, was andere geschrieben haben; ich komme kaum noch zu etwas anderem.«

»Und nie wirst du rechtzeitig fertig«, ergänzte der Conte, aber in einem liebevollen, schicksalsergebenen Ton, der klarmachte, dass er das nicht als Vorwurf meinte.

»Wir sollten dann vielleicht ebenfalls aufbrechen, caro?«, sagte Cataldos Frau lächelnd.

Cataldo nickte. Er erhob sich, trat hinter seine Frau und zog ihren Stuhl zurück, als sie aufstand. Er wandte sich an den Conte. »Ich danke Ihnen, Signor Conte«, sagte er mit einer leichten Verbeugung. »Es war sehr freundlich von Ihnen und Ihrer Frau, uns einzuladen. Zumal uns das die Gelegenheit gab, Ihre Familie kennenzulernen.« Er sah lächelnd zu Paola hinüber.

[24] Servietten wurden auf den Tisch gelegt, und Avvocato Rocchetto bemerkte, er müsse sich unbedingt die Beine vertreten. Als der Conte Franca Marinello fragte, ob er sie mit seinem Boot nach Hause bringen solle, erklärte Cataldo, an der porta d’acqua warte sein eigenes. »Es macht mir nichts aus, eine Strecke zu Fuß zu gehen, aber bei dieser Kälte und so spät nachts ziehe ich es vor, mit der Barkasse nach Hause zu fahren«, sagte er.

Paarweise schritten sie durch den salone, in dem keine Spur geblieben war von den Drinks, die man ihnen dort serviert hatte; in der Eingangshalle halfen ihnen zwei Diener in die Mäntel. Brunetti sagte leise zu Paola: »Und da jammern die Leute immer, wie schwer es heutzutage sei, gute Hausangestellte zu finden.« Sie grinste, aber neben ihm prustete jemand. Als er sich umdrehte, sah er nur Franca Marinellos unbewegtes Gesicht.

Auf dem Hof tauschte man höfliche Abschiedsworte aus. Cataldo und seine Frau wurden zur porta d’acqua und ihrem Boot gebracht; Rocchetto und seine Frau wohnten nur drei Häuser weiter; und das andere Paar wandte sich in Richtung Accademia, nachdem sie Paolas Vorschlag, sie und Brunetti könnten sie noch nach Hause begleiten, mit einem Scherz abgetan hatten.

Arm in Arm traten Brunetti und Paola den Heimweg an. Als sie an der Universität vorbeikamen, fragte Brunetti: »Hast du dich gut unterhalten?«

Paola blieb stehen, sah ihm in die Augen und fragte kühl zurück: »Und was, mit Verlaub, sollte das Ganze?«

Brunetti stutzte. »Ich bitte um Verzeihung?«

»Bittest du um Verzeihung, weil du meine Frage nicht [25] verstehst oder weil du den ganzen Abend mit Franca Marinello geredet und alle anderen ignoriert hast?«

Verblüfft von ihrer Heftigkeit beteuerte er: »Aber sie liest Cicero.«

»Cicero?«, fragte Paola nicht weniger verblüfft.

»Über den Staat, die Briefe und seine Anklage gegen Verres. Sogar die Gedichte«, sagte er. Plötzlich fror ihn, und er nahm ihren Arm und ging die Brücke hoch; sie ließ sich ziehen, aber oben angekommen, blieb sie stehen.

Paola trat einen Schritt zurück, ließ aber seine Hand nicht los. »Dir ist hoffentlich klar, dass du mit der einzigen Frau in dieser Stadt verheiratet bist, die sich mit einer derartigen Erklärung zufriedengibt?«

Ihre Frage brachte ihn zum Lachen. Sie fuhr fort: »Übrigens war es interessant, so vielen Leuten bei der Arbeit zuzusehen.«

»Arbeit?«

»Arbeit«, wiederholte sie und schritt die Brücke auf der anderen Seite hinunter.

Als Brunetti sie eingeholt hatte, erklärte sie: »Franca Marinello hat sich angestrengt, dich mit ihrer Klugheit zu beeindrucken. Du hast dich angestrengt, herauszufinden, wie es möglich ist, dass eine Frau, die aussieht wie sie, Cicero liest. Cataldo hat sich angestrengt, meinen Vater zu überreden, bei ihm zu investieren, und mein Vater hat angestrengt versucht herauszufinden, ob er das tun soll oder nicht.«

»Investieren? In was?«, fragte Brunetti. Cicero war vergessen.

»In China«, sagte sie.

»Oddio«, war das Einzige, was Brunetti dazu einfiel.

[26] 2

»Warum um Himmels willen sollte er in China investieren?«, wollte Brunetti wissen.

Sie machte abrupt halt. Sie standen vor der Kantine der Feuerwehr; die Fenster waren zu dieser Stunde dunkel, keine Essensgerüche strömten auf die calle hinaus. Ihm war das wirklich ein Rätsel. »Warum China?«, wiederholte er.

Sie schüttelte betont fassungslos den Kopf und sah sich um, als suche sie verständnisvolle Ohren. »Bitte, kann mir jemand sagen, wer dieser Mann da ist? Ich glaube, morgens sehe ich ihn manchmal neben mir im Bett, aber mein Mann kann das nicht sein.«

»Ach, hör auf, Paola. Erklär es mir einfach«, sagte er plötzlich müde und nicht in der Stimmung für Scherze.

»Wie kannst du täglich zwei Zeitungen lesen und keine Ahnung haben, warum jemand daran interessiert sein könnte, in China zu investieren?«

Er nahm ihren Arm und ging los. Es hatte keinen Sinn, das auf offener Straße zu besprechen; das konnten sie auch auf dem Heimweg tun oder zu Hause im Bett. »Natürlich weiß ich das alles«, sagte er. »Die boomende Wirtschaft, glänzende Gewinnaussichten, rasant steigende Aktienkurse, kein Ende in Sicht. Aber warum sollte dein Vater sich daran beteiligen?«

Wieder wurden Paolas Schritte langsamer; da er weitere Sticheleien fürchtete, behielt er sein Tempo bei und zog sie mit . »Weil mein Vater den Kapitalismus im Blut hat, Guido. [27] Weil die Faliers seit Jahrhunderten Kaufleute sind und weil Kaufleute von Natur aus auf Geldvermehrung aus sind.«

»Und das«, bemerkte Brunetti, »aus dem Mund einer Literaturprofessorin, der Geld angeblich wenig bedeutet.«

»Weil ich der letzte Spross der Familie bin, Guido. Ich werde die Letzte sein, die unseren Namen trägt. Unsere Kinder tragen deinen.« Ihre Schritte verlangsamten sich, ebenso ihre Stimme, aber sie hörte nicht auf zu reden. »Mein Vater hat sein Leben lang Geld gemacht und ermöglicht damit mir und unseren Kindern den Luxus, kein Interesse am Geldmachen zu haben.«

Brunetti, der mit seinen Kindern schon Tausende Partien Monopoly gespielt hatte, war allerdings davon überzeugt, dass sie das kapitalistische Gen geerbt hatten und an Geld mehr als interessiert waren.

»Und er meint, er kann dort Geld machen?«, fragte Brunetti und fügte, um weiteren Erkundigungen nach seinem Geisteszustand vorzubeugen, rasch hinzu: »Sicheres Geld?«

Sie sah ihn an. »Sicheres?«

»Na ja«, sagte er und merkte selbst, wie dumm sich das anhörte. »Sauberes Geld?«

»Immerhin akzeptierst du, dass es da einen Unterschied gibt«, sagte sie mit dem Sarkasmus einer Frau, die jahrelang die Kommunisten gewählt hatte.

Er schwieg eine Weile. Plötzlich blieb er stehen und fragte: »Was sollte eigentlich die Bemerkung deiner Mutter von wegen ›Essgewohnheiten‹? Und der ganze Unsinn, was die Kinder angeblich alles nicht essen?«

»Cataldos Frau ist Vegetarierin«, sagte Paola. »Und weil meine Mutter sie nicht in Verlegenheit bringen wollte, habe [28] ich – wie ihr Polizisten sagt – mich schuldig bekannt.« Sie drückte seinen Arm.

»Und daher auch das Märchen von meinem Appetit?«, rutschte ihm unwillkürlich heraus.

Zögerte sie kurz? Wie auch immer, sie zog an seinem Arm und bestätigte lächelnd: »Ja. Daher das Märchen von deinem Appetit.«

Wäre ihm Franca Marinello nicht durch ihre Unterhaltung sympathisch geworden, hätte er sich die Bemerkung wohl kaum verkniffen, dass sie keine besonderen Essgewohnheiten brauchte, um aufzufallen. Doch dank Cicero hatte er seine Voreingenommenheit gegen sie abgelegt und fühlte sich sogar berufen, diese Frau in Schutz zu nehmen.

Sie kamen an Goldonis Haus vorbei, dann ging es scharf links und wieder rechts und geradeaus bis San Polo. Als sie auf den Campo gelangten, blieb Paola stehen und schaute über den weiten Platz. »Seltsam, wenn es hier so menschenleer ist.«

Brunetti liebte den Campo, hatte ihn schon als kleiner Junge geliebt, wegen der Bäume, die es dort gab, und weil der Platz so groß und offen war. SS Giovanni e Paolo war zu klein, außerdem stand das Reiterstandbild im Weg, und die Fußbälle landeten ständig im Kanal; Santa Margherita hatte eine seltsame Form, außerdem war es ihm da immer zu laut gewesen, und jetzt erst recht, seit der Platz in Mode gekommen war. Vielleicht liebte er den Campo San Polo deshalb so sehr, weil dort nicht so viel Kommerz getrieben wurde; nur an zwei Seiten lagen Geschäfte, die anderen hatten den Lockungen des Mammons widerstanden. Die Kirche natürlich nicht, dort nahm man jetzt Eintrittsgeld, [29] nachdem man entdeckt hatte, dass Schönheit einträglicher war als Tugend. Nicht dass es dort sonderlich viel zu sehen gab: ein paar Tintorettos, den Kreuzweg von Tiepolo und sonst noch allerlei.

Paola zog ihn am Arm. »Komm, Guido, es ist schon fast eins.«

Er akzeptierte den Waffenstillstand, den sie ihm damit anbot, und sie gingen einträchtig nach Hause.

Am nächsten Tag bekam Brunetti in der Questura einen Anruf von seinem Schwiegervater. Das war ungewöhnlich. Brunetti dankte ihm noch einmal für den Abend und wartete dann ab, was der Conte ihm zu sagen hatte.

»Nun, was meinst du?«, fragte der Conte.

»Wie bitte?«, fragte Brunetti zurück.

»Was hältst du von ihr?«

»Von Franca Marinello?«, fragte Brunetti und suchte seine Überraschung zu verbergen.

»Ja, natürlich. Du hast doch den ganzen Abend mit ihr gesprochen.«

»Ich habe nicht gewusst, dass ich sie verhören sollte«, beteuerte Brunetti.

»Aber du hast es getan«, erwiderte der Conte spitz.

»Leider nur über Cicero«, sagte Brunetti.

»Ja, ich weiß«, sagte der Conte, und Brunetti fragte sich, ob es tatsächlich Neid war, was er heraushörte.

»Worüber hast du denn mit ihrem Mann gesprochen?«, erkundigte sich Brunetti.

»Über Erdbaumaschinen«, sagte der Conte mit einem bemerkenswerten Mangel an Enthusiasmus, »und derlei [30] mehr.« Nach einer winzigen Pause fuhr er fort: »Cicero ist unendlich viel interessanter.«

Brunetti erinnerte sich, dass seine Ausgabe von Ciceros Reden ein Weihnachtsgeschenk des Conte gewesen war und dass dieser in seiner Widmung auf der Titelseite erklärt hatte, es handele sich um eins seiner Lieblingsbücher. »Aber?«, hakte er nach.

»Aber Cicero«, antwortete der Conte, »ist unter chinesischen Geschäftsleuten nicht besonders gefragt.« Er überdachte seine Bemerkung und fügte mit einem theatralischen Seufzer hinzu: »Vielleicht, weil er so wenig über Erdbaumaschinen zu sagen hatte.«

»Haben chinesische Geschäftsleute mehr zu sagen?«

Der Conte lachte. »Du kannst das Verhören wirklich nicht lassen, stimmt’s, Guido?« Bevor Brunetti protestieren konnte, sprach der Conte weiter: »Ja, die wenigen, die ich kenne, sind sehr daran interessiert, vor allem an Bulldozern. Genau wie Cataldo und genau wie sein Sohn – der Sohn aus seiner ersten Ehe –, der ihre Baumaschinenfirma leitet. Die Bauwirtschaft in China boomt wie verrückt, und die Firma bekommt mehr Aufträge, als sie abwickeln kann; und deshalb hat er mich gefragt, ob ich als Teilhaber mit beschränkter Haftung bei ihm einsteigen möchte.«

Brunetti hatte im Lauf der Jahre gelernt, auf alles, was sein Schwiegervater über seine Geschäfte verlauten ließ, mit Vorsicht zu reagieren, und so ließ er auch jetzt nur ein aufmerksames »Aha« vernehmen.

»Aber das kann dich unmöglich interessieren«, sagte der Conte, und damit hatte er ziemlich recht. »Also, was hältst du von ihr?«

[31] »Darf ich fragen, warum du das wissen willst?«

»Weil ich vor einigen Monaten einmal beim Essen neben ihr gesessen habe und es mir wie dir gegangen ist, nachdem ich sie hier schon seit Jahren gesehen, aber nie wirklich mit ihr gesprochen hatte. Wir unterhielten uns zunächst über einen aktuellen Zeitungsartikel, und plötzlich erörterten wir die Metamorphosen. Wie wir darauf gekommen sind, weiß ich nicht mehr, aber es war wunderbar. Und in all den Jahren hatten wir kein Wort gewechselt, jedenfalls nichts von Belang. Deshalb schlug ich Donatella vor, dich und sie einander gegenüberzusetzen, damit ich mit ihrem Mann reden konnte.« Mit erstaunlicher Selbsterkenntnis fügte der Conte hinzu: »Du warst so viele Jahre gezwungen, mit unseren langweiligen Freunden zusammenzusitzen, und ich dachte mir, du hast mal eine Abwechslung verdient.«

»Vielen Dank«, sagte Brunetti und unterließ es, auf die Bemerkung des Conte über seine Freunde näher einzugehen. »Es war tatsächlich sehr interessant. Sie hat sogar die Anklage gegen Verres gelesen.«

»Oh, das freut mich für sie«, flötete der Conte.

»Kanntest du sie schon vorher?«, fragte Brunetti.

»Vor der Ehe oder vor dem Lifting?«, fragte der Conte sachlich.

»Vor der Ehe.«

»Ja und nein. Sie war mehr Donatellas Freundin als meine. Ein Verwandter hatte Donatella gebeten, ein Auge auf Franca zu haben, als sie zum Studium hierherkam. Byzantinische Geschichte, du liebe Zeit. Aber nach zwei Jahren musste sie fort. Schwierigkeiten in der Familie. Ihr Vater starb, und sie musste nach Hause zurück und sich einen Job [32] suchen, weil ihre Mutter keinen Beruf erlernt hatte.« Und dann fügte er noch unverbindlich hinzu: »Ich erinnere mich nicht an alle Einzelheiten. Donatella wahrscheinlich schon.«

Der Conte räusperte sich und sagte selbstkritisch: »Klingt wie der Plot einer schlechten Fernsehserie. Willst du das wirklich hören?«

»Da ich niemals fernsehe«, heuchelte Brunetti, »bin ich neugierig.«

»Also schön«, fuhr der Conte fort. »Was ich gehört habe– ich weiß nicht mehr, ob von Donatella oder von irgendwelchen anderen Leuten –, ist Folgendes: Sie hat Cataldo bei einer Modenschau kennengelernt – sie hat Pelze vorgeführt, glaube ich –, und wie meine Enkelin zu sagen pflegt: Immer die gleiche Geschichte.«

»War Scheidung auch ein Teil der Geschichte?«, fragte Brunetti.

»Ja, allerdings«, antwortete der Conte bekümmert. »Ich kenne Maurizio seit langem, und er ist kein geduldiger Mensch. Er hat seiner Frau ein Arrangement vorgeschlagen, und sie hat akzeptiert.«

Brunetti hatte jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit zurückhaltenden Zeugen, und sein Instinkt sagte ihm, dass hier etwas verschwiegen wurde. Also fragte er: »Was noch?«

Der Conte zögerte lange, bevor er antwortete: »Er war Gast an meinem Tisch, deshalb sage ich das nur ungern, aber Maurizio soll ein rachsüchtiger Mensch sein, und das könnte seine Frau veranlasst haben, die von ihm angebotenen Bedingungen anzunehmen.«

»Die Geschichte kommt mir bekannt vor.«

»Welche?«, fragte der Conte scharf.

[33] »Die Geschichte, die du gehört hast, Orazio: Ein alter Mann lernt ein hübsches junges Ding kennen, verlässt seine Frau, heiratet die Neue in fretta e furia, und dann leben die beiden vielleicht nicht glücklich bis ans Ende ihrer Tage.« Sein Tonfall gefiel Brunetti selber nicht.

»Aber so ist es nicht, Guido. Überhaupt nicht.«

»Warum?«

»Weil die beiden tatsächlich glücklich miteinander sind.« In der Stimme des Conte schwang die gleiche Sehnsucht mit wie vorhin, als er von der Möglichkeit gesprochen hatte, einen Abend lang über Cicero zu diskutieren. »Jedenfalls sagt das Donatella.«

Nach einer Pause fragte der Conte: »Beunruhigt dich ihr Aussehen?«

»Das ist noch sehr gelinde ausgedrückt.«

»Ich habe das nie verstanden«, sagte der Conte. »Sie war ein reizendes Ding. Sie hatte gar keinen Grund, das zu tun, aber die Frauen heutzutage haben andere Vorstellungen von…«, sagte er, ohne den Satz zu beenden.

»Es war vor einigen Jahren. Die beiden gingen auf Reisen, angeblich in Urlaub, aber sie waren ziemlich lange fort, mehrere Monate. Ich weiß nicht mehr, wer mir das erzählt hat.« Der Conte hielt inne, dann sagte er: »Donatella nicht.« Brunetti war froh, das zu hören. »Auf jeden Fall, als sie zurückkamen, sah sie aus, wie sie jetzt aussieht. Australien – dort sind sie angeblich gewesen. Aber für eine Schönheitsoperation geht man doch nicht nach Australien, Herrgott noch mal.«

Brunetti fragte, ohne nachzudenken: »Was könnte das für einen Grund haben?«

[34] »Guido«, sagte der Conte nach einer Weile, »ich habe es aufgegeben.«

»Was aufgegeben?«

»Mir den Kopf darüber zu zerbrechen, warum die Leute gewisse Dinge tun. Wir können es noch so sehr versuchen, aber wir kommen nie dahinter. Der Fahrer meines Vaters pflegte zu sagen: ›Wir haben nur einen Kopf, also können wir alles auch nur auf eine Weise sehen.‹« Der Conte lachte und fuhr dann plötzlich lebhaft fort: »Genug geklatscht. Eigentlich wollte ich nur wissen, ob sie dir gefällt oder nicht.«

»Sonst nichts?«

»Komm nicht auf die Idee, ich fürchte, dass du mit ihr durchbrennen könntest«, lachte er.

»Keine Sorge, Orazio: Eine Frau, die Bücher liest, ist mehr als genug für mich.«

»Ich weiß, wovon du redest, ich weiß, wovon du redest.« Dann etwas ernster: »Aber du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet.«

»Sie hat mir gefallen. Sehr.«

»Hattest du den Eindruck, sie ist eine ehrliche Frau?«

»Absolut«, antwortete Brunetti spontan, ohne darüber nachzudenken. Aber dann dachte er doch nach und sagte: »Ist das nicht seltsam? Ich weiß so gut wie nichts über sie, aber ich vertraue ihr, weil sie gern Cicero liest.«

Wieder lachte der Conte, diesmal aber leiser. »Für mich klingt das vernünftig.«

Da der Conte selten so großes Interesse an anderen Menschen bekundete, fragte Brunetti: »Warum bist du so neugierig zu erfahren, ob sie ehrlich ist oder nicht?«

[35] »Ganz einfach: Wenn sie ihrem Mann vertraut, ist er vielleicht wirklich vertrauenswürdig.«

»Und du meinst, sie vertraut ihm?«

»Ich habe die beiden gestern Abend beobachtet und nichts Unaufrichtiges an ihnen bemerkt. Sie liebt ihn, und er liebt sie.«

»Aber Liebe und Vertrauen sind nicht dasselbe, stimmt’s?«, sagte Brunetti.

»Ach, wie gut es tut, die kühle Stimme deiner Skepsis zu vernehmen, Guido. Wir leben in so sentimentalen Zeiten, dass mir mein guter Instinkt manchmal abhandenkommt.«

»Und was sagt dein Instinkt?«

»Dass einer lächeln kann und immer lächeln und doch ein Schurke sein.«

»Steht das in der Bibel?«

»Bei Shakespeare, glaube ich.«

Brunetti nahm an, damit sei das Gespräch beendet, aber dann sagte der Conte: »Ich überlege, ob du mir einen Gefallen tun könntest, Guido. Aber diskret.«

»Ja?«

»Ihr seid doch gut informiert, manchmal weit besser als ich selbst, und da wäre es mir lieb, wenn du mal jemand nachprüfen lassen könntest, ob Cataldo ein Mann ist, dem ich…«

»Vertrauen kann?«, fragte Brunetti herausfordernd.

»Nein, Guido, das niemals«, sagte Conte Falier mit felsenfester Überzeugung. »Vielleicht sollte ich besser sagen: ob er jemand ist, bei dem ich investieren kann. Er setzt mir ziemlich zu, ich soll mich entscheiden, und ich weiß nicht, ob meine Leute in der Lage sind, etwas…« Der Conte [36] verstummte, als finde er nicht die richtigen Worte für das, was ihm auf dem Herzen lag.

»Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Brunetti; mittlerweile wollte auch er mehr über Cataldo wissen, auch wenn er lieber nicht wissen wollte, warum.

Er und der Conte tauschten noch ein paar Höflichkeiten aus, dann war die Unterhaltung beendet.

Er sah auf seine Uhr und stellte fest, dass ihm vor dem Mittagessen noch Zeit genug für einen Plausch mit Signorina Elettra blieb, der Sekretärin seines Vorgesetzten. Falls überhaupt jemand in der Lage war, einen diskreten Blick auf Cataldos Geschäfte zu werfen, dann sie. Kurz spielte er mit dem Gedanken, sie zu bitten, wenn sie schon mal dabei war, auch über Cataldos Frau so viel wie möglich herauszufinden. Zu seiner Beschämung verspürte er den Wunsch, ein Foto von ihr aus der Zeit zu sehen, bevor sie… bevor sie geheiratet hatte.

Als er Signorina Elettras Büro betrat, wurde ihm bewusst, dass es Dienstag war. Auf dem Tisch vor ihrem Fenster prangte eine riesige Vase mit rosa französischen Tulpen. Der Computer, den eine großzügige und dankbare Questura ihr vor einigen Monaten hatte installieren dürfen – zu sehen war davon lediglich ein magersüchtiger Monitor und eine schwarze Tastatur –, ließ hinreichend Platz auf ihrem Schreibtisch für einen ebenso großen Strauß frischer weißer Rosen. Das bunte Einwickelpapier lag ordentlich gefaltet in dem ausschließlich Papier vorbehaltenen Behälter, und wehe dem Mitarbeiter, der das vergaß und irgendwelches Papier unbedacht in den Restmülleimer stopfte. Papier; Pappe; Metall; Plastik. Brunetti hatte sie einmal am Telefon [37] mit dem Chef von Vesta erlebt, der Privatfirma, die von der Stadt – er wollte lieber nicht darüber nachdenken, was zu dieser Entscheidung geführt haben mochte – den Zuschlag für die Müllentsorgung erhalten hatte, und erinnerte sich noch gut an die ausgesuchte Höflichkeit, mit der sie ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, welch vielfältige Möglichkeiten der Polizei oder gar der Guardia di Finanza zur Verfügung stünden, durch gewisse Ermittlungen den reibungslosen Betrieb seines Unternehmens zu behindern, und wie kostspielig und unangenehm die unerwarteten Entdeckungen werden könnten, die bei einer amtlichen Durchleuchtung der Finanzen nicht selten ans Licht kämen.

Nach diesem Telefonat – freilich nicht als Folge davon – erfolgte die Müllabfuhr nach einem neuen Terminplan; immer dienstag- und freitagvormittags, nachdem sie Papier und Pappe bei den Einwohnern des Viertels um SS Giovanni e Paolo eingesammelt hatte, legte die barca ecologica vor der Questura an. Am zweiten dieser Dienstage hatte Vice-Questore Giuseppe Patta, als er das Boot dort liegen sah, ihnen befohlen, zu verschwinden, und sich über die brutta figura aufgeregt, die seine Polizisten in der Öffentlichkeit machten, wenn sie Säcke mit Abfallpapier aus der Questura zu einer Müllschute trugen.

Signorina Elettra gelang es im Handumdrehen, den Vice-Questore von der außerordentlich positiven Öffentlichkeitswirkung einer eco-iniziativa zu überzeugen, die selbstverständlich nur Dottor Pattas rückhaltlosem Engagement für die ökologische Gesundheit seiner Wahlheimatstadt zu verdanken sei. In der folgenden Woche schickte La Nuova nicht nur einen Reporter, sondern auch einen Fotografen, [38] und die Titelseite am nächsten Tag zierte ein ausführliches Interview mit Patta und darüber ein großes Foto. Es zeigte ihn zwar nicht direkt dabei, wie er einen Abfallsack hinaustrug, sondern am Schreibtisch, doch ruhte seine Hand nachdrücklich auf einem Stapel Akten, was vielleicht andeuten sollte, er könne die Fälle, die darin dokumentiert waren, durch reine Willenskraft lösen und werde anschließend gewissenhaft dafür sorgen, dass die Akten ordnungsgemäß im Behälter für Papierabfälle entsorgt würden.

Als Brunetti eintrat, kam Signorina Elettra gerade aus dem Büro ihres Vorgesetzten. »Trifft sich gut«, sagte sie, als sie Brunetti in der Tür stehen sah. »Der Vice-Questore möchte Sie sehen.«

»In welcher Sache?«, fragte er und schlug sich jeden Gedanken an Cataldo und seine Frau fürs Erste aus dem Kopf.

»Es ist jemand bei ihm. Ein Carabiniere. Aus der Lombardei.« Die Erlauchteste Republik hatte zwar schon vor über zweihundert Jahren aufgehört zu existieren, doch ihre Einwohner konnten ihr Misstrauen gegenüber den geschäftigen Emporkömmlingen aus der Lombardei noch heute in dieses Wort legen.

»Gehen Sie nur rein«, sagte sie und zog sich hinter ihren Schreibtisch zurück, um ihm den Weg zu Pattas Tür frei zu machen.

Er dankte ihr, klopfte an, hörte Patta »Herein!« rufen und trat ein.

Patta saß an seinem Schreibtisch, auf einer Seite derselbe Aktenstapel, der als Requisit für das Zeitungsfoto hatte herhalten müssen. Für Patta konnte jeglicher Stoß Papier [39] nur dekorativen Zwecken dienen. Brunetti sah einen Mann vor Pattas Schreibtisch sitzen; als dieser ihn eintreten hörte, erhob er sich langsam.