Schrei um dein Leben - Dania Dicken - E-Book

Schrei um dein Leben E-Book

Dania Dicken

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Seit Monaten verfolgt und bedroht der flüchtige Serienmörder Vincent Howard Bailey die FBI-Profilerin Libby Whitman – und lässt plötzlich ihren schlimmsten Alptraum wahr werden. Als er sie entführen will, tötet er beinahe ihren Mann Owen und verschleppt sie in sein Versteck in den endlosen Wäldern Pennsylvanias. Beim verzweifelten Versuch zu überleben wirft Libby all ihre Fähigkeiten als Profilerin in die Waagschale, während Owen nichts unversucht lässt, um seine Frau und ihren Entführer zu finden. Dabei erhält er Unterstützung von Libbys Eltern, den ehemaligen FBI-Agenten Sadie und Matt Whitman, und natürlich Libbys Profiler-Kollegen aus Quantico.Doch den Ermittlern fehlt jeder Anhaltspunkt auf Baileys Versteck und während Vincent versucht, Libby in die Knie zu zwingen, weiß sie, dass sie auf sich gestellt ist ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Prolog
Montag, 16. August
Dienstag, 17. August
Mittwoch, 18. August
Donnerstag, 19. August
Freitag, 20. August
Samstag, 21. August
Sonntag, 22. August
Dienstag, 24. August
Nachbemerkung
Impressum

Dania Dicken

Schrei um dein Leben

Libby Whitman 7

Thriller

Prolog

Ihre Tränen waren so süß. Alles an ihr war unwiderstehlich, wenn sie sich gefesselt unter ihm wand, frustriert und verzweifelt, weil sie nicht gegen ihn ankam. Sie hatte keine Chance. Die ließ er ihr nicht.

Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und schluchzte leise. Er sah, dass sie es nicht wollte, aber sie konnte nicht anders. Das gefiel ihm. Er schloss die Augen und lauschte auf ihr hilfloses Weinen.

„So ist es gut“, sagte er. „Lauter. Das gefällt mir.“

Wimmernd schloss sie Augen, um ihn nicht ansehen zu müssen. Damit hatte er gerechnet.

„Sieh mich an“, zischte er. Sie drehte den Kopf zur Seite und hielt die Luft an. Das war ihr Fehler. Vincent legte die Hände um ihren Hals und drückte zu. Es funktionierte sofort. Ihr Kopf flog herum und sie sah ihm direkt ins Gesicht – panisch und flehend zugleich.

Aber er würde nicht loslassen. Noch nicht jetzt.

Mit einer harten Bewegung entlockte er ihr einen weiteren erstickten Schmerzenslaut und ließ erst Augenblicke später wieder los. Sie schnappte heftig nach Luft, zerrte an ihren Fesseln und machte ihrer Abscheu mit einem wütenden Schrei Luft.

„Du hast ja immer noch richtig Feuer“, sagte er. „Das gefällt mir.“

Sie konnte ein leises Wimmern nicht unterdrücken und blinzelte ihre Tränen weg. „Du kriegst mich nicht. Niemals.“

Vincent hielt inne und ließ seine Blicke über sie gleiten. „Meinst du? Und was ist das dann hier?“

Sie schüttelte heftig den Kopf. „Vergiss es.“

„Mal sehen, wie lange du das durchhältst, Libby.“

Montag, 16. August

Schmerz fraß sich in sein Bewusstsein. Er stöhnte leise und versuchte, sich zu bewegen, aber er schaffte es nicht. Ein schnelles Piepen drang an sein Ohr, er hörte Stimmen. Eine davon kam ihm vertraut vor.

Schritte näherten sich. Er stöhnte noch immer, konnte es nicht kontrollieren. Dann spürte er eine Hand an der Schulter.

„Können Sie mich hören, Detective?“

Owen kämpfte darum, die Augen zu öffnen. Das Gesicht einer fremden Frau befand sich über ihm, sie wirkte besorgt. Sie trug einen Kittel und ein Namensschild. Eine Krankenschwester. Er stöhnte gequält und nickte.

„Haben Sie Schmerzen?“

Wieder nickte er und sie machte sich konzentriert an einem Tropf zu schaffen, das konnte Owen gerade noch im Augenwinkel sehen.

„Gleich wird es besser. Sie sind im Inova Alexandria Hospital, weil heute Nacht auf Sie geschossen wurde. Sie wurden notoperiert.“

Notoperiert? Im ersten Moment begriff Owen kein Wort, aber dann kehrte die Erinnerung mit einem Schlag zurück. Der Schock fuhr ihm durch die Glieder und er war auf der Stelle hellwach.

„Was ist mit meiner Frau und den Polizisten? Sind sie am Leben? Wo ist meine Frau?“

„Hier ist jemand für Sie.“ Die Krankenschwester trat zur Seite und gab den Blick auf Nick Dormer frei, der an der gegenüberliegenden Wand auf einem Stuhl saß und bislang nur angespannt zugesehen hatte.

„Oh mein Gott …“ Zitternd hob Owen die rechte Hand und fuhr sich damit übers Gesicht. In seinen Augen standen Tränen.

„Brauchen Sie noch etwas, Detective?“, fragte die Schwester, aber er schüttelte den Kopf und ließ sie gehen. Er erkannte das Zimmer wieder. So hatte auch Libbys Zimmer auf der Intensivstation in diesem Krankenhaus ausgesehen.

Nick stand langsam auf und stellte sich neben Owens Bett. „Ich bin seit etwa einer halben Stunde hier. Vorhin hat mich das Arlington PD angerufen und darüber informiert, was passiert ist.“ Mehr sagte er nicht. Owen versuchte immer noch, zu sich zu kommen, und schaute an sich herab. Unter seinem Flügelhemd spürte er unterhalb seiner linken Schulter Pflaster und Verbände. Angestrengt versuchte er, die Bettdecke zurückzuschlagen, und blickte auf sein rechtes Bein. Sein Oberschenkel war dick verbunden und immer noch orange vom Desinfektionsmittel. Als er das sah, war sofort die ganze Erinnerung wieder da und er versuchte, sich aufrecht hinzusetzen, doch ihm wurde sofort schwindlig.

„Hey, ganz ruhig. Bleib liegen. Es grenzt an ein Wunder, dass du noch lebst – bei dem Blutverlust“, sagte Nick.

Owen starrte ihn an. „Bitte sag mir, dass ihr eine Spur habt.“

Nick seufzte tief. „Deshalb bin ich hier. Kannst du uns irgendwie helfen? Hast du sein Auto gesehen?“

„Nein, verdammt, ich hab geschlafen! Ich bin wach geworden, weil sie meinen Namen gerufen hat. Da war sie schon dabei, mit ihm zu kämpfen. Er wollte … ich konnte nicht …“

Er kam nicht gegen die Tränen an und der dicke Kloß in seinem Hals machte es ihm unmöglich, zu sprechen.

„Ganz ruhig.“ Nick zog den Stuhl heran und setzte sich vor Owen, der sich in diesem Moment nicht dafür schämte, dass er weinte. Sobald ihm klar wurde, was passiert war, hatte er ein Gefühl, als würde ihm jemand das noch schlagende Herz aus der Brust reißen.

„Ich konnte nichts tun“, stieß er verzweifelt hervor. „Ich hab’s versucht, aber da hat er einfach auf mich geschossen …“

„Ganz ruhig, Owen. Ganz ruhig. Wenn du dich aufregst, setzen die mich hier vor die Tür und dann sind wir keinen Schritt weiter.“

Unter Tränen sah Owen ihn an und nickte. Wütend wischte er sich die Tränen ab und versuchte, sich zu beruhigen.

„Ich weiß nicht, wie er reingekommen ist. Er war plötzlich da. Die Cops hat er wohl zuerst erschossen …“

„Einer der beiden hat überlebt. Er hat es geschafft, einen Notruf abzusetzen. Er wurde noch operiert, als ich hier ankam, deshalb konnte ich nicht mit ihm sprechen. Keine Ahnung, was er gesehen hat. Das Arlington PD sagte mir vorhin, dass sie Einbruchsspuren am Schloss eurer Wohnungstür gefunden haben, da gab es wohl eindeutige Kratzer. Vielleicht hat Bailey einen Dietrich benutzt.“

Owen stöhnte resigniert. Das durfte doch nicht wahr sein. Bailey hatte wirklich an alles gedacht.

„Kannst du mir erzählen, was passiert ist?“, bat Nick.

„Bailey hat Libby entführt, das ist passiert …“ Verzweifelt ballte Owen die Hände zu Fäusten und versuchte, sich zu beruhigen, als das Piepen seines Patientenmonitors ihn alarmierte. Sein Puls war viel zu hoch.

„Lass dir Zeit, aber erzähl es mir. Bitte.“

Owen nickte und atmete tief durch. „Er hatte einen Schalldämpfer … und er wollte mich töten. Vor ihren Augen. Deshalb hat er einiges riskiert. Sie hat so gekämpft …“

„Ist sie auch verletzt?“, fragte Nick.

„Nein, also … nicht schlimm, sie hatte eine Platzwunde. Das ist alles.“

„Wie lief das ab?“

Owen versuchte, sich zu konzentrieren und es Nick zu erzählen. Er wusste, vielleicht war das wichtig für den Profiler. Nick hörte aufmerksam zu, während Owen sprach.

„Ich habe nicht mehr mitbekommen, wie er sie rausgebracht hat. Ich wusste genau, ich hätte die Wunde abbinden müssen, aber wenn ich mich bewegt hätte, hätte Bailey mir gleich in den Kopf geschossen. Ich muss vor lauter Blutverlust ohnmächtig geworden sein“, schloss er und Dormer nickte aufmerksam.

„Der Notruf des Polizisten ging um 3.42 Uhr beim Arlington PD ein. Man konnte ihn kaum verstehen, er hat Blut gespuckt. Er hat nur gesagt, dass Bailey auf sie geschossen hat und in euer Haus eingedrungen ist, dann hat er noch um Verstärkung und Krankenwagen gebeten, bevor er das Bewusstsein verloren hat. Die Kollegen waren nach sechs Minuten da – scheinbar hat das zu lang gedauert.“

„Ja, es ging schnell … wahnsinnig schnell.“ Owen nickte ernst. Seine Augen brannten und er fühlte sich so ausgelaugt wie zuletzt nach der Tortur, die er bei Marcus Greene durchgemacht hatte. Dennoch war er gleichzeitig extrem aufgekratzt.

„Die Polizisten haben dich gefunden, die Sanitäter haben dich gleich versorgt und zusammen mit dem Kollegen ins Krankenhaus gebracht. Da fehlte schon jede Spur von Bailey. Ich war noch nicht in eurer Wohnung, aber wenn man den Kollegen glauben darf, sieht es in einem Schlafzimmer aus, als wäre dort eine Bombe eingeschlagen.“

Owen nickte. „Das kommt der Sache sehr nah … Libby hat gekämpft wie eine Löwin. Sie war so mutig. Und jetzt …“ Er versuchte, den Gedanken daran, was jetzt passieren würde, nicht zuzulassen. Sein Puls beruhigte sich wieder.

„Ich setze jeden FBI-Agenten darauf an, den ich kriegen kann“, versprach Nick.

„Komm schon, du weißt genau, was jetzt passiert. Ihr hattet bis jetzt keine Spur von ihm und das wird sich auch nicht plötzlich geändert haben. Er ist einfach in unsere Wohnung marschiert und …“ Owen holte tief Luft. „Er hat es noch gesagt. Er hat noch gesagt, was er tun will …“

„Hör auf. Mach das nicht.“

„Du kennst das doch, Nick! Du hast das schon erlebt. Sag mir jetzt nicht, Matt hätte damals anders reagiert.“

Noch während er das sagte, sickerte die Erkenntnis bei Owen durch. Matt. Sadie. Ihm wurde kalt.

„Wissen ihre Eltern es schon?“, fragte er.

Nick schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte erst mit dir sprechen.“

Owen nickte. Das konnte er verstehen. „Wie spät ist es?“

„Kurz nach halb neun.“

„Okay … tust du mir einen Gefallen und leihst mir dein Handy? Sadies Nummer hast du doch sicher, oder?“

Dormer nickte und reichte Owen wortlos sein Telefon. Er konnte verstehen, dass Owen das jetzt tun musste.

Doch kaum, dass Owen das Handy in der Hand hielt, musste er tief durchatmen und rang um Fassung. Er konnte das nicht. Nicht diesmal. Ihm schossen Tränen in die Augen und am liebsten hätte er das Telefon aus dem Fenster geworfen, aber dann versuchte er, sich zusammenzureißen, und suchte Sadies Nummer heraus. In Kalifornien war es jetzt kurz vor sechs. Verdammt früh, aber er wollte es hinter sich bringen.

Er hörte das Freizeichen mehrmals, bevor die Leitung offen war. Etwas raschelte leise. „Nick? Was ist los?“

Das war Sadies Stimme. Verzweifelt schloss Owen die Augen und versuchte, die Tränen nicht schon wieder hochkommen zu lassen.

„Ich bin es, Owen“, sagte er und holte tief Luft.

Sadie antwortete nicht gleich. „Was ist passiert?“ Sie klang hellwach. Im Hintergrund hörte Owen Matts Stimme.

Er konnte nichts sagen. Es ging nicht.

„Was ist los?“, fragte Matt.

„Es ist Owen. An Nicks Handy“, erklärte Sadie.

Matt bat Sadie, den Lautsprecher anzustellen, und fragte: „Geht es dir gut?“

Flehend biss Owen sich auf die Lippen und atmete erneut tief durch. „Matt, ich … ich hab’s versaut. Ich habe … ich konnte nicht. Ich habe versagt.“

„Hey, ganz ruhig. Sag mir, was passiert ist. Geht es um Libby?“

Owen schluckte. „Ja … er … er ist bei uns eingebrochen …“

„Hat er sie entführt?“ In diesem Moment schien Matt der Einzige zu sein, der sich fokussieren konnte. Sadie sagte gar nichts.

Mit erstickter Stimme antwortete Owen: „Ich habe es nicht verhindert …“

Sadie stieß einen verzweifelten Laut aus. Owen war nach Schreien zumute, doch dann sagte Matt: „Du bist an Nicks Telefon? Ist er bei dir?“

Owen bejahte es. Mehr konnte er nicht sagen. Als Matt ihn bat, ihm Nick zu geben, tat er es. Dormer lächelte verständnisvoll und stellte das Handy auf Lautsprecher.

„Sadie?“, fragte Nick.

„Ich bin auch hier“, ertönte Matts Stimme. „Was kannst du uns sagen?“

„Wir sind in dem Krankenhaus, in dem auch Libby vor kurzem war. Bailey hat zweimal auf Owen geschossen, ein Schuss hat seine Femoralarterie verletzt.“ Er wusste, mehr musste er nicht sagen.

„Verdammt“, sagte Matt. „Ist er okay?“

„Er ist weiß wie die Wand, aber er lebt. Er hatte großes Glück.“

„Und Libby?“

„Owen sagte mir vorhin, sie hätte eine Platzwunde. Ansonsten ist sie unverletzt.“

„Bailey hat sie?“

Nick atmete tief durch. „Er hat auf ihre Personenschützer geschossen, einen getötet und ist bei ihnen eingebrochen. Ich war noch nicht dort, ich bin sofort zu Owen gefahren.“

„Wir kommen mit dem nächsten Flieger“, sagte Matt.

„Ihr könnt nichts …“

„Sag uns jetzt nicht, was wir tun können!“, rief Sadie aufgebracht. „Es geht hier um unsere Tochter, Nick. Bitte lass uns helfen.“

Sie klang so verzweifelt, dass Nick kurz seufzte und ergeben nickte. „Ja, schon gut. Mir fällt was ein.“

„Danke, Nick. Wir geben Bescheid, wenn wir einen Flug haben“, sagte Matt. „Kann ich noch mal mit Owen sprechen?“

„Augenblick.“ Nick reichte Owen das Handy zurück.

„Ich bin hier“, sagte Owen gepresst.

„Bitte gib dir nicht die Schuld.“

„Matt, ich …“

„Schon gut. Mach dich nicht fertig.“

„Du hattest mich nur um eins gebeten …“

„Ja, und ich bin sicher, dass du alles versucht hast.“

Owen nickte, auch wenn Matt das nicht sehen konnte, und hatte Tränen in den Augen. „Ich konnte ihr nicht helfen …“

„Wir kriegen das hin, okay? Erst mal kommen wir zu euch. Wir werden sie finden.“

„Okay“, sagte Owen, aber er hatte da seine Zweifel.

„Ich bin froh, dass du noch lebst“, sagte Sadie unvermittelt. Owen biss sich auf die Lippen und versuchte, sich zu sammeln. „Danke.“

„Wir rufen wieder an“, versprach Matt. Als er aufgelegt hatte, raufte Owen sich verzweifelt die Haare.

„Du hast es gehört“, sagte Nick. „Wenn du jemandem nichts erklären musst, dann den beiden.“

„Aber Matt – er hat sich auf mich verlassen!“

„Ja, und du weißt, er war schon ähnlich verletzt wie du. Er weiß, dass du nichts tun konntest.“

„Wir müssen sie finden, Nick. Bevor Bailey sie in Stücke reißt – bitte.“ Owen sah ihn mit einer solchen Verzweiflung an, dass Nick gar nicht wusste, was er erwidern sollte.

Es war lang her, dass er sich in einer solchen Situation befunden hatte, aber er hatte das nie wieder erleben wollen. Als das Arlington PD ihn angerufen und informiert hatte, hatte Nick sich in einem schlechten Traum gewähnt. Warum hatte er je geglaubt, dass Polizeischutz Bailey aufhalten würde? Er hatte doch gewusst, dass Vincent eine Waffe hatte. Er hatte noch nie gezögert, sie zu benutzen.

Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte Owen, sich hochzuziehen. Den linken Arm konnte er nicht benutzen, aber er schaffte es auch so. Alles drehte sich vor seinen Augen, aber er saß.

Es war echt. Es war tatsächlich passiert. Bailey hatte seine Frau entführt. Vielleicht hielt sie ihn sogar für tot.

„Bailey wollte mich vor ihren Augen töten“, sagte Owen. „Sie wusste es … Sie hat alles versucht.“

„Sie ist gut in ihrem Job. Sie wird ihn lesen und manipulieren können“, sagte Nick.

„Wenn er sie lässt.“

„Es wird immer zu einer Interaktion kommen, das ist unausweichlich.“

Owen versuchte, ruhig zu bleiben. „Er wird sie töten, oder? Und zuvor …“

„Hör auf damit. Das bringt uns auch nicht weiter.“

„Du magst das vielleicht damals bei Sadie schon miterlebt haben, aber du weißt nicht, wie es ist, wenn das deiner Frau passiert“, schnappte Owen. Als er Nicks betroffenes Gesicht sah, schob er hinterher: „Entschuldige. Ich werde nur bald verrückt.“

„Ich weiß. Schon gut.“

„Danke, dass du hier bist …“

„Ich muss gleich mal die anderen anrufen und auf den aktuellen Stand bringen.“

Owen nickte. Während Nick sich ans Fenster stellte, um zu telefonieren, hing er seinen Sorgen nach.

Monatelang hatte er das befürchtet – und jetzt war es doch passiert. Unweigerlich gingen seine Gedanken immer wieder in die Richtung, aber er konnte und wollte sie nicht zu Ende denken. Wenn er sich vorstellte, was Vincent Libby vielleicht antat, zerbrach etwas in ihm.

Nick telefonierte noch, als die Schwester hereinkam und sie erwartungsvoll nacheinander ansah.

„Der Polizist ist vorhin aufgewacht. Das wollten Sie doch wissen, Agent Dormer.“

„Oh, ja, danke. Natürlich.“

„Er liegt zwei Zimmer weiter.“

Nick lächelte dankbar und beendete das Telefongespräch. Owen versuchte, seine Beine aus dem Bett zu strecken.

„Was machst du da?“, fragte Nick verständnislos.

„Ich komme mit.“

„Du kommst nicht mit, ich meine …“

„Entweder du stützt mich oder ich brauche einen Rollstuhl“, sagte Owen unbeeindruckt. Nick wusste, dass jede Diskussion zwecklos war, und ging draußen auf die Suche nach einem Rollstuhl. Owen versuchte derweil, herauszufinden, welche Elektroden er entfernen musste und zupfte sie kurzerhand alle ab. Gemeinsam mit Nick stürmte die Schwester herein und wollte eine Predigt loslassen, aber auch jetzt blockte er jede Diskussion ab. Seinen Tropf nahm er einfach mit.

„In deiner Sturheit stehst du Libby in nichts nach“, sagte Nick, bevor er den Rollstuhl in das andere Patientenzimmer schob, doch Owen erwiderte nichts.

Er erkannte den Polizisten wieder, es war Officer Riley. Er hatte ihm noch eine gute Nacht gewünscht, nachdem der Mann abends bei ihnen in der Wohnung gewesen war, um die Toilette zu benutzen.

„Detective“, wisperte Riley tonlos und streckte schwach einen Arm nach Owen aus. „Sie leben noch …“

Owen nickte. „Sie zum Glück auch.“

„Mein Partner ist tot … ich habe ihn sterben sehen.“ Riley musste eine Pause machen. „Und ich habe gesehen, wie Bailey Ihre Frau entführt hat.“

„Das haben Sie gesehen?“, entfuhr es Nick. Als Riley ihn fragend ansah, stellte Nick sich vor.

„Ich bin Libby Whitmans Vorgesetzter beim FBI“, schob er erklärend hinterher.

„Dann muss ich Sie nicht erst rufen.“ Riley grinste schwach.

„Was können Sie uns noch sagen?“

Zunächst bat Riley um etwas zu trinken. Nick reichte ihm einen Becher und half ihm, dann überlegte der Polizist kurz und begann mit seinem Bericht.

„Wir saßen da und haben gegen die Müdigkeit gekämpft … es war ja nichts los. Bis um kurz nach halb vier ein Ford Explorer die Straße entlang fuhr.“

„Sie haben das Auto erkannt?“ Nick konnte es nicht fassen.

Riley nickte langsam. „Schwarz oder dunkelblau. Ist auch egal, ich weiß das Kennzeichen noch.“

„Das ist doch fantastisch.“

„Er parkte erst irgendwo weiter hinten. Wir haben ihn beobachtet – er ist ausgestiegen und kam in unsere Richtung. Anfangs haben wir uns nichts dabei gedacht, es sah so aus, als würde er vorbeigehen. Aber dann hat er einfach ins Auto geschossen. Die Scheibe ist zersplittert und er hat meinem Partner in den Kopf geschossen. Ich hab nach meiner Waffe gegriffen, aber da hat er auch auf mich geschossen. Der erste Schuss hat mich über der Weste in der Nähe des Halses getroffen und der zweite ins Bein. Er wollte auch meinen Kopf treffen, aber den hat er verfehlt. Ich war geistesgegenwärtig genug, mich nicht mehr zu bewegen, und er hat tatsächlich geglaubt, dass er mich auch getötet hat. Ich konnte es nicht fassen.“

„Dann hatten Sie unglaubliches Glück“, sagte Nick.

„Er ist noch mal zu seinem Auto zurück und hat es hinter unserem Streifenwagen geparkt, weshalb ich das Kennzeichen im Rückspiegel lesen konnte. Ich habe gewartet, bis er im Haus war, und erst dann Verstärkung gerufen, weil ich nicht wollte, dass er es merkt. Aber der Schuss … der hat irgendwas in meinem Hals verletzt. Ich konnte kaum sprechen und habe Blut gespuckt. Ich wollte den Kollegen sagen, welches Auto er fährt und wie das Kennzeichen lautet, aber ich konnte nicht. Ich habe fast das Bewusstsein verloren, als ich noch gesehen habe, wie Bailey mit Agent Whitman rausgekommen ist. Er hatte sie gefesselt und hat sie an einem Arm festgehalten. Was dann passiert ist, weiß ich nicht, da bin ich ohnmächtig geworden.“

„Aber Sie haben sein Auto und das Kennzeichen“, sagte Nick.

Riley nickte. „Es lautet GJA-7635 und stammt aus Pennsylvania.“

„Und es war ein Ford Explorer?“

„Ja … 4. Generation, glaube ich“

„Sie haben ja keine Ahnung, wie enorm uns das weiterhilft“, sagte Nick dankbar, aber Riley ging gar nicht darauf ein. Er blickte nur zu Owen.

„Es tut mir leid. Ich konnte nichts tun. Ich dachte noch, er hätte Sie erschossen …“

„Ich konnte auch nichts tun“, sagte Owen. „Auf mich hat er auch zweimal geschossen.“

„Ich hoffe, das FBI findet Ihre Frau schnell.“

Owen nickte langsam. Das hoffte er auch – so wie nichts sonst in der Welt.

Libby konnte nicht aufhören, an Owen zu denken. Daran, wie er einfach in die Knie gegangen war. Wie er in einer Lache seines eigenen Blutes gekniet und schließlich das Bewusstsein verloren hatte.

Reglos lag sie da und fühlte sich innerlich wie taub. Es kamen nicht einmal Tränen. Da war nichts. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich aufs Atmen. Darauf, nicht zu schreien. Nicht, dass sie gekonnt hätte, aber sie verspürte das dringende Bedürfnis, vor Entsetzen zu schreien.

Das Klebeband auf ihrem Mund saß bombenfest. Die Handschellen waren so eng, dass sie ihr schmerzhaft in die Handgelenke schnitten, zumal sie auf ihren Armen lag und sich nicht rühren konnte.

Dann kamen doch Tränen. Während Vincent beschleunigte und sie gegen die Seitenwand des Wagens gedrückt wurde, flossen die Tränen, als würden sie nie wieder aufhören wollen. Libby versuchte, still zu sein, damit Vincent es nicht merkte.

Irgendwo in der Ferne hörte sie Sirenen. Ob die Nachbarn die Polizei gerufen hatten? Vielleicht hatte Owen eine Chance …

Sie stellte sich sein Gesicht vor, seinen sanften Blick und die Grübchen, die er hatte, wenn er lächelte. Sie erinnerte sich daran, wie sich anfühlte, wenn er sie umarmt und mit seinen kräftigen Händen berührt hatte. Er war ja kaum größer als sie, aber er hatte eine muskulöse Statur und breite Schultern. Das hatte ihr immer so gefallen. Libby dachte daran, wie er plötzlich in Quantico dagestanden hatte, die Dienstmarke des MPDC am Gürtel, und vor dem Schießstand auf sie gewartet hatte. Der größte Liebesbeweis, den sie sich vorstellen konnte. Er hatte sein ganzes Leben ihretwegen umgekrempelt – ohne zu wissen, ob es sich auszahlte. Er hatte es einfach gemacht. Und er hatte sie immer bedingungslos unterstützt.

Während sich bei der Vorstellung, nun ohne ihn leben zu müssen, alles in ihr zusammenkrampfte, wurde ihr langsam bewusst, dass sie vermutlich nie ein Leben ohne ihn führen würde. Nicht, wenn Vincent das mit ihr tat, was sie vermutete. Dann gab es ohnehin kein Leben mehr für sie. Dann gab es bloß noch die Aussicht auf Vergewaltigung, Folter, Schmerz – und Tod.

Sie folgten einer langgezogenen Kurve. Links war es dunkel, rechts hell, dann auf beiden Seiten dunkel. Libby glaubte zu wissen, wo sie waren – sie fuhren gerade am Pentagon vorbei und folgten dem Ufer des Potomac nahe dem Nationalfriedhof. Natürlich, er wollte nach Pennsylvania. Er wollte sich irgendwo mit ihr verstecken und sie lebendig begraben.

Libby konnte nicht fassen, dass das gerade wirklich passierte. Vincent hatte es einfach getan. Es hatte ihn überhaupt nicht interessiert, dass Polizisten vor ihrer Tür gestanden hatten. Er hatte sie erschossen, irgendwie das Türschloss geknackt und …

Sie wusste, was er tun würde, und als ihr das klar wurde, stieg Panik in ihr auf. Sie hatte doch seine letzten Opfer gesehen. Sie hatte gesehen, wie er sie gequält und verstümmelt hatte. Verzweifelt drehte sie die Hände in den Handschellen, aber es zwar zwecklos.

Nervös blickte sie an sich herab. Sie trug nichts weiter als ihr dünnes blaues Nachthemd und einen Slip. Plötzlich fühlte sie sich nackt. Kalt war ihr nicht, dafür war die Nacht zu drückend und ihre Angst zu groß. Angst vor dem, was kommen würde. Was Vincent ihr antun würde.

Er war ein Vergewaltiger …

Libby schloss die Augen und versuchte, die aufsteigende Todesangst in Schach zu halten. Einatmen. Ausatmen. Tief und langsam. Sie musste doch irgendwas tun können.

Aber was?

Sie wusste, wer er war. Wie er war. Das war ihr Vorteil. Er war ein Sadist – ein Sexualsadist, den es erregte, sein Opfer leiden zu sehen.

Und wenn sie ihm einfach nicht gab, was er suchte?

Noch während ihr die Idee kam, fiel ihr jemand ein, der das schon einmal versucht hatte – Julies Mum. Sie war Profilerin geworden, weil sie als Studentin in die Fänge des Campus Rapist von Norwich geraten war, der die ostenglische Stadt erst als Vergewaltiger und schließlich als Serienmörder terrorisiert hatte. Zwischendurch hatte sie ihm einfach die Reaktion verweigert, die er gern gehabt hätte, und hatte ihm sogar vorgespielt, es würde ihr gefallen, was er tat – mit beachtlichem Erfolg.

Sollte sie das versuchen? Sie wusste nicht, ob es klappen würde. Ob es nicht vielleicht sogar nach hinten losging.

Bis auf das Geräusch des Motors war es still im Auto. Vincent fuhr mit gleichbleibender Geschwindigkeit nach Norden, draußen wurde es immer dunkler. Sie ließen die Metropolregion um Washington hinter sich. Wie lang fuhr man nach Pennsylvania? So lange würde sie sicher sein. So lange würde er ihr nicht weh tun.

Sie hatte keine Ahnung, wo sie inzwischen waren, als das Auto plötzlich langsamer wurde und wenig später stehen blieb. Vincent schaltete den Motor ab und stieg aus. Sofort schoss Libby das Adrenalin ins Blut. Mit Herzrasen lag sie da und horchte auf seine Schritte, bis plötzlich die Heckklappe geöffnet wurde und er sie erwartungsvoll ansah. Als er sich über sie beugte, rutschte sie instinktiv von ihm weg, doch er fasste sie am Oberarm und zog sie hoch. Libby beschloss, sich nicht zu wehren, sondern sich gleichgültig zu geben. Vincent half ihr beim Aussteigen und führte sie wortlos zur Beifahrertür. Seine Finger krallten sich schmerzhaft fest in ihren Oberarm und er zeigte ihr die Waffe, die er in der linken Hand hielt. Sie verstand und stieg einfach ein. Er schnallte sie an, warf die Tür zu und ging um die Motorhaube herum, um schließlich selbst wieder einzusteigen. Neugierig sah er sie an und nach einem Moment des Zögerns erwiderte sie seinen Blick, dann machte er sich an dem Klebeband zu schaffen, das er ihr auf den Mund geklebt hatte, um es zu entfernen. Libby sagte nichts.

„Könntest dich ja wenigstens mal bedanken“, knurrte er. Libby schwieg weiter.

„Ist da jemand zu Hause bei dir?“

„Wofür soll ich mich denn bei dir bedanken? Dass du meinen Mann auf dem Gewissen hast?“ Sie sah ihn nicht an, während sie das sagte, sondern starrte geradeaus auf die Straße und die paar Autos, die vor ihnen fuhren und ihnen auf der anderen Fahrbahnseite entgegenkamen. Es war immer noch finster draußen. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 4.34 Uhr.

„Bist du nachtragend?“, fragte Vincent.

Libby versuchte, die Tränen zurückzuhalten, als sie sagte: „Ich wäre auch mit dir gekommen, wenn du ihn am Leben gelassen hättest.“

„Ja, ich weiß. Das macht aber keinen Spaß.“

„Warum rede ich mit dir darüber? Du weißt doch gar nicht, was Liebe ist.“

„Ach, und du weißt es?“

„Hast du nicht mitbekommen, dass wir geheiratet haben?“

„Das ist keine Antwort.“

Er hatte Recht. „Du bist ein Sadist, Vincent. Ich hasse Sadisten.“

„Kannst du ja. Ich halte dich nicht davon ab.“ Er schwieg kurz, bevor er etwas leiser sagte: „Du bist anders als die anderen.“

„Hast du mich deshalb nach vorn geholt?“

Er lachte. „Oh, ich glaube, es wird verdammt lustig mit dir, Libby. Ich freue mich schon.“

Sie schloss die Augen. Instinktiv wollte sie ihn anflehen, ihr nichts zu tun, aber dann hielt sie den Mund. Bloß nicht.

„Warum bist du zum FBI gegangen? Wegen deiner Mum?“, fragte er.

Verständnislos sah sie ihn an. „Warum willst du das wissen?“

„Du faszinierst mich. Je mehr ich mich in den letzten Monaten mit dir beschäftigt habe, desto klarer wurde mir, dass ich dich dringend haben muss.“

„Ganz egal, was du mit mir machst – ich gehöre dir nicht.“

„Das werden wir ja sehen“, erwiderte er ungerührt. „Also – wolltest du sein wie deine Mum? Die ist ja Profilerin geworden, weil sie die Tochter eines Serienmörders ist, wenn ich das richtig sehe.“

Als er nichts mehr sagte, begriff Libby, dass er auf ihre Bestätigung wartete, und nickte. „Du hast dich schlaugemacht.“

„Klar. Ich wollte wissen, wer du bist. Ich habe dein Gesicht nicht vergessen, seit wir uns in Randalls Haus zum ersten Mal gesehen haben. Du hast ja einfach draufgehalten.“

„Ich habe das Feuer erwidert.“

„Ja, ich weiß. Wundert mich immer noch, dass er dich nicht getroffen hat. Er war Jäger.“

„Er kannte sich mit Gewehren aus. Ich bin sowohl bei der Polizei als auch beim FBI an verschiedenen Waffen ausgebildet worden. In dem Moment war ich im Vorteil, weil ich Handfeuerwaffen besser beherrscht habe als er.“

„Ja, sieht so aus. Ich bin nicht mehr wütend auf dich, weil du ihn erschossen hast. Das war seine eigene Schuld. Allerdings weiß ich noch, wie ich dachte: So eine schöne junge Frau – was macht die beim FBI?“

„Du willst das wirklich wissen, oder?“, fragte Libby überrascht.

Vincent nickte. „Wir werden viel Zeit miteinander verbringen. Erzähl mir von dir.“

„Und wenn ich nicht will?“

„Mary Jane hat dir doch erzählt, welche Schmerzen ich Frauen zufügen kann, oder?“

Libby hielt die Luft an und schluckte. „Ich verstehe bis jetzt nicht, warum sie dich liebt.“

„Tja, ich auch nicht. Ist auch egal, ist ja nur von Vorteil für mich. Also … warum bist du Profilerin geworden? Warum macht man das freiwillig?“

Anstatt zu antworten, fragte Libby: „Was weißt du über mich?“

„Ich weiß, dass du Cop in San José warst. Daher kanntest du deinen Mann, oder?“

Libby nickte. „Wir haben dort zusammen gearbeitet.“

„Ich weiß auch, dass du diesen Kindermörder in Washington gefasst und gegen den Brandstifter in Richmond ermittelt hast – und dann war da diese Sache mit Marcus Greene.“

„Ja, das waren alles meine letzten Fälle.“

„Außerdem hast du in Utah gegen diese Mormonensekte ermittelt.“

„Glückwunsch, du weißt, wie man Google benutzt.“ Es war raus, bevor Libby darüber nachdenken konnte, aber zu ihrer Überraschung lachte Vincent.

„Was ich mich die ganze Zeit gefragt habe – ist Sadie Whitman nicht ein bisschen jung, um deine Mutter zu sein?“

„Die Whitmans haben mich adoptiert.“

„Ah. Plausibel.“

Libby hoffte, dass er nicht weiter fragte, doch dann sagte er überraschend: „Du hattest mal mit einem der Killer zu tun, gegen die sie ermittelt hat, oder? Wer war es?“

„Warum glaubst du, dass es so war?“

„Ich glaube, du bist nicht ohne Grund zum FBI gegangen. Wer war es? Brian Leigh?“

Libby konnte nicht verhindern, dass sie ganz leicht zusammenzuckte, denn damit hatte sie nicht gerechnet. Sie wollte nichts sagen, aber auf Vincents Gesicht zeichnete sich ein Grinsen ab.

„Er war es, oder? Ich hab gelesen, dass er damals eine Schülerin gekidnappt hat. Sie war fünfzehn. Das warst du, oder?“

Zwar wollte Libby immer noch nicht antworten, aber wie alle Psychopathen war Vincent trotz seiner Empathielosigkeit verdammt gut darin, ihr Verhalten zu lesen. Er grinste zufrieden und nickte.

„Er war es. Ist er der Grund? Was hat er damals mit dir gemacht?“

„Warum sollte ich dir das erzählen?“

Vincents Grinsen wurde breiter. „Oh, ich kann es mir schon vorstellen. Er fand dich bestimmt genau so heiß wie ich. Hatte er Sex mit dir?“

„Nein, hatte er nicht. Könnten wir das lassen?“

Doch diese Reaktion bewies Vincent, dass er auf der richtigen Spur war. „Leigh ist der Grund, oder? Er hat dich entführt und Sachen mit dir gemacht. Deshalb bist du zum FBI gegangen.“

„Falsch“, sagte Libby bloß. Zu spät wurde ihr klar, dass das ein Fehler war.

„Ach wirklich? Was war dann der Grund?“

„Vielleicht kann ich es ja einfach nur gut.“

„Ach, komm schon, das glaube ich dir nicht.“

„Warum nicht? Man kann auch einfach so Profiler werden. In meinem Team sind doch nicht nur Leute, die mal etwas Schlimmes erlebt haben.“

„Ja, mag sein. Trotzdem werde ich es rausfinden, Libby Whitman. Wir werden so viel Spaß zusammen haben! Ich weiß genau, dass du versuchst, mich deine Angst nicht spüren zu lassen, aber glaub mir, das wirst du nicht ewig durchhalten …“

Sie erstarrte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Vincent so feine Antennen hatte. Unruhig rutschte sie auf dem Sitz herum, schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Als sie plötzlich seine Hand auf ihrem Knie spürte, zuckte sie zusammen und hätte am liebsten geschrien. Er grinste sie breit an.

„Mit dir wird es besonders viel Spaß machen. Irgendwann habe ich dich auch so weit, dass du bloß noch wimmerst und bettelst.“

Libby drückte sich fest in den Sitz, während Vincent seine Hand kurz über ihr Bein nach oben wandern ließ, aber dann nahm er sie weg und legte sie wieder ans Lenkrad.

Diese knappe Äußerung hatte schon gereicht, um ihre Abwehrhaltung ins Wanken zu bringen. Sie spürte, dass Vincent sie ansah, aber sie versuchte, ihn zu ignorieren.

„Kannst du mir sagen, wie es Mary Jane geht?“, fragte er unvermittelt. Ungläubig sah sie ihn an.

„Warum interessiert dich das?“

„Was ich mit ihr hatte, war was Besonderes. Wie gesagt, keine Ahnung, warum sie mich liebt, aber sie hat jetzt ein Kind von mir. Ich weiß nicht, wie du mich nennen würdest – Sadist? Aber es mir nicht egal.“

Libby nickte. „Du bist ein Sadist und ein Psychopath.“

„Ist das nicht dasselbe?“

„Nein, ist es nicht. Wobei ich ziemlich sicher bin, dass alle Sadisten Psychopathen sind.“

„Wie kommst du darauf?“

„Psychopathen ist es egal, wenn sie andere Menschen verletzen. Gefühle sind ein Fremdwort für sie, ein Gewissen haben sie nicht. Das alles sehe ich als Voraussetzung für jemanden, den es aufgeilt, zu sehen, wie ein anderer Mensch leidet.“

„Hm“, machte Vincent. „Klingt plausibel.“

„Du siehst mich gerade nicht als Menschen. Du siehst mich als ein Objekt, mit dem du tun kannst, wonach auch immer dir der Sinn steht.“

Vincent grinste breit. „Stimmt. Also, klar bist du ein Mensch … aber vor allem bist du eine Frau, du bist sexy und ich stelle mir schon vor, wie wir in ein paar Stunden in meinem Versteck sind und ich mir überlege, wie ich am meisten Spaß mit dir haben kann.“

Libby schloss die Augen, um nicht die Fassung zu verlieren, und nickte. „Und du kannst es in Worte fassen … das könnt ihr Typen immer alle“, sagte sie leise.

„Brian Leigh war auch so, oder?“

„Ja, Brian Leigh war auch so. Wolltest du nicht eigentlich was über Mary Jane wissen?“

Tatsächlich stieg Vincent darauf ein. „Warum musste sie einen Kaiserschnitt haben?“

„Sie litt unter Präeklampsie. Schwangerschaftsvergiftung. Das Baby musste sofort raus, sonst wären beide gestorben.“

„So was gibt es?“

Libby nickte. „Es geht ihr jetzt gut, so weit ich weiß. Dem Baby auch. Es ist eben noch sehr klein.“

„Und ist es ein Junge?“

„Ja. Er heißt Jacob.“

„Ich weiß. Ich würde ihn wirklich gern sehen.“

„Du betrachtest beide als dein Eigentum, oder?“, fragte Libby.

Vincent überlegte kurz und nickte. „Schon irgendwie. Mary Jane wollte mir ja auch immer gehören.“

„Nein, wollte sie nicht. Sie hat auf deine Liebe gehofft.“

„Sie wollte bei mir bleiben!“

„Ja, aber sie wollte nicht, dass du sie einsperrst.“

Darauf wusste Vincent erst einmal nichts zu erwidern. Während er stur auf die Straße starrte, begann es am Horizont hinter ihnen allmählich hell zu werden. Er schaltete das Radio ein, inzwischen war es kurz vor fünf. Die Hinweisschilder verrieten Libby, dass sie auf dem Weg nach Hagerstown, Maryland waren. Vor ihnen erhoben sich die Appalachen.

Um fünf begannen die Nachrichten. Gleichmütig starrte Libby aus dem Fenster, während die ersten beiden Meldungen sich bloß um Politik drehten. Dann wurde es jedoch interessant.

„Der flüchtige Serienmörder Vincent Howard Bailey hat heute Nacht in Arlington, Virginia mehrere Polizeibeamte mit einer Schusswaffe angegriffen und teilweise tödlich verletzt. Bailey, der auf der FBI-Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher steht, hat anschließend eine FBI-Agentin entführt und befindet sich vermutlich auf der Flucht nach Pennsylvania. Er ist bewaffnet und gefährlich, die Polizei warnt ausdrücklich davor, sich ihm zu nähern. Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.“

Während Libby apathisch zum Radio starrte, wurde Vincent sichtlich nervös. „Teilweise tödlich? Was heißt das denn bitte?“

„Dass wohl jemand überlebt hat“, murmelte Libby. Sie fragte sich, ob Owen da mit eingeschlossen war – schließlich war er Polizist.

„Fuck … dann hat bestimmt der eine Cop im Auto überlebt. Ich war mir nicht sicher. Fuck!“, fluchte Vincent gereizt. Ihn so zu sehen, entlockte Libby ein hintersinniges Lächeln.

„Jetzt suchen sie nach uns.“ Sie stocherte absichtlich in der Wunde herum, um ihn noch nervöser zu machen. Wenn er nervös war, machte er Fehler. Das konnte nur hilfreich sein.

„Vielleicht errichten sie Straßensperren“, schob sie hinterher.

„Fuck, halt dein Maul!“, brüllte er gereizt. „Reg mich jetzt nicht auf …“

„Du hast eine FBI-Agentin entführt. Das lässt das FBI sich nicht bieten.“

„Halt’s Maul!“, brüllte Vincent erneut. Zu allem Überfluss bemerkten sie beide zeitgleich rotes und blaues Licht. Da kam ein Einsatzfahrzeug. Sie konnten noch nicht erkennen, was es war, aber Vincent griff schon mit einer Hand nach seiner Waffe und starrte wie hypnotisiert in den Rückspiegel.

Das Fahrzeug kam schnell näher. Libby sah, dass es ein Streifenwagen war, vermutlich ein gut motorisierter Charger. Vincent wurde immer nervöser. Er entsicherte die Waffe und zielte damit auf Libby.

„Runter mit dir, aber schnell“, sagte er.

„Ich bin angeschnallt …“

„Ist mir scheißegal, du duckst dich jetzt!“ Er drückte ihr den Schalldämpfer der Waffe gegen die Stirn. Libby überlegte, es nicht zu tun, aber sie war nicht sicher, ob er nicht vielleicht tatsächlich abdrücken würde. Im Augenblick traute sie ihm alles zu.

Als er erneut brüllte, versuchte sie sich auf dem Sitz so klein wie möglich zu machen. Nur Sekunden später fuhr der Streifenwagen an ihnen vorbei, alles war in rotes und blaues Licht gehüllt. Vincent tat ganz unbeteiligt und lenkte mit links, während er mit der anderen Hand die Waffe gegen Libbys Schläfe drückte.

„Braves Mädchen.“ Er wartete noch einen Augenblick und als der Streifenwagen weit genug entfernt war, sagte er: „Kannst wieder hochkommen.“

Libby tat es. Wehmütig und frustriert blickte sie dem Streifenwagen hinterher. Ob man auf der Suche nach ihr war?

Während sie an Hagerstown vorbei fuhren, sprach keiner von ihnen ein Wort. Vincent war sichtlich angespannt und auch Libby machte sich ihre Gedanken. Hinter ihnen wurde es rasch immer heller.

Als sie Hagerstown passiert hatten, verließ Vincent die Interstate am nächsten einsam gelegenen Parkplatz. Libby war nervös. Was hatte er jetzt vor?

Der Parkplatz war menschenleer. Vincent hielt am Rand unter einigen Bäumen und stieg aus. Mit Herzrasen beobachtete Libby ihn, wie er um die Motorhaube herum ging und schließlich die Beifahrertür öffnete. Er beugte sich über sie und löste ihren Gurt.

„Los, raus hier. Wenn die wirklich nach uns suchen, bist du im Kofferraum am sichersten.“

Libby wollte schon etwas erwidern, aber da brüllte er sie gereizt an, packte sie und zerrte sie aus dem Auto. Als sie draußen neben ihm stand, schlug er ihr so hart mitten ins Gesicht, dass sie für einen Moment nur Sternchen sah.

„Ich muss wohl übersehen haben, dass du irgendwas zu sagen hast“, zischte er und führte sie zum Heck des Wagens. Libby wehrte sich nicht, als er sie in den Kofferraum stieß. Er war zu aufmerksam, sie hatte kaum eine Gelegenheit, ihn anzugreifen. Vincent stieg ebenfalls in den Kofferraum, griff über die Lehne auf die Rückbank und brachte ein Seil zum Vorschein, bevor er Libby dazu zwang, sich hinzulegen. Angespannt beobachtete sie, wie er ihre Füße zusammenband.

„Hör auf, ich kann doch nirgends hin“, wagte sie einen verzweifelten Vorstoß, fing sich aber nur einen geringschätzigen Blick von ihm ein.

„Wer sagt denn, dass ich das mache, damit du nicht wegläufst?“

Libby verstand. Nun versuchte sie doch, sich zu wehren, aber da drückte Vincent mit einer Hand ihren Kopf nach unten und drehte sie auf die Seite, bevor er sich daran machte, den Strick von ihren Füßen an ihre Handschellen zu fesseln.

„Lass mich los, bitte“, flehte sie, obwohl sie wusste, dass es zwecklos war und sie ihm so nur Futter lieferte.

„Du hast hier nicht das Sagen, Libby“, grollte er. Sie zappelte heftig, aber es hatte keinen Sinn. Sie kam nicht gegen ihn an. Nicht so. Schließlich lag sie heftig keuchend und mit Tränen in den Augen am Boden und fragte sich, ob das sein Ernst war. Vincent drehte sie auf den Rücken, hockte sich auf sie und hielt ihr die Rolle mit Klebeband vor die Nase.

„Letzte Worte?“, höhnte er, bevor er ein Stück abriss. Resigniert und gleichzeitig hasserfüllt sah Libby ihn an, während er ihr das Klebeband auf die Lippen drückte.

Sie hasste ihn wirklich. Ihr war nur zu bewusst, warum er das tat. Er wolle sie quälen und damit ihren Widerstand brechen. Doch so leicht würde sie es ihm nicht machen.

Vincent grinste breit. „So gefällst du mir schon richtig gut.“

Libby schluckte schwer und stieß innerlich jeden Fluch aus, der ihr einfiel, bis Vincent neben sich griff und ihr etwas zeigte, was ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Im fahlen Morgengrauen erkannte sie eine schwarze Maske mit Reißverschlüssen.

Sie erinnerte sich daran, wie sie Carolyn Hamley in Howards Keller eine solche Maske vom Kopf gezogen hatte. Sie erinnerte sich auch daran, wie Mary Jane ihr davon erzählt hatte, dass Howard sie ihr wochenlang nicht abgenommen und sie geglaubt hatte, sie würde allmählich wahnsinnig werden.

Libby stieß einen erstickten Schrei aus und schüttelte heftig den Kopf. Vor lauter Tränen konnte sie fast nichts mehr sehen, aber sie spürte, wie Vincent sie an den Haaren packte und so fest daran zog, dass sie vor Schmerz wimmerte.

„Halt still, oder du wirst es bereuen“, sagte er gefährlich leise.

Nick hatte sofort beim FBI angerufen und den Kollegen das Kennzeichen mit der Bitte gegeben, es zu überprüfen, zur Fahndung auszuschreiben und an die Medien zu geben. Er wollte, dass sämtliche Verkehrsüberwachungskameras in Virginia, Maryland und Pennsylvania auf der Suche nach dem Kennzeichen geprüft wurden.

Owens Hoffnung wuchs. Das war ein riesiger Schritt in die richtige Richtung. Er war Riley dankbar, dass er nicht bloß Hilfe gerufen, sondern sich auch das Kennzeichen gemerkt hatte.

Inzwischen saß er wieder in seinem eigenen Bett und beobachtete Nick beim Telefonieren. Der BAU-Chef versuchte, in Pennsylvania großräumig Straßensperren errichten zu lassen, auch wenn er sich kaum noch Hoffnung machte, dass das etwas bewirken würde. Inzwischen konnte Bailey längst mit Libby am Ziel sein, dann brachte das überhaupt nichts. Die Entführung lag knapp viereinhalb Stunden zurück. Versuchen mussten sie es trotzdem.

Als Nicks Handy klingelte, waren beide gespannt auf mögliche Neuigkeiten, aber es war nicht das FBI. Nick stellte auf Lautsprecher und sagte: „Matt, Owen hört mit.“

„Wir haben Plätze in der Maschine, die um halb neun zum Ronald Reagan Airport geht. Wir sitzen im Auto, der Flug geht ja schon in zwei Stunden. Ich hoffe, wir packen das.“

„Wann seid ihr hier?“, fragte Nick.

„Halb fünf heute Nachmittag.“

Owen schaute auf die Uhr. Gleich war es halb zehn. Sadie und Matt würden also in sieben Stunden dort sein. Sieben Stunden wie eine Ewigkeit.

„Gibt es schon etwas Neues bei euch?“, fragte nun Sadie. Im Hintergrund rauschte es laut, sie telefonierten mit Freisprechanlage.

„Kann man so sagen. Einer der Officers, die für den Personenschutz vor Libbys und Owens Wohnung abgestellt waren, hat Baileys Angriff überlebt. Er ist vorhin aus der Narkose aufgewacht und hat uns das Kennzeichen des Wagens genannt.“

„Das ist doch fantastisch“, fand Matt.

„Ich hoffe bloß, das kam nicht zu spät.“

„Immerhin habt ihr jetzt was, wonach ihr fahnden könnt.“

„Ich habe schon alle darauf angesetzt – wirklich alle. FBI, Polizei, Medien. Wir hatten noch nie so gute Chancen, ihn zu kriegen.“

„Dein Optimismus tut gut“, sagte Sadie.

„Ich meine das auch so. Jetzt sind wir ihm dicht auf den Fersen. Meldet euch, solltet ihr noch irgendwas brauchen, ansonsten sehen wir uns heute Abend.“

„Danke. Bis später“, sagte Matt, bevor er auflegte.

„Wenn du in Quantico besser arbeiten kannst, fahr ruhig“, richtete Owen sich an Nick. „Du musst hier nicht auf mich aufpassen.“

„Nein, schon gut. Bislang komme ich auch telefonisch gut mit allem zurecht.“ Nick lächelte.

Wie aufs Stichwort klingelte sein Handy erneut. Es war Ian, den Nick ebenfalls auf Lautsprecher stellte.

„Wir haben gerade das Kennzeichen überprüft. Es ist Ende April als gestohlen gemeldet worden, eigentlich gehört es zu einem anderen Fahrzeug. Wir haben aber auch einen Ford Explorer gefunden, der im gleichen Zeitraum in Pittsburgh gestohlen wurde und bislang nicht wieder aufgetaucht ist. Wahrscheinlich hat Bailey das Kennzeichen an den gestohlenen Explorer geschraubt.“

„Wenig überraschend“, sagte Nick. „Gibt es schon eine Spur?“

„Bis jetzt nicht. Wir sitzen der Verkehrsüberwachung in allen drei Staaten im Nacken. Mit Glück haben wir bald was.“

„Sadie und Matt sind unterwegs hierher. In sieben Stunden sind sie hier.“

„Denkst du, sie können etwas tun?“

„Weiß ich nicht, aber kommt es darauf an?“

„Stimmt. Hast Recht. Wie geht es Owen?“

„Beschissen“, knurrte dieser. „Hast du etwas anderes erwartet?“

„Oh, da bist du ja. Hey, es tut mir leid. Falls es dir hilft, hier tut kaum jemand etwas anderes, als nach deiner Frau zu suchen.“

„Das hilft dann, wenn wir sie finden.“ Owen wollte nicht so frustriert klingen, aber er konnte nicht anders.

„Ich verstehe dich total. Sobald wir etwas wissen, melde ich mich.“

„Gut, bis später“, sagte Nick und legte auf. Er lief noch ein wenig im Zimmer herum, setzte sich dann aber wieder neben Owens Bett und seufzte tief. Owen hatte die Schultern hochgezogen und knetete nervös seine Finger.

„Du weißt, wie stark sie ist“, sagte Nick.

„Ja, sicher, aber ich weiß auch, wozu Bailey fähig ist. Sie zu vergewaltigen ist nicht das Schlimmste, was er ihr antun kann.“

„Owen …“

Verzweifelt schloss Owen die Augen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. „Ich kann nicht anders, verstehst du? Ich stelle mir vor, dass er sie jetzt in diesem Augenblick in sein Versteck bringt und … und sie foltert.“ Seine Stimme begann zu zittern. „Du kennst Bailey selbst. Du weißt, dass er das tun wird.“

„Ja, du hast Recht, aber tu dir das nicht an. Ich bitte dich.“

„Was soll ich sonst tun? Ich kann nichts tun! Sie ist meine Frau, Nick. Sie hat das schon einmal durchgemacht. Der bloße Gedanke macht mich krank …“

Owen sank in sich zusammen und fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. Er verbarg seine Augen dahinter, gerade so, als wolle er seine Tränen vor Nick verstecken. Augenblicke später spürte er Nicks Hand auf der Schulter, beide schwiegen. Als Nicks Handy erneut klingelte, waren sie zum Zerreißen gespannt, doch dann lasen sie einen Namen auf dem Display, mit dem sie in diesem Augenblick nicht gerechnet hatten: Julie.

Nick nahm das Gespräch an. „Guten Morgen, wie kann ich dir behilflich sein?“

„Bitte sag mir, dass in den Nachrichten nicht von Libby die Rede ist.“ Julie schluchzte verzweifelt und sagte nichts weiter.

„Du hast in New York davon gehört?“

„Ja – es hieß, dass Bailey in Arlington eine Frau entführt und Polizisten getötet hat … die meinten doch nicht Owen?“

„Ich bin hier“, sagte er schnell und hörte, wie Julie einen Stoßseufzer ausstieß.

„Oh mein Gott, ich dachte vorhin, mein Herz bleibt stehen. Geht es dir gut?“

„Nein, es geht mir nicht gut. Bailey hätte mich fast erschossen. Ich hatte keine Chance, ihn aufzuhalten.“

Julie schluchzte noch lauter. „Kann ich euch irgendwie helfen?“

„Ich wüsste nicht, wie“, sagte Nick. „Wir haben immerhin Baileys gestohlenes Kennzeichen. Es existiert also eine realistische Chance, dass wir sie finden.“

„Bitte, Nick, wenn ich irgendwas tun kann … egal was … sag es mir. Vielleicht kann Kyle helfen.“

„Ich denke darüber nach, okay? Ich versuche gerade, das alles zu koordinieren“, erwiderte Nick.

„Ja, sicher … ich fühle mich nur so hilflos.“

„Das tun wir alle. Ich halte dich auf dem Laufenden, okay?“

„Danke …“ Julie schniefte, bevor sie auflegte. Nick seufzte betroffen, als er sein Handy wegsteckte.

„Ich habe gar nicht an Julie gedacht“, gab Owen zu.

„Ich auch nicht.“

„Du kannst nicht an alles denken.“

Nick lächelte dankbar. Er setzte sich wieder und Owen wollte ihn schon fragen, warum er die ganze Zeit da war, aber eigentlich konnte er sich diese Frage selbst beantworten. So, wie er sich fühlte, befand er sich wohl in keinem Zustand, in dem Nick ihn hätte allein lassen wollen.

Kurz darauf erhielt Nick die Information, dass die Polizei in Pennsylvania an wichtigen Knotenpunkten Straßensperren errichtet hatte, um nach dem Explorer zu suchen. Owen betete, dass das nicht zu spät kam. Das war seine größte Angst. Jetzt wussten sie zwar, wonach sie suchten, aber vielleicht half ihnen das trotzdem überhaupt nicht …

Zwischendurch kam ein Arzt zu ihm, um ihm zu sagen, was er sowieso schon wusste. Die Kugel in seiner Schulter war vor seinem Schulterblatt stecken geblieben, hatte aber außer einer heftigen Blutung keinen größeren Schaden verursacht.

---ENDE DER LESEPROBE---