Schuld Ein Geständnis - Alfonso Hophan - E-Book

Schuld Ein Geständnis E-Book

Alfonso Hophan

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Beschreibung

Alfonso Hophan gelingt mit seinen drei Erzählungen ein außergewöhnliches Triptychon von hohem literarischem Wert. "Schuld Ein Geständnis" vereint eine kürzere und zwei lange Erzählungen, die stilistisch sowie inhaltlich zwar verschieden sind, jedoch thematisch in einem zusammengehörenden Ganzen aufgehen. Dem 1992 geborenen Autor gelingt es darin, sich zutiefst moralischen Fragen auf eine ausgesprochen menschliche Art und Weise zu nähern. Ohne zu werten oder zu richten, bewegt Alfonso Hophan sich in seinem zweiten Buch im Graubereich zwischen Kausalität, Verantwortung und empfundener Schuld. "Weißgott" ist der Monolog eines reuigen alten Mannes im Krankenbett, der einem Pfarrer eine Liebe und eine Schuld beichtet, die ihn seit über fünfzig Jahren verfolgen, und der nun Antworten auf Fragen möchte, welche die Vergangenheit mit ins Grab genommen hat. In der aufwendig komponierten Erzählung "Der rätselhafte Fall des Alexander Frosch" versucht der Protagonist mittels Interviews zu rekonstruieren, was einen ihm kaum bekannten jungen Mann in den Suizid getrieben hat. Je tiefer er dabei recherchiert, desto aussichtsloser werden die Fragen nach individueller und kollektiver Schuld. In "Erbschuld" schlussendlich folgt ein Mann der Einladung seiner Tante in ein kleines Dorf. Doch als diese ihn nicht wie vereinbart am Bahnhof abholt, entwickelt sich die Situation für den Protagonisten zusehends zu einem Albtraum, in welchem die Frage nach seiner Schuld zu einer Frage um Leben und Tod wird. Das Ergebnis ist ein tiefgreifender und stimmiger Erzählband, der keine Antworten gibt, sondern Fragen aufwirft. Mit "Schuld Ein Geständnis" beweist Alfonso Hophan, dass er zu den interessantesten und vielseitigsten deutschsprachigen Autoren der ganz jungen Generation gehört.

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Alfonso Hophan

SchuldEinGeständnis

Dieses Buch wurde unterstützt durch die Kulturförderung

Kanton Glarus / Swisslos Kulturfonds

Verlag

Salis Verlag AG, Zürich

 

www.salisverlag.com * [email protected]

Lektorat

Patrick Schär

Korrektorat

Ina Serif

Umschlagbild

iStock.com/Serjio74

Umschlaggestaltung

André Gstettenhofer

 

1. Auflage 2017

 

© 2017, Salis Verlag AG, Zürich

 

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-906195-63-6

INHALT

Weißgott

Der rätselhafte Fall des Alexander Frosch

Erbschuld

Para mi madre.

WEISSGOTT

I

Nabend. Schön, dass Sie gekommen sind. Bitte. Nehmen Sie Platz, hier, so, dass ich Sie sehen kann. Gut. Danke. Sie kommen gerade rechtzeitig. Sehen Sie nur, der Himmel. Und die Stadt. Und der See. Sehen Sie. Aber vor allem der Himmel. Das ist unglaublich. Diese Farben. Es heißt, man solle nicht in die Sonne schauen, aber ich mache es trotzdem. Zu dieser Tageszeit geht das gut. Wenn sie so über dem Horizont steht. Dort, links neben dem Funkturm, dort geht sie unter. Aber kurz bevor sie untergeht, hängt die Scheibe direkt über dem Hügel. Goldig. Wie eine offene Tür in eine andere Welt. Hm. Wahrscheinlich sollte man trotzdem nicht in die Sonne schauen.

Sie fragen sich bestimmt, warum ich Sie habe kommen lassen. Nicht wahr? Den anderen, Ihren Vorgänger, habe ich ja mehrmals abgewiesen. Er war sehr freundlich. Er hieß … Hofstetter. Nein, Hostettler. Oder? Ja, genau, Pfarrer Hostettler. Ich wollte nie mit ihm reden. Sagte ihm, es sei nichts Persönliches, ich hätte einfach schon mein ganzes Leben lang nicht viel auf die Meinung eines Pfarrers gegeben. Oder die von Gott. Ich wolle seinen Segen nicht, sagte ich ihm. Geradeheraus. Dachte, das mache Eindruck, so etwas zu sagen. Mit meiner Diagnose. Er nickte und wünschte mir jedes Mal gute Besserung, bevor er ging. Er war sehr freundlich. Kam noch zweimal. Und dreimal schickte ich ihn weg. Ein viertes Mal kam er nicht. Weiß nicht, ob er die Hoffnung aufgegeben hatte. Vielleicht. Vielleicht kam er aber auch einfach nicht mehr hier vorbei, ich weiß es nicht. Doch je länger er nicht mehr kam und je länger mein Aufenthalt hier wurde … Nun, ich begann nachzudenken. Wie man halt so nachdenkt in diesen Betten. In dieser Abteilung. Ich weiß nicht, es war seltsam. Seltsame Gedanken. Ich fand es nicht recht. Nicht … richtig. Dass er nicht mehr kam. Nicht einmal, um gute Besserung zu wünschen. Das ist natürlich Blödsinn, das mit der guten Besserung. Das sagen sie so, aber eigentlich wissen sie es besser. Hier. Aber immerhin. Ich, nun, ich fühlte mich … alleingelassen irgendwie. Oder nein. Das ist nicht das richtige Wort. Hm. Ich bin nicht so gut mit Worten, müssen Sie wissen. Bin kein Studierter wie Sie. Achtundvierzig Jahre in der Werkstatt. Mutter aus einem Bauernhaus. Vater Metzger. Wie das halt so ist. Trotzdem, verstehen Sie mich? Er …, er hatte doch kein Recht, nicht mehr zu kommen. Als Pfarrer. Da darf man doch nicht die Hoffnung für jemanden aufgeben. Oder? So sehe zumindest ich das. Aber vielleicht wissen Sie es besser. Gibt es irgendwo in Ihrem Buch eine solche Klausel, hm? Nach drei Mal ist’s vorbei? Mit der Geduld Gottes? Für die Seele, die widerspenstige? Einem Menschen kann man so etwas ja nicht übel nehmen. Die letzten fünfundzwanzig Jahre war ich Werkstattleiter. Glauben Sie, ich bin jemals jemandem nachgerannt? Nein. Nicht dreimal und nicht zweimal. Nicht ein einziges Mal. So ist das in der Welt. Das nimmt man keinem übel. Auch nicht Herrn Hofstetter. Hostettler. Aber Gott? Ich weiß nicht. War da nicht Petrus? Ich meine, der hat auch dreimal geleugnet. Verleugnet. Ha! Damit haben Sie nicht gerechnet, was? Keine Angst, Sie haben schon recht. Ich glaube nicht an Gott. Obwohl. Zumindest glaubte ich, dass ich nicht an ihn glaube. Jetzt aber sind Sie da, und ich erzähle Ihnen das. Was auch immer das über mich sagt … Ich weiß nicht, woran ich glaube. Ich will ehrlich sein. Bin seit der Firmung nicht mehr in der Kirche gewesen. Außer zu Hochzeiten, das schon, immer wieder, man kann ja nicht anders. Taufen, die gab’s auch, aber seltener. Und Begräbnisse, die dafür immer häufiger. Selber aber bin ich nie in die Messe. Meiner Mutter brach es das Herz. Innerschweizerin, was will man machen. Sie hat für mich gebetet, zeitlebens. Sie war so besorgt. Ihr gottloser Sohn. Wahrscheinlich galt ihr letztes Gebet mir. Dass ich endlich heirate. Nun, ich habe nie geheiratet, nie gebetet und ich glaubte nicht an Gott. Und trotzdem störte es mich, zurückgelassen zu werden. Lange dachte ich, es störe mich nicht. Mir doch egal. Lange habe ich so getan. Aber was will man denn hier? Das ist nicht der Ort für falschen Stolz, weißgott nicht. Daher ließ ich den Pfarrer rufen, Hostettler. Aber man sagte mir, er sei nicht da. Ich weiß nicht warum. Stattdessen schickte man Sie. Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist gut, es macht keinen Unterschied. Ich glaube, ich spreche sogar freier zu Ihnen. Ich kenne Sie nicht, aber Sie haben ein gutes Gesicht. Sie sind jung. Sie könnten mein Sohn sein. Entschuldigen Sie, das … Es sind nur so Gedanken. Manchmal denkt man halt Sachen … Ich weiß nicht. Früher habe ich wenig davon ausgesprochen. Wie man überhaupt früher weniger sagte. Das Wichtige halt. Und sonst war’s im Zweifel immer gescheiter, aufs Maul zu sitzen. Hm. Jetzt sehe ich das anders. Jetzt will ich etwas sagen. Aussprechen. Vielleicht ist es die Diagnose, dieses Bett. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich sprechen will, bis ich nichts mehr zu sagen habe. Und ich weiß auch, dass ich es nur jemandem wirklich sagen kann, und dieser jemand ist Gott. Der Gott meiner Mutter. Der Gott, der die Beichte anhört und von dem es heißt, dass er verzeiht. Eigentlich glaube ich nicht an ihn, habe nie an ihn geglaubt. Aber als ich den Pfarrer Hostettler zum dritten Mal aus dieser Tür herausgehen sah, da dachte ich: Und wenn er nicht mehr kommt? Was machst du dann? Das dachte ich. Und als er dann wirklich nicht mehr kam, da dachte ich, es sei vorbei. Verstehen Sie? Ich mache mir nichts vor, hier komme ich nicht mehr raus. Ich habe das Fenster hier neben meinem Bett, das ist schön. Die Stadt und der See und am Abend die Sonne. Manchmal kommen die Kinder meiner Schwester mit ihren Kindern. Alle zwei Monate vielleicht. Manchmal nicht. Und ich kann es ihnen nicht einmal übel nehmen. Es ist nicht so, dass ich jemals groß für sie da gewesen wäre als Onkel. Oder Großonkel. Klar, es freut mich, wenn sie kommen. Oder wenn eine der Krankenschwestern hier mit mir scherzt. Das tun sie manchmal. Tun so, als sei ich noch putzmunter. Ob ich Samstagabend mit ihnen in die Disco gehen wolle. Ha! Das ist natürlich alles Chabis, das weiß ich, und trotzdem freut es mich. All diese Dinge. Kleine Dinge. Hm. Aber all das war plötzlich nicht mehr genug, als ich zu denken begann, dass ich mit diesen Sachen auf dem Herzen würde … gehen müssen. Verstehen Sie? Darum dieses …, nennen wir es von mir aus Beichten. Es ist feige, es jetzt erst zu tun, ich weiß. Ich hätte es früher tun können. Sollen. Oder einfach den Pfarrer Hostettler hier Platz nehmen lassen. Da, wo Sie jetzt sitzen. Das hätte schon gereicht. Aber … man macht halt Fehler.

Sehen Sie, die Sonne? Beim Funkturm. Jetzt dann gleich ist es, wie ich es beschrieben habe. Jeden Tag etwas früher. Die Tage werden kürzer. Lustig: Früher hat mich das nie gekümmert. Die Sonne, wann sie auf- oder untergeht. Aber jetzt wache ich oft in der Nacht auf und ich freue mich, ihr zuschauen zu können, wie sie aufgeht. Das habe ich seit dem Militärdienst nicht mehr gesehen. Damals war es mir egal – jetzt erfüllt es mich mit Staunen.

Ja, so ist das. Ich rede viel, ich hoffe, es ist in Ordnung. Ich habe lange nicht mehr so viel an einem Stück gesprochen. Das macht richtig durstig. Möchten Sie auch etwas trinken? Ich habe Ihnen gar nichts angeboten. Schlechter Gastgeber, tut mir leid. Sie geben einem hier Tee, der ist lauwarm, aber man gewöhnt sich dran. Heute Hagebutten, glaube ich. Wenn die Schwester kommt, bestelle ich uns einen Krug. Also nur, wenn Sie möchten. Ah! Da, die Sonne. Jetzt geht sie unter. Da. Jetzt. Jetzt ist sie weg.

Nun, ich bin wie gesagt kein Mann der Worte. Schwer, die richtigen zu finden. Und zu beginnen. Das ist das Schwerste. Ich habe mir lange überlegt, wo ich beginnen soll. Als man mir sagte, dass Sie kommen, fing ich an, mir das zu überlegen. Wie man die ganze Geschichte in Worte fasst. Wie man das erzählt, so etwas. So, dass man es versteht. Obwohl man es ja eigentlich selbst nicht versteht. Ich verstehe es nicht. Aber vielleicht verstehen Sie es. Vielleicht können Sie es mir dann erklären, ich weiß es nicht. Aber dafür muss ich die richtigen Worte finden. Obwohl …, Gott wird es verstehen. Oder? Er muss es doch verstehen, ich meine, egal, wie gut oder schlecht man Dinge sagt. Sonst wäre es doch nicht fair … Oder? Nun. Ich versuche es einfach mal, und Sie sagen mir, wenn ich mich zu sehr verliere. Das liegt alles fast fünfzig Jahre zurück. Da ist Raum genug, sich zu verlieren. Weißgott.

II

Diese Dinge, ich habe sie noch niemandem erzählt. Niemandem. Weil solche Dinge erzählt man nicht, dachte ich. Aber ich muss sie jetzt erzählen, sonst macht es keinen Sinn. Die ganze Geschichte, das Beichten. Sonst ist es nicht ehrlich. Und es nützt nichts, lange drumherum zu reden, darum will ich jetzt einfach anfangen: Es geht um eine Frau, Herr Pfarrer. Sie haben es wohl schon geahnt. Was denn auch sonst? Ach, das ist so dumm alles. Sie … Ihren Namen sage ich nicht. Ist das nötig? Es ändert ja nichts. Für Sie nicht und nicht für mich. Die Geschichte bleibt dieselbe. Namen machen keinen Unterschied. Wie auch die Beschreibung eigentlich. Sie war …, sie war wunderschön. Heh. Ich weiß, damit ist alles gesagt und nichts. Aber mehr zu sagen, ist schwer … Wissen Sie, manchmal liege ich im Bett und alles ist dunkel. Meine Augen sind geschlossen. Und ich bin noch nicht eingeschlafen, das weiß ich, denn ich höre das Ticken des Weckers auf dem Nachttisch und ich fühle meinen Kopf schwer auf dem Kissen. Dann aber kommen Gedanken und Bilder, wild durcheinander. Ich liege noch da, unbeweglich, aber mein Geist strömt aus. Träumt bereits. Es ist irgendetwas zwischen Wachsein und Traum. Da sehe ich sie plötzlich vor mir, und es ist, als sei sie wirklich da. Hier. Wie vor fast fünfzig Jahren. Und dann weiß ich wieder, wie sie duftete und wie sie die Haare trug. Ich höre ihre Stimme. Und wie sie lachte. Ich habe diese Dinge eigentlich vergessen. Aber wenn ich dann aufwache, ist es mit diesem Gefühl, als sei sie soeben noch da gewesen. Als sei noch etwas von ihr in diesem Zimmer zurückgeblieben. Oder in mir. Ich weiß nicht. Hat man Erinnerungen vergessen, wenn man sie noch irgendwo in sich hat? Irgendwo tief drinnen, wo nur Träume rankommen? Wer weiß das schon. Ich weiß nur, dass ich sie Ihnen nicht beschreiben kann. Nicht wirklich. Ich meine, ich kann zwar sagen, dass sie groß und schlank war und blond. Weil sie war blond. Und dass ihre Augen blau waren. Sehr blau. Aber das sind Informationen, die ich irgendwie zurückbehalten habe. Wie zum Beispiel, dass … Holland flach ist. Ich habe kein Bild davon, ich sehe es nicht vor mir, aber ich weiß es halt irgendwie. Und von ihr, nun, es bleibt mir kein Bild. Aber ich weiß, dass sie wunderschön war. Ich weiß das, weil ich noch weiß, wie ich sie damals ansah und mir immer wieder sagte: Mein Gott, sie ist so wunderschön. Einmal sagte ich es ihr sogar. Ein einziges Mal. Wie gesagt, früher sagte man weniger. Und vielleicht ist das auch nicht schlecht, das wenige war dann irgendwie wichtiger. Wertvoller. Wertvoll war es auf jeden Fall, als ich ihr das sagte. Sie wusste das. Und was es bedeutete.

Nun. Ich …, ich habe sie geliebt. Richtig geliebt. Ich …, na ja, ich wusste nichts davon, von der … Liebe. Großes Wort. Klar, ich hatte schon auch Frauen gehabt. Wohl auch geglaubt, dass ich verliebt gewesen war. Früher. Davor, meine ich. Aber nein. Sie. Ich wusste plötzlich, dass ich nie vorher geliebt hatte. Ich …, ich wusste nicht, dass man das kann. Solche Gefühle empfinden. So stark, dass es einem Angst macht. Das hatte ich nie zuvor, auch nie seither. Hören Sie, ich will Ihnen hier nicht vormachen, dass ich ein Heiliger war. Denn das war ich nicht. Weißgott nicht. Ich muss niemandem etwas vormachen, und Ihnen am allerwenigsten. Ich bin ehrlich mit Ihnen, und ehrlich muss ich sagen, dass es später auch Frauen gab. Nicht viele, aber eben doch noch andere. Ich habe mich stets geweigert zu glauben, dass es nur eine Frau im Leben gibt. Deshalb wollte ich sie hinter mir lassen, sie zur ersten und nicht zur einen Frau in meinem Leben machen. Und ich habe es mit anderen versucht, wirklich versucht. Es waren alles gute Frauen. Eine davon, bei der stand ich kurz davor, sie um ihre Hand zu bitten. Aber dieses Gefühl, diese Liebe. So stark. Nie wieder. Nie. Traurig irgendwie. Aber so ist das. Vielleicht ist es auch gut so. Es gibt dem Ganzen etwas Besonderes. Immerhin das.

Ah, Nabend, Schwester. Ja, alles gut. Das Essen den Umständen entsprechend, wie ich. Heh. Nein, alles recht. Danke. Ob wir wohl einen Krug Tee haben könnten, mit zwei Bechern? Danke. – Gut, Herr Pfarrer. Ich will nun zu der Geschichte kommen, sonst wird das nichts. Ich will Sie nicht den ganzen Abend hierbehalten.

Ich lernte sie zufällig kennen, aber die Begegnung an und für sich tut kaum etwas zur Sache. Die ersten paar Male, als ich sie sah, haben wir nicht miteinander gesprochen. Ich weiß noch, einmal, da war irgend so eine Veranstaltung, da hat sie Suppe serviert, und ich bin dreimal Suppe holen gegangen und sie hat mich immer angelächelt. Ich habe Suppe gelöffelt wie noch nie in meinem Leben, das war ein wässriges Zeugs, wie sie es einem halt servieren, da. Irgendein Stadtfest. Nicht einmal ein Wienerli drin, aber für mich war es die beste Suppe überhaupt. Na ja, man lief sich dann halt irgendwie immer öfter über den Weg, beim Einkaufen und so. Zufälle manchmal, und immer öfter auch Zufälle, die man selber herbeigeführt hat. Blickkontakt, ganz kurz. Man wusste voneinander, dass man sich gesehen hatte. Dass man sich ansah. Ich spürte ihren Blick auf mir. Und ich sah ihr nach … Sie, in ihren Röcken immer. Ich kannte nicht viele im Städtchen damals, war gerade erst zugezogen und hatte in der zweiten Werkstatt begonnen. Das war mir eigentlich ganz recht damals, ich arbeitete viel. Später ging ich dann zur Feuerwehr, dort lernte ich viele kennen, mit einigen jasste ich noch bis vor Kurzem. Egal. Sie aber, erfuhr ich dann, hatte kürzlich ihre Mutter verloren, und ihr Vater, der war schon während des Kriegs irgendwo verloren gegangen. Ja, verloren gegangen, so sagte man. Im Osten. Aber all das wusste eigentlich niemand so genau. Oder was das hieß, im Osten verloren zu gehen. Scheinbar ein Deutscher, der Vater, aber eben in der falschen Partei zu der Zeit. Sie wissen schon. Sie hat aber nie davon gesprochen, und ich habe sie nie danach gefragt. Auf alle Fälle war sie Halbschweizerin und hatte mit ihrer Mutter im Städtchen gelebt, seit sie klein war. Die Mutter hatte irgendeine Hautkrankheit und nahm den Besuch eines Kurortes hier in der Schweiz als Vorwand, um mit dem Kleinkind zusammen in ihre alte Heimat zu verschwinden und nie mehr zurückzukehren. Tapfere Frau und, na ja, wie die Mutter, so die Tochter. Diese nämlich hatte nach der Schule die Ausbildung zur Stenotypistin gemacht, dann arbeitete sie in einem Büro in der Stadt. Bei einem Bankier, glaube ich. Damals sagte man noch so: Bankier. Es gefiel ihr auf alle Fälle nicht, und als ich sie kennenlernte, da war sie gerade Lehrerin geworden. Primarlehrerin. Hatte sich umschulen lassen, mit dem Geld, das sie verdient hatte. Das machte mir Eindruck, das war damals noch etwas, was kaum jemand machte. Nicht wie heute, wo alle sich umschulen und alle studieren. Sie war in vielerlei Hinsicht anders als die Frauen damals. Ich glaube, das gefiel mir so an ihr. Sie war so anders. Ich dachte bei ihr zum ersten Mal, dass sie vielleicht eine neue Art sei. Was wahrscheinlich stimmte, denn sie nahm vieles vorweg, was heute normal geworden ist, damals aber verrückt war. Sie war Vegetarierin. Sie sagte das nicht so, das Wort habe ich erst später gehört. Aber sie sagte, sie esse kein Fleisch. Als ich sie zum ersten Mal zum Essen einlud, da bestellte sie einen Salat und eine Suppe. Ich hatte ein Gottlet bestellt. Ich fragte sie warum. Vielleicht war sie krank, was wusste ich schon. Aber sie sagte, sie esse einfach kein Fleisch. Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich meine …, Anfang des Jahrhunderts waren einige Leute in Ascona nackt umhergetanzt und hatten Blumen gegessen, aber ich dachte immer, das könne kein Mensch ernsthaft in Betracht ziehen. Sowieso sollte ich eine solche Haltung von Haus aus einen Seich finden. Als Metzgerssohn. Aber ich fand sie …, hm, interessant. Irgendwie edel sogar. Ha. Stellen Sie sich vor, ich begann dann auch, mehr Salat zu essen. Und Suppen ohne Wienerli. Ich wurde nicht zum Vegetarier, weißgott, nur schon meinem Vater zuliebe. Der wäre mit dem Beil auf mich los. Aber irgendwie reichte diese Bemerkung von ihr, um mein Leben zu ändern. Selbstverständliches aufzuheben. Ich wollte sie verstehen. Und ihr gefallen, das wollte ich auch.

Vielen Dank, Schwester. Nein, es geht nicht mehr lange. Halblange. Ich versuche, schnell zu sein. Ja. Je länger ich mit Ihnen spreche, Frau Künzle, desto länger werde ich hier nicht fertig. Gut. Ja, danke. Wiedersehen. – Möchten Sie Tee? Hm. Vielleicht machen das besser Sie. Vielen Dank. Danke. Ah. Was ist das? Nicht Hagebutten, Kamille, glaube ich. So, weiter.

Ich weiß nicht, was sie an mir fand. Weshalb ich sie ausführen durfte. Ich habe mich das schon damals gefragt, ich weiß es noch. Ich war in der Werkstatt, überhaupt nicht mehr bei der Sache. Schon vorher, bevor ich sie gefragt hatte. Eigentlich leistete ich stets saubere Arbeit. Aber ich weiß noch, an diesem Tag, während ich mir überlegte, was ich sagen sollte … Zwei linke Hände plötzlich. Nebst meiner linken Zunge. Ich war einfach nervös. Ich dachte, ich müsste etwas Gutes sagen. Ich wollte Eindruck machen. Und ich ging zu ihr, mit allem, was ich mir in der Werkstatt überlegt hatte. Das war auf dem Markt am Samstag. Ich trug die Sonntagskleider, die ich eigentlich nur anzog, wenn ich zu meinen Eltern fuhr. Ich hatte die Haare zurückgekämmt, und die Haut in meinem Gesicht war ganz rot und brannte, weil ich mich dreimal rasiert hatte. Ich Esel ging also zu ihr und machte meinen Mund auf, und raus kam gar nichts. Alles vergessen. Ich fragte sie dann einfach, ohne Hallo oder etwas, ob sie essen wolle. Sie lachte. Ob sie essen wolle oder ob sie mit mir essen wolle, fragte sie. Mit mir, nuschelte ich. Ich wäre am liebsten davongerannt. Aber dann sagte sie Ja. Ich weiß nicht weshalb. Aber weißgott, ich hätte am liebsten einen Wildfremden dort am Markt gepackt, grundlos, und geschüttelt, einfach aus Freude. Ich tat es nicht, aber zu Hause sprang ich auf dem Bett herum wie ein Kind. Im Grunde war ich ja auch eines.

Na ja, es begann dann. Wir trafen uns zum Abendessen. Das war noch ganz züchtig damals. Ich brachte sie nach dem Salat und der Suppe nach Hause, es war noch hell, und überhaupt gar nichts geschah. Darum ging’s aber auch nicht. Auch bei den späteren Malen nicht. Einmal gingen wir ins Kino, aber in Begleitung einer Freundin von ihr. Und einmal fuhren wir zum See, das war kurz nachdem ich mir mein erstes Auto gekauft hatte. Da hatte ich mir sogar einen Tag freigenommen, das heißt nein, ich war einfach nicht erschienen. Das hatte ich noch nie gemacht. Es brachte mir auch gehörigen Ärger ein, aber sie hatte Schulferien und war noch nie am See gewesen. Ich erinnere mich … Seltsam. Ich wusste damals schon, als wir an diesem Morgen ins Auto stiegen und losfuhren, ich wusste, dass es eine Dummheit war. Dass es verrückt war. Aber es war mir egal. Es war ein bewusster Entscheid gegen die Stimme im Kopf, die einem Nein sagt, mach das lieber nicht. Ich denke, das gehört irgendwie zusammen, Verliebtsein und Dummheiten wider besseres Wissen. Weil das, was eben noch wichtig war, nicht mehr wichtig ist. Weil wichtig nur noch eines ist. Das ist verrückt. Aber es ist auch schön. Ich hab’ das nie mehr gehabt, aber ich weiß es noch. Es ist sehr schön. Und dort am See sagte ich ihr, dass sie wunderschön sei.

Gut, Herr Pfarrer, es wird Zeit, dass ich zum Punkt komme. Der Punkt ist nämlich, dass ich nicht der Einzige war. Ich sagte bereits, ich wusste nicht, warum sie sich mit mir abgab. Ich dachte, sie sei halt so allein wie ich in diesem Städtchen, und ich fand das richtig. Dass wir uns hatten. Damals war nichts zwischen uns gewesen, nie. Ich dachte einfach, wir genügten uns. Ich weiß nicht, inwieweit ich mir Hoffnungen machte. Ich denke schon. Ich dachte, dass es irgendwann dann so weit wäre. Ich wusste nicht wann. Ich sprach meine Gefühle nie aus. Aber das würde kommen. Irgendwann, irgendwie. Nur kam dann er … Martin. Hm, jetzt habe ich seinen Namen gesagt. Na gut, aber seinen Nachnamen behalte ich für mich. Wir trafen ihn eines Tages, als wir zu einem Sommerfestspiel gingen. Freudiges Wiedersehen. Er gab ihr einen Handkuss und zwinkerte mir zu. Sie kannte ihn noch von der Schule her, er aber war lange Zeit auf Reisen gewesen. Der Kerl, er war scheinbar sein ganzes Leben nur gereist. Immer erzählte er von da und von dort. Hatte irgendeine tolle Geschichte, die gerade passte. In Portugal tun sie dies und das. So und so, wie man in den Staaten sagt. Obwohl er ja einen London-Akzent habe. Pff. Damals kam er gerade von einer Reise aus Indien zurück. Indien! Und ich hatte gedacht, mit meinem Auto und der Fahrt zum See schon die halbe Welt erobert zu haben. Ha!

Na ja, das Geld kam von seinen Eltern, die waren aus der Stadt. Alter und großer Reichtum insbesondere vor dem Krieg, mit Textilien. Damals, bevor’s mit der Industrie drunter und drüber ging. Danach arbeitete vor allem das Geld, wie das so ist. Investitionen da und dort. Na ja. Martin war der jüngere Sohn, und der Bruder war schon daran, die Geschäfte zu übernehmen. Also reiste er. Er war Musiker. Künstler, wie er von sich selbst sagte. In Wahrheit spielte er einfach Gitarre. Er trug den blöden Koffer immer mit sich mit, spielte auch dann und wann. Modernes Zeug. Also modern damals. Obwohl das nichts zur Sache tut, denn sie hielt nicht viel von Musik. Wirklich. Ich habe das noch nie jemanden sagen gehört, aber sie hat es einmal gesagt. Sie halte nicht viel von Musik. Nicht nur von seiner, von der hielt auch ich nicht viel. Musik im Allgemeinen. Verrückt. Ich dachte eigentlich, jeder Mensch hört irgendeine Art von Musik. Vielleicht aber hat sie das auch nur so gesagt. Ihn muss es damals ziemlich fertiggemacht haben. Obwohl, ich weiß es nicht. Wenn, dann ließ er sich nichts anmerken. Er lächelte und zwinkerte, wie immer. Als sei alles ein großer Witz, den nur er wirklich verstand. Sprach und sang französisch und englisch, ich verstand das eine nur schlecht und das andere gar nicht. Verstand vieles nicht mehr. Aber ab da war er irgendwie immer dabei. Immer waren wir zu dritt.

Das war der Moment, wo ich hätte einpacken können. Einsehen, dass einer wie ich dort gar nichts mehr zu melden hatte. Sie kannten sich schon seit Langem, und er war alles, was ich nicht war. Ich glaube, ich war kurz davor. Ich hatte einmal in der Werkstatt die Maschine auf oberster Stufe laufen lassen und dann einfach geschrien und geschrien. Ich war fertig. Am Ende. Ich konnte nicht einmal etwas sagen. Es kam mir vor wie die größte Ungerechtigkeit der Welt. Irgendwie hätte ich mich eigentlich wehren müssen. Irgendetwas doch sagen. Aber ich wusste nicht was. Also tat ich das, was mein Vorarlberger Großvater abends tat, wenn er sich in sein Zimmer zurückzog und dachte, dass ihn niemand sehen konnte: saufen. Dazu holte er die alte Uniform aus dem Schrank und zog sie an, obwohl sie ihm viel zu groß war und an seinen dünnen Armen runterhing, als wäre sie früher nicht die seine gewesen, sondern die eines anderen. Und vielleicht war es auch so. Er, damals ein anderer, in Hechtgrau. Ich habe ihn als Kind manchmal durchs Schlüsselloch beobachtet. Wie er mit einer Flasche Kräuter auf seinem Bett saß, halblaut Lieder aus den Schützengräben zu singen begann und sich irgendwann in den Schlaf weinte. Nun. Ich hatte keine eigenen Lieder zum Singen, also sang ich sie ihm nach. Weh, dass wir scheiden müssen, sang ich. Fahr wohl, fahr wohl, mein armes Lieb. Ich trank die halbe Flasche auf leeren Magen, weinte wie ein Kind, erbrach mich auf den Tisch, bis nur noch Galle kam, und weinte weiter.

Ich sah sie am Tag darauf, obwohl ich nicht wollte, dass sie mich so sah. Ich muss fürchterlich gestunken haben. Meine Wohnung hatte keine eigene Dusche, die musste man sich teilen. Sie lief vor der Werkstatt vorbei, scheinbar nur auf einem Spaziergang. Sie kam aber zu mir und sagte mir, sie wolle mich sehen. Ich fragte, ob Martin auch dabei sein würde, und sie verneinte. Nein. Nur wir. Ich sagte zu. Es war einer der schönsten Abende. Sie führte mich zum Hügel über der Stadt. Dort, wo die alte Bergstraße Richtung Süden vorbeigeht. Wunderschöne Aussicht. Ich war vorher noch nie dort gewesen, und die Sonne ging unter, so wie eben. Wir saßen auf einer Bank etwas oberhalb der Straße, und sie legte den Kopf auf meine Schulter. Ich war so glücklich. Und als ich etwas sagen wollte, weil ich dachte, dass ich jetzt etwas sagen müsste, etwas sehr Wichtiges, große Worte, da legte sie ihre Hand auf die meine und sagte, ich müsse nichts sagen. Es sei gerade so schön. Worte können alles so viel schwieriger und hässlicher machen. Worte missversteht man. Kann man aber ein solches Schweigen missverstehen? Solche schönen Momente brauchen die Stille, damit man sie richtig aufnehmen kann. Wie die Sterne still sind, ist Schönheit still. Das sagte sie so. Und man wisse, man habe wirklich jemanden gefunden, wenn man so schön neben ihm schweigen könne.

III

Am übernächsten Tag war Martin wieder da. Er hatte an einer Demonstration gegen den Krieg in Vietnam teilgenommen. Schon vorher war das mit dem Globus gewesen, die Studentenkrawalle, das Warenhaus da am Fluss. Aber egal, mich machte das alles wütend. Vietnam. Als ob das denen in Vietnam geholfen hätte. Wahnsinnig, ja. Es machte mich so wütend, dass er immer wieder Dinge tat …, nun, nicht, weil sie gut waren, sondern, weil er dabei gut aussah. Gut wegkam. Aber solche Handlungen sind doch falsch, oder? Auch wenn sie vielleicht äußerlich gut scheinen, sind sie doch hohl. Nichts wert. Item. Er war einfach wieder da, und irgendwie hatte ich gehofft, dass dies nicht mehr der Fall sein würde. Wegen den Dingen, die sie dort auf dem Bänklein gesagt hatte, und wie sie sie gesagt hatte. Ich dachte …, na ja, ich dachte, das hätte etwas bedeutet. Und dass es halt gewisse Folgen nach sich ziehen würde. Aber nein. Er war wieder da, und er war wie immer. Aber ich nicht. Ich wollte nicht zurück nach Hause zu der Flasche Kräuter. Ich wollte um sie kämpfen.

Aber was heißt das, kämpfen? Können Sie sich vorstellen, wie das ist? Schrecklich ist das. Ein Wettbewerb. Man ist nicht mehr man selbst. Man sagt und tut Dinge, die einem sonst nicht in den Sinn kämen. Alles, um zu gefallen. Besser zu gefallen. Ich war stolz auf meinen Beruf in der Werkstatt gewesen. Ich machte meine Arbeit dort gut und verdiente nicht schlecht. Kein Vermögen, weißgott nicht, aber es war genug. Ich war mit meinem Leben zufrieden gewesen. Meinem neuen Auto. Aber neben ihm, neben Martin, schien alles klein. Nicht genug. Ich war nicht genug, an ihm gemessen. Und das war nicht einmal die schlimmste Erkenntnis. Wäre ich von Beginn an neben ihm gar nicht infrage gekommen, nun, das wär’s dann halt gewesen. Aber das Schlimmste war, dass ich wusste, vorher genug gewesen zu sein. Bevor er dazwischengekommen war. Und eine solche Hoffnung, so klein sie ist, man lässt sie nicht los. Man kann nicht. Manchmal will man, aber man kann nicht.

Natürlich hasst man sich dafür, im Nachhinein, wenn man alleine und wieder bei Sinnen ist. Was machst du da nur? Und man sieht sich im Spiegel, in diesem Anzug, den man sich extra gekauft hat. Er passt nicht. Und es liegt nicht am Schnitt, schließlich hat man viel dafür bezahlt. Aber nie trägt man sonst Anzüge. Und solche Schuhe. Man sieht an sich runter. Was machst du in solchen Schuhen? Nichts passt, man weiß es. Aber all das vergisst man, sobald die Möglichkeit besteht, sie wiederzusehen. Es ist lächerlich. Martin hat es natürlich erkannt, und er hat gelächelt. Schicke Schuhe, sagte er, für die Werkstatt. Ich wollte ihm eine reinhauen. Aber ich nickte und schwieg. Das war es, was ich hauptsächlich machte, wenn wir zu dritt waren. Schweigen und nicken. Wenn er Geschichten aus seinem tollen Leben erzählte. Wenn er über Musik sprach oder über Bücher. Ich konnte da nicht mitreden, aber sie antwortete ihm. Sie bot ihm manchmal sogar die Stirn. Sie hörte ihm zu, nickte und lächelte und sagte dann: Nein. Oder: So ein Seich. Sie war oft anderer Meinung als er. Ich hätte am liebsten gejauchzt. Als ob es bedeutet hätte, dass sie stattdessen meiner Meinung war. Aber das war natürlich nicht so, weil ich, ich hatte keine Meinung. Sie aber hatte ihre eigene Meinung. Das mit der Musik, das habe ich schon erzählt. Aber auch bei den Büchern. Sie fand die seinen platt. Ihr gefielen ganz andere, die er wiederum nicht oder nur naserümpfend kannte. Ich kannte sie meistens auch nicht, aber ich habe damals angefangen, Bücher zu lesen, von denen sie sagte, dass sie ihr gefielen. Fontane. Ich habe kaum etwas verstanden, aber es war egal, ich fand es schön. Schön, weil sie es schön fand. Und ich sagte es ihr, dass ich Fontane schön fände. Effi Briest, das sei eine so schöne Geschichte. Trauriges Ende, aber schön. Und ich las einen Haufen von mir selbst in die Bücher hinein, weil ich dachte, dass sie das ebenfalls tun musste. Es war wie eine geheime Verbindung, dachte ich. Ha. Sehen Sie? Man ist nicht mehr man selbst.

Und so ging das weiter, immer weiter. Monatelang. Ich will hier auch nicht länger davon erzählen. Sie können es sich vorstellen. Zeiten der Hoffnungslosigkeit. Ich nahm ab. Das lag nicht nur an den Salaten, ich aß irgendwann richtig wenig. Ich weiß, man kann es sich jetzt nicht vorstellen, aber ich war als junger Mann schlank. Schlank, aber kräftig von der Arbeit. Nun, damals wurde ich knochig. Meine Mutter war so besorgt, kochte mir immer mein Lieblingsessen an den Sonntagen. Der Vater meinte, ich sei krank. Irgendwann besuchte ich meine Eltern nur noch selten. Ich mochte nicht reden. Nicht nur mit ihnen, ganz allgemein. Die Leute merkten es ja, sogar in der Werkstatt fragten sie einen, was eigentlich los sei. Aber ich sagte nichts. Nichts ist los. Was will man schon sagen? Dass alle Farben blasser wirken und das Leben sinnlos? Dass man immer an ein Mädchen denkt, daran, wie sie ihr blondes Haar hinter das Ohr streicht? Ja …, aber nein. Das kann man nicht sagen. Es war auch nicht immer nur traurig. Wenn sie da war, war ich sehr angespannt. Herzschläge im Ohr. Vorbereitete Sätze auf den Lippen, die ich wieder vergaß, bevor ich dazu gekommen war, sie zu sagen. Verstehen Sie mich richtig, ich genoss all das. Auch den Schmerz. Sogar wenn Martin dabei war, genoss ich es eigentlich. Ihr nahe zu sein. Dann aber, nach einer gewissen Zeit, sah ich Martin wieder weniger. Und in diese Zeit fällt auch der Kuss.

Ja, natürlich, es kam sogar zum unweigerlichen Kuss. Genau in der Zeit, als es wieder schien, dass ich ihr der Liebere sei. Keine Ahnung, wo Martin damals steckte, aber ich ging einmal mit ihr auf einen langen Spaziergang, und ich weiß noch, wie es gerade Herbst zu werden begann und wir im Wald waren. Hm. Ich habe mich direkt im Anschluss gefragt, was vorgefallen war, weil ich konnte mich nicht genau erinnern. Ich war wie betäubt, und ich weiß nur noch, wie ich sie weggehen sah, durch das Laub. Ich weiß, dass ich sie nicht geküsst hatte, dafür war ich zu … Nun, ich hätte das einfach nicht hingekriegt. So bin ich nicht. Also muss sie es gewesen sein. Ich verstand die Welt nicht mehr. Dachte, dass das jetzt aber doch einen Haufen bedeutet. Weißgott. Aber dann sah ich sie auf einem Baumstamm sitzen und weinen. Und ich verstand noch viel weniger. Auf meine Fragen hin schüttelte sie nur den Kopf. Sie schluchzte, und ich war hilflos. Alles ist gut, alles ist gut. Aber nichts war gut. Sie schluchzte, dass das, was sie tue, furchtbar sei. Es tue ihr alles leid, aber sie könne nicht anders. Nicht anders als was? Was tat ihr leid? Ich wusste es nicht, erfuhr es auch nicht von ihr. Ich brachte sie nach Hause, wir sprachen kein Wort mehr, und als ich bei mir zu Hause war, schlug ich den Spiegel im Badezimmer kaputt. Ich kam mir wie der nutzloseste Mensch auf Erden vor. Zum einen. Zum andern fand ich es auch einfach ungerecht, dass das Glück, als ich glaubte, es endlich einmal mit beiden Händen gegriffen zu haben, zwischen meinen Fingern zerbrach. Nein, das Sprichwort geht anders: Alls, wo mir i d’Finger chunt, verbricht mer i dä Händ. Sie kennen Mani Matter? Ach, egal. Alles war so dumm und ich der Allerdümmste. Ein Romantiker. Und an diesem Abend schaute ich den Schnitten in meiner Hand zu, bis die Blutung von selber aufhörte. Ich sah das Blut an meinen Händen, auf den Scherben, mein Blut auf den Fliesen, und ich dachte, dass es eigentlich egal sei, wenn ich jetzt sterben würde. Und ich fand es verlockend zu sterben, nur um zu sehen, was sie dann sagen würde. Ja, ich stellte mir sogar mein eigenes Begräbnis vor und wie sie um mich weinen würde und es wäre aber zu spät. Dann aber dämmerte mir, dass ich all das dann ja gar nicht mehr mitbekommen würde, also starb ich nicht. Es war auch gar nicht so viel Blut. Ich goss den angefangenen Kräuter über die Wunden, und den Rest trank ich. Ich denk’ an dich mit Sehnen, gedenk an mich mit Tränen. Mit Großvaters Lied auf den Lippen schlief ich auf dem Toilettenboden ein.

Hm. Können Sie mir noch etwas Tee nachschenken? Mein Hals ist ganz trocken. Danke. So, Herr Pfarrer, ich komme jetzt zum Eigentlichen. Bitte verzeihen Sie, aber es gehört all dies dazu. Ich komme jetzt wirklich zur Sache.

Am nächsten Tag ging ich nicht zur Arbeit. Ich versuchte, sie wiederzusehen, aber sie wollte mir die Tür nicht öffnen. Sagte, sie könne nicht, sie könne nicht. Ich verstand nicht warum. Und da sagte sie: Martin. Zuerst dachte ich, sie meine, Martin sei bei ihr. Aber dann verstand ich, dass sie ihn im Allgemeinen meinte. Ich bat sie, die Tür aufzumachen, ich müsse wirklich mit ihr sprechen. Aber sie sagte, sie könne nicht. Zwischen ihr und mir, da stehe Martin. Es tue ihr leid. Wieder hörte ich ihr Schluchzen hinter der verschlossenen Tür.

Ich ging zu Martin nach Hause. Ich weiß nicht, was genau ich ihm hatte sagen wollen, aber es erübrigte sich ohnehin, denn er war nicht da. Seine Haushälterin sagte mir, er sei in die Stadt gegangen, mit einer jungen Dame. Ich ließ mir das wiederholen. Und ich wiederholte es meinerseits: Er ist mit einer jungen Dame in die Stadt gegangen. Ja, bestätigte sie. Ob es seine Schwester sei, fragte ich. Aber ich wusste, dass er nur einen Bruder hatte. Nein, sagte die Haushälterin, sie wisse nicht, wer das sei, aber sie schienen sehr vertraut. Ich dankte und ging nach Hause. Auf dem Weg kam mir der Plan. Hören Sie? Der Plan.

Der Plan war dumm. Ich war dumm. Ich konnte nicht mehr richtig denken. Und ehrlich gesagt, es war mir egal. So ziemlich alles war mir egal. Ich …, ich habe Ihnen beschrieben, wie das war. Es machte einfach nichts mehr Sinn. Und ich war wütend. So wütend. Das können Sie sich wahrscheinlich nicht vorstellen. Eine weiße Wut war das. Wie ein Knochenbruch oder so, der Schmerz ausstrahlt. Wut strahlte durch alles. Und es war nicht Wut auf sie. Nein. Ich konnte nicht auf sie wütend sein. Ich dachte mir allerlei Dinge aus. Entschuldigungen. Sie konnte nichts dafür, sagte ich mir. Sie konnte es nicht besser wissen. Nun, ich war dumm. Wütend und dumm. Aber wütend auf ihn, allein auf ihn. Ich weiß gar nicht, wann der Entschluss kam, aber ich wusste irgendwann einfach, dass ich ihn umbringen würde. Das war nicht einmal ein Entscheid. Es war einfach, was getan werden musste. Ich nannte es in meinem Kopf Plan, aber es war kein Plan. Ich dachte auch nicht groß an die Konsequenzen. Ich meine, es war nicht mein Ziel, neben seiner Leiche auf die Polizei zu warten. Ich dachte aber mehrheitlich dran, dass, wenn er aus dem Weg sei, nichts mehr zwischen mir und ihr stünde. Eben, ich war dumm.

Sie fragen sich vielleicht, warum ich so rasch bereit war, für sie zu töten. Schließlich war sie nicht meine Frau, wir waren nicht einmal verlobt, nichts. Ja, ich habe mich selber oft gefragt, warum ich so schnell zu diesem Entschluss kam. Nicht wegen dem, was gewesen war. Menschen tun das zwar, aber eigentlich ist es doch sinnlos, wegen der Vergangenheit zu töten. Rache wofür? Ändert es etwas an der Vergangenheit? Nein. Es ändert etwas in einem drin, es stillt ein Bedürfnis. Rache ist sehr egoistisch, wenn man es richtig bedenkt. Ich wollte mich gar nicht rächen. Nicht wegen der Vergangenheit wollte ich töten, sondern für die Zukunft. All die Möglichkeiten, die sonst nicht mehr sein würden. Die künftigen Küsse im Wald und sonst wo. Das. Macht das mehr Sinn? Und sagen Sie mir nicht, dass Töten prinzipiell falsch ist. Ich meine, ich weiß das, obwohl ich das etwas zu einfach finde. Es wird ständig getötet, und es wurden noch immer Gründe dafür gefunden. Ich glaube aber, dass es bessere und schlechtere Gründe gibt. Sie nicht? Was ist mit Notwehr? Notwehr ist ein guter Grund. Und war das nicht Notwehr, von meiner Seite? Ich wehrte mich in meiner Not. Um meine Zukunft. Klingt das verrückt? Nun, wie Sie meinen. Ich werde dann ihn selbst fragen. Den da oben. Ihren Chef.

Item. Zu Hause ging ich zu meinem Kleiderschrank, wo unter all den Winterkleidern, zuunterst, die Ordonnanzwaffe lag. Sie müssen wissen, ich war Instandhalter der Fahrzeuge bei der Sanität, und das war ein ziemliches Chaos während der Rekrutenschule, ich wurde hin- und hergeschickt, und am Schluss erhielt ich dann auch eine Pistole, weil der Kadi, der hatte keine Lust, dass ich immer als Einziger mit dem Sturmgewehr schoss. Ich machte nicht die Taschenmunition auf, die sie einem damals noch nach Hause mitgaben, so dumm war ich nicht. Ich hatte noch Munition vom Schießstand. Das war nicht einmal Absicht gewesen damals, aber ich war einmal nach Hause gekommen und hatte noch eine Patrone in der Hosentasche. Da wurde nie so genau hingeschaut. Ich hatte sie in die Schale mit den Schlüsseln gelegt, vor Jahren, und dort lag sie noch immer, die Patrone. Eine musste genügen. Ich nahm sie mit.

IV

Ich hatte die Pistole hinten in meinen Hosenbund gesteckt. Zuerst hatte ich sie vorne, bei der Gürtelschnalle. Das Hemd aus den Hosen gezogen und darüber. Irgendwie fand ich, dass das die Art war, wie man eine Waffe mit sich rumtrage, ohne Holster. Wie in den Gangsterfilmen. Wie ein Mafioso. Aber dann hatte ich plötzlich Schiss, dass das Ding losgehen und mir, na ja, vorne alles wegblasen würde. Ich trug sie also hinten im Hosenbund, die Jacke darüber, obwohl ich schwitzte. Es war nämlich warm, obwohl es bereits herbstete. Die Kurve der Straße ging nach Westen, und zu dieser Tageszeit schlug die Abendsonne dran. Der Feierabendverkehr war schon vorüber, es fuhren nur noch wenige Autos. Ich stand da und lehnte mich an die Felswand. Sie war noch ganz warm, ich erinnere mich. Ich war nicht mit dem Auto gekommen. Der Aufstieg war steil gewesen, über einen Wanderweg. Ich schwitzte wie der Esel, der ich war, während ich auf ihn wartete. Die Sonne blendete mich, aber sie begann bereits, sich zu verfärben. Sie stand sehr tief, wie vorhin, als Sie kamen. Ich fragte mich, ob er wohl meinen Zettel gelesen hatte. Ich hatte ihm geschrieben. Komm an die große Kurve der Bergstraße Richtung Süden. Drei Kilometer vor dem Restaurant. Neunzehn Uhr nullnull. Wir müssen reden. Ich hatte sogar eine kleine Zeichnung von der Kurve gemacht, mit einem Pfeil. Unterschrieben hatte ich natürlich nicht. Ich fragte mich, ob er verstanden hatte.

Er kam dann auf seinem Motorrad. Er kam zu spät. Eine Zeit lang hatte ich gehofft, er würde gar nicht kommen, aber als ich ihn sah, wie er abstieg und mir entgegenschlurfte, wusste ich, dass es keinen Ausweg gab. Wann sollte ich es tun? Ich hätte ihn dort umlegen können, auf der Stelle, klar. Aber irgendwie wollte ich das nicht. Ich wollte ihm zuerst sagen, warum ich es tun würde. Ich wollte sehen, wie er Angst bekam, wie dieses elende Lächeln von seinen Lippen fiel. Er würde sich entschuldigen. Ausreden suchen, Erklärungen geben. Vielleicht würde er betteln. Dann wollte ich ihn umbringen. Nein, Sie haben recht: Es war keine Notwehr. Aber warten Sie ab.

An diesem Tag lächelte er nicht. Ich weiß noch, wie mir das auffiel, zum allerersten Mal, glaube ich. Er lächelte nicht. Er war sehr ernst. Ah, du, sagte er und fragte, was das für ein Ort sei. Ich zeigte auf die Aussicht, sagte, ich sei gerne hier. Es gebe nicht viel Verkehr hier und man sehe die Lichter der Stadt, sobald es dunkel werde. Ich sagte sogar, das sei ein guter Ort, aber er fragte nicht wofür. Er stand nur da und schaute ernst auf die Stadt hinunter. Er solle weg von der Straße, sagte ich ihm, er könne wie ich an den Felsen lehnen. Er aber winkte ab und blieb mit der Sonne im Rücken vor mir stehen. Er sagte, es sei gut, dass wir uns träfen. Er habe nicht gedacht, dass es von mir kommen würde, aber er habe selbst schon vorgehabt, so etwas in der Art vorzuschlagen. Er habe mir Dinge zu sagen. Nun. Das war schon einmal nicht der Einstieg, den ich mir erhofft hatte. Wieder war ich nur der Zuhörer, während er seine Welt erklärte. Ich unterbrach ihn und sagte ihm, ich hätte auch etwas zu sagen, etwas sehr Wichtiges. Er aber sprach weiter und er sprach von ihr. Und es kochte in mir, als ich ihm zuhörte.

Er sagte, dass er es leid sei. All das sei zu Beginn ja lustig gewesen, jetzt aber nicht mehr. Es sei ihm zu blöd. Zu blöd, sagte er und er sprach dabei von ihr. Sie müssen verstehen, ich war bereits drauf