Schuld und Schulden - Constantin Goschler - E-Book

Schuld und Schulden E-Book

Constantin Goschler

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Beschreibung

Die Entschädigung der Verfolgten des Nationalsozialismus bildet einen zentralen Aspekt der Auseinandersetzung mit dem "Dritten Reich" nach 1945. Zudem hat sich die Wiedergutmachung für NS-Verfolgte mehr und mehr zu einem internationalen Präzedenzfall für andere Versuche, die Folgen von Diktaturen und staatlichen Gewaltverbrechen zu bewältigen, entwickelt. Das Thema ist deshalb nicht allein wichtig im Hinblick auf die Frage nach dem Umgang der Deutschen mit Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg, sondern auch für die Entwicklung globaler Maßstäbe im Umgang mit historischem Unrecht. In dieser Studie wird erstmals die Politik der Wiedergutmachung in der alten und neuen Bundesrepublik sowie in der DDR umfassend dargestellt. Der Bogen reicht von ersten schon während des Krieges einsetzenden Überlegungen zur Entschädigung der Verfolgten bis zur Etablierung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", mit der seit 2000 endlich auch die osteuropäischen Zwangsarbeiter entschädigt werden. Somit untersucht Constantin Goschler die Wiedergutmachung gleichermaßen unter dem Gesichtspunkt der prägenden Bedingungen des Kalten Krieges wie unter dem seiner Überwindung. Welche allgemeine Bedeutung für den Umgang mit den Betroffenen staatlicher Großverbrechen besitzt also der in Deutschland unternommene Versuch, den NS-Verfolgten im Medium materieller Entschädigung zu begegnen? Im Mittelpunkt dieser Studie steht damit das Spannungsverhältnis von moralischer Schuld und materiellen Schulden.

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BEITRÄGE ZUR GESCHICHTEDES 20. JAHRHUNDERTS

Band 3

Herausgegeben vonNorbert Frei

Constantin Goschler

Schuld und Schulden

Die Politik der Wiedergutmachungfür NS-Verfolgte seit 1945

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung

 

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2005

2., durchgesehene Auflage 2008www.wallstein-verlag.de

Vom Verlag gesetzt aus der Adobe GaramondUmschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorfunter Verwendung zweier Fotografien.

Oben: Bundeskanzler Konrad Adenauer und derisraelische Außenminister Moshe Scharett unterzeichnenam 10. September 1952 das Luxemburger Abkommen.

Foto: Bundesbildstelle, Bonn.

Unten: Stuart E. Eizenstat, Gerhard Schröder und Otto Graf Lambsdorff geben am 17. Dezember 1999 in Berlin eine Einigung in den Verhandlungen über die Zwangsarbeiterentschädigung bekannt.

Foto: Presse- und Informationsamt der Bundesrepublik Deutschland Druck: Hubert & Co, Göttingen

ISBN (Print) 978-3-89244-868-6

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2069-7

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2519-7

Inhalt

Einleitung

I.     Die Anfänge der Entschädigungsdiskussion bis zum Kriegsende

1.     Wiedergutmachung gegen Kollektivschuld: Deutsche Konzeptionen in Widerstand, Exil und Gefangenschaft

2.     Jüdische Wiedergutmachungspläne zwischen Universalismus und Zionismus

3.     Die Alliierten und die Entschädigung der NS-Verfolgten

4.     Zwischenbilanz

II.     NS-Verfolgte unter alliierter Besatzung (1945-1949)

1.     Schock, Schuld und Abwehr

2.     Erste Hilfsmaßnahmen und Betreuung für NS-Verfolgte

3.     Entschädigung oder erweiterte Fürsorge?

4.     Die Rückerstattung geraubten und entzogenen Eigentums

5.     Zwischenbilanz

III.   Wiedergutmachung im westdeutschen Wiederaufbau (1949-1957)

1.     Ein bockendes Volk und die verordnete Versöhnung

2.     Souveränität und Kredit: Bonn, London und Wassenaar

3.     Die Erweiterung der Entschädigung und Rückerstattung

4.     Zwischenbilanz

IV.   Das »Ende der Nachkriegszeit« (1958-1965)

1.     Die Lasten der Vergangenheit und der Blick nach vorn

2.     Ausländische Verfolgte und die Globalabkommen mit den Weststaaten

3.     Die Entschädigungsforderungen der Zwangsarbeiter an die deutsche Industrie

4.     Der »Schlussstrich« unter die Wiedergutmachungsgesetzgebung

5.     Zwischenbilanz

V.      Im Schatten von sozialliberaler Reform und »geistig-moralischer Wende« (1966-1990)

1.     Politische Stagnation und kultureller Wandel

2.     »Indirekte« Wiedergutmachung für den »Osten«?

3.     »Abschlussgeste Wiedergutmachung«: Der Goldmann-Fonds

4.     Vom »Härtefall« zum »vergessenen Opfer«

5.     Zwischenbilanz

VI.   Wiedergutmachung in der DDR (1949-1989)

1.     Antifaschismus und Sozialpolitik

2.     Die Liquidierung der Rückerstattung

3.     Die Vereinheitlichung der Verfolgtenbetreuung

4.     Ehrenpensionen für Verfolgte des Naziregimes

5.     Der Umgang mit ausländischen jüdischen Forderungen

6.     Zwischenbilanz

VII.  Die Berliner Republik und das Erbe der NS-Verfolgung (1990-2000)

1.     Das Ende des Kalten Krieges und die Rückkehr der Wiedergutmachung

2.     Die deutsche Einigung und die Wiedergutmachung in Ostdeutschland

3.     Die Globalabkommen mit Ostmitteleuropa und den USA

4.     Neue Abkommen mit der Claims Conference

5.     Die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«

6.     Zwischenbilanz

VIII. Fazit: Die Politik der Wiedergutmachung als Medium historischer Gerechtigkeit

Dank

Anhang

Quellen und Literatur

Abkürzungen

Zeittafel

Übersicht über die staatlichen Wiedergutmachungsleistungen der Bundesrepublik

Personenverzeichnis

Einleitung

Mehr als 50 Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes rückte die Wiedergutmachung für NS-Verfolgte nochmals in das öffentliche Rampenlicht. Auslöser waren vor allem die 1996 vor US-amerikanischen Gerichten erhobenen Klagen gegen Schweizer Banken, sich am Eigentum ermordeter Juden bereichert zu haben, und bald wurden solche und ähnliche Klagen auf ganz Europa ausgedehnt. Zur selben Zeit intensivierten sich auch die schon seit langem vergeblich erhobenen Forderungen nach einer Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter der deutschen Kriegswirtschaft. In der Bundesrepublik führte dies schließlich im Jahre 2000 zur Einrichtung der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«.

Dieser – möglicherweise nur vorläufige – Schlusspunkt der deutschen Wiedergutmachung bildet zugleich den Endpunkt der vorliegenden Studie, die mit den ersten schon während des Zweiten Weltkriegs einsetzenden Überlegungen zur Entschädigung der NS-Verfolgten beginnt. Anscheinend folgt die politische Auseinandersetzung um die Wiedergutmachung bestimmten Zyklen, die von veränderten innen- wie außenpolitischen Rahmenbedingungen ebenso wie von der Generationenabfolge und damit verbundenen Veränderungen der Perspektiven auf die NS-Zeit bestimmt sind. Die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer bildet einen zentralen Aspekt der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und gehört in eine Reihe mit dem Verbot der belasteten Organisationen, der Bestrafung der Täter, der Disqualifizierung belasteter Personen sowie der öffentlichen »Aufarbeitung« der Vergangenheit. In verallgemeinernder Perspektive handelt es sich hierbei um die zentralen Aufgaben für jeden Versuch einer »Vergangenheitsbewältigung«1.

Zugleich wird die Wiedergutmachung für NS-Verfolgte im internationalen Maßstab mehr und mehr zu einem Präzedenzfall für den Umgang mit anderen Fällen historischen Unrechts. Die Beispiele reichen dabei von Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs – etwa die Auseinandersetzung um die Internierung ethnischer Japaner in den USA im Zweiten Weltkrieg oder die Zwangsprostitution im Dienste der japanischen kaiserlichen Armee – bis zu postkolonialen Konflikten – etwa um die Forderungen der Nachfahren der Sklaverei in den USA. Was heute selbstverständlich scheint, war am Ende des Zweiten Weltkriegs noch revolutionär, ähnlich wie dies für den mit Nürnberg verbundenen Gedanken eines internationalen Strafgerichts gegen die Spitzen des NS-Staates gilt. Beides, Strafverfolgung der Täter und Wiedergutmachung für die Opfer, war zunächst einmal höchst unwahrscheinlich – und am Beispiel der Auseinandersetzung um die Entschädigung der NS-Verfolgten zu erklären, wie nach Überwindung großer Anfangsschwierigkeiten ein darauf gerichteter politischer Prozess in Gang kam, wie dieser funktionierte und welche Ergebnisse er hervorbrachte, ist das zentrale Anliegen dieses Buches, das von der Politik der Wiedergutmachung in Deutschland handelt. Um ein konsistentes Politikfeld als Untersuchungsgegenstand abzugrenzen, liegt der Schwerpunkt auf der materiellen Entschädigung. Ausgeklammert bleiben so neben Problemen der immateriellen Wiedergutmachung – etwa im Bereich der Strafjustiz2 oder der Ausbürgerungen3 – auch alle jene Bereiche, in denen die materielle Entschädigung für NS-Verfolgte zwar einen Teilaspekt bildete, aber nicht zentral war, so etwa im Lastenausgleich oder im sozialen Wohnungsbau.

Bei der Untersuchung der Politik der Wiedergutmachung geht es nicht nur um die Ergebnisse, sondern vor allem auch um den Prozess selbst. Die Wiedergutmachung wurde den Deutschen nicht wie bei Kriegsreparationen üblich einfach von außen auferlegt, sondern war wenigstens zum Teil auch das Resultat ständiger Verhandlungen zwischen den Vertretern der Opfer und den Gesellschaften der Täter. Dass die Politik der Wiedergutmachung die Form eines solchen politischen Aushandlungsprozesses annahm, führte freilich oftmals zu einer paradoxen Situation, wie der Frankfurter Professor für Nationalökonomie und CDU-Bundestagsabgeordnete Franz Böhm treffend formulierte: Letztlich legte die Seite der Schuldigen das Ausmaß der notwendigen Sühne fest.4

Die Politik der Wiedergutmachung war von einer grundlegenden Spannung geprägt. Diese ging letztlich darauf zurück, dass absolute, moralisch begründete Anliegen in einen pragmatischen politischen Bezugsrahmen übersetzt wurden, wo sie notwendigerweise in Machtrelationen einbezogen und zum Gegenstand von Kompromissen wurden. Hier soll nun nicht noch einmal die moralische Entrüstung über diesen Befund ausgebreitet, sondern das zugrunde liegende Problem analysiert werden. Angestrebt wird damit auch eine Fallstudie zur moralischen Ökonomie der deutschen Wiedergutmachung.

Nimmt man auf diese Weise die Wiedergutmachung als Medium zur Herstellung historischer Gerechtigkeit in den Blick, so stellt sich die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von (politischer und moralischer) Schuld und (materiellen) Schulden. Wie Nietzsche in seiner Genealogie der Moral schrieb, sei die Geschichte der westlichen Moral die der Umwandlung von Schulden in Schuld gewesen. Im Falle der Wiedergutmachung scheint der Prozess jedoch gerade andersherum verlaufen zu sein: Die Aushandlung von Entschädigungssummen und die damit verbundene Monetarisierung und Verrechtlichung bedeutete gewissermaßen eine Entsakralisierung der durch die NS-Verfolgung erlittenen menschlichen Verluste. Aber wie Charles S. Maier hervorhebt, geht es bei diesem Unternehmen gerade darum, »die Verluste aus dem Bereich des Heiligen, des Niemals-zu-Vergebenden, in den Bereich des politisch Ausgehandelten zu verschieben. […] Der Verhandlungsprozess wird unangenehm und unfein. […] Es geht um Geld, sogar wenn beide Seiten protestieren, dass es nicht um Geld geht. Aber den unschätzbaren Verlust in einen solchen zu verwandeln, der beziffert werden kann, ist genau der Zweck dieser Übung.«5 Parallel zu diesem Prozess der Monetarisierung und Verrechtlichung historischer Schuld konnten sich freilich in den letzten Jahrzehnten zunehmend Formen einer Sakralisierung der »Vergangenheitsbewältigung« entwickeln,6 und aus der Spannung zwischen diesen moderne Gesellschaften insgesamt charakterisierenden gegenläufigen Tendenzen bezog die Auseinandersetzung um die Wiedergutmachung zumindest in den letzten Jahren einiges von ihrer Brisanz.

In anderer Weise stellt sich das Problem der Umwandlung von Schuld in Schulden mit Blick auf die individuellen NS-Verfolgten selbst. Geld spielt dabei eine doppelte Rolle: einmal in seiner Funktion als Tauschwert, der sich in einen verbesserten Lebensstandard umsetzen lässt. Zum anderen ist Geld aber auch ein symbolisches Medium der Anerkennung. Letzteres ist umso wichtiger, als für viele der im Zuge der NS-Verfolgung erlittenen Schädigungen gar kein adäquater materieller Ausgleich möglich war. Dabei besitzt das Verhältnis zwischen den materiellen und den symbolischen Funktionen der Wiedergutmachung allerdings einen Zeitkoeffizienten: Generell lässt sich vermuten, dass je näher die Entschädigung am Verfolgungsereignis selbst lag, deren materielle Bedeutung um so größer war, da sie der unmittelbaren Wiederherstellung verletzter Biographien diente. Zugleich muss gefragt werden, inwieweit die Kategorie der »Anerkennung« einem Bedürfnis der betroffenen Verfolgten entspringt oder inwieweit dieses eine Folge des in den letzten Jahren immer mächtiger gewordenen Identitätsdiskurses darstellt. So reagierten manche osteuropäische Zwangsarbeiter auf die in den achtziger und neunziger Jahren in vielen deutschen Kommunen entstandenen Aktionen, bei denen sie zu symbolisch hoch aufgeladenen Besuchen an die Orte ihrer ehemaligen Arbeitsstätten eingeladen wurden, mit Enttäuschung: Hatten sie doch durchaus handfeste materielle Zuwendungen erwartet, mit denen sie ihre kargen Existenzen aufzubessern hofften. Für Verfolgte aus westlichen Ländern, denen in der Zwischenzeit oftmals eine zumindest materielle Rehabilitierung gelungen ist, spielen dagegen das Moment der Anerkennung ebenso wie kommemorative Praktiken vielfach eine erheblich größere Rolle.

Die zentrale Perspektive dieser Studie richtet sich allerdings zunächst vor allem auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Dabei bietet die Untersuchung der Politik der Wiedergutmachung eine Vergleichsperspektive, die einen wesentlichen Aspekt des Selbstverständnisses der Bundesrepublik wie der DDR betrifft. So handelt es sich hier gewissermaßen um eine themenbezogene Parallel- und Abgrenzungsgeschichte7: Sowohl die »Bonner Republik« als auch die DDR beanspruchten im Systemwettstreit, die bessere Antwort auf die nationalsozialistische Vergangenheit zu verkörpern, und dazu gehörte vor allem auch die Frage des Umgangs mit den NS-Verfolgten. Darüber hinaus lässt sich am Thema der Wiedergutmachung paradigmatisch die zeithistorisch spannende Frage der Folgen des deutschen Vereinigungsprozesses für die politische Kultur beziehungsweise das Selbstverständnis der Berliner Republik erörtern.

Dieser nationalgeschichtliche Rahmen wird jedoch aufgrund der Eigenarten des Gegenstandes weit überschritten: Angesichts der Reichweite der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen, die während des Zweiten Weltkriegs ganz Europa umfassten, sprengte die Auseinandersetzung um die Wiedergutmachung für NS-Verfolgte traditionelle Grenzen von Innen- und Außenpolitik und ebenso solche zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Die Wiedergutmachung reagierte damit auch auf jene Entgrenzungsprozesse, die ein wichtiges Ergebnis des nationalsozialistischen Terrors waren. Damit ist auch schon das Besondere dieses Falles angedeutet, das die deutsche Wiedergutmachung von anderen aktuellen Auseinandersetzungen um eine Entschädigung historischen Unrechts unterscheidet.

*

Einige der Begriffe, mit denen dieses Buch arbeitet, bedürfen der Klärung, allen voran »Wiedergutmachung«. Über die allgemeine Problematik der Verwendung von Quellenbegriffen für die historische Analyse hinaus bringt dieser Begriff einige besondere Probleme mit sich. An erster Stelle steht der nahezu rituelle Einwand, der Begriff »Wiedergutmachung« sei »unerträglich verharmlosend«8, wie etwa Aleida Assmann und Ute Frevert schreiben. Auch für Ludolf Herbst bleibt der Begriff »ein Ärgernis«, klinge doch in diesem »– im deutschen Sprachgebrauch unauslöschlich – jener in Kindergebeten vorformulierte naiv-trotzige Anspruch mit, dass durch offenes Bekenntnis und Reue alles wieder-gut-gemacht, wenn schon nicht in den Stand vor der Schuld zurückversetzt, so doch vergeben werden könne.« Zu Recht verweist er auf die Verhaftung dieses Begriffes in »tiefere(n) Schichten deutscher Erziehungs- und Kulturwelt«9.

Hier stellt sich deshalb auch die Frage nach der Bedeutung des christlichen Schuld-Vergebungs-Dispositivs. Im Christentum wurde die dem Judentum fremde »Erbsünde« oftmals in dem Sinne ausgelegt, dass der einzelne Mensch vor aller Entscheidung, etwas Böses zu tun, »in eine universale und ihn innerlich bestimmende Unheilssituation, in die Schuldgeschichte der gesamten Menschheit hineinverwickelt«10 sei. Damit wurde jeder Sünder in gewisser Weise immer auch zum Opfer des Weltenlaufs. Zugleich ist das Christentum im Gegensatz zum Judentum Erlösungsreligion. Dies wurde vielfach in dem Sinne interpretiert, dass die Schuld der Menschheit »am Kreuz Christi abgetan« sei.11 Demgegenüber ist zwar auch für das Judentum die Vergebung der Sünden von zentraler Bedeutung, und das Schlüsselwort jüdischer Ethik lautet Versöhnung. Doch muss diese auf ehrlicher Reue des individuell für seine Taten verantwortlichen Sünders beruhen und setzt einen wirklichen inneren Umschwung voraus. Und schließlich kennt das Alte Testament auch einen unerbittlichen Gott, bei dem jedes Flehen um Vergebung sinnlos ist.12 Es geht in unserem Zusammenhang selbstverständlich nicht um die theologisch korrekte Auslegung solcher religiöser Lehren, sondern vielmehr um die Frage, was davon auch in einer halbwegs säkularisierten Umgebung als kultureller Bodensatz wirksam werden konnte. Anscheinend war auf deutscher Seite in den Begriff der »Wiedergutmachung« vielfach ein Aspekt der Vergebung eingeschlossen, während dies auf jüdischer Seite strikt abgelehnt wurde. So prägte der israelische Außenminister Moshe Sharett Anfang der fünfziger Jahre den alternativen Ausdruck »Shilumim«. Dieser bezeichnet im Alten Testament Zahlungen oder Vergeltung, »womit aber weder Schuldvergebung noch Verzeihen einhergehen«13. Somit unterschieden sich auf deutscher und jüdischer Seite nicht nur die Erfahrungsräume der Verfolgung, sondern vor allem auch die Erwartungshorizonte: Im Begriff »Wiedergutmachung« kristallisiert sich die auf deutscher Seite bestehende Erwartung auf einen irgendwann erfolgenden Abschluss wenigstens der materiellen Seite dieser Angelegenheit, womit in gewisser Weise auch ein Ende der Sühne verbunden sein würde. Dies bildet den eigentlichen Hintergrund des seit Mitte der sechziger Jahre immer wieder erfolgenden Rufes nach einem »Schlussstrich«. Insbesondere auf jüdischer Seite wurde und wird die »Wiedergutmachung« dagegen meist als ein offener, prinzipiell unabschließbarer Prozess angesehen, der zudem die Frage der »Schuld« unberührt lässt.

So ist es kein Wunder, dass der Begriff »Wiedergutmachung« gerade auch von jüdischer Seite kritisiert wurde. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, argumentierte im November 2002, dieser Begriff sei mehr »vom Wunschdenken der ersten Nachkriegsgeneration der nicht-jüdischen deutschen Gesellschaft als von den Realitäten der Entschädigungspraxis« geprägt. Eine Änderung des Begriffes sei Voraussetzung für die Verbesserungen der Entschädigungspraxis.14 Allerdings steht einem solchen platonischen Sprachverständnis etwa der Pragmatismus des israelischen Finanzministers Eliezer Kaplan und seines Staatssekretärs David Horowitz entgegen: Angesichts der verzweifelten finanziellen Lage des Staates Israel vertraten diese 1951 im Vorfeld der Wiedergutmachungsverhandlungen mit der Bundesrepublik den Standpunkt, »nennen Sie es, wie Sie wollen, solange es Geld ist«15.

Eine mehr juristische als theologische Schwierigkeit mit dem Begriff »Wiedergutmachung« betrifft hingegen die Abgrenzung von den Kriegsreparationen. Der Zweite Weltkrieg unterschied sich in mancherlei Hinsicht grundlegend von früheren militärischen Konflikten. Das nationalsozialistische Regime führte gleichermaßen einen Kampf gegen Teile der deutschen Bevölkerung als auch einen Krieg gegen die halbe Welt. Gewalt nach innen und außen gehörten im nationalsozialistischen Kosmos funktional eng zusammen. Für die Zeit nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes stellte sich damit die umfangreiche Aufgabe, innere und äußere Folgen von Krieg und Verfolgung zu bewältigen. Nach dem am Prinzip der souveränen Nationalstaaten orientierten Völkerrecht zerfiel dies jedoch in zwei getrennte Komplexe: Einmal ging es nun um Kriegsreparationen an fremde Staaten, d. h. völkerrechtliche Subjekte. Zum anderen handelte es sich um das innere Problem einer Diktaturfolgenbewältigung, wozu auch die Frage einer Entschädigung der von ihrer eigenen Regierung geschädigten Bürger des Deutschen Reiches gehörte. Einer solchen klaren Unterscheidung stand allerdings im Wege, dass der Nationalsozialismus selbst die Grenze zwischen diesen inneren und äußeren Aspekten der Gewalt niedergerissen hatte: Bereits vor dem Krieg hatte das »Dritte Reich« durch den erzwungenen Exodus Hunderttausender gründlich ausgeplünderter Menschen soziale Probleme in seine Nachbarländer exportiert. Entgrenzend wirkte der Nationalsozialismus jedoch vor allem auch dadurch, dass er den inneren Terror während des Krieges in die eroberten Länder hineintrug. Eine eindeutige Abgrenzung von »normalen« Kriegsfolgen und spezifischer NS-Verfolgung fiel und fällt somit schwer.16 Die Bestimmung dessen, was Gegenstand von Reparationen und Wiedergutmachung sein soll, und damit zugleich die Abgrenzung zwischen diesen Kategorien ist deshalb stets abhängig von der jeweiligen Gesamtinterpretation des Nationalsozialismus.

Dieses Problem schlägt sich auch in der Begriffsgeschichte nieder: In Westdeutschland setzte sich von Anfang an der Begriff »Wiedergutmachung« als Bezeichnung für die Entschädigung der NS-Verfolgten durch. In Ostdeutschland dagegen wurde dieser Begriff bereits kurz nach dem Kriegsende exklusiv für die Reparationen an die Sowjetunion und Polen reserviert, während materielle Leistungen an NS-Verfolgte als soziale und medizinische »Hilfsleistungen« deklariert wurden.17 In den folgenden Jahren schloss die in der SBZ übliche Verwendungsweise dieses Begriffs zwar vorübergehend auch die Unterstützung für NS-Verfolgte ein. Doch verengte er seit 1949 in bewusster Abkehr von der »bürgerlichen« Wiedergutmachung erneut sein semantischen Potential auf den Bereich der Kriegsreparationen. Dies stand freilich in der Tradition des Versailler Abkommens, das in der deutschen Fassung den Begriff »Wiedergutmachung« im Sinne der dort über Deutschland verhängten Reparationslasten gebrauchte. Zu den frühen Kritikern dieser Sprachverwendung hatte übrigens Adolf Hitler gehört: 1927 monierte er in Mein Kampf, dass sich im Zusammenhang des Versailler Vertrages »das ebenso unverschämte wie ungeheuerliche Wort ›Wiedergutmachung‹ in Deutschland einzubürgern vermochte«18.

Tatsächlich war jedoch, wie das Grimm’sche Wörterbuch mitteilt, der Begriff gutmachen in Deutschland bereits seit Jahrhunderten mit der Bedeutung von »ersetzen«, »bezahlen«, »sühnen« gebräuchlich.19 Nachdem der Begriff »Wiedergutmachung« im Versailler Vertrag die Bedeutung von Reparationen angenommen hatte, blieb er – trotz der erwähnten Kritik des »Führers« – auch im »Dritten Reich« gebräuchlich, ohne dass er erst dort, wie Otto Küster meinte, geprägt worden wäre.20 So galt in der deutschen Volksmeinung die »Arisierung« oftmals als eine Art von »Wiedergutmachung« der angeblichen Ausplünderung der Deutschen durch die Juden während der Weltwirtschaftskrise, und auch die Wohltaten für österreichische Alt-Pg’s nach dem »Anschluss« der »Ostmark« im März 1938 wurden vielfach als eine »Wiedergutmachung« bezeichnet.21 Auch eine geheime Denkschrift einer Historikergruppe um Theodor Schieder vom Oktober 1939, in der Pläne zur ethnischen Neugestaltung des polnischen Raumes diskutiert wurden, begann mit der Feststellung, dass mit »dem vollständigen Sieg der deutschen Waffen über Polen« nunmehr der Augenblick gekommen sei, »das Unrecht wieder gutzumachen«, welches der deutschen Bevölkerung im Osten nach 1919 zugefügt worden sei.22 Wichtig ist aber vor allem ein kurz zuvor erschienenes Blaubuch des Auswärtigen Amtes über die deutsch-polnische Krise von Anfang September 1939, in dem sich unter anderem Vorschläge zur »Wiedergutmachung« der den jeweiligen Minderheiten im eigenen Land seit 1918 zugefügten Schäden fanden.23 An diesen Sprachgebrauch, der »Wiedergutmachung« – berechtigt oder unberechtigt – in den Zusammenhang der Wiederherstellung von Rechten geschädigter ethnischer Minderheiten stellte, knüpften auch die ersten jüdischen Autoren von Entschädigungsplänen zugunsten von NS-Verfolgten an, die bereits lange vor dem Ende des NS-Regimes mit ihrer Arbeit begannen.24

Auf diese Weise hatte sich der Begriff »Wiedergutmachung« im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit den Folgen der NS-Verbrechen schon in die politische Sprache eingebürgert, bevor sich jene Großverbrechen zutrugen oder in das allgemeine Bewusstsein drangen, die heutigen Beobachtern diesen Begriff oftmals als unangemessen erscheinen lassen. Dagegen verteidigt Hans Günter Hockerts den Gebrauch des Begriffs »Wiedergutmachung« mit Bezug auf die zeitgenössische Sprachverwendung seit den fünfziger Jahren. So sei dieser gerade von jenen offensiv gebraucht worden, denen es um einen »emphatischen, moralisch verpflichtenden Begriff« gegangen sei.25 Dem wäre freilich hinzuzufügen, dass dieser Begriff auch mit der politischen Absicht verwendet wurde, eine klare Differenz zum Begriff der »Reparationen« herzustellen. Insbesondere aus jüdischer Perspektive sollte dies den besonderen Charakter dieser Ansprüche betonen. Aus deutscher Perspektive zielte die begriffliche Trennung dagegen vor allem darauf, eine völkerrechtliche Barriere gegen die Ausweitung der individuellen und kollektiven Entschädigungsansprüche auf andere im Zweiten Weltkrieg geschädigte Gruppen zu errichten. In eine ähnliche Richtung zielt auch die im offiziellen Sprachgebrauch vielfach übliche Redeweise von der »Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts«. Dabei wird der Akzent auf die Illegitimität der Verfolgungsmaßnahmen gelegt, während einer extensiven Begriffsdefinition von »Wiedergutmachung« die subjektive Gewalterfahrung der Opfer zugrunde liegt, welche relativ unabhängig von solchen juristischen Distinktionen zustande kommt.

Zuletzt spricht für das Festhalten an der Verwendung des Begriffs »Wiedergutmachung« in diesem Buch aber vor allem ein pragmatisches Argument: Sprachliche Alternativen wie Entschädigung oder Rückerstattung haben sich als Bezeichnungen juristischer Teilgebiete des Gesamtkomplexes durchgesetzt und stehen damit nicht mehr ohne weiteres zur Verfügung. So bleibt der Begriff »Wiedergutmachung« mangels Alternativen schwer ersetzbar, schließt er doch eine ganze Reihe von Aspekten ein, die sich sonst nur schwer subsumieren ließen.26

Probleme bereitet auch ein anderer Zentralbegriff dieses Buches: »NS-Verfolgte«. Hierbei taucht auf einer anderen Ebene erneut das Problem der Abgrenzung zwischen spezifisch nationalsozialistischer Verfolgung und Kriegsfolgen auf. Auch in diesem Fall entwickelte sich in West- und Ostdeutschland ein unterschiedlicher Sprachgebrauch: In der Bundesrepublik setzte sich die Bezeichnung »Verfolgte des Nationalsozialismus« durch, während in der DDR von »Verfolgten des Naziregimes« die Rede war. Letztere wurden seit 1965 in »Kämpfer« und »Verfolgte« unterschieden, wobei die alte Kämpfer-Opfer-Dichotomie, die bereits zwischen 1945 und 1949 in der SBZ vorgeherrscht hatte, wieder deutlich durchschimmerte. Da diese Begriffe jeweils mit spezifischen rechtlichen Definitionen einhergehen, welche die Zugehörigkeit zu den jeweiligen Kategorien regeln, lassen sich die damit verbundenen Ausschlussmechanismen nur schlecht mit diesen Begriffen selbst diskutieren. Benötigt wird deshalb ein extensiver Begriff, der auch die nichtanerkannten Verfolgten mit einbezieht. In diesem Sinne wird in diesem Buch der Begriff »NS-Verfolgte« gebraucht. Eine exakte Bestimmung des Umfangs dieses Begriffes ist freilich nicht möglich, da dieser historisch und politisch veränderlichen Bewertungen unterliegt und sich generell in den letzten Jahrzehnten immer weiter ausdehnte. Die Schwierigkeiten betreffen insbesondere die Frage der Abgrenzung zwischen nationalsozialistischer Verfolgung und »normalen« Gewaltmaßnahmen, sei es im Krieg oder im Frieden. Immer wieder stößt man bei diesem Thema also auf das Problem der Auseinandersetzung um die »eigentliche Natur« des nationalsozialistischen Regimes.

*

Bis vor kurzem führte das Thema Wiedergutmachung ein merkwürdig inselhaftes Dasein in der Zeitgeschichtsforschung zur Bundesrepublik,27 und Ähnliches gilt mit Bezug auf die Forschung zur Geschichte der DDR. In den autoritativen Gesamtdarstellungen wird dieser Gegenstand, wenn überhaupt, allenfalls als Marginalie behandelt.28 Dabei scheint sich dieses Thema zumindest aus einer Perspektive der Bundesrepublik als einer »Nachgeschichte« des »Dritten Reiches« geradezu aufzudrängen – und dies ließe sich auch für die DDR sagen. Das lange Zeit geltende Desinteresse der Zeitgeschichte an der Wiedergutmachung hatte vielleicht auch damit zu tun, dass eine Historisierung dieser immer noch nicht abgeschlossenen Materie als verfrüht erschien. So erfolgte die historische Auseinandersetzung mit diesem Thema bis in die siebziger und achtziger Jahre hinein in erster Linie aus der Akteursperspektive.29 Dies gilt auch für die von Walter Schwarz in Zusammenarbeit mit dem Bundesfinanzministerium herausgegebene Reihe zur Geschichte der Wiedergutmachung in der Bundesrepublik.30 Ebenso wie die jüngst sozusagen als Kompilation dieser Bände erschienene Darstellung von Hermann-Josef Brodesser und anderen31 verrät diese Reihe die zwar kenntnisreiche, aber an historischer Analyse wenig interessierte Handschrift von Ministerialbeamten und Juristen, denen es vor allem auch um die positive politische Würdigung ihres Lebenswerks ging.

Gleichwohl markieren die achtziger Jahre einen ersten Aufschwung der zeithistorischen Forschung zur Wiedergutmachung. Zentrale Untersuchungsschwerpunkte bildeten dabei das Abkommen der Bundesrepublik mit Israel und der Jewish Conference on Material Claims against Germany (Claims Conference)32 sowie die Geschichte des Bundesentschädigungsgesetzes. Zunächst wurden vor allem die politischen und juristischen Dimensionen ausgeleuchtet, unter anderem in der wichtigen Studie von Cornelius Pawlita, in der vor allem die unterbliebene Entschädigung der ausländischen Verfolgten untersucht wird.33 Darin spiegelte sich auch die zunehmende öffentliche Auseinandersetzung mit dem Ausschluss zahlreicher NS-Verfolgter wider, die in diesem Jahrzehnt unter dem Schlagwort der »vergessenen Opfer« geführt wurde. In diesen Kontext gehört auch die Studie von Christian Pross, der die Wiedergutmachung im Untertitel als einen »Kleinkrieg gegen die Opfer« bezeichnete34. In seiner Skandalgeschichte der Wiedergutmachung, die typisch für den moralisierenden Tonfall der achtziger Jahre bei der Behandlung dieses Themas ist, untersuchte er insbesondere die Praxis der Überprüfung von Gesundheitsschäden bei Verfolgten. Damit leitete Pross einen Forschungstrend ein, der mit den verbesserten Zugangsmöglichkeiten zu Einzelfallakten seit Ende der neunziger Jahre immer größere Bedeutung erhalten hat.35 In diesem Jahrzehnt kristallisierten sich im Wechselspiel zwischen zeithistorischer Forschung und politisch-öffentlicher Auseinandersetzung zwei Schwerpunkte heraus, nämlich zum einen die Frage der Entschädigung für Zwangsarbeiter36 und zum anderen die Frage der Restitution, die jüngst in zwei Dissertationen für die Bundesrepublik und die DDR gründlich aufgearbeitet wurde37.

Nach dem Fall der Mauer intensivierte sich auch die Erforschung der Wiedergutmachungsfrage für NS-Verfolgte in der DDR, wobei sie sogar von dem nach der deutschen Vereinigung im Verhältnis zur Bundesrepublik besseren Aktenzugang profitieren konnte.38 So existiert seit kurzem eine Studie von Christoph Hölscher zur Frage der »Anerkennungspolitik« gegenüber den NS-Verfolgten in Ostdeutschland, in der die Auseinandersetzung um die Rolle des Antifaschismus in der DDR in der Ära Ulbricht im Mittelpunkt steht.39 Angelika Timm legte mehrere Arbeiten zum Verhältnis der DDR zu Israel und der Claims Conference vor und beschäftigte sich in diesem Zusammenhang mit den außenpolitischen Dimensionen der Wiedergutmachungsfrage in der DDR.40 Andere Studien berücksichtigten dagegen vor allem die Bedeutung der Wiedergutmachungsproblematik für die in der DDR lebenden Juden.41

Trotz des mittlerweile zu verschiedenen Spezialaspekten der Wiedergutmachung weit fortgeschrittenen Forschungsstands bleibt als Defizit weiterhin die Bestimmung des Ortes dieses Themas in der deutschen Nachkriegsgeschichte, welche nunmehr gleichermaßen die Geschichte der Bonner Republik, der DDR sowie der Berliner Republik umfasst. Die Erfüllung dieser Aufgabe bildet zugleich die Voraussetzung einer international vergleichenden Geschichte der Folgen historischen Unrechts, wie sie in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Diese Geschichte führt bis an die Gegenwart heran und ist zum Teil noch unabgeschlossen. Damit verstärken sich die prinzipiellen Probleme der Zeitgeschichte, die einmal als Geschichte, die »noch qualmt«42, definiert wurde. Dies gilt umso mehr, als Historiker sich in diesem Falle oftmals nicht damit begnügen, gebannt in die Glut zu starren, sondern auch selbst nach Kräften hineinpusten und damit zu einem Teil des Geschehens werden. Dies sorgt für eine Art von Unschärferelation: Jeder Beitrag zum Gegenstand »Wiedergutmachung« wird tendenziell zu einem Teil des politischen Diskurses über dieses Thema und verändert damit den Forschungsgegenstand selbst – und oftmals war oder ist ebendies auch intendiert.

*

Die aktuelle politische Relevanz eines Forschungsgegenstandes produziert für die Zeitgeschichtswissenschaft Vor- und Nachteile: Zum einen verschafft sie öffentliche Aufmerksamkeit. Zum anderen bringt dies aber die Gefahr mit sich, analytisch auf dem Niveau der tagespolitischen Kontroversen stecken zu bleiben. Aus der Zeitgenossenschaft resultieren unmittelbare Fragen an die Geschichte der Wiedergutmachung, denen meist ein fundamentales Interesse am Verhältnis von Geschichte und Gerechtigkeit zugrunde liegt: Wer von den NS-Verfolgten bekam eine Wiedergutmachung und wer nicht? Was waren die Gründe für solche Differenzierungen? Wie verhielten sich Macht und Moral zueinander bei der Wiedergutmachung? Was bedeutete diese für die NS-Verfolgten einerseits und was für die betreffenden Gesellschaften andererseits? Und eignet sich der deutsche Fall der Wiedergutmachung als Modell für die Bewältigung anderer Fälle historischen Unrechts gegen verfolgte Gruppen und Minderheiten? Ausgehend von diesen wertgeleiteten Perspektiven kann man drei unterschiedliche Forschungsdimensionen formulieren, aus denen sich verschiedene Fragen und Hypothesen ableiten lassen.

1. Wiedergutmachung als politischer Diskurs. Erstens soll also danach gefragt werden, wie die Rahmenbedingungen für politisches Handeln und Verhandeln um die Wiedergutmachung beschaffen waren und wie sich diese veränderten. Wie war dieses Politikfeld im Spannungsfeld von jeweiliger Innen- und Gesellschaftspolitik einerseits sowie den internationalen Beziehungen andererseits strukturiert? Wer waren die Teilnehmer, und wie veränderte sich ihre Position innerhalb dieses Politikfeldes? Wer wurde dabei ein- und wer ausgeschlossen? An welchen Orten, in welchen Institutionen und in welcher Sprache wurden Verhandlungen geführt? Und welche Beziehungen zwischen »Opfern« beziehungsweise ihren Vertretern und den »Gesellschaften der Täter« wurden darin symbolisiert? Mit anderen Worten: Wie gestaltete sich der politische Diskurs der Wiedergutmachung?

Bei der Politik der Wiedergutmachung waren nationale, internationale und transnationale Handlungsebenen und Akteure, darunter Regierungen ebenso wie Nicht-Regierungsorganisationen und Öffentlichkeiten, eng miteinander verknüpft. In der Bundesrepublik, die auch solchen (im Prinzip meist ehemals deutschen) NS-Verfolgten eine Entschädigung leistete, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Ausland lebten, war das Spektrum der beteiligten Akteure vielfältiger und internationaler als in der DDR, wo die Wiedergutmachung eine ausschließlich innere Angelegenheit blieb und wo zudem unter Bedingungen einer weitgehend ausgeschalteten politischen Öffentlichkeit verhandelt wurde. Für die DDR muss so in erster Linie gefragt werden, in welcher Weise sich unter den Bedingungen einer scheinbar »stillgelegten«, entdifferenzierten Gesellschaft43 die mit der Wiedergutmachung verbundenen sozialen und politischen Interessenkonflikte artikulieren konnten.44

Mit Blick auf die Bundesrepublik stellt sich die Situation anders dar. Die westlichen Alliierten, die in den ersten Jahren nach Kriegsende in ihren Besatzungszonen den Ton angaben, nahmen erheblich mehr Einfluss auf die Gestalt der Wiedergutmachung, als dies zumindest in diesem Falle auf ihre sowjetischen Kollegen in der SBZ zutrifft – wobei das Engagement der USA am stärksten ausgeprägt war. In den frühen fünfziger Jahren entwickelte sich dagegen ein starker Bilateralismus zwischen der Bundesregierung und der Claims Conference, der bis in die achtziger Jahre hinein prägend blieb. Die Verhandlungen wurden dabei in einer nichtöffentlichen Sphäre geführt. Das in Westdeutschland anfänglich dominierende Muster einer Arkanpolitik, die vom Misstrauen gegenüber der vermuteten oder tatsächlichen Abneigung der bundesdeutschen Gesellschaft gegenüber der Wiedergutmachung motiviert war, löste sich jedoch seit den achtziger Jahren allmählich auf. Damit veränderte sich auch die Art und Weise, wie die Politik der Wiedergutmachung betrieben wurde, und dies spitzte sich in den neunziger Jahren, als sich diese zunehmend auf der Bühne einer internationalen politischen Öffentlichkeit beziehungsweise öffentlichen Politik vollzog, weiter zu. So geriet auch dieses Politikfeld unter den Einfluss der Transformation der politischen Öffentlichkeit, welche die Geschichte der Bundesrepublik kennzeichnet.45

Seit den achtziger Jahren kam es zu einer fortschreitenden Pluralisierung der Akteure, die neben einem stärkeren Engagement der bundesdeutschen Zivilgesellschaft auch das Auftreten neuer Verfolgtenorganisationen einschloss, welche zum Teil mit der Claims Conference rivalisierten. Mit dem Ende der bisherigen Arkanpolitik verband sich neben der Medialisierung auch die Multilateralisierung der Politik der Wiedergutmachung, die sich zunehmend im »Jargon der Anerkennung« artikulierte. Dieser Prozess verstärkte sich nach dem Ende des Kalten Krieges, als erstmalig auch Forderungen aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks vorgebracht werden konnten. Überdies brachte die fortschreitende Globalisierung nicht nur neue politische und ökonomische Druckmittel, sondern auch geänderte Rahmenbedingungen der Kommunikation und den Wegfall bislang bestehender Wahrnehmungsblockaden mit sich. Anfang, Verlauf und Ende des Kalten Krieges bildeten damit in beiden deutschen Staaten eine zentrale Rahmenbedingung für die Politik der Wiedergutmachung, zumal dieser nicht nur machtpolitische Koordinaten setzte, sondern auch mit einer Auseinandersetzung über gegensätzliche Werte und Gerechtigkeitsvorstellungen verbunden gewesen war. Damit kommen wir zu einer zweiten Untersuchungsebene.

2. Wiedergutmachung als Diktaturfolgenbewältigung. Frank Stern warf die Frage auf, »warum es weder in der politischen Kultur Deutschlands noch der Österreichs nach 1945 etwas gegeben hat, was man über materielle Leistungen hinaus als umfassende Rehabilitierung der Juden bezeichnen kann«. Dies verbindet sich für ihn mit einem Vorwurf an die bisherige Erforschung der politischen Geschichte der Wiedergutmachung: »Es ist oftmals ein Problem solcher entscheidungsorientierter Studien, daß sie weder die Konzeption der Wiedergutmachung in Frage stellen noch die politisch-kulturellen Bedingungen des Umgangs der Nachkriegsdeutschen und Nachkriegsösterreicher mit jüdischer Vergangenheit und Gegenwart berücksichtigen.«46 Sieht man einmal davon ab, dass die hier gestellte Frage insofern selbst verengend ist, als sie ausschließlich die Situation der Juden berücksichtigt, die zwar die bedeutendste, aber nicht die einzige Gruppe der NS-Verfolgten bildete, so steckt hierin eine berechtigte Warnung: Die realgeschichtliche Konzentration auf die materielle Wiedergutmachung sollte nicht im Nachhinein als sozusagen natürlich ausgegeben werden. Vielmehr gilt es, jenen Prozess, der zur Verengung auf eine materielle Wiedergutmachung – anders gesagt: zur Verrechtlichung und Monetarisierung – führte, zu erklären sowie die daraus resultierenden Konsequenzen zu diskutieren.

Welchen Stellenwert nahm also die Entschädigung und Rehabilitierung der Opfer im Gesamtzusammenhang der Diktaturfolgenbewältigung nach 1945 ein? Der Begriff der »Vergangenheitspolitik«, der sich im Hinblick darauf in den letzten Jahren einbürgerte, zielte allerdings ursprünglich gerade auf das dem Fokus der vorliegenden Studie entgegengesetzte Spektrum: Norbert Frei behandelt unter diesem Begriff die deutsche »Bewältigung« der alliierten »Vergangenheitsbewältigung« und thematisiert damit vor allem den bundesdeutschen Umgang mit den »NS-Tätern«47. Ungeachtet dessen setzte sich »Vergangenheitspolitik« als Synonym für die deutsche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit insgesamt durch. Unter einer solchen erweiterten vergangenheitspolitischen Perspektive wird die Wiedergutmachung in diesem Buch als ein Feld konkurrierender Vorstellungen zum Verhältnis von NS-Vergangenheit einerseits und jeweiliger Nachkriegszukunft andererseits untersucht.

Angesichts der Tatsache, dass das quantitative und qualitative Ausmaß der NS-Verfolgung eine Wiederherstellung des vorigen Zustandes prinzipiell ausschloss, existierten keine selbstevidenten Antworten, welche Form der Wiedergutmachung gerecht sein würde. Deshalb muss zunächst nach den unterschiedlichen Problemwahrnehmungen, welche den Bemühungen um eine Wiedergutmachung bei den verschiedenen an diesem Aushandlungsprozess beteiligten Gruppen zugrunde lagen, gefragt werden. Auf welchen unterschiedlichen Bildern der nationalsozialistischen Verfolgung basierten die verschiedenen Ansätze? Wo wurden dabei die Grenzen zwischen »normalen« Kriegsfolgen und spezifisch nationalsozialistischer Verfolgung gezogen? Zugleich stellt sich die Frage, worin sich die verschiedenen Lösungsansätze perspektivisch unterschieden, d. h., welches gesellschaftliche und politische Ziel jeweils mit der Wiedergutmachung verbunden wurde. So bestehen insbesondere große Unterschiede zwischen einer auf einen – wenngleich begrenzten – individuellen Schadensersatz zielenden Wiedergutmachung, wie er auf bundesdeutscher Seite favorisiert wurde, und dem Modell einer bevorzugten sozialen und medizinischen Betreuung der republikansässigen NS-Verfolgten, wie es in der DDR verwirklicht wurde. Idealtypisch ließe sich dies, wie dies bereits Otto Küster tat, auf den aristotelischen Gegensatz von »wiederherstellender« und »verteilender Gerechtigkeit« bringen.48 Zudem existierten bei den Verfolgten selbst wieder andere und untereinander zum Teil konkurrierende Konzeptionen der Wiedergutmachung.

Unter dem Einfluss innen- und außenpolitischer ebenso wie generationeller Faktoren und den damit verbundenen Neubewertungen der nationalsozialistischen Verbrechen kam es dabei zu erheblichen Veränderungen. Diese zeichnen sich vor allem an der Auseinandersetzung um die Anerkennung oder Nichtanerkennung von Verfolgten ab. Zum einen konkurrierten die Verfolgten untereinander um die knappe Ressource materielle Entschädigung sowie die damit verbundene Anerkennung.49 Zum anderen befanden sich die NS-Verfolgten aber auch in einem Wettbewerb mit anderen Gruppen innerhalb der deutschen Gesellschaft, die sich ebenfalls als Opfer fühlten – nämlich als Opfer des Krieges, der oftmals als ein von außen über sie gekommenes Schicksal betrachtet wurde.50 Besonders prekär war dies in den Fällen, in denen der Anspruch der NS-Verfolgten auf Wiedergutmachung mit dem Bedürfnis beider deutscher Nachkriegsgesellschaften nach Integration der NS-Belasteten in Konflikt geriet. Die »gewisse Stille«, in deren Medium sich der bekannten Formulierung Hermann Lübbes zufolge die Verwandlung der ehemaligen »Volksgenossen« in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland vollzogen habe,51 funktionierte in analoger Weise auch in der DDR.

Bei diesem gesamtdeutschen Vorgang handelte es sich freilich in erster Linie um ein Phänomen der fünfziger Jahre. Aber schon Mitte der sechziger Jahre, als die bezeichnenderweise als »Schlussgesetz« titulierte letzte Novellierung des Bundesentschädigungsgesetzes erfolgte, wurde zumindest in der Bundesrepublik das »Ende der Nachkriegszeit«52 verkündet. Zugleich hatte spätestens zu Beginn dieses Jahrzehnts jene ständige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eingesetzt, die bis zum heutigen Tage stetig weiter zugenommen hat. Wachsendes Holocaust-Bewusstsein und Sehnsucht nach einer Abschlussquittung konnten sich dabei durchaus ergänzen, indem sie beide auf eine Distanzierung von den historischen Verbrechen hinausliefen. Gleichfalls 1965 erfolgte in der DDR mit dem »Ehrenpensionsgesetz« die letzte große rechtliche Neuerung auf dem Gebiet der Wiedergutmachung. Auch hierin dokumentierte sich in gewisser Weise der Abschluss der Integration der NS-Belasteten, im Hinblick auf deren Interessen die Wiedergutmachung für die NS-Verfolgten lange Jahre gebremst worden war.53 Mit diesem Gesetz, das die »Kämpfer« wieder ausdrücklich gegenüber den »Opfern« hervorhob, stellte sich die DDR zugleich gegen den sich in den folgenden Jahrzehnten in den westeuropäischen Gesellschaften allmählich vollziehenden Prozess des Niedergangs »universalistischer Ideologien, verkörpert in der Figur des Kämpfers«. In der Bundesrepublik erfolgte dagegen, ähnlich wie in anderen westeuropäischen Ländern, ein allmählicher »Aufstieg der Identitätspolitik, verkörpert in der Figur des Opfers«54. Dabei weicht allerdings die Bundesrepublik insofern gleichermaßen von der DDR wie von anderen westeuropäischen Ländern ab, als von Anfang an weniger die »Kämpfer« gegen das NS-Regime als vielmehr die deutschen Kriegsopfer, welche als die »eigentlichen« eigenen Opfer galten, im Mittelpunkt der öffentlichen Erinnerung standen. Die DDR hatte sich dagegen gewissermaßen mit den »Siegern« und nicht mit den »Verlierern« des Krieges identifiziert.

Daran schließt sich zuletzt die Frage an, welche Folgen das Zusammentreffen zweier unterschiedlicher Traditionen der Wiedergutmachung im Gefolge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten in vergangenheitspolitischer Hinsicht besaß. Dabei richtete sich der Anpassungsdruck einseitig auf die ostdeutsche Gesellschaft. Als Resultat führte vor allem die von der alten Bundesrepublik in die neuen Bundesländer übertragene »nachholende Rückerstattung«55 für jüdische NS-Verfolgte zu einer Verstärkung des ostdeutschen Opferbewusstseins. Dies gilt umso mehr, als der durchaus nicht nur verordnete Antifaschismus der DDR zu einer mentalen Distanzierung der ostdeutschen Bevölkerung gegenüber einer Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus geführt hatte, die auch durch die Erklärung der letzten, demokratisch gewählten Volkskammer, »für eine gerechte Entschädigung« jüdischer materieller Verluste in der NS-Zeit einzutreten,56 nicht einfach aufgehoben werden konnte. Das vereinigte Deutschland suchte schließlich am Ende des Jahrtausends mit der Gründung der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« erneut, einen Schlussstrich unter die materiellen Aspekte der Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit zu ziehen und damit vergangenheitspolitisch endgültig auf ein nur mehr symbolisch zu gestaltendes Terrain zu gelangen.

Letzteres trifft auch auf den bislang radikalsten Entwurf einer Theorie der Wiedergutmachung zu.59 Elazar Barkan, der »Wiedergutmachung« beziehungsweise »Restitution« nicht als juristische Kategorie, sondern als kulturelles Konzept behandelt, rückt die Frage in den Mittelpunkt, ob es sich bei der im letzten Jahrzehnt auffällig zunehmenden Bedeutung der Anerkennung von historischer Schuld um die Entwicklung eines neuen internationalen moralischen Standards handle. Restitution ist für ihn in erster Linie »verhandelte Geschichte«, in der verschiedene durch ein »historisches Verbrechen« verknüpfte Gruppen durch die Suche nach einem gemeinsamen Narrativ den Konflikt bewältigen und damit zugleich auch ein Stück weit ihre Identität verändern. Gegen die Annahme universaler Gerechtigkeitsstandards betrachtet Barkan Gerechtigkeit somit als Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen verschiedenen Gemeinschaften unter Berücksichtigung vager globaler Gerechtigkeitsstandards.

Daraus folgen für diese Studie einige Fragen an das historische Beispiel der deutschen Wiedergutmachung: Inwieweit trug diese zur Entwicklung eines gemeinsamen Narrativs über die belastenden Vorgänge der Vergangenheit zwischen der deutschen Gesellschaft und den NS-Verfolgten bei? Inwieweit lässt sich die Wiedergutmachung als ein Prozess der Aushandlung von Identitäten verstehen? Führte die Politik der Wiedergutmachung dabei zum Ausgleich und zur Verständigung zwischen der deutschen Gesellschaft und den NS-Verfolgten?60 Oder ist die Wiedergutmachung im Gegenteil ein Beispiel für jene von Ian Buruma befürchteten negativen Effekte der »Viktimisierung«, bei dem der Status als Opfer eines historischen Verbrechens zum Mittel der Identitätsvergewisserung sowie politischer Anerkennungskämpfe wird? Auf diese Weise, so Buruma, würden historische Konflikte weitergetragen und im schlimmsten Fall sogar verschärft, statt zu einem Ausgleich zu führen.61

Der deutsche Fall unterscheidet sich, so die in diesem Buch vertretene Hypothese, von anderen Fällen historischen Unrechts unter anderem auch durch die Heterogenität der NS-Verfolgten in nationaler, sozialer und kultureller Hinsicht. Damit war und ist auch die Entwicklung eines alle Verfolgtengruppen einschließenden Narrativs über die belastenden Vorgänge erschwert. Im Zentrum historischer oder politologischer Betrachtungen stehen dabei meist aber die jüdischen Verfolgten, und ohne Zweifel kam es, gemessen an der anfänglichen Verweigerung jeglicher Kommunikation mit den Deutschen insofern zu beträchtlichen Fortschritten, als im Gefolge der Wiedergutmachung ein gemeinsamer Diskurs über die NS-Verfolgung entstand. Dies schließt jedoch erstens nicht ohne weiteres die Entwicklung eines gemeinsamen deutsch-jüdischen Narrativs ein.62 Selbst im Verhältnis von deutschen Juden und nichtjüdischen Deutschen scheint eine solche gemeinsame »große Erzählung« prekär, wie an wiederkehrenden geschichtspolitischen Ausbrüchen deutlich wird. Deutsche und Juden werden die Geschichte des Holocaust vermutlich immer verschieden interpretieren, auch wenn sie dieselben Fakten akzeptieren. Und zweitens stellt sich die Frage, wer mit wem in wessen Namen derartige Aushandlungsprozesse vornahm und inwieweit die individuellen Opfer überhaupt in das Zustandekommen derartiger Narrative einbezogen wurden.63 Blickt man schließlich auf die nichtjüdischen Verfolgtengruppen, so schließt sich daran die Frage an, in welcher Weise die Wiedergutmachung dazu beitrug, dass die deutsche(n) Gesellschaft(en) und verschiedene Gruppen von NS-Verfolgten miteinander in ein Gespräch über die an Letzteren in der NS-Zeit begangenen Verbrechen gelangten. Am Ende ergibt sich so vielleicht auch die Möglichkeit, die alternativen Zukunftsperspektiven der Wiedergutmachung, nämlich als »kommunikative Geschichte« (Barkan) einerseits oder als Geschichte fortgesetzter Viktimisierung (Buruma) beziehungsweise auch der Monetarisierung von »Vergangenheitsbewältigung« (Knigge) andererseits, genauer zu diskutieren.

Ein Beitrag der Untersuchung der Politik der Wiedergutmachung in Deutschland seit 1945 kann dabei insbesondere sein, vor den Gefahren einer präsentistischen Verkürzung zu bewahren, die bei einer Fokussierung der Diskussion auf den globalen Wiedergutmachungsdiskurs seit den achtziger Jahren droht. So soll in diesem Buch nicht nur gezeigt werden, wie sich die deutsche Politik unter dem Einfluss des Aufstiegs einer westlichen Identitätspolitik und einer globalisierten Holocausterinnerung veränderte, sondern vor allem auch, was sie vor diesem kulturellen shift darstellte. Dies scheint wichtig, um daran zu erinnern, dass Wiedergutmachung mehr sein kann als nur der Versuch von Gruppen, ihre Identität zu befestigen oder gesellschaftliche Positionsgewinne qua Viktimisierung zu erreichen. Wiedergutmachung kann, zumal in solchen Fällen, in denen der Zeitabstand zwischen den Verbrechen und den Versuchen zu ihrer Entschädigung nur gering ist, durchaus auch damit zu tun haben, beschädigte Biographien wieder zu heilen oder wenigstens ein Stück weit zur materiellen Rehabilitierung einzelner Menschen beizutragen. Das ist nicht das wenigste.

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Einige Worte zu den in diesem Buch verwendeten Quellen und Methoden: Das Ziel ist eine kulturhistorisch sensibilisierte Politikgeschichte der Wiedergutmachung. Die empirische Aufarbeitung von Entscheidungsprozessen wird somit durch die Frage nach dem »Wie« von Politik, d. h. der Frage nach Konstellationen und Beziehungen, ergänzt,64 wie es freilich gute Politikgeschichte immer schon getan hat. Dazu wurden in erster Linie in großem Umfang Archivquellen aus Deutschland und den USA ausgewertet, die das Material verschiedener an der Politik der Wiedergutmachung beteiligter staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen enthalten. Glückliche Umstände führten dabei dazu, dass die die zeithistorische Forschung sonst einschränkende 30-Jahres-Frist für den Aktenzugang in einigen Fällen übersprungen werden konnte. Hinzu kommen die Ergebnisse intensiver Medienrecherchen, darunter vor allem Tageszeitungen, sowie eine Anzahl von Interviews mit Zeitzeugen. Weder Historiker noch die Zeitzeugen haben das letzte Wort über die historische »Wahrheit«. Doch können sie sich gegenseitig helfen, Einseitigkeiten ihrer Wahrnehmung ein Stück weit zu korrigieren. Und dafür möchte ich meinen Gesprächspartnern an dieser Stelle danken.

Dieses Buch greift in verschiedenen Teilen auf frühere Arbeiten des Verfassers zurück. Diese wurden jedoch teilweise gekürzt, teilweise ergänzt, um sie dem hier angestrebten Charakter einer Gesamtdarstellung anzupassen. Der Stoff wurde dabei vor allem nach chronologischen Gesichtspunkten geordnet: Das erste Kapitel behandelt die Entstehung früher Konzeptionen zur Entschädigung von NS-Verfolgten vor Kriegsende, wobei die frühesten Überlegungen bis in die dreißiger Jahre zurückreichen. Das zweite Kapitel untersucht die Anfänge der Entschädigung in den vier alliierten Besatzungszonen auf deutschem Boden. Die folgenden Kapitel konzentrieren sich auf die alte Bundesrepublik: Im dritten Kapitel geht es um die Wiedergutmachung in der Phase des Wiederaufbaus (1949-1957), in der die wesentlichen Grundzüge der Entschädigung und Rückerstattung festgelegt wurden. Das vierte Kapitel behandelt das Ende der Nachkriegszeit und die Wiedergutmachung (1958-1965), während im fünften Kapitel die Wiedergutmachung im Spannungsfeld von sozialliberaler Reform und »geistig-moralischer Wende« (1966-1990) diskutiert wird. Das sechste Kapitel über Antifaschismus und Wiedergutmachung behandelt den Umgang mit den NS-Verfolgten in der DDR (1949-1989). Das siebte Kapitel untersucht schließlich die Berliner Republik und das Erbe der NS-Verfolgung, wobei es um die Frage der Wiedergutmachung im vereinigten Deutschland geht. In einem abschließenden Fazit werden schließlich die Probleme einer Politik der Wiedergutmachung als Medium historischer Gerechtigkeit diskutiert. Das Buch lässt sich dabei auf mindestens zweierlei Weise lesen: Dem eiligen Leser mag es genügen, sich anhand des jeweils ersten Kapitelabschnitts, in dem die Grundlinien und Strukturen der Politik der Wiedergutmachung im jeweiligen Zeitraum charakterisiert werden, sowie der am Ende jeden Kapitels gezogenen Zwischenbilanz zu orientieren. Die Teile dazwischen vertiefen dagegen die Argumentation und können nach Belieben gelesen werden.

  1   König, Zukunft, S. 147. Vgl. auch Reichel, Vergangenheitsbewältigung. Einführend zu den internationalen Dimensionen der »Vergangenheitsbewältigung« siehe v.a. Brooks (Hrsg.), Sorry; Torpey (Hrsg.), Politics.

  2   Siehe dazu Vogl, Stückwerk.

  3   Siehe dazu Lehmann, Wiedereinbürgerung.

  4   BT-Berichte, 4. Wp., 24.6.1964, S. 6429.

  5   Maier, Past, S. 297 f.

  6   Tanner/Weigel, Gedächtnis, S. 14 f.

  7   Sabrow, DDR, S. 99; Jarausch, Teile, S. 3.

  8   Assmann/Frevert, Geschichtsvergessenheit, S. 57; ähnlich auch Berghoff, Verdrängung, S. 103. Vgl. dazu auch Hockerts, Wiedergutmachung, S. 91.

  9   Herbst, Einleitung, S. 8.

10   Sievernich/Seif (Hrsg.), Schuld, S. 36 f. Für wertvolle Hinweise bedanke ich mich bei Daniel Schalz.

11   Rienecker, Schuld, Sp. 1451.

12   Ebenda, Sp. 1644.

13   Jelinek, Moral, S. 22.

14   Siehe Tagesspiegel, 14.11.2002, »Wiedergutmachung ist das falsche Wort«; sowie Paul Spiegel, Grußwort des Zentralrats der Juden in Deutschland, in: Brozik/Matschke (Hrsg.), Claims Conference, S. 139 f.

15   Zitiert nach Jelinek, Israel, S. 133.

16   Vgl. dazu auch Goschler, Wiedergutmachung; Pawlita, »Wiedergutmachung«; Doehring u. a., Jahrhundertschuld.

17   So hieß es unter Punkt 10 des Aufrufs des ZK der KPD an das deutsche Volk zum Aufbau eines antifaschistisch-demokratischen Deutschlands vom 11.6.1945: »Anerkennung der Pflicht zur Wiedergutmachung für die durch die Hitleraggression den anderen Völkern zugefügten Schäden.« Den »Opfern des faschistischen Terrors« wurden hingegen bei gleicher Gelegenheit »öffentliche Hilfsmaßnahmen« in Aussicht gestellt. Druck: Klessmann, Staatsgründung, S. 414.

18   Hitler, Mein Kampf, Bd. 2, S. 109.

19   Deutsches Wörterbuch, Sp. 1469 f.

20   Küster, Erfahrungen S. 3.

21   Vgl. Botz, Arisierungen.

22   Aufzeichnung über Siedlungs- und Volkstumsfragen in den wiedergewonnenen Ostprovinzen: Erster Entwurf von Theodor Schieder, 4.-7.10.1939, Druck: Vorläufer des »Generalplan Ost«, S. 84.

23   Vorschlag für eine Regelung des Danzig-Korridor-Problems sowie der deutschpolnischen Minderheitenfrage, Punkt 13, in: Urkunden zu letzten Phase der deutsch-polnischen Krise, S. 22.

24   Siehe dazu Goschler, Wiedergutmachung, S. 38-41. Auch die deutschsprachige jüdische Zeitschrift Aufbau in New York gebrauchte bereits 1940 den Begriff Wiedergutmachung. Siehe Bauer-Hack, Wochenzeitung, S. 37.

25   Hockerts, Wiedergutmachung, S. 93.

26   Herbst, Einleitung, S. 8 f.

27   Als kompetenten Überblick siehe Hockerts, Wiedergutmachung.

28   Siehe Hockerts, Begriff, S. 9.

29   Siehe etwa Grossmann, Ehrenschuld. Grossmann war Mitarbeiter der Claims Conference.

30   Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom Bundesminister der Finanzen in Zusammenarbeit mit Walter Schwarz: Bd. 1-6, München 1974-1983.

31   Brodesser, Wiedergutmachung.

32   Siehe v.a. Sagi, Wiedergutmachung; Zweig, Reparations; Hansen, Schatten; Jelinek, Moral.

33   Siehe insbesondere Pawlita, »Wiedergutmachung«; Herbst/Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung; sowie Goschler, Wiedergutmachung.

34   Pross, Wiedergutmachung.

35   Siehe etwa das von der German-Israeli Foundation geförderte Projekt zur »Praxis der Wiedergutmachung in Deutschland und Israel« unter Leitung von Norbert Frei (Jena) und José Brunner (Tel Aviv).

36   Die Pionierstudie, die von einem der zentralen Akteure auf Seiten der Claims Conference verfasst wurde, erschien bereits Anfang der achtziger Jahre: Ferencz, Lohn. Eine Mischung von politischen und wissenschaftlichen Akteuren findet sich auch im Band von Barwig/Saathoff/Weyde, Entschädigung.

37   Spannuth, Rückerstattung Ost; Lillteicher, Rückerstattung; Goschler/Lillteicher (Hrsg.), »Arisierung«; Goschler/Ther (Hrsg.), Raub.

38   Siehe Kessler/Peter, Wiedergutmachung.

39   Hölscher, NS-Verfolgte.

40   Timm, Verhandlungen; dies., Streit; dies., Hammer; dies., Claims. Als kritischen »Gegenentwurf« siehe Meining, Judenpolitik.

41   Mertens, Davidstern; Offenberg, Machthaber.

42   Tuchman, Geschichte, S. 31.

43   Meuschel, Legitimation; Lepsius, Institutionenordnung.

44   Vgl. dazu Hölscher, NS-Verfolgte.

45   Vgl. dazu Weisbrod, Öffentlichkeit.

46   Stern, Rehabilitierung, S. 167 f.

47   Frei, Vergangenheitspolitik.

48   Küster, Wiedergutmachung, betrachtet 1957, S. 4; ders., Grundlinien, S. 86.

49   Siehe dazu Chaumont, Konkurrenz.

50   Moeller, War Stories.

51   Lübbe, Nationalsozialismus, S. 334.

52   Siehe die Regierungserklärung von Bundeskanzler Ludwig Erhard, BT-Berichte, 5. WP, 4. Sitzung vom 10.11.1965, S. 17.

53   Vgl. auch Hölscher, NS-Verfolgte, S. 231 f.

54   Lagrou, Frankreich, S. 174.

55   Spannuth, Rückerstattung Ost.

56   Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik, Stenographische Niederschrift, 10. WP, 2. Tagung vom 12.4.1990, S. 23.

57   Knigge, Statt eines Nachworts, S. 438.

58   Siehe etwa Chaumont, Konkurrenz; sowie Barkan, Völker. Vgl. dazu auch Taylor, Multikulturalismus; Honneth, Kampf.

59   Zum Folgenden siehe Barkan, Völker.

60   Siehe in diesem Sinne ebenda.

61   Buruma, Victimhood.

62   So dagegen eine der zentralen Thesen bei Barkan, Völker.

63   Siehe auch Torpey, Reflections, S. 349.

64   Siehe dazu Mergel, Überlegungen, S. 605.

I. Die Anfänge der Entschädigungsdiskussionbis zum Kriegsende

Auch die Diskussion der Entschädigung und Rehabilitierung für NS-Verfolgte kannte keine Stunde Null, denn entsprechende Vorschläge entstanden schon lange vor dem Ende des NS-Regimes. Dazu gehörten zunächst deutsche Überlegungen im innerdeutschen Widerstand und im Exil, aber auch in der sowjetischen Gefangenschaft. Einen weiteren wichtigen Diskussionsstrang bildeten jüdische Entschädigungspläne. Und schließlich schlossen auch die alliierten Nachkriegsplanungen zum Teil Überlegungen zur Entschädigung von NS-Verfolgten ein. Doch existierte dabei weder eine einheitliche Sicht auf die Verfolgungsvorgänge, noch ergaben sich daraus zwangsläufige Antworten. Was führte also dazu, dass in unterschiedlichsten, über den ganzen Erdball verstreuten Milieus eine Diskussion über die künftige Entschädigung und Rehabilitierung von NS-Verfolgten aufkam? Welche Perspektive auf die NS-Verfolgung war damit jeweils verbunden? Und welche Vorstellungen von der Zukunft nach dem Ende des NS-Regimes ergaben sich daraus?

1. Wiedergutmachung gegen Kollektivschuld:Deutsche Konzeptionen in Widerstand,Exil und Gefangenschaft

Aus heutiger Sicht erscheint es als selbstverständlich, dass die Wiedergutmachung vor allem eine Reaktion auf die Verfolgung der Juden war. Tatsächlich entstanden die ersten diesbezüglichen Überlegungen aber aus dem Kontext der politischen Verfolgung im »Dritten Reich«. So verfasste eine Widerstandsgruppe um den ehemaligen SPD-Reichstagsabgeordneten Hermann Brill bereits Ende 1936 – wenige Monate nachdem das NS-Regime mit der Olympiade einen Höhepunkt seiner internationalen Anerkennung gefeiert hatte –, in Berlin unter hochkonspirativen Bedingungen ein Manifest, das als Programm einer als »Deutsche Volksfront« firmierenden linken Widerstandsgruppe gedacht war. Der Aufruf forderte neben »Sturz und Vernichtung der Diktatur« auch »Recht und Gerechtigkeit für alle: Befreiung der politischen Gefangenen, Abschaffung der Blutjustiz, Sühne für die begangenen Verbrechen, Wiedergutmachung des begangenen Unrechts«1. Eine erweiterte und kommentierte Fassung der »Zehn Punkte« wurde unter dem Titel »Freiheit« 1937 und 1938 verbreitet.2 Dieser Entwurf wie auch andere von der linken Opposition in den späten dreißiger Jahren formulierte Entwürfe wollten vor allem einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat wiederherstellen. Forderungen nach »Wiedergutmachung« bezogen sich dabei in erster Linie auf die politische Verfolgung der Parteien und Gewerkschaften. Die fortschreitende gesellschaftliche Ausgrenzung und Entrechtung der Juden in Deutschland blieb dagegen in einer auf die Unterdrückung der politischen Opposition konzentrierten Wahrnehmung weitgehend unbeachtet.

1938 konnte die Gestapo die »Deutsche Volksfront« aufdecken und ihre Mitglieder verhaften. Brill knüpfte jedoch in der Gefangenschaft, die ihn 1943 in das Konzentrationslager Buchenwald führte, an seine früheren Aktivitäten an: Er organisierte und leitete das Buchenwalder Volksfront-Komitee, das mit dem von den Kommunisten initiierten Internationalen Lagerkomitee konkurrierte und im Mai 1944 die »Buchenwalder Plattform« formulierte. Diese Grundsätze für die Zeit nach dem Sturz des nationalsozialistischen Regimes enthielten auch Überlegungen für die »Entschädigung der Opfer des Terrors«3. Auch nach der Befreiung Buchenwalds rivalisierten die beiden Lager-Untergrundorganisationen: Während sich die Kommunisten zum Führungsanspruch der KPD-Politiker im Moskauer Exil bekannten, veröffentlichten die Sozialdemokraten am 13. April 1945 im Namen des »Bundes demokratischer Sozialisten« das Buchenwalder Manifest »Für Frieden, Freiheit, Sozialismus«. Das Manifest forderte abermals Wiedergutmachung für die individuellen Opfer des Terrors sowie auch für die vom »Dritten Reich« überfallenen Länder. Im Vordergrund stand aber die geplante gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Umwälzung in Deutschland im Sinne eines demokratischen Sozialismus.

Zwar unterschieden sich die Nachkriegspläne des sozialistischen und sozialdemokratischen innerdeutschen Widerstands in letzterer Hinsicht erheblich von denen des konservativen Widerstands. Doch befasste sich auch der Verschwörerkreis des 20. Juli intensiv mit der Frage der Bestrafung und Wiedergutmachung der nationalsozialistischen Verbrechen nach dem erhofften Sturz des Regimes. Einen wesentlichen Anstoß dazu hatte die Radikalisierung der Judenverfolgung geliefert. Die Nationalsozialisten hatten in den Augen der Verschwörer die falsche Antwort auf die richtige Frage gegeben.4 Anfänglich waren solche Überlegungen, wie sie etwa bei Generaloberst Ludwig Beck und Carl Friedrich Goerdeler nachweisbar sind, noch vom Ziel einer Rückkehr zu der Vorkriegspolitik gegenüber den Juden ausgegangen: Auch sie betrachteten die Existenz einer »Judenfrage« als selbstverständlich und teilten damit den antisemitischen Basiskonsens der deutschen »Volksgemeinschaft«. Doch wünschten sie diese in Zusammenarbeit mit der Völkergemeinschaft zu lösen und zugleich die besonders kritikwürdigen antijüdischen Maßnahmen wieder zurückzunehmen.

Unter dem Eindruck der Vernichtung der europäischen Juden entfiel schließlich der ursprünglich formulierte Anspruch, gemeinsam mit dem Ausland an der »Lösung der Judenfrage« mitzuarbeiten. Sowohl die Kreisauer als auch Goerdeler wollten nicht allein die Judenverfolgung aufheben, sondern auch zumindest die deutschen Juden entschädigen. Am Ende dieser Diskussionen stand die für den Fall eines erfolgreichen Staatsstreichs am 20. Juli 1944 verfasste Regierungserklärung Goerdelers. Diese distanzierte sich von der nationalsozialistischen Rechtsbeugung und kündigte die Bestrafung der Täter und die Aufhebung diskriminierender Bestimmungen an. Die Konzentrationslager sollten aufgelöst, die Unschuldigen entlassen und Schuldige dem ordentlichen gerichtlichen Verfahren zugeführt werden. Überdies plante Goerdeler, dem deutschen Volk die sofortige Einstellung der Judenverfolgung, »die sich in den unmenschlichsten und unbarmherzigsten, tief beschämenden und gar nicht wiedergutzumachenden Formen vollzogen« habe, anzukündigen. »Wer«, so Goerdeler, »geglaubt hat, sich am jüdischen Vermögen bereichern zu können, wird erfahren, daß es eine Schande für jeden Deutschen ist, nach einem unredlichen Besitz zu streben.«5 Neben außenpolitischen Gesichtspunkten spielte auch ein konservativer beziehungsweise militärischer Moralkodex eine zentrale Rolle: »Ehre« und »Schande« erschienen in den Begründungen dieser Maßnahmen als Leitmotive, und so zielten Bestrafung und Wiedergutmachung auf individuelle Schuldige und damit zugleich auf einen Scheidungsprozess: Der deutsche Staat und die deutsche Nation sollten durch einen Prozess der Selbstreinigung wieder unbefleckt auferstehen und damit jene Kontinuität sichern, die durch die bekannt gewordenen alliierten Nachkriegspläne gefährdet schien.

Bedeutende Teile der deutschen Opposition, besonders der Linksparteien, versuchten nach 1933 ihre politische Tätigkeit im Ausland fortzusetzen, wobei sich mehrere Emigrationszentren bildeten. Während der letzten Kriegsjahre, als sich der alliierte Sieg immer deutlicher abzeichnete, veröffentlichten verschiedene Emigrantengruppen Konzepte, um sich für die Nachkriegszeit politisch zu positionieren. Besonders aktiv war die Exil-SPD, die seit 1942 unter wachsendem Druck stand, zu den deutschen Verbrechen Stellung zu beziehen. Die von Hans Vogel geführte SPD-Exilleitung rückte jedoch zumeist ihre eigene Rolle als erstes Opfer der NS-Verfolgung in den Vordergrund. Dies diente nicht allein der Selbstrechtfertigung, sondern auch dem Versuch, vansittaristische Vorstellungen zurückzuweisen, wonach das ganze deutsche Volk pauschal schuldig sei und deshalb einen Rachefrieden auferlegt bekommen müsse. Als etwa der Jüdische Weltkongress im November 1943 Vogel aufforderte, zu den politischen Konsequenzen aus der nationalsozialistischen Judenverfolgung Stellung zu nehmen, antwortete dieser zurückhaltend, dass künftig die Wiederherstellung der staatsbürgerlichen Gleichheit angestrebt sei. Zugleich müssten sich die Juden nach ihrer Rückkehr nach Deutschland aber durch ihr Verhalten würdig erweisen, indem sie lediglich progressive und demokratische Kräfte in Deutschland unterstützten. Auch gegenüber dem Jewish Labor Committee in den USA lehnte er es im April 1944 ab, festzustellen, was eine gerechte Entschädigung für die an den Juden begangenen Verbrechen sei.6

Die doppelte Tendenz sozialdemokratischer und sozialistischer Nachkriegsentwürfe, einerseits von der eigenen Verfolgungserfahrung auszugehen und andererseits große Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit (und -bereitschaft) des deutschen Volkes zu nehmen, lässt sich auch an den 1944 vorgelegten Gedanken zur Wiedergutmachung zweier Exilgruppen in Schweden feststellen, an denen unter anderem auch der spätere Bundeskanzler Willy Brandt beteiligt war. Die dort vorgeschlagene Wiedergutmachung in Gestalt der Entschädigung der NS-Verfolgten und der Mitwirkung am Wiederaufbau der zerstörten Länder sollte gleichermaßen der angestrebten Selbstreinigung Deutschlands als auch der Rückgewinnung des Vertrauens anderer Völker dienen.7

Ähnliche Zielsetzungen prägten aber auch die ausführlichen Entwürfe der Arbeitsgemeinschaft »Das demokratische Deutschland« in der Schweiz zur Nachkriegsgestaltung Deutschlands. In Gesellschaft mit dem ehemaligen SPD-Reichstagsabgeordneten, Staatsanwalt und künftigen bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner befanden sich dort auch der ehemalige preußische Ministerpräsident Otto Braun, der frühere deutsche Reichskanzler Joseph Wirth, der ehemalige Reichstagsabgeordnete Heinrich Ritzel sowie der katholische Schriftsteller Jakob Kindt-Kiefer.8 Seit 1943 verfasste dieser Honoratioren-Klub eine Vielzahl von Memoranden zur Nachkriegsgestaltung Deutschlands. Diese Vorschläge teilten mit anderen deutschen Entwürfen nicht nur die Ablehnung einer deutschen Kollektivschuld.9 Hinzu kam die starke Fixierung auf ihr eigenes Verfolgungsschicksal sowie die Begrenztheit der angestrebten Wiedergutmachung. Zudem sahen diese Pläne allesamt vor, die als nichtnationalsozialistisch angesehene Bevölkerungsmehrheit zu schonen. Die Entschädigungsdiskussionen der deutschen Exilgruppen offenbaren somit ein Dilemma: Einerseits schloss die angestrebte gesellschaftliche Neuordnung nicht nur die Bestrafung der Täter, sondern auch die Entschädigung der Opfer zwingend ein. Andererseits sollten aber die Kosten einer solchen Entschädigung weder den Spielraum für die gesellschaftspolitischen Zielsetzungen der Emigranten einengen noch ihren politischen Führungsanspruch diskreditieren. Dies galt umso mehr, als die Frage im engen Zusammenhang mit der Reparationsproblematik gesehen wurde und damit das Gespenst des Versailler Vertrages aktualisiert wurde: Die deutschen Exilpolitiker fürchteten nichts mehr als das Odium der »Erfüllungspolitik«.

Dies galt allerdings für den kommunistischen Widerstand nur begrenzt: Nach der deutschen militärischen Katastrophe in Stalingrad hatten KPD-Emigranten in der Sowjetunion einen neuen Anlauf gestartet, deutsche Soldaten an der Ostfront propagandistisch zu beeinflussen. Mitte 1943 wurde schließlich auf sowjetische Initiative das Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) gegründet, zu dessen Präsidenten der kommunistische Emigrant Erich Weinert gewählt wurde.10 Auf seiner Gründungsversammlung am 12./13. Juni in Krasnogorsk nahe Moskau verabschiedete das NKFD ein in den Grundlinien von sowjetischer Seite vorgegebenes »Manifest an die Wehrmacht und das deutsche Volk«. Dieses wurde auch zur Basis des im September ins Leben gerufenen Bundes Deutscher Offiziere (BDO). Um das in der Wehrmacht und der deutschen Bevölkerung verbreitete Misstrauen gegen die deutschlandpolitischen Ziele der Sowjetunion zu bekämpfen, postulierte das Manifest einen kompletten Katalog bürgerlicher Freiheiten. Während Kriegsgewinnler enteignet werden sollten, sollte rechtmäßig erworbenes Eigentum nach Hitlers Sturz wiederhergestellt werden, und dazu gehörte auch die »Rückgabe des durch die nationalsozialistischen Machthaber geraubten Hab und Guts an die Eigentümer«. Zudem forderte das Manifest die »sofortige Befreiung und Entschädigung aller Opfer des Hitlerregimes«11. Eine an das Offizierskorps der Wehrmacht gerichtete Analyse dieses Manifests, die das Oberkommando der Wehrmacht im Oktober 1943 verteilen ließ, geiferte: »Damit würde also der Jude in Deutschland wieder freie Hand bekommen.«12

Das mit einem schwarz-weiß-roten Rand versehene Manifest wurde in über 6,5 Millionen Exemplaren in den deutsch besetzten Gebieten, im Deutschen Reich sowie unter deutschen Kriegsgefangenen verbreitet.13 Die Rücksichtnahmen auf die Empfindlichkeiten bürgerlicher Kreise nahmen allerdings in dem Maße ab, in dem die militärische Lage Deutschlands hoffnungsloser wurde und somit die Option eines innerdeutschen Aufstands an Bedeutung verlor. Gegen Kriegsende wurde das NKFD immer stärker zum Sprachrohr der sowjetischen Reparationsforderungen, die oft mit einem pädagogischen Umerziehungsimpuls verbunden wurden. Die ehemaligen Wehrmachtsoldaten sollten nun ihre Bewährung »an der Front der Wiedergutmachung«14 finden, und dies meinte die Erfüllung der auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam gefassten Reparationsbeschlüsse. Demgegenüber traten die Belange der in Deutschland geschädigten NS-Verfolgten gänzlich in den Hintergrund. Fraglos spricht dies dafür, dass es sich bei Letzteren lediglich um eine zeitweise taktische Konzession gehandelt hatte. Gilt dies auch für alternative Überlegungen im Umfeld der kommunistischen Emigration in Lateinamerika?

Deutsche Kommunisten schufen 1941 in Mexiko die Bewegung »Freies Deutschland« sowie eine gleichnamige Zeitung. Während sich das Moskauer NKFD mit deutschen Kriegsgefangenen auseinandersetzen musste, die einen Querschnitt durch die deutsche Bevölkerung – freilich ohne Juden – darstellten, traf die relativ kleine Gruppe kommunistischer Emigranten in Mexiko auf eine mehrfache Überzahl jüdischer Emigranten. Überdies bildete nicht zuletzt die Ferne von Moskau eine wichtige Voraussetzung für eine eigenständige Diskussion jüdischer Angelegenheiten. So erörterten deutsche Kommunisten im mexikanischen Exil intensiv die Entschädigung der deutschen jüdischen NS-Verfolgten nach dem Ende des Krieges.15

Zentral dafür wurde Paul Merker, mit dem 1942 ein Mitglied des Politbüros der KPD nach Mexiko gelangt war. Dieser brach mit einer langen Tradition kommunistischer Faschismusanalysen und rückte den Antisemitismus von der Peripherie in das Zentrum seiner Argumentation. In seinem im Oktober 1942 im Freien Deutschland veröffentlichten Artikel »Hitlers Antisemitismus und wir« forderte er für die Zeit nach dem Kriege nicht nur die Schaffung eines jüdischen Nationalstaats und die radikale Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland, sondern auch die Wiedergutmachung des den deutschen Juden zugefügten moralischen und wirtschaftlichen Schadens.16 Die Verantwortlichen für die Vertreibung und Verschleppung der Juden, aber auch diejenigen, die sich an jüdischem Eigentum bereichert hätten, sollten vor ein Sondergericht gestellt werden. Vertriebene deutsche Juden sollten nicht allein automatisch ihre Staatsangehörigkeit zurückerhalten, vielmehr müsse der deutsche Staat auch die Kosten für die Rückkehr nach Deutschland oder – falls sie dies wünschten – die Ausreise in ein anderes Land bezahlen. Sowohl Rückkehrer als auch diejenigen, die im Ausland bleiben wollten, würden für die erlittenen wirtschaftlichen Schäden entschädigt werden – freilich nur »im Rahmen der eingeschlagenen wirtschaftlichen Orientierung«. Schließlich sollten die Rückwanderer umfassende Unterstützungsleistungen zu ihrer wirtschaftlichen und sozialen Wiedereingliederung erhalten.17