Schuld und Verantwortung - Doris Wagner - E-Book

Schuld und Verantwortung E-Book

Doris Wagner

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Beschreibung

Mit "Spiritueller Missbrauch" hat Doris Wagner das meistdiskutierteste religiöse Sachbuch des Jahres geschrieben. Aus eigener Erfahrung, vor allem aber gestützt auf präzise Analyse und zahlreiche Fallbeispiele hat sie gezeigt, was im "System Kirche" über Jahrhunderte bis heute falsch lief. Darüber diskutierte sie mit dem Wiener Kardinal Christoph Schönborn in einem Studio des Bayerischen Rundfunks in München. Das Gespräch wurde in Teilen in einer TV-Dokumentation für das BR-Fernsehen veröffentlicht und sorgte für Schlagzeilen und Aufsehen. In diesem Buch diskutieren Wagner und Schönborn weiter über Macht und Missbrauch und die Verantwortung der Kirche. Beide teilen persönliche Erfahrungen und Erlebnisse, sprechen offen und deutlich. Eine Diskussion auf Augenhöhe, die die Konfrontation nicht scheut, bei der es aber beiden Autoren um die zentralen Themen im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise geht. Ein Meilenstein und unverzichtbare Grundlage für eine ehrliche Bestandsaufnahme und eine radikale Wende in der Kirche.

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Doris Wagner | Christoph Schönborn

Schuld und Verantwortung

Ein Gespräch über Macht und Missbrauch in der Kirche

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Umschlagmotiv: © Sima Dehgani, München

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN E-Book 978-3-451-81890-5

ISBN Print 978-3-451-39526-0

Inhalt

Vorwort

»Schaut doch hin, seid doch ehrlich!«

Kirche als Heimat

Intellektuell und frei im Dominikanerorden

Späte Erkenntnis: Was mich zerstört, kommt nicht von Gott

Wie bewahrt man den Glauben und was sind die Grenzen?

Wurzeln des Missbrauchs in der Kirche

Auf das sechste Gebot fixiert

Sakrosankte Meister, ausgenutzte Bedürftigkeit

Putzen und Schweigen: Warum missbrauchte Schwestern oft keine Lobby haben

Klerikale Herren, dienende Mägde – oder die Frage nach dem Frauenpriestertum

Verständnis für die Täter – kein Verständnis für die Opfer

»Ich bin Hirte und ich bin Richter«

Macht, Missbrauch und Verantwortung: Was sich ändern muss

»Ich glaube Ihnen, ja«

Vergebung und Verantwortung

Was sind lebbare moralische Kriterien?

Kirchliche Logik zwischen Autorität und Selbstbestimmung

Kreuzesnachfolge oder Selbstbestimmung: ein Gegensatz?

Hoffnung auf Veränderung?

Autoren-Biografien

Vorwort

An einem trüben, nasskalten Vormittag im Dezember 2018 klingelt in meinem Büro im Bayerischen Rundfunk (BR) das Telefon. Eine freundliche Stimme mit einer unüberhörbaren österreichischen Klangfarbe meldet sich und fragt: »Störe ich?« Die lange Nummer auf dem Display des Telefons zeigt an, dass der Anruf aus Österreich stammt. Seinen Namen nennt der Mann am anderen Ende der Leitung zunächst nicht. Ich sage etwas überrascht: »Nein. Nein, Sie stören nicht!« Dann erst gibt sich der freundliche Anrufer zu erkennen: »Hier ist Schönborn.«

Ich kann es zunächst nicht glauben: Eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der katholischen Kirche, Kardinal Christoph Schönborn, ruft mich an, um über ein Filmprojekt für das BR Fernsehen zu sprechen. Das Gespräch dauert mehrere Minuten. Am Ende vereinbaren wir absolute Vertraulichkeit. Niemand soll von den Planungen erfahren. Lediglich eine einzige Person, eine ehemalige Ordensfrau ist von Anfang an voll im Bilde: Doris Wagner.

In zwei Büchern und in verschiedenen Interviews berichtet Doris Wagner, wie sie als Angehörige eines Ordens sexuell und spirituell missbraucht wurde. Aus diesem Grund rufe ich Doris Wagner bereits im November 2018 an. Ich freue mich, dass sie sich so viel Zeit für mich nimmt. Am Ende unseres langen Telefonates berichtet sie mir, dass sie in Kontakt mit Kardinal Schönborn steht. Er kennt und schätzt ihre Bücher. Er sei sogar bereit, sich mit ihr öffentlich zu treffen.

So entsteht am Telefon die Idee für dieses außergewöhnliche Projekt: Ein hoher Würdenträger der katholischen Kirche trifft sich mit einem Missbrauchsopfer. Aber nicht auf einer öffentlichen Bühne, sondern an einem vertraulichen Ort ohne Publikum. Mit im Raum sind lediglich der Stab des Bayerischen Rundfunks und die Fernsehkameras, die das Gespräch aufzeichnen. Einen Moderator, der Fragen stellt, wird es nicht geben. Der Kardinal und die ehemalige Ordensfrau sollen frei und ohne Einschränkungen ihre Gedanken austauschen; so, als säßen sie alleine in einem Raum. So etwas hat es noch nie zuvor gegeben! Nach dem Anruf von Kardinal Schönborn in meiner Redaktion im Bayerischen Rundfunk wird aus der Idee ein Projekt, das im Laufe der nun folgenden Wochen immer konkretere Züge annimmt.

Dabei ist von Anfang an für alle Beteiligten klar: Das Projekt ist ein Riesenwagnis. Ich stelle mir viele Fragen: Wie wird sich das Gespräch entwickeln? Kon­struktiv, konfrontativ, inhaltsleer? Niemand kann diese Frage im Vorfeld beantworten. Wird ein Gesprächspartner vorher noch absagen? Gibt es am Ende nur Verlierer, die sich in einer dann merkwürdig anmutenden Szenerie sprachlos oder mit vielen Worten nichtssagend gegenübersitzen? Diese Gedanken gehen mir immer wieder durch den Kopf. Schnell treffen die zuständigen Redakteure Astrid Harms und Stephan Keicher eine Entscheidung: Wir gehen das Wagnis ein. Wir tragen das Risiko eines Scheiterns gemeinsam.

Der Film soll vor der sogenannten Missbrauchskonferenz in Rom gesendet werden. Zunächst muss ein passender Raum gefunden werden. Die beiden Gesprächspartner sollen sich auf neutralem Boden treffen. Wir einigen uns auf das Rundfunkgebäude des BR in München. Endlich steht ein Termin fest, der allen Beteiligten passt: Am Samstag, dem 2. Februar 2019 hole ich Doris Wagner und Kardinal Schönborn um 9.00 morgens in ihrem Münchner Hotel ab.

Die beiden so unterschiedlichen Menschen haben sich nie zuvor persönlich kennengelernt. Auf dem Weg in das große, mit Holz vertäfelte und an eine Konzerthalle erinnernde Hörfunkstudio des Bayerischen Rundfunks wechseln wir wenige, höfliche Worte. Im Studio steht Kaffee bereit. Die großen Scheinwerfer sind an. Kameras stehen bereit.

Die Maskenbildnerin kümmert sich um die beiden Gäste. In einem Nebenraum im Münchner Rundfunkhaus bekräftige ich noch einmal die am Telefon vereinbarten »Spielregeln«: Jedes Wort wird aufgezeichnet. Aber am Ende können beide Gesprächspartner selbst entscheiden, was gesendet wird oder nicht. Der Kardinal und die ehemalige Ordensfrau sollen sich sicher fühlen. Sie brauchen nicht wie bei einer Podiumsdiskussion mit Publikum jedes Wort auf die Goldwaage legen, bevor sie es aussprechen.

Dann geht es los. Die Kameras laufen. Jetzt liegt alles in den Händen der beiden Gesprächspartner. Der Kardinal und die ehemalige Ordensfrau sitzen sich im Scheinwerferlicht gegenüber. Im großen Hörfunkstudio ist es mucksmäuschenstill. Doris Wagner beginnt mit einem Dank, dass der Wiener Erzbischof für dieses Gespräch nach München gekommen sei. Sofort ist für alle Beteiligten spürbar, dass sich hier zwei Menschen auf Augenhöhe gegenübersitzen, die sich gegenseitig schätzen uns respektieren. Von Pausen unterbrochen zeichnen die Kameras drei lange, unendlich intensive wie auch emotional anrührende Gesprächsrunden auf.

Am Nachmittag, als alles vorbei ist und allen Beteiligten die Erschöpfung anzusehen ist, stelle ich die vorher vereinbarte Frage: »Bestehen irgendwelche Einwände gegen eine Passage der Aufzeichnung?« Kardinal Schönborn und Doris Wagner erklären sofort und unumwunden: Das gesamte Material könne für die 45-minütige Dokumentation des BR Fernsehens mit dem Titel »Missbrauch in der katholischen Kirche« verwendet werden.

Nur vier Tage später wird der Film gesendet. Die Dokumentation schlägt enorme Wellen. Zunächst in Österreich und dann in der gesamten katholischen Welt. Die Deutsche Welle wiederholt den Film in verschiedenen Sprachen. Doch in der Dokumentation kann nur ein kleiner Teil des hochspannenden Materials gezeigt werden.

Umso dankbarer bin ich als Autor der TV-Dokumentation, dass der Herder-Verlag nunmehr in einer weiteren großartigen Kooperation mit Doris Wagner und Kardinal Christoph Schönborn aus der Fülle des unendlich spannenden Materials ein faszinierendes Gesprächsbuch entwickelt hat, das diese außergewöhnliche Begegnung dokumentiert. Ich wünsche diesem Buch, dass es – wie schon der Film – die Menschen berührt und vor allem zum Nachdenken anregt.

Stefan Meining, Bayerischer Rundfunk

»Schaut doch hin, seid doch ehrlich!«

Die beiden Gesprächspartner Doris Wagner und Kardinal Christoph Schönborn OP haben in einem Studio des Bayerischen Rundfunks in München Platz genommen. Das Gespräch soll in Teilen in einer TV-Dokumentation im BR veröffentlicht werden. Später wird die Ausstrahlung für viel Aufsehen sorgen, wird Diskussionen entfachen und vor allem sehr positive Kritik ernten, sogar der Österreichische Film- und Fernsehpreis ROMY wird dafür verliehen. Das Gespräch im Studio geht aber weit über das hinaus, was später ausgestrahlt wird, berührt nicht nur das Problem des Missbrauchs in der Kirche, sondern stellt grundsätzliche Fragen nach Macht und Verantwortung, nach der Struktur von Kirche und möglichen Perspektiven für die Zukunft. Die beiden Gesprächspartner erzählen zudem von persönlichen Erfahrungen und Überzeugungen, in einer großen Offenheit und Ehrlichkeit.

Sie beginnen das Gespräch mit einer Schilderung, wie dieser Dialog überhaupt zustande kam. Bevor sie sich trafen, hatten sie bereits dreimal miteinander telefoniert, zweimal nur kurz, einmal sehr ausführlich und lang. Doch noch nie waren sich beide persönlich in solch einer Konstellation begegnet. Das Gespräch beginnt.

Kardinal Christoph Schönborn OP: Ich bin sehr dankbar, dass wir heute miteinander reden können über das, was Sie erlebt haben und über das, was ich erlebt habe. Ich freue mich, mit Ihnen darüber zu sprechen, wie wir die gegenwärtige Situation in der Kirche, aber auch in der Gesellschaft sehen im Hinblick auf das große Thema missbräuchliches Verhalten. Zugleich bin ich gespannt auf weiterführende Fragen, auf Zukunftsperspektiven: Was gibt Hoffnung? Was ist zu tun? Was ist zu lassen?

Doris Wagner: Ich möchte Ihnen eingehend sagen: Ich finde eigentlich gar keine Worte dafür, wie dankbar ich Ihnen bin und welchen Respekt es mir abnötigt, dass Sie zu diesem Gespräch bereit sind. Seit 2008, seit über zehn Jahren also, habe ich immer wieder versucht, mit Verantwortlichen in der Kirche in ein Gespräch zu kommen, ihnen zu erzählen, was mir passiert ist; mit ihnen zu überlegen, was das bedeutet; angemessene Reaktionen von ihnen zu erhalten, auf das, was mir passiert ist und anderen passiert, was in der Kirche los ist. Und ich habe immer erlebt, dass niemand wirklich mit mir sprechen wollte. Es gibt Leute in der Kirche, die mit mir gesprochen haben, die mir zugehört haben, die sich auf meine Gedanken, meine Perspektive eingelassen haben. Aber es waren nie Menschen, die Verantwortung in der Kirche tragen. Und Sie sind ein Kardinal, Sie tragen Verantwortung in der Kirche, und Sie trauen sich, dieses Gespräch zu führen.

Was steckt aber hinter diesen Weigerungen, mit mir zu sprechen? Ich haben das Gefühl, dass viele Menschen in der Kirche, gerade Personen in Verantwortungspositionen, Angst haben vor Opfern. Als ob jemand, dem in der Kirche etwas Schlimmes passiert ist, als ob der ein Feind der Kirche wäre, als ob der die Kirche angriffe. Doch wir sind keine Feinde! Sondern wir sind Menschen, die eine Realität in der Kirche gesehen haben, am eigenen Leib schmerzlich erlebt haben, und die einfach das berichten wollen, was da los ist: um Lösungen zu finden, damit das nicht weiter passiert. Und das ist gerade nicht gegen die Kirche, sondern es geht eigentlich darum, dass es der Kirche am Ende besser geht, dass es vor allem den Menschen in der Kirche am Ende besser geht – und da ziehen wir eigentlich an einem Strang.

Christoph Schönborn: Das sehe ich auch so. Als Frau Professor Dr. Myriam Wijlens (Kirchenrechtsprofessorin aus Erfurt, Anm. d. Lektors) vor etwas mehr als vier Jahren bei mir war und mir zum ersten Mal von Ihrer Geschichte erzählt hat, habe ich diese ganz ernst genommen, weil ich ja in Wien selber in ganz dramatischer Weise das Phänomen Missbrauch in der Kirche erlebt habe, im Drama um meinen Vorgänger. (Der Wiener Kardinal Hans Hermann Groër trat nach Missbrauchsvorwürfen von seinem Amt 1995 zurück. Im Zuge der Affäre wurde ein Kirchenvolksbegehren in Österreich gestartet, das breite Zustimmung fand. Kardinal Schönborn und andere österreichische Bischöfe bestätigten 1998, dass die Vorwürfe im Wesentlichen zuträfen, Anm. d. Lektors).