Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche - Doris Wagner - E-Book

Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche E-Book

Doris Wagner

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Beschreibung

Doris Wagner schildert erstmals ausführlich die unterschiedlichen Facetten des Phänomens manipulativer Seelenführung im Bereich der katholischen Kirche und verdeutlicht diese durch eine Vielzahl realer Fallbeispiele. Dabei thematisiert sie auch die tieferen Ursachen für diese Art des Missbrauchs. Ihr aufrüttelnder Weckruf macht deutlich, dass die katholische Kirche das Phänomen nicht länger ignorieren kann. Gerade auch im Zusammenhang mit der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs gilt es vielmehr, den Blick hierfür zu schärfen. Das Phänomen gefährlicher "Seelenführer" von Sekten oder aus evangelikalen Freikirchen ist bekannt. Dass ähnliche Praktiken auch in der katholischen Kirche vorkommen, ist entweder ein Tabu oder wird toleriert. Dieses Buch beschäftigt sich mit diesem Phänomen in der katholischen Kirche und will vor allem Betroffenen und Verantwortlichen helfen, es zu verstehen. Was genau fügt Menschen sogar in kirchlich anerkannten und teils angesehenen Gemeinschaften und Bewegungen solchen schweren Schaden zu? Und warum ist das in der Kirche überhaupt möglich? Doris Wagner nimmt die Perspektive der Betroffenen ein und versucht die spirituelle Dynamik zu begreifen, die hinter den Geschichten und dem Leid der Opfer steht. Sie bietet damit eine allgemeinverständliche Diskussionsgrundlage für die Auseinandersetzung mit spirituellem Missbrauch in der katholischen Kirche. Indem sie versucht, möglichst anschaulich zu beschreiben, was passiert, wenn Menschen in der Kirche geistlichen Missbrauch erleben, und indem sie konkrete Fälle darstellt, will sie Betroffenen und kirchlichen Verantwortlichen die Problematik bewusst machen. Ihr Anliegen ist es, Erfahrungen zu schildern, Probleme zu benennen, Fragen zu stellen und erste Vorschläge zu machen, wie geistlicher Missbrauch in der Kirche verstanden werden kann, damit das Sprechen darüber überhaupt möglich wird. Geistlicher Missbrauch wird in diesem Debattenbuch als die Verletzung spiritueller Autonomie gedeutet und spirituelle Autonomie als ein grundlegendes Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen. Doris Wagner macht einen Vorschlag, was man unter "Spiritualität" und "spiritueller Selbstbestimmung" verstehen könnte – und warum diese Selbstbestimmung so wichtig ist. Daraus wird verständlich, welche verheerenden Folgen die Beschneidung dieser Selbstbestimmung hat und welche Denkmuster und Traditionen sie in der katholischen Kirche ermöglicht und begünstigt. Gleichzeitig erfolgt die Annäherung an die Frage, wie man geistlichem Missbrauch vorbeugen kann und wie Opfer dieses Missbrauchs wieder zu voller spiritueller Autonomie zurückfinden können. Jochen Sautermeister, Professor für Moraltheologie und Direktor des Moraltheologischen Seminars an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn, bekräftig in seinem Nachwort: "Zur Förderung von spiritueller Selbstbestimmung und zur Verhinderung von geistlichem Missbrauch bedarf es neben theologischer und spiritueller Bildung einer Aufklärung über die Strategien und Dynamiken spirituellen Missbrauchs, wie sie von Doris Wagner sensibel und transparent beschrieben worden sind."

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Doris Wagner

Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung und -motiv: Finken und Bumiller, Stuttgart

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN Print 978-3-451-38426-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82426-5

ISBN E-Book 978-3-451-83426-4

Vorwort

Klaus Mertes SJ

1

„Geistlicher Missbrauch“ – oder auch „spiritueller Missbrauch“ (Doris Wagner) – basiert nach meinem Verständnis auf einer tiefer liegenden Verwechslung von geistlichen Personen mit der Stimme Gottes, wobei ich drei mögliche Varianten der Verwechslung sehe. Erstens: Die Person, die „die Übungen nimmt“ (die Seele), verwechselt die Person, die „die Übungen gibt“ (den Seelenführer/Begleiter), mit der Stimme Gottes.1 Zweitens: Der Seelenführer verwechselt sich selbst mit der Stimme Gottes. Drittens: Beide Personen unterliegen zugleich derselben Verwechslung.

Im ersten Fall ist es die Verantwortung des Seelenführers, die in der Verwechslung liegende Versuchung zu durchschauen und die Verwechslung klarzustellen, in Wort und eigenem Verhalten. Im zweiten Fall empfehle ich der Seele den Beziehungsabbruch, und zwar „sofort“, das heißt: ohne den Versuch, den Abbruch zu begründen oder die Verwechslung dialogisch zu klären. Ein solcher Versuch kann nämlich nicht gelingen, solange die Asymmetrie zwischen Seele und Seelenführung besteht. Schuldgefühle wegen des Beziehungsabbruchs sind als Versuchungen einzuschätzen.

Der dritte Fall ist am schwierigsten aufzulösen. Interventionen von außen sind nur bedingt zielführend, zumal die Verblendung im Innenbereich der geistlichen Beziehung gerade wegen ihres Doppelcharakters schwer zu durchschauen ist. Die Black-Box kann von außen nicht geöffnet werden, solange sich nicht zugleich von innen her Betroffene melden. Diesen Stimmen gibt Doris Wagner im vorliegenden Buch Raum. Die Geschichten sind auch die Grundlage für ihre systematischen Überlegungen, die sozusagen eine erste Schneise in den Urwald der Irrungen und Wirrungen schlagen, in denen geistlicher Missbrauch gedeiht.

2

Doris Wagner beschränkt sich in diesem Buch nicht auf die Zweier-Beziehung in einer geistlichen Begleitung. Schließlich ist es ja allein von der Sache her schon klar, dass Personen, die sich in geistlichen Begleitungs-Beziehungen begegnen, ihrerseits aus spirituellen Kontexten stammen und von ihnen geprägt sind. Das gilt gerade auch für Personen, die „die Übungen geben“. Sie kommen ihrerseits aus einer spirituellen Tradition, aus einer geistlichen Gemeinschaft, aus einem Orden, aus einem System mit Strukturen, Lebensordnungen und gemeinsamen Überzeugungen – und sind davon geprägt. Geistlicher Missbrauch führt deswegen immer auch zu Rückfragen an die Hintergründe, die den Missbrauch begünstigen, ermöglichen oder Systeme anfällig und attraktiv machen für Täter und Täterinnen. In der Aufarbeitung von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt in Institutionen ist der Blick auf die unauflösliche Verbindung von verantwortlichen Personen mit systemischen Zusammenhängen Standard – gerade auch im Hinblick auf Prävention. Was den geistlichen Missbrauch betrifft, so steht dieser Blick in der Kirche noch aus.

Wer sich mit geistlichem Missbrauch befasst, muss sich auf tiefes Erschrecken gefasst machen. Es kann lange dauern, bis der Groschen fällt und man dann auch jeden Satz, den Doris Wagner schreibt, voll und ganz unterschreiben kann. Der Chile-Besuch von Papst Franziskus im Frühjahr 2018 scheint mir das jüngste, „prominente“ Beispiel für einen solchen schmerzlichen Erkenntnisprozess zu sein: Erst als er wirklich hinhörte, begriff Papst Franziskus, dass er nicht richtig hingehört hatte – trotz aller scharfen Rhetorik gegen Täter und „zero tolerance“-Policy. Es ging im Falle des einflussreichen chilenischen Priesters Karadima eben nicht nur um einen einzelnen Sexualstraftäter, sondern um ein weit verzweigtes seelsorgliches Missbrauchssystem, das nicht einfach aufhörte zu existieren, als der Meister des Kreises aufgrund seiner Sexualstraftaten verurteilt worden war. Erst hier kam bei Papst Franziskus das tiefere Erschrecken an. Es war ein Erschrecken, wie er selbst formuliert, über ein „System von Seelsorge“, und auch ein Erschrecken über die eigene Blindheit.

Karadima ist nur ein Beispiel von vielen. Er war ein Sexualstraftäter. Aber er war mehr als das. Das ist auch der Autorin dieses Buches in der Reflexion auf die ihr zur Verfügung stehenden Erfahrungsberichte wichtig: Sexualisierte Gewalt in geistlichen Gemeinschaften ist nicht zu verstehen ohne den Kontext des geistlichen Missbrauchs. Mehr noch, die „spiritualisierte“ Gewalt ist die perfidere Gewalt. Das bedeutet im Umkehrschluss: Auch ohne sexualisierte Gewalt ist geistlicher Missbrauch in seinen Wirkungen für die Betroffenen vernichtende Gewalt. Bei allen Formen von „Missbrauch“ geht es um Machtmissbrauch – und im Falle des geistlichen Missbrauchs explizit um geistliche Macht, die höchste Form von Macht.

3

Die Auseinandersetzung mit geistlichem Missbrauch führt in theologisches Nachdenken. Es geht um die Frage nach Gott, um die „spirituellen Ressourcen“ im Unterschied zu „toxischer“ Spiritualität, wie Wagner formuliert. Um es in der Sprache der ignatianischen Exerzitien auszudrücken: Es geht um die „Unterscheidung der Geister“. Der „böse Feind der menschlichen Seele“ ist der geistliche Missbrauchstäter schlechthin. Nichts ist ihm heilig. Alles instrumentalisiert er, um sich die Seele zu unterwerfen.

Doris Wagner beschreibt den Prozess des Verlustes „spiritueller Autonomie“ mit dem Dreischritt von spiritueller Vernachlässigung, spiritueller Manipulation und spiritueller Gewalt. Damit bringt sie eine wichtige Erkenntnis auf den Punkt, den die spirituelle Tradition der Christenheit auch kennt: Der spirituelle Missbrauchstäter schreitet wie der „böse Feind“ prozesshaft voran. Er agiert nicht offen. Er tritt nicht vor die Seele nach dem Motto: „Guten Tag, ich bin der böse Feind der menschlichen Seele“; vielmehr sagt er: „Ich bin Gott“, oder: „Ich bringe dich zu Gott.“ Wir stoßen auf das Ur-Thema der Paradieses-Erzählung.4 Der „Anti-Gott“ ist bei aller Plumpheit seines Grundanliegens gerissen klug, wie eben die Schlange „klug“ ist (Gen 3,1). Weil er keine Scham kennt, kann er sich alles aneignen und alles verdrehen, was der Seele heilig ist, gerade auch die theologische Rede. Seiner plumpen binären Logik („Ich oder Gott“) sind komplexe Verwirrspiele vorgelagert. Die Tricks sind für ungeübte, insbesondere für spirituell vernachlässigte Personen nicht leicht zu durchschauen, gerade dann, wenn es um ihre Suche nach Gott geht: Sie sind offen für Ansprache der „Geister“, und damit verwundbar.

Doch woran erkenne ich die Gegenwart Gottes und seines Geistes? Und wie unterscheide ich diese von der Gegenwart dessen, der bloß vorgibt, Gott selbst oder ein Bote Gottes (2 Kor 11,14) zu sein? Genau um diese Frage geht es in der „Unterscheidung der Geister“, und auch in diesem Buch. Und das ist eben auch im Kern eine theologische Frage.

Die Auseinandersetzung mit geistlichem Missbrauch führt also zu der Einsicht, dass es in allen geistlichen Prozessen, die diesen Namen verdienen, tatsächlich und zuerst einmal um die Frage nach Gott geht und gehen muss, nicht um Glücksverheißungen aller Art – mit denen gerade die geistlichen Verführungskünstler gerne spielen –, also gerade nicht primär um „Gesundheit und Krankheit, Armut und Reichtum“ und andere (im Sinne von Ignatius) „indifferente“ Anliegen. Ein geistlicher Weg kann auch ein Heilungsweg werden, aber er wird nicht wegen der Heilung eingegangen, sondern wegen der Suche nach Gott. Es kann ja sein, dass ein Mensch Gott findet und dennoch krank und angefochten bleibt – wie etwa Paulus (vgl. 2 Kor 12,7ff.). Ignatius geht jedenfalls davon aus, dass die „inneren Bewegungen“ (motus, spiritus) in den Herzen/Seelen der Menschen von Gott kommen, oder wenn nicht von Gott, dann eben vom „bösen Feind der menschlichen Seele“. Er bewegt sich strikt in geistlicher Sprache. Ebenso tut es Doris Wagner, indem sie ihrer Analyse des Missbrauchs den Schlüsselbegriff der „Spiritualität“ zuordnet, und nicht dahinter gelagerte „eigentliche“ Erklärungskategorien.

4

Ich verstehe das Buch von Doris Wagner also auch als Plädoyer dafür, sich mit dem geistlichen Missbrauch theologisch auseinanderzusetzen. Die Autorin legt implizit eine Art „Prolegomena“ zu der noch ausstehenden theologischen Auseinandersetzung vor. Ich plädiere in diesem Zusammenhang für eine „geistliche“ Theologie, das heißt für eine Theologie, die persönliche Erfahrungen als „theologischen Ort“ (locus theologicus) für den eigenen geistlichen Weg begreift und reflektiert – nicht getrennt von Schrift und Tradition, aber eben auch nicht auf diese reduziert. Für eine solche Theologie scheint mir der klassische Weg der Verneinung (via negationis) angemessen zu sein: Von Gott reden beginnt damit, von dem zu reden, was er nicht ist. Dem entspricht in der „Unterscheidung der Geister“ die Fähigkeit, Versuchungen zu durchschauen und sie zurückzuweisen – „toxische“ Systeme von Spiritualität, wie Doris Wagner formuliert. Es gibt keine Erkenntnis Gottes im eigenen Leben ohne ständiges Ringen um diese Abgrenzung, gerade deswegen, weil alle Rede von Gott immer wieder instrumentalisiert werden kann.

Ein Mann, der sich mit Hilfe der Begleitung einer klugen Ordensfrau aus den Fängen eines innerkirchlichen Missbrauchssystems löste, berichtete mir einmal, dass seine Begleiterin ihn gelegentlich erstaunt gefragt habe: „Und das haben Sie alles geglaubt?“ Das Missbrauchssystem enthielt das ganze Programm, sowohl in seiner verlockenden Seite (Sicherheitsgefühl, Nähe zu einer charismatischen Führungspersönlichkeit, Zugehörigkeit zu einer Elite, hohe Wertschätzung durch die kirchliche Hierarchie, intensive Liturgie) als auch in seiner dunklen Seite (Bruch mit der Familie, Kontrolle der Kontakte nach außen, Kritik- und Sprechverbote, radikaler Welt-Kirche-Dualismus, Schulddruck, Vermischung von Forum Internum und Forum Externum, Instrumentalisierung der Beichte), und schließlich auch mit den typischen Phänomenen während der Ablösungsphase: Verratsvorwurf, Mobbing, Kontaktabbruch und nachgeworfene Verleumdungen.

Es ist von außen manchmal schwer zu begreifen, wie geistliche Ideologiebildung funktioniert. Da wird einerseits viel Gelehrtes und Richtiges aufgefahren. Der innere Kulminationspunkt aber, auf den alles hinausläuft, ist die Forderung nach dem Unterwerfungsakt unter die Autorität, der „spirituelle Gewaltakt“ (Doris Wagner). Oft fragen sich Betroffene nachträglich, wie es zum Beispiel möglich war, dass sie willentlich und wissentlich logen und verleumdeten, und dass sie diese Lügen zugleich für fromme Taten hielten. Papst Franziskus verweist übrigens in seinem jüngsten Schreiben Gaudete et exultate auf vergleichbare Phänomene in Bezug auf katholische Blasenbildungen im Internet.5 Die Schamfreiheit im Umgang mit der Wahrheit im Namen angeblicher „Wahrheit“ ist ein klares Kennzeichen für den Geist, der in autoritären Gruppen und Blasen waltet. Sie sind auch toxisch.

Spiritueller Missbrauch macht auch nicht Halt vor der Instrumentalisierung des kirchlichen Lehramtes. Doris Wagner weist auf Ambivalenzen im Kirchenrecht und in anderen offiziellen Lehräußerungen hin. Indem sich spirituelle Missbrauchstäter besonders lehramtstreu geben, täuschen sie die kirchliche Öffentlichkeit. Sie haben auch kein Problem zu behaupten, sie seien lehramtstreuer als die Hierarchie, wenn Vertreter des Lehramtes sich von ihnen abgrenzen. Noch schwieriger wird es, wenn verführte Verführer selbst Positionen in der kirchlichen Hierarchie besetzen. Es bedarf deswegen für die Auseinandersetzung mit dem geistlichen Missbrauch auch einer Selbstreflexion des Lehramtes, wie es sich gegen diese Instrumentalisierung zu wappnen gedenkt. Das Lehramt ist ja gerade dazu da, um das Evangelium vor Missbrauch zu schützen. Darauf verweist übrigens auch Doris Wagner. Die kirchliche Autorität hat jedenfalls die Aufgabe zu schützen. Wenn sie aber sich selbst nicht schützen kann, dann kann sie auch andere nicht schützen.

Klaus Mertes, geb. 1954, ist Jesuit und Direktor des Kollegs St. Blasien. Von 2000 bis 2011 war er Rektor des katholischen Gymnasiums Canisiuskolleg in Berlin. Nachdem mehrere Altschüler sich ihm vertraulich als Missbrauchsopfer offenbart hatten, wandte er sich Anfang 2010 mit einem Brief an die Angehörigen der betroffenen Jahrgänge und löste damit eine Welle von Aufdeckungen sexuellen und physischen Missbrauchs junger Menschen in kirchlichen Bildungseinrichtungen in Deutschland aus. Mertes ist Autor mehrerer Bücher sowie Redakteur der jesuitischen Monatszeitschrift „Stimmen der Zeit“.

Inhalt

Vorwort(Klaus Mertes SJ)

Vorbemerkungen

1.Was ist Spiritualität?

1.1 Einige Missverständnisse

1.1.1 Spiritualität und Esoterik sind nicht dasselbe

1.1.2 Es gibt keine einheitliche katholische Spiritualität

1.1.3 Spiritualität ist weder unbedingt religiös noch irrational

1.2 Spiritualität ist Sinnstiftung

1.2.1 Spiritualität als das Bedürfnis nach Sinn

1.2.2 Spiritualität als die Fähigkeit, Dingen Bedeutung zu geben

1.2.3 Spiritualität als Lebensbewältigungstechnik

1.3 Spirituelle Selbstbestimmung

1.3.1 Spirituelle Ressourcen

1.3.2 Was es bedeutet, spirituell selbstbestimmt und handlungsfähig zu sein

1.3.3 Geistliche Begleitung

2.Warum spirituelle Selbstbestimmung geboten ist und wo sie ihre Grenzen hat

2.1 Spirituelle Selbstbestimmung aus ethischer Perspektive

2.2 Spirituelle Selbstbestimmung ist theologisch geboten

2.3 Gibt es theologische Grenzen spiritueller Selbstbestimmung?

3.Spirituelle Not oder: Was es heißt, spirituell nicht handlungsfähig zu sein

3.1 Belastende und verstörende Erfahrungen

3.2 Spirituelle Sackgassen

3.3 Giftige spirituelle Ressourcen

3.4 Toxische Spiritualität

4.Drei Formen von geistlichem Missbrauch

4.1 Spirituelle Vernachlässigung

4.1.1 Spirituelle Vernachlässigung von Kindern durch Eltern

4.1.2 Spirituelle Vernachlässigung durch hauptamtliche Seelsorger/innen

4.1.3 Spirituelle Vernachlässigung in neuen geistlichen Gemeinschaften

4.1.4 Spirituelle Vernachlässigung von Opfern geistlichen Missbrauchs

4.1.5 Die Folgen spiritueller Vernachlässigung

4.2 Spirituelle Manipulation

4.2.1 Manipulation durch Charisma, Wissen und Macht

4.2.2 Manipulation durch Inszenierungen

4.2.3 Manipulation durch Ideale

4.2.4 Manipulation durch Abwertung

4.2.5 Manipulation durch Gebete

4.2.6 Manipulation durch Abhängigkeit

4.2.7 Die Folgen spiritueller Manipulation

4.3 Spirituelle Gewalt

4.3.1 Erzwungener Verzicht

4.3.2 Gewaltsame Trennungen und erzwungene Isolation

4.3.3 Gewaltsame Ausbeutung von Arbeitskraft

4.3.4 Gewaltsame ärztliche und geistliche „Behandlungen“

4.3.5 Die Folgen spiritueller Gewalt

4.4 Spiritueller Missbrauch als Voraussetzung von anderen Formen von Ausbeutung

5.Wie die Kirche zur spirituellen Selbstbestimmung steht

5.1 Zwei inkompatible Traditionen

5.2 Wie das Kirchenrecht spirituelle Selbstbestimmung schützt

5.3 Wie das Kirchenrecht spirituelle Selbstbestimmung einschränkt

6.Spirituellem Missbrauch vorbeugen

6.1 Für alle potentiell Betroffenen

6.2 Für Begleiter und Begleiterinnen

6.3 Für leitende Verantwortliche in Instituten und Diözesen

7.Nach dem Missbrauch spirituelle Freiheit zurückgewinnen und dabei helfen

7.1 Für Betroffene

7.2 Für Begleiter und Begleiterinnen

7.3 Für leitende Verantwortliche in Instituten und Diözesen

Schlussbemerkung

Nachwort(Jochen Sautermeister)

Anmerkungen

Über die Autorin

Gratia supponit naturam, non destruit, sed perficit eam.

Die Gnade setzt die Natur voraus.

Sie zerstört sie nicht, sondern vollendet sie.

(Thomas von Aquin, S. th. I, q. 2, a. 2 ad 1)

Vorbemerkungen

Ein junger Mann ist völlig am Ende. Vor sechs Jahren ist er in eine geistliche Gemeinschaft eingetreten. Er sagt, er habe viele schöne Momente in dieser Gemeinschaft erlebt. Dennoch liegt der junge Bruder schließlich morgens oft mit Tränen in den Augen im Bett und wünscht sich, er wäre in der Nacht gestorben. Als er schließlich den Weg aus der Gemeinschaft findet und zu seinen Eltern zurückkehrt, müssen diese ihn mit einem Rollstuhl vom Flughafen abholen. Er ist nicht nur psychisch, sondern auch physisch vollkommen am Ende.

Eine Mutter erzählt von ihrer mittlerweile fast fünfzigjährigen Tochter. Sie war als Achtzehnjährige in eine geistliche Gemeinschaft eingetreten. Vor ihrem Eintritt war sie eine intelligente lebenslustige junge Frau. Als sie wenige Jahre später austrat, war sie bis auf die Knochen abgemagert und psychisch gebrochen. Das ist nun mehr als zwanzig Jahre her – und bis heute hat sich ihre Tochter nicht davon erholt. Immerhin, mittlerweile kann sie wieder Auto fahren und die Mutter hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie ihre Tochter einmal wieder glücklich sieht.

Eine andere Mutter berichtet, wie ihre Tochter auf einer Reise eine neue geistliche Gemeinschaft kennenlernte und daraufhin gar nicht mehr nach Hause zurückkam, sondern gleich in die Gemeinschaft eintrat. Sie ging ihre Tochter besuchen und erlebte so mit, wie sie innerhalb weniger Jahre kontinuierlich depressiver wurde. Bei jedem Besuch – jedes Mal in einem anderen Kloster, immer wieder in einem anderen Land – sieht sie ihr Kind unglücklicher, macht die „Mitschwestern“ darauf aufmerksam, bittet mit Nachdruck um gesundheitliche Fürsorge, bis eines Tages zwei fremde „Schwestern“ vor ihrer Tür stehen, um ihr mitzuteilen, dass ihr Kind sich das Leben genommen hat.1

Das sind nur drei Beispiele für ein Problem, mit dem sich die katholische Kirche gegenwärtig konfrontiert sieht. Es ließen sich viele mehr anführen.2 Das Phänomen lässt sich wie folgt beschreiben: Junge Menschen, die in die Nähe bestimmter katholischer Gemeinschaften und Bewegungen kommen und sich von diesen begeistern lassen, verändern sich auf eine beängstigende Art und Weise und verlieren den Kontakt nicht nur zu ihrer Familie und ihren Freunden, sondern auch zu sich selbst. Haben sie ihre Selbstbestimmung erst einmal aufgegeben, ist es für sie beinahe unmöglich geworden, Reißleinen zu ziehen. Alles, was die Autorität ihrer Seelenführer in Frage stellt, scheint ihnen eine Gefahr oder Versuchung zu sein. Sie bleiben ihnen treu, was auch immer sie fordern, auch wenn sie selbst dabei zugrunde gehen.

Wir kennen dieses Phänomen gefährlicher „Seelenführer“ von Sekten oder vielleicht aus evangelikalen Freikirchen. Dass ähnliche Praktiken auch im Schoß der katholischen Kirche üblich sind, ist – je nach Standpunkt – entweder ein Tabu oder ein viel zu lange toleriertes Übel. Dieses Buch möchte sich mit diesem Phänomen in der katholischen Kirche befassen, und dabei vor allem Betroffenen und Verantwortlichen helfen, es zu verstehen. Was genau fügt Menschen sogar in kirchlich anerkannten und teils angesehenen Gemeinschaften und Bewegungen solchen schweren Schaden zu? Und warum ist das in der Kirche überhaupt möglich?

Man kann in diesem Zusammenhang auf Autorinnen und Autoren verweisen, die eben dieses Phänomen teils schon vor Jahrzehnten beschrieben und vor ihm gewarnt haben.3 Man könnte darüber sprechen, wie es neokonservativen Gruppen in den vergangenen Jahrzehnten gelungen ist, überwunden geglaubte Denkweisen im charismatischen Gewand von neuem zu etablieren. Dieses Buch will das Phänomen aber nicht in erster Linie in seiner politischen oder abstrakt-theologischen Tragweite in den Blick nehmen, sondern es möchte sich in die Perspektive der Betroffenen begeben und von dort aus versuchen die spirituelle Dynamik zu begreifen, die hinter den Geschichten und dem Leid der betroffenen Menschen steht.

Das Ziel dieses Buches ist es, eine allgemeinverständliche Diskussionsgrundlage für die Auseinandersetzung mit spirituellem Missbrauch in der katholischen Kirche zu schaffen. Indem ich versuche, möglichst anschaulich zu beschreiben, was genau passiert, wenn Menschen in der katholischen Kirche geistlichen Missbrauch erleben, und indem ich insbesondere konkrete Fälle geistlichen Missbrauchs anhand realer Beispiele anschaulich mache, hoffe ich, Betroffenen ebenso wie kirchlichen Verantwortlichen die Problematik auf eingängige Weise bewusst zu machen, ohne bereits vielfach Gesagtes zu wiederholen und vor allem ohne unmittelbar auf ein politisches Minenfeld zu geraten oder vertiefte Fachkenntnisse verschiedener Art voraussetzen zu müssen. Ich möchte vor allem den Betroffenen selbst helfen zu verstehen, was ihnen geschehen ist. Daher handelt dieses Buch schlicht von geistlichem Missbrauch4 und nicht von „katholischem Fundamentalismus“ oder „Autoritarismus“ und vermeidet wo immer möglich intellektuell anspruchsvolle und allzu philosophische Wendungen oder Fachbegriffe wie „instruktionstheoretisches Offenbarungsmodell“ oder „Jurisdiktionsprimat“, die in einem anders gearteten Text über dasselbe Phänomen zweifellos am Platze wären. Fachlich einschlägig Versierte oder Interessierte finden in den Hinweisen auf weiterführende Literatur am Ende jedes Kapitels neben Verweisen auf allgemeinverständliche Bücher oder Filme mitunter auch Titel, die speziell für sie genannt sind.

Kurz: Ich möchte keine fertig ausgearbeitete Theorie vorstellen, denn eine solche habe ich nicht. Ich möchte vielmehr in möglichst allgemeinverständlichen Worten Erfahrungen schildern, Probleme benennen, Fragen stellen und erste Vorschläge machen, wie geistlicher Missbrauch in der Kirche verstanden werden kann, damit wir überhaupt darüber reden können. Denn solange wir nicht darüber reden, können wir auch nichts unternehmen. Dass es bitter notwendig ist, etwas zu unternehmen, wird jedem klar werden, der sich die Folgen geistlichen Missbrauchs vor Augen führt. Daher stehen am Ende auch einige wenige und zweifellos unfertige Vorschläge, wie ungefähr ein angemessener Umgang mit geistlichem Missbrauch in der Kirche aussehen könnte. Ich hoffe, dass der aufmerksame Leser und die aufmerksame Leserin diese Vorschläge aufgreifen, diskutieren und weiterentwickeln, sobald sie sich mit dem Thema befassen.

Ich folge in diesem Buch einem einfachen Gedankengang. Ich glaube, dass geistlicher Missbrauch die Verletzung spiritueller Autonomie ist und dass spirituelle Autonomie ein grundlegendes Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen darstellt. Diese Vorstellung ist zwar nicht unbedingt neu, aber der Begriff spirituelle Autonomie oder spirituelle Selbstbestimmung ist doch noch relativ ungebräuchlich. „Spiritualität“ ist überhaupt ein missverständlicher Begriff. Daher möchte ich eingangs einen Vorschlag dazu machen, was man unter „Spiritualität“ und „spiritueller Selbstbestimmung“ verstehen könnte – und warum diese Selbstbestimmung so wichtig ist. Erst im Anschluss daran wird auch in voller Tragweite deutlich werden, welche verheerenden Folgen die Beschneidung dieser Selbstbestimmung hat und durch welche Denkmuster und Traditionen sie in der katholischen Kirche ermöglicht und begünstigt wird. So gelingt aber auch eine Annäherung an die Frage, wie man geistlichem Missbrauch vorbeugen kann und wie Opfer dieses Missbrauchs wieder zu voller spiritueller Autonomie zurückfinden können.

Wenn meine Überlegungen anderen Menschen helfen, das Problem in den Blick zu bekommen und es zu begreifen, wenn es manche dazu anregen kann, eigene Vorschläge zum Thema zu machen, und wenn es in irgendeiner Weise dazu beitragen kann, geistlichen Missbrauch in der katholischen Kirche als Problem anzuerkennen und ihn einzudämmen, dann hat dieses Büchlein sein Ziel erreicht.

1. Was ist Spiritualität?

Bevor wir die Frage stellen können, was spiritueller Missbrauch ist, müssen wir erst einmal die Frage stellen: Was ist eigentlich Spiritualität? Solange wir keinen klaren Begriff von Spiritualität haben, können wir uns auch nicht mit dem Problem spirituellen Missbrauchs auseinandersetzen. Das gilt nicht zuletzt deswegen, weil es über Spiritualität viele Missverständnisse gibt.

1.1 Einige Missverständnisse

1.1.1 Spiritualität und Esoterik sind nicht dasselbe

Wer vor dem mit „Spiritualität“ überschriebenen Regal eines Buchladens steht oder sich im Internet auf die Suche nach „Spiritualität“ macht, der findet dort nicht nur Achtsamkeitsliteratur, Yoga-Freunde und Naturliebhaberinnen, besondere Techniken des Meditierens, Singens, Schweigens oder Wanderns, sondern er begegnet auch Geistheilern, Menschen, die erklären, sie könnten „Chakren öffnen“, mit „Engeln“ oder Verstorbenen reden, außerkörperliche Erfahrungen machen, verschüttete Erinnerungen oder gar Erinnerungen an frühere Leben wecken, Kontakt zum „Inneren Selbst“ herstellen oder gar die Zukunft vorhersagen, kurz: Er begegnet der esoterischen Szene. Dort werden „spirituell“ und „esoterisch“ bisweilen geradezu als Synonyme verwendet. Das ist insofern irreführend, als „spirituell“ und „esoterisch“ tatsächlich verschiedene Bedeutungen haben.

Der Begriff „Esoterik“ hat von seinem Ursprung her zunächst einmal nicht unbedingt etwas mit dem zu tun, was wir heute als „Esoterik“ bezeichnen: Das aus dem Griechischen stammende Wort „esoterisch“ bezeichnet ein bestimmtes Wissen, das nur in einem bestimmten Kreis von Menschen bekannt sein kann oder darf. Der griechische Gegenbegriff dazu ist „exoterisch“: Er bezeichnet das Wissen, das außerhalb dieses Kreises existiert und deshalb jedem offensteht. Das heißt, Esoterik setzt „einen inneren und einen äußeren Kreis von Menschen voraus; was den einen (wichtige) Erkenntnis, Wissen und Erfahrung bedeutet, bleibt den anderen verschlossen.“5

Im Laufe der Geschichte haben unterschiedlichste Geheimbünde und Mysterienkulte diese Unterscheidung zwischen Eingeweihten und Nichteingeweihten gepflegt, angefangen von schriftlosen Kulturen in Nordamerika und Afrika, über antike ägyptische, griechische und römische Kulte bis hin zu spiritistischen Zirkeln im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Einweihungsrituale, geheimes Wissen und die Unterscheidung zwischen eingeweihten Wissenden und außenstehenden Nichtwissenden kommen und kamen in allen Arten von Religionen und Kulturen vor. Auch im frühen Christentum wurden Nichtgetaufte als Nichteingeweihte betrachtet, die nicht zu allen Teilen des christlichen Gottesdienstes zugelassen waren, weil sie das Katechumenat noch nicht durchlaufen hatten und somit nicht in die „Glaubensgeheimnisse“ eingeweiht waren.

Wenn wir heute das Wort „esoterisch“ hören, denken wir eher an New Age oder bestimmte Jugendsekten und nicht mehr an die eben dargelegte Unterscheidung von Eingeweihten und Nichteingeweihten im engen Sinn. Auch in Sekten und in der Gefolgschaft gewisser Gurus gibt es natürlich ein „Wissen“, das nur bestimmten Menschen offensteht. Allerdings hängt der Zugang zum ultimativen Geheimnis in diesen modernen esoterischen Kreisen wohl weniger von der gelehrigen Hingabe der Jünger ab als von ihrer Zahlungswilligkeit. – Worauf es an dieser Stelle ankommt, ist aber, dass Esoterik weder im alten Sinn noch im neuen Sinn des Wortes viel mit Spiritualität zu tun hat. Allenfalls kann sie als ein Missbrauch von Spiritualität verstanden werden. Denn Spiritualität ist etwas ganz anderes als eine Geheimlehre oder eine käufliche Dienstleistung. Sie ist ein urmenschliches Bedürfnis, eine bemerkenswerte menschliche Fähigkeit und nicht zuletzt eine Bewältigungstechnik. Dazu gleich noch mehr. Hier möchte ich nur kurz die drei wichtigsten Unterschiede zwischen Esoterik und Spiritualität benennen:

Während nur

wenige Menschen

esoterisches Wissen besitzen oder esoterischen Zirkeln angehören, hat

jeder Mensch

seine eigene Spiritualität.

Während esoterisches Wissen von einigen wenigen Meistern oder Gurus kontrolliert wird und von den Anhängern des Meisters

nicht hinterfragt werden darf

, besitzt jeder Mensch seine eigene Spiritualität, über die er

frei verfügen kann

, indem er sie selbst entwickelt und entsprechend seinen Lebenssituationen und Bedürfnissen gestaltet.

Während esoterisches Wissen

geheim und oft schwer verständlich

ist, steht spirituelles Wissen grundsätzlich jedem offen, ist in der Regel

intuitiv leicht verständlich

und kann einer rationalen Durchdringung standhalten.

Um einen Bogen zum Kernthema dieses Buches zu schlagen, könnte man an dieser Stelle schon festhalten, dass esoterische Praktiken – die es auch in bestimmten katholischen Gruppen gibt – in der Regel manipulativen Charakter haben, die spirituelle Selbstbestimmung untergraben und daher ein Mittel des spirituellen Missbrauchs sind. Dazu später noch mehr.

1.1.2 Es gibt keine einheitliche katholische Spiritualität

Es gibt ein weiteres Missverständnis, das es auszuräumen gilt: Manchmal wird angenommen, Spiritualität wäre eine Art religiöse Überzeugung oder sie ergäbe sich direkt aus einer bestimmten Überzeugung. Wäre dem so, müssten alle Angehörigen einer bestimmten Religionsgemeinschaft dieselbe Spiritualität haben, sofern sie nur dasselbe glauben. Das trifft offensichtlich nicht zu.

Wenn man sich die Vielfalt spiritueller Konzepte und Praktiken ansieht, die innerhalb ein und derselben Religionsgemeinschaft gepflegt werden, wird sofort klar, dass das nicht der Fall ist. Katholiken beispielsweise kennen benediktinische, franziskanische, ignatianische, karmelitische, salesianische und befreiungstheologische Spiritualität, sie kennen auch neopentekostale, ökologische oder sogar erotische6 Spiritualität. Es gibt spirituelle Angebote, die sich an bestimmte Personengruppen richten: Männer, Frauen, Mütter, Senioren, Kranke, Gefangene, Geflüchtete, Kinder, Eheleute, Verwitwete, Homosexuelle, Angehörige bestimmter Sprachgruppen oder ethnischer Minderheiten und so weiter und so fort. Kurz: Was jemand glaubt und welche Spiritualität er persönlich pflegt, sind zwei verschiedene Dinge.

Aber auch wenn Spiritualität keine Überzeugung ist, hängt sie dennoch eng mit den Überzeugungen eines Menschen zusammen. Das heißt, ein Mensch mit einer katholischen Überzeugung wird in aller Regel auch eine katholische Spiritualität besitzen. Dennoch kann sich die Spiritualität eines Katholiken stark von der eines anderen Katholiken unterscheiden. Das liegt unter anderem daran, dass katholische Spiritualität eine große Bandbreite an Ressourcen und Ritualen kennt. Alleine die biblischen Quellen, die im Hintergrund des jeweiligen Gottesbildes eines Katholiken stehen können, könnten kaum vielfältiger sein: vom Bild des Gottes, der von Abraham das Opfer seines einzigen Sohnes verlangt, über den Gott der Propheten, der Barmherzigkeit statt Opfer verlangt, den Gott, der sich auf eine Wette mit dem Satan einlässt, um Hiob auf die Probe zu stellen, dem guten Hirten, der das verletzte Schaf nach Hause trägt, dem windeltragenden Baby in der Krippe bis hin zum allwissenden Weltenrichter. Die Symbole reichen vom Engel mit dem flammenden Schwert, der den Menschen die Rückkehr ins Paradies verwehrt, über den Regenbogen, das Bundeszeichen der Treue Gottes, das Taufwasser, in dem wir von Schuld reingewaschen und zu Kindern Gottes werden, das geopferte Lamm, das unsere Sünden auf sich genommen hat, Brot und Wein, mit denen wir Christus in uns aufnehmen und von ihm genährt werden, das Kreuzzeichen, mit dem wir unseren Glauben an den dreifaltigen Gott bekennen, bis hin zum Fisch, dem Erkennungszeichen der ersten Christen. Die Rituale reichen vom meditativen Gebet im stillen Kämmerlein oder dem stillen Kerzenanzünden vor Heiligenfiguren in einer Kapelle am Wegesrand, über das mehr oder weniger feierliche gemeinsame Stundengebet, das Bibelgespräch, das gemeinsame Nachsinnen im Stuhlkreis, die Prozession, die Fahrzeugsegnung, das Brechen von Barbarazweigen, das Weihnachtsessen im Familienkreis, das Bekreuzigen mit Weihwasser beim Betreten einer Kirche, die Kniebeuge, das Zungengebet, die Litanei, den liturgischen Tanz, bis hin zum Fasten oder zur feierlichen Erneuerung der Taufgelübde in der Sonntagsmesse. Diese Vielfalt der in der katholischen Kirche gepflegten spirituellen Ressourcen kommt auch dadurch zustande, dass ständig neue Elemente in den Schatz des Katholischen aufgenommen werden: Bilder, Begriffe und Praktiken aus dem Schatz verschiedener europäischer, südamerikanischer oder afrikanischer Volksstämme, aus der Musiktherapie oder dem Sport, aus der historisch-kritischen Textexegese oder der Psychoanalyse oder aus der spirituellen Tradition anderer Religionsgemeinschaften. So gehören beispielsweise asiatische Meditationstechniken, jüdische Erzählungen oder die 99 Namen Allahs zu den spirituellen Ressourcen vieler katholischer Christen selbstverständlich dazu.

Die Spiritualität eines Menschen verhält sich zu seiner religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung vielleicht ungefähr so wie seine Talente zu seinem Beruf. So wie Menschen, die alle denselben Beruf ausüben, zwar einiges gemeinsam haben mögen, aber dennoch ganz verschiedene Persönlichkeiten und Talente besitzen, so haben Menschen mit denselben Überzeugungen nicht unbedingt dieselbe Spiritualität. Denn die Spiritualität eines Menschen hängt auch mit seinem Brauchtum und seiner Herkunft, seinem Alter, seiner Bildung, seiner Gefühlswelt, seinem Charakter und seiner Lebenssituation zusammen. Auch wenn alle sich als katholisch bezeichnen mögen und durch die Taufe derselben weltweiten Glaubensgemeinschaft angehören, hat eine philippinische Geschäftsfrau sicher eine andere Spiritualität als ein russischer Bauer und ein texanischer Priester eine andere als eine nigerianische Polizistin. Ein Mensch, der um einen anderen trauert, verwendet andere spirituelle Rituale als ein Mensch, der die Hochzeit seines Sohnes feiert, ein alter Mensch hat andere spirituelle Bedürfnisse und Ausdrucksmöglichkeiten als ein junger, ein reicher Mensch womöglich andere als ein armer und ein skrupulöser andere als ein unbefangener.

1.1.3 Spiritualität ist weder unbedingt religiös noch irrational

Besonders wichtig ist es mir, ein weiteres Missverständnis anzusprechen: Gar nicht selten wird angenommen, dass Menschen, die keine religiösen Überzeugungen haben, auch keine Spiritualität besäßen. Und sogar unter religiösen Menschen wird bisweilen angenommen, dass Spiritualität nur etwas für besonders Religiöse wäre, während etwas weniger religiöse Menschen – also solche, die nur ab und zu mal in die Kirche gehen oder beten – weniger „spirituell“ wären. Und für manche ist Spiritualität gar ein Bereich, den sie absichtlich dem kognitiven Verstehen entziehen – wie ein Rückzugsraum für die Seele jenseits der Zumutungen der „kalten“ Realität. Dabei kann Spiritualität nicht nur rational völlig transparent sein, sondern sie muss es sogar, denn wir müssen unsere spirituellen Akte ebenso verantworten wie alle unsere übrigen Handlungen. Das ist auch deswegen wichtig, weil Spiritualität keine Option für besonders Religiöse ist, sondern eine Dimension unserer menschlichen Existenz, ähnlich wie Sprache, Intellekt und Emotionalität. Kurz: Nicht nur Menschen mit besonders starken religiösen Überzeugungen sind spirituelle Wesen, sondern wir alle haben eine eigene Spiritualität, gleich wie sie aussieht und aus welchen Quellen sie sich speist, ob sie religiös konnotiert ist oder nicht. Das heißt auch: Jeder und jede darf und muss dafür Sorge tragen, dass die eigene Spiritualität möglichst gesund ist und dass sie nicht als Vorwand dient, anderen Menschen Schaden zuzufügen.

Sich nach einem langen Arbeitstag alleine auf die Terrasse zu stellen, einige Minuten schweigend in den Sonnenuntergang zu blicken und den Tag Revue passieren zu lassen, kann genauso eine spirituelle Handlung sein, wie nach einem Terroranschlag gemeinsam mit hunderten anderer Menschen Blumen am Anschlagsort niederzulegen und „This is your land, this is my land“ zu singen, einem bedürftigen Nachbarn ohne viel Aufhebens die Schulausstattung seiner Kinder finanzieren zu helfen, am Hochzeitstag gemeinsam mit dem Partner das alte Album aus dem Schrank zu holen und beim