Schule und Kindesschutz - Andrea Hauri - E-Book

Schule und Kindesschutz E-Book

Andrea Hauri

0,0
59,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kinder und Jugendliche verbringen täglich mehrere Stunden in der Schule. Durch diesen regelmässigen und persönlichen Kontakt können Anzeichen auf Kindeswohlgefährdungen hier oft früh wahrgenommen werden. Doch welche Verantwortung trägt die Schule beim Hinweis, dass eine Schülerin oder ein Schüler gefährdet ist? Wie wird das Kindeswohl eingeschätzt? Wie sieht ein kindgerechtes Vorgehen aus, und wie werden die Eltern in einen möglichen Hilfeprozess einbezogen? Das Handbuch richtet sich an alle Akteurinnen und Akteure der Schule, der Tagesschule sowie der schulnahen Dienste: Schulleitungen, Lehr- und Speziallehrkräfte, Mitarbeitende von Tagesschulen, Schulsozialarbeitende, Schulbehörden und Mitarbeitende der Gemeinde. Es zeigt auf, wie eine Rollenteilung sinnvoll gestaltet werden kann, gibt einen Überblick über die psychosozialen und rechtlichen Grundlagen des Kindesschutzes, stellt praxisnahe Instrumente vor und gibt Tipps für den Schulalltag bei Kindesschutzfragen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 469

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



1. Auflage 2022

ISBN 978-3-258-08265-3 (Print)

ISBN 978-3-258-48265-1 (E-Book)

Umschlaggestaltung: Tanja Frey, Haupt Verlag

Layout Inhalt: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH Göttingen

Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © 2022 Haupt Bern

Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig.

Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliografie verzeichnet.

Mehr Informationen dazu finden Sie unter http://dnb.dnb.de.

Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Wir verlegen mit Freude und grossem Engagement unsere Bücher. Daher freuen wir uns immer über Anregungen zum Programm und schätzen Hinweise auf Fehler im Buch, sollten uns welche unterlaufen sein.

www.haupt.ch

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1Fachliche Grundlagen

1.1Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung, Kindesschutz

Andrea Hauri & Regina Jenzer

1.1.1Kindeswohl und Kindeswohlgefährdungen

1.1.2Gefährdungsformen

1.1.3Gefährdungen des Kindeswohls, die nur indirekt im elterlichen Einflussbereich liegen

1.1.4Folgen von Kindeswohlgefährdungen

1.2Praxishilfen zur Einschätzung des Kindeswohls und zum angemessenen Handeln durch die Schule

Andrea Hauri & Regina Jenzer

1.2.1Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung erfassen

1.2.2Schutzfaktoren identifizieren

1.2.3Risikofaktoren identifizieren

1.2.4Einschätzung des Kindeswohls vornehmen

1.2.5Entscheidungsbaum für die Planung des weiteren Vorgehens durch die Schule und die Schulsozialarbeit

1.2.6Notfallinterventionen bei sofortigem Handlungsbedarf

1.2.7Zusammenfassung und Fazit

1.3System des Kindesschutzes

Marco Zingaro

1.3.1Grundsätzliche Hinweise

1.3.2Einvernehmlicher Kindesschutz

1.3.3Behördlicher zivilrechtlicher Kindesschutz

1.3.4Strafrechtlicher Kindesschutz

1.3.5Zusammenarbeit in der Jugendhilfe

1.4Elterliche Sorge

Marco Zingaro

1.4.1Grundsätzliche Hinweise und Leitideen

1.4.2Pflege und Erziehung

1.4.3Aufenthaltsbestimmungsrecht

1.4.4Gesetzliche Vertretung

1.4.4.1Gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall
1.4.4.2Informations- und Auskunftsrechte von Eltern ohne elterliche Sorge
1.4.4.3Stiefeltern und Pflegeeltern

1.4.5Verwaltung des Kindesvermögens

1.5Rechtliche Stellung Minderjähriger

Marco Zingaro

1.5.1Grundsätzliche Hinweise

1.5.2Urteilsfähige Minderjährige

1.5.2.1Erläuterungen zu den genannten Fallkategorien
1.5.2.2Unerlaubte Handlungen

1.5.3Minderjährige unter Vormundschaft

1.6Kindeswohl im Schulrecht

Marco Zingaro

1.6.1Vorbemerkung

1.6.2Vorgaben und Leitideen der Bundesverfassung (BV)

1.6.3Blick in die kantonale Schulgesetzgebung

1.7Datenschutz in der Schule hinsichtlich Kindesschutz

Claudio Domenig

1.7.1Warum Datenschutz?

1.7.2Das Spannungsverhältnis zwischen Datenschutz und Kindesschutz

1.7.2.1Datenschutz: Persönlichkeitsschutz und Vertrauensschutz
1.7.2.2Kindesschutz: Zusammenarbeit und Informationsaustausch
1.7.2.3Umgang mit dem Spannungsverhältnis

1.7.3Datenschutz und Datenbekanntgabe: Der rechtliche Rahmen

1.7.3.1Datenschutz: Rechtsgrundlagen und Prinzipien
1.7.3.2Amtsgeheimnis und Berufsgeheimnis
1.7.3.3Einwilligung der Betroffenen

1.7.4Umsetzung in den verschiedenen Bereichen des Kindesschutzes

1.7.4.1Freiwilliger Kindesschutz
1.7.4.2Zivilrechtlicher Kindesschutz
1.7.4.3Strafrechtlicher Kindesschutz

1.7.5Fazit

1.8Melderechte und Meldepflichten

Marco Zingaro

1.8.1Grundsätzliche Hinweise

1.8.2Melderecht

1.8.3Meldepflicht

1.9Zivilrechtliches Kindesschutzverfahren: Rolle und Vorgehen der KESB

Claudio Domenig

1.9.1Grundsätzliche Hinweise

1.9.2Das Kindesschutzverfahren im Überblick

1.9.3Erste Schritte: Prüfung von Zuständigkeit und Handlungsbedarf

1.9.4Das Abklärungsverfahren

1.9.5Vorsorgliche Massnahmen und weitere Zwischenentscheide

1.9.6Mitwirkungspflichten und Mitwirkungsrechte

1.9.7Verfahrensabschliessender Entscheid und Vollzug

1.10Zivilrechtlicher behördlicher Kindesschutz

Marco Zingaro

1.10.1Grundsätzliche Hinweise

1.10.2Prinzipien des zivilrechtlichen behördlichen Kindesschutzes

1.10.3Die zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen im Überblick

1.10.4Die zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen im Detail

1.10.4.1Geeignete Massnahmen
1.10.4.2Ermahnung
1.10.4.3Weisung
1.10.4.4«Erziehungsaufsicht»
1.10.4.5Beistandschaft
1.10.4.6Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts
1.10.4.7Entziehung der elterlichen Sorge

1.11Strafrechtlicher Kindesschutz: Leitlinien, Verfahren und Sanktionen des Jugendstrafrechts

Claudio Domenig & Marco Zingaro

1.11.1Grundsätzliche Hinweise

1.11.2Strafanzeige und Jugendstrafverfahren

1.11.3Die Schutzmassnahmen

1.11.3.1Aufsicht (Art. 12 JStG)
1.11.3.2Persönliche Betreuung (Art. 13 JStG)
1.11.3.3Ambulante Behandlung (Art. 14 JStG)
1.11.3.4Unterbringung (Art. 15 und 16 JStG)
1.11.3.5Tätigkeitsverbot, Kontakt- und Rayonverbot (Art. 16a JStG)
1.11.3.6Beendigung der Massnahmen (Art. 19 JStG)
1.11.3.7Kooperation Behörden des Zivilrechts und des Jugendstrafrechts (Art. 20 JStG)

1.11.4Die Strafen

1.11.4.1Strafbefreiung (Art. 21 JStG)
1.11.4.2Verweis (Art. 22 JStG)
1.11.4.3Persönliche Leistung (Art. 23 JStG)
1.11.4.4Busse (Art. 24)
1.11.4.5Freiheitsentzug (Art. 25–27 JStG)
1.11.4.6Bedingter Vollzug von Strafen (Art. 35 JStG)

1.11.5Strafregistereintrag und -auszug

2Auftrag und Vorgehen der schulinternen Akteurinnen und Akteure bei Kindeswohlgefährdungen

2.1System Schule: Entwicklungen und Aufträge

Emanuela Chiapparini

2.2Schulleitungen

Anna Müller

2.2.1Schulleitung gestern und heute: Aufgaben, Rollen und Organisationsmodelle

2.2.2Funktionsspezifische Aufgaben der Schulleitung im Kindesschutz

2.2.3Einzelne Aufgabenbereiche im Kindesschutz

2.2.4Die Rolle der Schulleitung im Prozess von der Früherkennung bis zum Einreichen einer Meldung an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB

2.2.5Die Rolle der Schulleitung nach Einreichen einer Meldung an die KESB

2.2.6Aufgaben und Rolle der Schulleitung bei bereits angeordneten Kindesschutzmassnahmen und bei ausserfamiliär platzierten Kindern und Jugendlichen

2.2.7Zusammenfassung und Fazit

2.3Lehrpersonen

Regina Jenzer

2.3.1Kindesschutz im Berufsauftrag von Lehrpersonen

2.3.2Rolle der Lehrperson im Prozess der Früherkennung bis hin zum Installieren von Hilfen im Kindesschutz

2.3.3Aufgabe und Rolle von Lehrpersonen bei angeordneten Kindesschutzmassnahmen und bei ausserfamiliär platzierten Kindern und Jugendlichen

2.3.4Schulinterne Zusammenarbeit und Kooperation im Kindesschutz

2.3.5Zusammenfassung und Fazit

2.4Speziallehrkräfte

Marianne Fankhauser

2.4.1Berufsaufträge

2.4.2Funktionsspezifische Arbeitsformen

2.4.3Aufgaben und Rollen

2.4.4Einordnung im System Schule und Kooperation im Kindesschutz

2.4.5Zusammenfassung und Fazit

2.5Mitarbeitende an Tagesschulen

Emanuela Chiapparini

2.5.1Berufsauftrag von Mitarbeitenden an Tagesschulen

2.5.2Funktionsspezifische Arbeitsformen von Mitarbeitenden an Tagesschulen

2.5.3Aufgaben und Rollen im Kindesschutz

2.5.4Zusammenfassung und Fazit

2.6Schulbehörden

Anna Müller

2.6.1Der Auftrag der Schulbehörde im Kindesschutz

2.6.2Aufgaben und Rollen

2.6.3Die Kooperation zwischen Schule und Behörde

2.6.4Fazit

2.7Zusammenarbeit der Schule mit Fachpersonen, Stellen und Behörden im Kindesschutz

Regina Jenzer

2.7.1Externe Kooperationspartnerinnen und -partner der Schule

2.7.2Ausgangslage und Herausforderungen in der Kooperation mit Institutionen und Fachpersonen im Kindesschutz

2.7.3Zentrale Elemente für eine gute Kooperation

2.7.4Hinweise und Handlungsempfehlungen für die fallbezogene Zusammenarbeit mit der KESB, mit Abklärenden und Mandatspersonen

2.7.5Zusammenarbeit mit schulnahen Stellen

2.7.6Zusammenarbeit mit Dienstleistern der ambulanten, teilstationären/stationären Kinder- und Jugendhilfe und weiterer Stellen

2.7.7Zusammenfassung und Fazit

2.8Gesprächsführung und Zusammenarbeit mit Kindern und Eltern

Regina Jenzer

2.8.1Die eigene Haltung reflektieren

2.8.2Gesprächsführung mit Kindern/Jugendlichen und Hinweise zum Vorgehen

2.8.3Gesprächsführung mit Eltern und Hinweise zum Vorgehen

3Auftrag und Vorgehen der Schulsozialarbeit bei Kindeswohlgefährdungen

3.1Ausgangslage und Auftrag der Schulsozialarbeit

Daniel Iseli

3.1.1Entwicklung und Rahmenbedingungen

3.1.2Auftrag und Orientierung der Schulsozialarbeit im Kindesschutz

3.1.3Zusammenfassung und Fazit

3.2Grundprinzipien der Schulsozialarbeit

Lotti Lienhard

3.2.1Voraussetzungen und Besonderheiten in der Schulsozialarbeit

3.2.2Systemische Beratung als eine Kernkompetenz in der Schulsozialarbeit

3.2.3Mehraugen-Prinzip

3.2.4Fazit

3.3Zugänge zur Schulsozialarbeit bei Anzeichen auf Kindeswohlgefährdungen

Sandra Geissler

3.3.1Kinder und Jugendliche vertrauen sich den Schulsozialarbeitenden an

3.3.2Lehrpersonen und Speziallehrkräfte vermitteln Kinder an die Schulsozialarbeit

3.3.3Eltern nehmen Kontakt auf mit der Schulsozialarbeit

3.3.4Einbezug der Schulsozialarbeit bei drohenden schuldisziplinarischen Themen

3.3.5Einbezug der Schulsozialarbeit bei bestehenden behördlichen Kindesschutzmassnahmen

3.3.6Zusammenfassung und Fazit

3.4Arbeit der Schulsozialarbeit mit dem Kind

Lotti Lienhard & David Ruesch

3.4.1Leitlinien für die Beratung mit Kindern

3.4.2Prozessgestaltung und Verfahrensbereiche

3.4.3Voraussetzungen und Grundbedingungen für die Arbeit mit dem Kind

3.4.4Grundprinzipien in der Beratungssituation mit dem Kind

3.4.5Fazit

3.5Einschätzung des Kindeswohls durch die Schulsozialarbeit

Sandra Geissler

3.5.1Instrumente zur Früherkennung von Kindeswohlgefährdungen für die Schulsozialarbeit

3.5.2Konkretes Vorgehen der Schulsozialarbeit

3.5.2.1Ampelstand grün – kein Unterstützungsbedarf
3.5.2.2Ampelstand gelb – ein Unterstützungsbedarf ist vorhanden
3.5.2.3Ampelstand orange – eine Unterstützung ist notwendig
3.5.2.4Ampelstand rot – eine Unterstützung ist zwingend

3.5.3Einschätzen der Kooperationsbereitschaft und Veränderungsfähigkeit der Eltern

3.5.4Nutzen und Grenzen von standardisierten Instrumenten

3.5.5Ambivalenz zwischen freiwilliger Beratung und Beratung bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung

3.5.5.1Stolperstein permanente Aufrechterhaltung der Ambivalenz
3.5.5.2Einbezug der Eltern durch die Schulsozialarbeit ohne Einverständnis des Kindes
3.5.5.3Mitbestimmung des Kindes ohne Abschieben der Verantwortung an dieses

3.6Leistungen der Schulsozialarbeit in Zusammenhang mit Kindeswohlgefährdungen

Sandra Geissler

3.6.1Sensibilisieren für das Thema Kindesschutz innerhalb der Schule

3.6.2Fachberatung von Lehrpersonen und Schulleitungen

3.6.3Beratung von Kindern und Eltern

3.6.3.1Kind redet bei der Schulsozialarbeit über Misshandlungen
3.6.3.2Beratungsgespräche mit den Eltern
3.6.3.3Gesprächssetting
3.6.3.4Vorbereitung auf das Gespräch mit Eltern
3.6.3.5Intervention

3.6.4Beratung in Situationen mit notwendiger Unterstützung

3.6.5Mitwirkung an Standortgesprächen der Schulleitung mit Eltern

3.6.6Verbindliche Triage (inkl. Schweigepflichtentbindung)

3.6.7Mitbericht zur Meldung an die KESB

3.6.8Mitwirkung an Eröffnungsgesprächen und Meldung an die KESB

3.6.9Aktenführung durch die Schulsozialarbeit

3.7Verbindliche Zusammenarbeit mit den Eltern unter Beizug einer externen Fachstelle am Beispiel der Schulsozialarbeit Stadt Winterthur

Vera Vogt

3.7.1Organisation, Leistung und Angebot der Schulsozialarbeit Stadt Winterthur in Zusammenhang mit Kindesschutz

3.7.2Grundsätze des Kindesschutzkonzepts

3.7.3Zusammenarbeit Schulsozialarbeit mit OKey – Fachstelle für Opferhilfeberatung und Kinderschutz

3.7.4Offenlegungsgespräche

3.7.5Fachliche Indikation eines Offenlegungsgesprächs

3.7.6Zusammenfassung und Fazit

Herausgeber/innen und Autor/innen

Stichwortverzeichnis

Einleitung

Die Schule trägt eine Mitverantwortung für das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen und hat deshalb ihren Bildungsauftrag auf das Kindeswohl auszurichten. Doch welche Verantwortung trägt die Schule bei Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung konkret? Welches sind überhaupt Anzeichen für eine Gefährdung und wie schätzen Fachpersonen das Kindeswohl ein? Wie wird die Rollenteilung der Akteurinnen und Akteure der Schule, der Tagesschule sowie der Schulsozialarbeit sinnvoll gestaltet? Wer arbeitet wie mit dem Kind, mit dessen Eltern sowie mit den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) oder mit anderen Stellen zusammen? Diese und viele weitere Fragen versucht das vorliegende Handbuch auf eine praxisnahe Art zu beantworten. Es informiert, klärt und präzisiert Aufgaben und Rollen, bietet praktische Arbeitsinstrumente und will dadurch einen wichtigen Beitrag zur Standardisierung des Vorgehens der Schulen bei Kindeswohlgefährdungen leisten.

Das Buch richtet sich an alle Akteurinnen und Akteure der Schule, der Tagesschule sowie der schulnahen Dienste: Schulleitungen, Lehrkräfte, Speziallehrkräfte (Heilpädagogik, Logopädie, Psychomotorik, Deutsch als Zweitsprache), Leitungsverantwortliche und Mitarbeitende von Tagesschulen, Mitglieder von Schulbehörden, Leitungsverantwortliche der Schulsozialarbeit und Schulsozialarbeitende, Mitarbeitende von KESB, Abklärungs- und Mandatsdiensten sowie Sozialdienstleitende und andere Mitarbeitende der kommunalen wie auch der kantonalen Verwaltung. Es ist auf die Verhältnisse und die Rechtslage in der Schweiz ausgerichtet, kann jedoch auch Fachpersonen aus anderen deutschsprachigen Ländern wertvolle Informationen und Anregungen liefern.

Im ersten Kapitel des Buches werden die psychosozialen und rechtlichen Grundlagen sowie praktische Hilfsmittel vorgestellt. Durch die Vermittlung eines Grundwissens und eines Grundverständnisses zum Kindesschutz, zur Einschätzung des Kindeswohls, zu den gesetzlichen Grundlagen sowie zum System des Kindesschutzes soll die Basis für eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Verständnis gelegt werden. Das zweite Kapitel präzisiert den Auftrag und das Vorgehen der einzelnen schulinternen Akteurinnen und Akteure bei Kindeswohlgefährdungen und vertieft die Frage, wie die Schule zielführend mit den im Kindesschutz tätigen Behörden und Stellen zusammenarbeitet. Zudem gibt es wertvolle Hinweise zur Zusammenarbeit und zur Gesprächsführung mit Eltern und Kindern. Das dritte Kapitel vertieft den Auftrag und das Vorgehen der Schulsozialarbeit bei Kindeswohlgefährdungen. Die Schulsozialarbeit nimmt in Kindesschutzfragen eine wichtige Rolle ein. Das Kapitel stellt den Auftrag, die Grundprinzipien und Leistungen der Schulsozialarbeit sowie spezifische Arbeitsinstrumente und Konzepte vor. Zudem vertieft es relevante Aspekte der Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen sowie mit den Eltern.

Die einzelnen Kapitel sind inhaltlich aufeinander abgestimmt. Deren zwölf Autorinnen und Autoren verfügen über eine mehrjährige praktische Erfahrung und Expertise zum Thema der von ihnen verfassten Texte.

Bern, Januar 2022, Andrea Hauri, Daniel Iseli, Marco Zingaro

1Fachliche Grundlagen

1.1Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung, Kindesschutz

1.1.1Kindeswohl und Kindeswohlgefährdungen

1.1.2Gefährdungsformen

1.1.3Gefährdungen des Kindeswohls, die nur indirekt im elterlichen Einflussbereich liegen

1.1.4Folgen von Kindeswohlgefährdungen

1.2Praxishilfen zur Einschätzung des Kindeswohls und zum angemessenen Handeln durch die Schule

1.2.1Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung erfassen

1.2.2Schutzfaktoren identifizieren

1.2.3Risikofaktoren identifizieren

1.2.4Einschätzung des Kindeswohls vornehmen

1.2.5Entscheidungsbaum für die Planung des weiteren Vorgehens durch die Schule und die Schulsozialarbeit

1.2.6Notfallinterventionen bei sofortigem Handlungsbedarf

1.2.7Zusammenfassung und Fazit

1.3System des Kindesschutzes

1.3.1Grundsätzliche Hinweise

1.3.2Einvernehmlicher Kindesschutz

1.3.3Behördlicher zivilrechtlicher Kindesschutz

1.3.4Strafrechtlicher Kindesschutz

1.3.5Zusammenarbeit in der Jugendhilfe

1.4Elterliche Sorge

1.4.1Grundsätzliche Hinweise und Leitideen

1.4.2Pflege und Erziehung

1.4.3Aufenthaltsbestimmungsrecht

1.4.4Gesetzliche Vertretung

1.4.4.1Gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall

1.4.4.2Informations- und Auskunftsrechte von Eltern ohne elterliche Sorge

1.4.4.3Stiefeltern und Pflegeeltern

1.4.5Verwaltung des Kindesvermögens

1.5Rechtliche Stellung Minderjähriger

1.5.1Grundsätzliche Hinweise

1.5.2Urteilsfähige Minderjährige

1.5.2.1Erläuterungen zu den genannten Fallkategorien

1.5.2.2Unerlaubte Handlungen

1.5.3Minderjährige unter Vormundschaft

1.6Kindeswohl im Schulrecht

1.6.1Vorbemerkung

1.6.2Vorgaben und Leitideen der Bundesverfassung (BV)

1.6.3Blick in die kantonale Schulgesetzgebung

1.7Datenschutz in der Schule hinsichtlich Kindesschutz

1.7.1Warum Datenschutz?

1.7.2Das Spannungsverhältnis zwischen Datenschutz und Kindesschutz

1.7.2.1Datenschutz: Persönlichkeitsschutz und Vertrauensschutz

1.7.2.2Kindesschutz: Zusammenarbeit und Informationsaustausch

1.7.2.3Umgang mit dem Spannungsverhältnis

1.7.3Datenschutz und Datenbekanntgabe: Der rechtliche Rahmen

1.7.3.1Datenschutz: Rechtsgrundlagen und Prinzipien

1.7.3.2Amtsgeheimnis und Berufsgeheimnis

1.7.3.3Einwilligung der Betroffenen

1.7.4Umsetzung in den verschiedenen Bereichen des Kindesschutzes

1.7.4.1Freiwilliger Kindesschutz

1.7.4.2Zivilrechtlicher Kindesschutz

1.7.4.3Strafrechtlicher Kindesschutz

1.7.5Fazit

1.8Melderechte und Meldepflichten

1.8.1Grundsätzliche Hinweise

1.8.2Melderecht

1.8.3Meldepflicht

1.9Zivilrechtliches Kindesschutzverfahren: Rolle und Vorgehen der KESB

1.9.1Grundsätzliche Hinweise

1.9.2Das Kindesschutzverfahren im Überblick

1.9.3Erste Schritte: Prüfung von Zuständigkeit und Handlungsbedarf

1.9.4Das Abklärungsverfahren

1.9.5Vorsorgliche Massnahmen und weitere Zwischenentscheide

1.9.6Mitwirkungspflichten und Mitwirkungsrechte

1.9.7Verfahrensabschliessender Entscheid und Vollzug

1.10Zivilrechtlicher behördlicher Kindesschutz

1.10.1Grundsätzliche Hinweise

1.10.2Prinzipien des zivilrechtlichen behördlichen Kindesschutzes

1.10.3Die zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen im Überblick

1.10.4Die zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen im Detail

1.10.4.1Geeignete Massnahmen

1.10.4.2Ermahnung

1.10.4.3Weisung

1.10.4.4«Erziehungsaufsicht»

1.10.4.5Beistandschaft

1.10.4.6Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts

1.10.4.7Entziehung der elterlichen Sorge

1.11Strafrechtlicher Kindesschutz: Leitlinien, Verfahren und Sanktionen des Jugendstrafrechts

1.11.1Grundsätzliche Hinweise

1.11.2Strafanzeige und Jugendstrafverfahren

1.11.3Die Schutzmassnahmen

1.11.3.1Aufsicht (Art. 12 JStG)

1.11.3.2Persönliche Betreuung (Art. 13 JStG)

1.11.3.3Ambulante Behandlung (Art. 14 JStG)

1.11.3.4Unterbringung (Art. 15 und 16 JStG)

1.11.3.5Tätigkeitsverbot, Kontakt- und Rayonverbot (Art. 16a JStG)

1.11.3.6Beendigung der Massnahmen (Art. 19 JStG)

1.11.3.7Kooperation Behörden des Zivilrechts und des Jugendstrafrechts (Art. 20 JStG)

1.11.4Die Strafen

1.11.4.1Strafbefreiung (Art. 21 JStG)

1.11.4.2Verweis (Art. 22 JStG)

1.11.4.3Persönliche Leistung (Art. 23 JStG)

1.11.4.4Busse (Art. 24)

1.11.4.5Freiheitsentzug (Art. 25–27 JStG)

1.11.4.6Bedingter Vollzug von Strafen (Art. 35 JStG)

1.11.5Strafregistereintrag und -auszug

1.1Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung, Kindesschutz

Andrea Hauri & Regina Jenzer

Die vorliegende Publikation soll Hilfestellung für die Früherkennung von Kindeswohlgefährdungen bieten und die Akteurinnen und Akteure der Schule inklusive der Tagesschule1 und der Schulsozialarbeit dabei unterstützen, der Situation angemessen zu handeln. Die Einschätzung des Kindeswohls von Schülerinnen und Schülern ist eine der primären Aufgaben der Schulsozialarbeit.2 Sie ist mit der notwendigen Fachexpertise dafür ausgestattet. Erste Anzeichen von Kindeswohlgefährdungen zeigen sich oftmals im Schulalltag oder im Rahmen der schulergänzenden Betreuung durch eine Tagesschule. Lehrpersonen, Speziallehrkräfte und insbesondere auch Betreuungspersonen der Tagesschule haben damit die Möglichkeit, Kindeswohlgefährdungen früh zu erkennen. Deshalb scheint es sinnvoll, dass alle Akteur/innen der Schule über ein Grundverständnis und ein Grundwissen zum Kindesschutz und zur Einschätzung des Kindeswohls verfügen. Dies ermöglicht eine gemeinsame Sprache zum Thema Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung innerhalb einer Schule und unterstützt damit eine professionelle, fachlich fundierte Einschätzung. Um diese Aufgabe ausführen zu können, braucht die Schule Fachwissen zur Einschätzung des Risikos einer Kindeswohlgefährdung sowie Kenntnisse über das System des Kindesschutzes in der Schweiz. Die Schule muss einerseits wissen, wann eine Meldung an die Kindesschutzbehörde und damit die Eröffnung eines zivilrechtlichen Kindesschutzverfahrens angezeigt ist. Andererseits sollte sie einschätzen können, in welchen Situationen Hilfestellungen der Schule oder eine Triage an eine schulexterne Stelle ausreichend sind. Im vorliegenden Kapitel werden die für die Schule wichtigen fachlichen Grundlagen zum Thema Kindeswohlgefährdungen dargelegt.

1.1.1Kindeswohl und Kindeswohlgefährdungen

Definition Kindeswohl und Kindeswohlgefährdungen

Die Begriffe Kindeswohl und Kindeswohlgefährdungen sind sogenannte unbestimmte Rechtsbegriffe, d. h., sie kommen zwar im Gesetz wörtlich vor, werden dort aber nicht definiert. Der Begriff Kindeswohl meint das emotionale, körperliche, intellektuelle und soziale Wohlergehen des Kindes. Eine Kindeswohlgefährdung bedeutet dementsprechend, dass dieses Wohlergehen beeinträchtigt ist. Der Begriff «Gefährdung» beinhaltet dabei auch die Möglichkeit, dass es erst in Zukunft zu einer Beeinträchtigung des Kindes kommen wird. Kindeswohlgefährdungen umfassen deshalb sowohl Ereignisse oder Lebensumstände, die das Kind entweder bereits beeinträchtigt haben oder dies im Moment tun, als auch solche, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit in Zukunft zu einer Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung führen werden.

Wie in Kapitel 1.9 detailliert ausgeführt wird, hat die KESB die Pflicht, Massnahmen zum Schutz eines Kindes zu ergreifen, wenn dieses gefährdet ist und die Eltern,3 d. h. in der Regel die Sorgeberechtigten, nicht von sich aus für Abhilfe sorgen oder nicht dazu in der Lage sind, dies zu tun (Art. 307 ZGB). Zentral für den Kindesschutz sind dementsprechend Gefährdungen des Kindeswohls, bei denen die Gefährdung einen Zusammenhang mit dem (Erziehungs-)Verhalten der Eltern hat und/oder die Eltern die Gefährdung nicht ausreichend mildern können. Für den Kindesschutz relevant sind einerseits direkte erzieherische Interventionen und Interaktionen zwischen den Eltern und ihrem Kind. Andererseits geht es auch um die Erziehungs- und Betreuungsarrangements, welche die Eltern für ihr Kind treffen. Zu den direkten erzieherischen Interventionen gehört, dass Eltern bei Bedarf im Falle einer Krankheit oder nach einem Unfall zeitnah medizinische oder psychologische Hilfe für das Kind organisieren oder dass sie einen liebevollen und feinfühligen Umgang mit ihrem Kind pflegen. Mit Erziehungs- und Betreuungsarrangements ist gemeint, dass Eltern beispielsweise eine geeignete Person oder Organisation mit der Betreuung des Kindes beauftragen, wenn sie selbst diese aufgrund einer Erwerbstätigkeit, einer Hospitalisation oder aus anderen Gründen nicht übernehmen können. Andere Arten von Gefährdungen, die mit dem elterlichen Erziehungsverhalten auf den ersten Blick nichts zu tun haben, wie sexuelle Übergriffe auf das Kind durch Gleichaltrige in der Schule oder in der Freizeit, sind für Kinder und Jugendliche nicht weniger relevant, spielen für den (zivilrechtlichen) Kindesschutz aber nur dann eine Rolle, wenn die Eltern ihre Aufsichts- und Sorgepflicht verletzen oder wenn sie es unterlassen, dem Kind eine angemessene Hilfe bei der Bewältigung des Ereignisses zukommen zu lassen (vgl. Kap. 1.1.3).

Der zivilrechtliche Kindesschutz orientiert sich an einer Minimalvariante des Kindeswohls und nicht an einer optimalen Entwicklung des Kindes. Eine Meldung an die KESB wird nur dann erstattet, wenn die «Gut-genug-Variante» unterschritten wird. Es geht also immer wieder darum, im Einzelfall festzulegen, ob die Situation für das Kind genügend gut ist, so dass seine gesunde Entwicklung mit hoher Wahrscheinlichkeit noch möglich ist. Um diesen Schwellenwert zu definieren, orientiert sich der zivilrechtliche Kindesschutz an wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ferner hängt die Bestimmung des Schwellenwerts für eine Kindeswohlgefährdung auch vom jeweiligen nationalen Kindesschutzsystem sowie den dazugehörigen institutionellen Hilfsangeboten zur Sicherstellung des Kindeswohls ab. So wird der Schwellenwert in einem von Armut und nationalen oder internationalen Konflikten geprägten Land anders aussehen als in einem westeuropäischen Land.4

1.1.2Gefährdungsformen

Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, die Formen von Kindeswohlgefährdungen zu kategorisieren. Wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist, ob die Gefährdung primär auf ein aktives Einwirken, z. B. bei körperlicher Gewalt, oder eher auf ein Unterlassen der Eltern zurückzuführen ist, wie das bei der Vernachlässigung der Fall ist. Allen Gefährdungsformen gemeinsam ist, dass der Grundbedarf von Kindern nicht berücksichtigt wird, den sie zum gesunden Aufwachsen benötigen. Zum Grundbedarf eines Kindes gehören liebevolle und dauerhafte Beziehungen, körperliche Unversehrtheit und Sicherheit, eine Berücksichtigung der individuellen Persönlichkeit eines Kindes, die Ermöglichung von individuellen, dem Entwicklungsstand angemessenen Erfahrungen, Grenzen und Strukturen, die Einbettung in stabile soziale Gemeinschaften und eine Perspektive für die Zukunft.5

In der vorliegenden Publikation wird zwischen den folgenden Gefährdungsformen unterschieden:

•Vernachlässigung

•körperliche Gewalt

•psychische Gewalt

•sexuelle Gewalt

Häufig erleben betroffene Kinder und Jugendliche mehrere der Gefährdungsformen gleichzeitig oder zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Laufe ihres Lebens. Bereits einzelne isolierte Gefährdungserfahrungen können für sie schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. Verschiedene Studien deuten aber darauf hin, dass diejenigen Kinder und Jugendlichen langfristig besonders gefährdet sind, die mehrfach und in verschiedenen Kontexten Gewalt- und Vernachlässigungserfahrungen machen.6

Vernachlässigung

Vernachlässigung bedeutet die andauernde oder wiederholte Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung aufgrund von «unzureichender Pflege, Kleidung, Ernährung, Aufsicht und unzureichendem Schutz vor Unfällen sowie fehlender emotionaler Zuwendung oder ungenügender Anregung des Kindes zur motorischen, sprachlichen oder sozialen Entwicklung».7

Eine körperliche Vernachlässigung zeichnet sich bei einem Schulkind auf der Primarstufe beispielsweise dadurch aus, dass es bei einer Erkrankung von den Eltern nicht die erforderliche medizinische Behandlung und Pflege erhält. Zu denken ist auch an Fälle, in denen die Eltern nicht für eine ausreichende Zahnhygiene sorgen, das Kind eine erhebliche Karies entwickelt und die Eltern keine zahnmedizinische Behandlung veranlassen. Eine emotionale Vernachlässigung liegt dann vor, wenn ein Kind im Alltag nicht mindestens eine konstante, vertraute und liebevolle Betreuungsperson hat. Weitere Beispiele für Vernachlässigungen sind, wenn ein Kind aufgrund mangelnder Körperpflege (z. B. wegen unangenehmen Geruchs) in der Schule gehänselt und ausgeschlossen wird und dadurch das Selbstwertgefühl und die soziale Entwicklung der Schülerin oder des Schülers beeinträchtigt werden. Auch ungenügende Aufsicht und Betreuung gelten als Vernachlässigung, beispielsweise wenn eine Primarschülerin oder ein Primarschüler über Mittag regelmässig allein zu Hause ist. Bei Schülerinnen und Schülern auf der Sekundarstufe I kann von einer Vernachlässigung gesprochen werden, wenn Eltern es unterlassen, bei deutlichen Anzeichen auf selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten des/der Jugendlichen angemessene Hilfe zu vermitteln.

Körperliche Gewalt

Körperliche Gewalt beinhaltet jegliche Art der Beeinträchtigung oder Schädigung des Körpers, beispielsweise durch «Schläge, Verbrennungen, Verbrühungen, Quetschungen, Stiche sowie durch Schütteln oder Würgen des Kindes».8 Körperliche Gewalt kann, muss aber nicht zu einer körperlichen Verletzung führen. In der Schweiz sind Körperstrafen durch Eltern trotz fehlendem explizitem Verbot in der nationalen Gesetzgebung unzulässig (vgl. Kap. 1.4.2).9 Kinder haben gemäss der UN-Kinderrechtskonvention (Art. 19) das Recht auf Schutz vor jeglicher Form körperlicher Bestrafung. Körperstrafen haben weitreichende negative Auswirkung auf das Kindeswohl. So kann unter anderem die psychische Gesundheit, die kognitive, soziale, emotionale Entwicklung und das Verhalten negativ beeinflusst werden und die betroffenen Kinder neigen eher dazu, selbst aggressive Verhaltensmuster in Stresssituationen zu entwickeln.10

Ein klares Verbot besteht in der Schweiz betreffend Mädchenbeschneidung. Sie ist auch dann strafbar, wenn sie im Ausland durchgeführt wird (Art. 124 StGB). Zu körperlicher Gewalt gehört auch das seltene Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, bei welchem Eltern Symptome des Kindes erzeugen oder erfinden.11

Psychische Gewalt

Unter psychischer Gewalt wird «die (ausgeprägte) Beeinträchtigung und Schädigung der Entwicklung von Kindern verstanden aufgrund z. B. von Ablehnung, Verängstigung, Terrorisierung und Isolierung. Sie beginnt beim (dauerhaften, alltäglichen) Beschimpfen, Verspotten, Erniedrigen sowie Liebesentzug und reicht über Sündenbockrolle, Einsperren, Isolierung von Gleichaltrigen bis hin zu vielfältigen massiven Bedrohungen einschliesslich Todesdrohungen».12

Neben dieser allgemeinen Form von psychischer Gewalt sind die beiden häufigen Formen der psychischen Beeinträchtigung von Kindern als Folge der destruktiven oder gewalttätigen Interaktion zwischen Eltern oder anderen Erwachsenen im Haushalt sehr wichtig: das Miterleben von häuslicher Gewalt (Partnerschaftsgewalt) und eine Gefährdung des Kindes als Folge von hochstrittigen Elternkonflikten um das Kind in Zusammenhang mit Trennungs- und Scheidungsprozessen.

Miterleben von häuslicher Gewalt/Partnerschaftsgewalt: Wenn ein Kind Gewalt zwischen den Eltern oder zwischen anderen Erwachsenen im Haushalt miterlebt, führt das unmittelbar zu einer emotionalen Belastung. Kinder haben in solchen Situationen oft Angst, fühlen sich hilflos und teilweise mitschuldig.13 Das Miterleben von häuslicher Gewalt hat aber oft auch längerfristige Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes. So zeigen überdurchschnittlich viele betroffene Kinder Entwicklungsbeeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten. Das Risiko, an einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung zu erkranken, ist bei ihnen fast fünffach erhöht. Bei einem grossen Teil der Kinder bleibt es jedoch nicht beim Miterleben von Partnerschaftsgewalt. So zeigte eine Studie in Frauenhäusern, dass rund 30–60 % der Kinder, deren Mütter Gewalt durch den Partner oder Ehemann erlebten, auch selbst körperlich misshandelt wurden.14

Gefährdung des Kindes als Folge von hochstrittigen Elternkonflikten

Die Gefährdung eines Kindes als Folge von hochstrittigen Elternkonflikten um das Kind während und nach Trennungs- und Scheidungsprozessen stellt eine weitere Unterkategorie von psychischer Gewalt dar. Es handelt sich um chronische, auf das Kind bezogene Konflikte der Eltern, die über längere Zeit andauern und ein hohes Ausmass annehmen. Die Konflikte sind oft mit einem Rechtsstreit verbunden über den Umgang mit dem Kind. Vereinbarungen und rechtliche Regelungen zwischen den Eltern werden häufig nicht eingehalten. Auch die Beziehungspflege des Kindes zum anderen Elternteil wird oft aktiv beeinträchtigt und die Eltern beschuldigen sich häufig gegenseitig über schädigende Erziehungspraktiken.15 Wenn die Eltern dauerhaft so stark auf den Elternkonflikt fokussiert sind, dass sie die Bedürfnisse des Kindes nicht mehr wahrnehmen können, ist ihre Erziehungsfähigkeit oft eingeschränkt, zudem besteht eine chronische Belastung des Kindes. Spätestens wenn das Kind mit einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung reagiert oder wenn es seine altersentsprechenden Entwicklungsaufgaben nicht mehr bewältigen kann, liegen Hinweise auf eine Gefährdung vor.16

Bei Jugendlichen auf der Sekundarstufe I relevant sind Gefährdungen als Folge von Autonomiekonflikten, welche auch zur psychischen Gewalt gezählt werden. Damit sind nicht bewältigte Ablösekonflikte zwischen Jugendlichen und ihren Eltern gemeint, wie beispielsweise chronische Konflikte durch elterliche Verbote in Bezug auf sexuelle Kontakte, Ausgang etc. des oder der Jugendlichen.

Sexuelle Gewalt

Es existiert eine Vielzahl an Begrifflichkeiten zu sexuellen Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen, wie sexuelle Übergriffe, sexualisierte Gewalt, sexueller Missbrauch etc. Nachfolgend wird zwischen drei Formen sexueller Gewalt differenziert, da sie sich hinsichtlich Ursachen und Konsequenzen deutlich voneinander unterscheiden:17

•sexueller Missbrauch durch Bezugspersonen (Eltern oder anderen nahestehenden Personen wie z. B. Stiefvater oder Onkel, Lehrpersonen, Leitungspersonen in Heimen oder in Freizeiteinrichtungen)

•sexuelle Gewalt durch Fremdtäter/innen

•sexuelle Gewalt unter Kindern und Jugendlichen

Sexueller Missbrauch durch Bezugspersonen wird folgendermassen definiert: «Sexueller Missbrauch umfasst jeden versuchten oder vollendeten sexuellen Akt und Kontakt von Bezugspersonen an Kindern oder Jugendlichen, aber auch sexuelle Handlungen, die ohne direkten körperlichen Kontakt stattfinden (z. B. Exhibitionismus, pornografische Aufnahmen)».18 Bei sexuellem Missbrauch durch Bezugspersonen erfahren die betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht nur eine Handlung, die ihre persönlichsten Bedürfnisse verletzt, sondern auch einen Bruch des Vertrauensverhältnisses. Diese doppelte Gewalterfahrung führt oft zu massiven Ambivalenzkonflikten bei Kindern und Jugendlichen.19

Sexuelle Gewalt durch Fremdtäter/innen ist ein Phänomen, vor welchem Eltern ihre Kinder zwar oft mit dem Hinweis warnen, dass sie nicht mit Fremden mitgehen sollen, welches in der Realität im Vergleich zu den anderen sexuellen Gewaltformen aber eher selten und für den zivilrechtlichen Kindesschutz wenig relevant ist. Für die Schulen hat sexuelle Gewalt durch Fremdtäter/innen jedoch eine Relevanz, weil sich potenzielle Täter/innen häufig an Orte wie die Schule begeben, an denen Kinder und Jugendliche sich aufhalten.20

Sexuelle Gewalt unter Kindern und Jugendlichen: Die Grenze zwischen sexuellen Kontakten unter Kindern und Jugendlichen, die im Konsens stattfinden, und einem sexuellen Übergriff lässt sich manchmal nur schwer ziehen und sollte nach Ansicht der Autorinnen aktiver thematisiert werden. Diese Themen könnten in der Schule unter anderem im Rahmen von Präventionsprojekten wie beispielsweise mit dem Angebot «Mein Körper gehört mir»21 behandelt werden. Die grosse Bedeutung des Themas zeigte eine direkte Befragung von Jugendlichen zu ihren sexuellen Gewalterfahrungen in der Schweiz. Gemäss dieser Studie stellt sexuelle Gewalt durch Gleichaltrige 50–70 % der sexuellen Gewalterfahrungen von Jugendlichen dar. Es handelt sich damit um den weitaus grössten Anteil der sexuellen Gewalterfahrungen von Jugendlichen. Ein grosser Teil dieser sexuellen Gewalterfahrungen erfolgt während des Ausgangs unter Jugendlichen.22

1.1.3Gefährdungen des Kindeswohls, die nur indirekt im elterlichen Einflussbereich liegen

Neben den bisher aufgeführten Gefährdungsformen gibt es verschiedene Formen von Beeinträchtigungen des Befindens oder der Entwicklung von Kindern, die grösstenteils ausserhalb des elterlichen Einflussbereichs liegen. Da diese Formen von Gefährdungen aber insbesondere im Rahmen der Schule oder der Tagesschule auftreten können und für die Schule deshalb von besonderer Bedeutung sind, werden sie nachfolgend thematisiert. Für den zivilrechtlichen Kindesschutz und damit für die Frage, ob die Schule eine Meldung an die KESB machen sollte, sind solche Erfahrungen nur relevant, wenn die Eltern offensichtlich Möglichkeiten hätten, die Beeinträchtigung des Kindes massgeblich zu lindern, diese Möglichkeiten aber nicht umsetzen.

Mobbing

Mobbing ist ein aggressives Verhalten, das sich systematisch gegen eine Person richtet. Mobbing ist ein Gruppengeschehen und kommt wiederholt und über längere Perioden von Wochen bis hin zu Jahren vor.23 Das aggressive Verhalten kann physisch, verbal oder sozialer Art sein (z. B. durch Verprügeln, Drohungen, Erpressungen, Gerüchte streuen, Ausgrenzungen). Nicht jede aggressive Handlung gilt als Mobbing. Wenn ein Kind ein anderes Kind schlägt, auch wenn das mehrfach geschieht, ist das zwar aggressives Verhalten, aber noch kein Mobbing.24 Das wiederholte Anwenden physischer Gewalt von mehreren Schüler/innen gegenüber einem einzelnen Schüler/einer einzelnen Schülerin wird hingegen zum Mobbing gezählt.

Unter Jugendlichen erfolgt Mobbing oft auch mittels sozialer Medien (Cybermobbing). Durch die sozialen Medien kann Mobbing teilweise anonym erfolgen und innert kurzer Zeit ein grosses Publikum erhalten. Auch sind einmal im Internet veröffentlichte Daten schwierig zu löschen. Dadurch ist die demütigende Wirkung potenziert.25

Mobbing kann die psychische und physische Gesundheit sowie die soziale und schulische Entwicklung der Opfer und Täter/innen schwerwiegend beeinträchtigen und bis zu Suizidversuchen oder Suizid führen.26 Mobbing kann in allen Settings auftreten, in denen Kinder und Jugendliche zusammen sind, wie beispielsweise in Schulen, Tagesschulen oder Freizeitvereinen. Für Erwachsene ist Mobbing schlecht erkennbar, weil es oft im Versteckten auftritt und vertuscht wird. Zudem erzählen viele Opfer nicht von den Vorfällen, weil sie sich schämen, weil sie bedroht werden oder unangemessene Reaktionen der Erwachsenen befürchten. Es gibt verschiedene gut evaluierte Anti-Mobbing-Programme für die Schule im deutschsprachigen Raum, auf die hier nur verwiesen werden kann.27

Sexuelle Gewalt durch Fremdtäter/innen und unter Kindern und Jugendlichen wurde im vorangehenden Kapitel bereits erwähnt. Hier ist zentral, ob die Eltern von der Viktimisierung erfahren und inwiefern sie ihrem Kind angemessene Hilfe und Unterstützung ermöglichen und dafür sorgen, dass die sexuelle Gewalt sich nicht wiederholt. Dazu kann gehören, dass sie die Schule über sexuelle Übergriffe durch Peers während des Unterrichts auf dem Schulgelände informieren und die Schule zusammen mit den Eltern dafür sorgt, dass entsprechende Schritte zum Schutz und Wohlergehen des Kindes ergriffen werden (vgl. auch Kap. 3.5.1 zum Vorgehen der Schulsozialarbeit bei sexueller Gewalt). Zu prüfen sind auch strafrechtliche Interventionen (vgl. strafrechtlich verankerte Fürsorgepflicht der Schule in Kap. 1.3.4).

Jugenddelinquenz

Nicht selten begehen männliche Jugendliche im Verlaufe ihrer Jugendjahre Straftaten, namentlich Delikte gegen Leib und Leben, gegen das Strassenverkehrsgesetz oder das Betäubungsmittelgesetz. Häufig stehen auch Vermögensdelikte zur Debatte. Bei den meisten Jugendlichen kann solch delinquentes Verhalten einer temporären Phase in ihrem Leben zugeordnet werden, nach welcher sie dann auf Rechtsbrüche verzichten. Ein kleiner Teil von ihnen begeht jedoch dauerhaft Straftaten.28 Jugenddelinquenz kann, muss aber nicht zwingend ein Hinweis auf eine Gefährdung des oder der betroffenen Jugendlichen oder auf einen erzieherischen Bedarf sein. Die zentrale fachliche Herausforderung besteht darin, ein «normales», vorübergehendes delinquentes Verhalten möglichst früh von einem Verhalten zu unterscheiden, welches auf eine Gefährdung hindeutet. Ein möglicher Hinweis auf eine Gefährdung mit einem Hilfebedarf kann sein, wenn sich Jugendliche in einer insgesamt problematischen Familienkonstellation mit zusätzlichen Belastungen und Risiken befinden (siehe Risikofaktoren, Kap. 1.2.3). Delinquenz kann ein Symptom für solche familiären Belastungen sein. Zudem kann das delinquente Verhalten eine Selbstgefährdung darstellen, z. B. bei Verstössen gegen das Betäubungsmittelgesetz.29 In Kap. 1.11 wird aufgezeigt, wie die Rechtslage in Zusammenhang mit Jugenddelinquenz aussieht und welche Bedeutung im Jugendstrafrecht der Tatsache zukommt, dass behördliche Interventionen primär am allfälligen Hilfe- und Unterstützungsbedarf des oder der delinquierenden Jugendlichen ausgerichtet werden.

1.1.4Folgen von Kindeswohlgefährdungen

Die Folgen von Gefährdungen können vielfältig sein. Zu unterscheiden sind Kurzzeitfolgen, die häufig auch für Aussenstehende als Anzeichen für Gefährdungen sichtbar sind, sowie Langzeitfolgen. Bei den Kurzzeitfolgen sind bei allen Gefährdungsformen internalisierende und externalisierende Reaktionen beobachtbar. Zu den Kurzzeitfolgen gehören:30

•Kognitiv-emotionale Störungen: Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, dysfunktionale Kognitionen (z. B. negative Selbstwahrnehmung), Sprach-, Lern- und Schulschwierigkeiten, Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, niedriger Selbstwert, Schuld- und Schamgefühle, Ärgerneigung, Suizidgedanken und selbstschädigendes Verhalten (wie beispielsweise Drogenkonsum), Feindseligkeit sowie allgemeine Störungen der Gefühlsregulation (z. B. Impulsivität).

•Somatische und psychosomatische Störungen: körperliche Verletzungen (z. B. Hämatome), psychosomatische Beschwerden (z. B. Atembeschwerden, chronische Bauchschmerzen ohne körperlichen Befund), Ess- und Schlafstörungen sowie Bettnässen oder Einkoten.

•Störungen des Sozialverhaltens: Weglaufen von zu Hause, übermässiges Zutrauen zu Fremdpersonen, Schulschwierigkeiten, Fernbleiben vom Unterricht, Rückzugsverhalten, Hyperaktivität, delinquentes Verhalten, aggressives Verhalten, mutwilliges Zerstören von Eigentum, physische Angriffe.

Die aufgeführten Kurzzeitfolgen von Gefährdungen des Kindeswohls können immer auch andere Ursachen als eine Gefährdung haben. Deshalb sind pauschale Rückschlüsse vom Vorhandensein einer oder mehrerer der aufgeführten Aspekte auf eine Kindeswohlgefährdung nicht zulässig. Sie können jedoch als Anhaltspunkte bei der Einschätzung des Kindeswohls im Einzelfall berücksichtigt werden (siehe Kap. 1.2.1). Auffälligkeiten im Befinden oder Verhalten des Kindes (wie beispielsweise Sprachentwicklungsstörungen oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) können auch auf medizinische Erkrankungen oder angeborene Behinderungen zurückzuführen sein. Weil die davon betroffenen Kinder in der Regel erhöhte Ansprüche an die elterliche Erziehungsfähigkeit stellen, bestehen Wechselwirkungen zwischen den Auffälligkeiten des Kindes und der elterlichen Erziehungsfähigkeit. Eltern sollten den besonderen Bedürfnissen von Kindern gerecht werden können, fühlen sich im Erziehungsalltag aber häufig überfordert und erschöpft, was ihr konkretes Erziehungshandeln zumindest temporär negativ beeinflussen kann. Zwischen der elterlichen Erziehungsfähigkeit und den kindlichen Bedürfnissen sollte idealerweise eine gute Passung bestehen, d. h., die Erziehungskompetenzen und der Erziehungsstil der Eltern sollten möglichst gut zu den erzieherischen Bedürfnissen des Kindes passen.

Die oben aufgeführte Liste macht deutlich, dass im Schulalltag oder in der Tagesschule einige Folgen von Gefährdungen sichtbar werden können. In der Schule werden aufgrund der verbreiteten Einteilung in Jahrgangsklassen und der Selektion in leistungsstärkere und leistungsschwächere Klassen auf der Sekundarstufe I die Kompetenzen und Leistungen der Schüler/innen miteinander verglichen. Es fällt dementsprechend besonders auf, wenn Kinder im Vergleich zur Mehrheit der anderen Kinder in der Klasse Verzögerungen in der Entwicklung aufweisen. Ist ein Kind gefährdet, benötigt es häufig einen grossen Teil seiner Kräfte für die Bewältigung dieser Gefährdung. Das führt dazu, dass Kinder ihre alterstypischen Entwicklungsaufgaben oft auf Dauer nicht mehr bewältigen können und es zu Entwicklungsverzögerungen in sprachlicher, motorischer, körperlicher, emotionaler oder sozialer Hinsicht kommt.31 Zu beachten gilt hierbei wiederum, dass Verzögerungen in der Entwicklung auch andere Ursachen als eine Kindeswohlgefährdung haben können.

Zu den Langzeitfolgen von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung gehören verschiedene Formen psychischer, psychosomatischer, somatischer oder sozialer Störungen wie posttraumatische Belastungsstörungen, Angststörungen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, substanzgebundenes Suchtverhalten, Suizidalität, chronische Bauchschmerzen, Durchfall, Übelkeit, Gliederschmerzen, dissoziative Störungen, Schlafstörungen, Essstörungen, sexuelle Störungen oder Störungen in sozialen Beziehungen. Dabei weisen weibliche Betroffene von Kindesmisshandlung ein bis zu neunfach erhöhtes Erkrankungsrisiko für psychische Störungen auf. Auch die männlichen Betroffenen von Kindesmisshandlung weisen ein erhöhtes Risiko für psychische Störungen auf, welches jedoch geringer ist als bei den weiblichen Betroffenen.32

Literaturverzeichnis

Alsaker, Françoise (2012). Mutig gegen Mobbing in Kindergarten und Schule. Bern: Huber.

American Psychological Association (APA) (2019). Resolution on Physical Discipline of Children By Parents. Abgerufen von https://www.apa.org/about/policy/physical-discipline.pdf.

Basler Kommentar zum schweizerischen Privatrecht, Zivilgesetzbuch I (Art. 1–456 ZGB), Hrsg.: Geiser Thomas/Fountoulakis Christiana, 6. Auflage, Basel 2018, Helbing Lichtenhahn (zit. BSK ZGB I, Bearbeiter/-in, Art. & N&).

Braun, Karl-Heinz (2020). Entwicklungsaufgaben. In: Petra Bollweg, Jennifer Buchna, Thomas Coelen & Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Handbuch Ganztagsbildung (S. 155–167). Springer VS.

Brazelton, T. B. & Greenspan, S. I. (2000). The irreducible needs of children. Cambridge: Perseus.

Bundschuh, Claudia (2010). Sexualisierte Gewalt gegen Kinder in Institutionen. Nationaler und internationaler Forschungsstand. Expertise im Rahmen des Projekts «Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen». München: Deutsches Jugendinstitut. Abgerufen von https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/sgmj/Expertise_Bundschuh_mit_Datum.pdf

Clemens, Vera; Plener, Paul L.; Kavemann, Barbara; Brähler, Elmar; Strauss, Bernhard & Fegert, Jörg M. (2019). Häusliche Gewalt: Ein wichtiger Risikofaktor für Kindesmisshandlung. In Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 67 (2), S. 92–99. doi:10.1024/1661-4747/a000377.

Deegener, Günther & Körner, Wilhelm. (2006). Risikoerfassung bei Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Theorie, Praxis, Materialien. Lengerich: Pabst Science Publishers.

Deegener, Günther (2005). Formen und Häufigkeit von Kindesmisshandlung. In: Günther Deegener & Wilhelm Körner (Hrsg.). Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Ein Handbuch. Göttingen, Bern: Hogrefe Verlag.

Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.) (2010). Arbeit mit hochkonflikthaften Trennungs- und Scheidungsfamilien: Eine Handreichung für die Praxis. München: Deutsches Jugendinstitut.

Fegert, J.; Kölch, M.; König, E., Harsch, D., Witte, S. & Hoffmann, U. (Hrsg.) (2018). Schutz vor sexueller Gewalt und Übergriffen in Institutionen. Wiesbaden: Springer. doi: 10.1007/978-3-662-57360-0_5.

Fegert, J. M. (2007). Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen. In Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz 50, S. 78–98.

Finkelhor, David (2008). Childhood victimization. Oxford: University Press.

Hauri, Andrea; Jud, Andreas; Lätsch, David & Rosch, Daniel. (2021). Abklärungen im Kindesschutz. Das Berner und Luzerner Abklärungsinstrument in der Praxis. Bern: Stämpfli.

Hauri, Andrea & Zingaro, Marco. (2013). Leitfaden Kindesschutz. Kindeswohlgefährdung erkennen in der sozialarbeiterischen Praxis (1. Auflage) Bern: Kinderschutz Schweiz (Hrsg.).

Hiltbrunner, Nathalie; Egbuna-Joss, Andrea (2013). Die Knabenbeschneidung aus juristischer Sicht. Grundlagenpapier des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte. Freiburg i. Ue. Abgerufen von https://www.skmr.ch/cms/upload/pdf/130807_SKMR_Knabenbeschneidung.pdf.

Hoops, Sabrina & Bernd Holthusen, Bernd (2011). Delinquenz im Jugendalter – Ein Indikator für Gefährdung? IzKK-Nachrichten 2011-1: Gefährdungen im Jugendalter. S. 36– 40. Abgerufen von https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs/jugendkriminalitaet/IZKK_gefaehrdung_HoHo.pdf.

Jud, Andreas (2018). Kindesmisshandlung: Definition, Ausmass, Folgen. In: J. Fegert, M. Kölch, E. König, D. Harsch, S. Witte, U. Hoffmann (Hrsg.), Schutz vor sexueller Gewalt und Übergriffen in Institutionen, S. 50–58. doi:10.1007/978-3-662-57360-0_5.

Jud, Andreas. (2015). Sexueller Kindesmissbrauch – Begriffe, Definitionen und Häufigkeiten. In: Jörg M. Fegert; Ulrike Hofmann; Elisa König; Johanna Niehues & Hubert Liebhardt (Hrsg.), Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Ein Handbuch zur Prävention und Intervention für Fachkräfte im medizinischen, psychotherapeutischen und pädagogischen Bereich, S. 41–50. Wiesbaden: Springer.

Kinderschutz Schweiz (Hrsg.) (2020). Andrea Hauri, Marco Zingaro. Kindeswohlgefährdung erkennen und angemessen handeln. Leitfaden für Fachpersonen aus dem Sozialbereich. Bern: Kinderschutz Schweiz (2. überarbeitete Auflage). Abgerufen von https://www.kinderschutz.ch.

Kindler, Heinz (2013). Partnergewalt und Beeinträchtigungen kindlicher Entwicklung: Ein aktualisierter Forschungsüberblick. In: Barbara Kavemann & Ulrike Kreyssig (Hrsg.), Handbuch Kinder und häusliche Gewalt (3. Auflage, S. 27–47). Wiesbaden: Springer.

Kindler, Heinz. (2006). Was ist unter dem Münchhausen-by-proxy-Syndrom zu verstehen? In: Heinz Kindler, Susanna Lillig, Herbert Blüml, Thomas Meysen, Annegret Werner (Hrsg.), Handbuch Kindeswohlgefährdung nach §1666BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). München: Deutsches Jugendinstitut e. V. (Kap. 7). Abgerufen von https://www.dji.de.

KOKES (Hrsg.) (2017). Praxisanleitung Kindesschutzrecht. Zürich: Dike.

Leeb, R. T., Paulozzi, L., Melanson, C., Simon, T., & Arias, I. (2008). Child maltreatment surveillance: Uniform definitions for public health and recommended data elements (version 1.0. Atlanta) GA: Centers for Disease Control and Prevention, National Center for Injury Prevention and Control.

Leuschner, Fredericke. (2020). Täterinnen. Hintergründe und Deliktstrukturen von Straftaten durch Frauen. Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, 14, S. 130–140.

Mohler-Kuo, M., Landolt, M. A., Maier, T., Meidert, U., Schönbucher, V. & Schnyder, U. (2014). Child sexual abuse revisited: a population-based cross-sectional study among Swiss adolescents. Journal of Adolescent Health Care, 54(3), 304–311.e1. doi: 10.1016/j.jadohealth.2013.08.020.

Moggi, Franz (2005). Folgen von Kindesmisshandlung: Ein Überblick. In: Günther Deegener & Wilhelm Körner (Hrsg.), Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Ein Handbuch (S. 94–103). Göttingen: Hogrefe.

Erpelding, Lynn & Schiel, Julie (2020). Was sind die bekanntesten Mobbingprogramme? In: Matthias Böhmer & Georges Steffgen (Hrsg.), Mobbing an Schulen. Massnahmen zur Prävention, Intervention und Nachsorge (S. 177–221). Wiesbaden: Springer.

Perspektive Thurgau (2018). Mobbing. Leitfaden für die Schulen im Kanton Thurgau. Abgerufen von https://av.tg.ch/public/upload/assets/63761/Mobbing_Leitfaden_A4_Einzelseiten.pdf.

Politi, Styliani (2020). Was ist Mobbing und wie kann man es erkennen? In: Matthias Böhmer & Georges Steffgen (Hrsg.) Mobbing an Schulen. Massnahmen zur Prävention, Intervention und Nachsorge (S. 1–18). Wiesbaden: Springer.

Rosch, Daniel; Fountoulakis, Christiana & Heck, Christoph (2018). Handbuch Kindes- und Erwachse-nenschutz. Recht und Methodik für Fachleute. 2. Auflage Bern: Haupt.

Schenk, Lara. (2020). Was ist Cybermobbing? In: Matthias Böhmer & Georges Steffgen (Hrsg.), Mobbing an Schulen. Massnahmen zur Prävention, Intervention und Nachsorge (S. 273–301) Wiesbaden: Springer.

Schumann, Karl F. (2010). Jugenddelinquenz im Lebensverlauf. In: Bernd Dollinger & Henning Schmidt-Semisch (Hrsg.), Handbuch Jugendkriminalität. Kriminologie und Sozialpädagogik im Dialog (S. 243–257). VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Stiftung Kinderschutz Schweiz (n. d.). Parcours «Mein Körper gehört mir!» Präventionsangebot sexueller Gewalt im pädagogischen Kontext. Abgerufen von https://www.kinderschutz.ch/angebote/praventionsangebote/mein-korper-gehort-mir

Van Geel, M., Vedder, P., & Tanilon, J. (2014). Relationship between peer victimization, cyberbullying, and suicide in children and adolescents a meta-analysis. JAMA Pediatrics, 168(5), S. 435–442. doi:10.1001/jamapediatrics.2013.4143.

1.2Praxishilfen zur Einschätzung des Kindeswohls und zum angemessenen Handeln durch die Schule

Andrea Hauri & Regina Jenzer

Wie im vorherigen Kapitel bereits erwähnt, wird in diesem Handbuch die Haltung vertreten, dass die Einschätzung des Kindeswohls von Schülerinnen und Schülern primär Aufgabe der Schulsozialarbeit ist. Dennoch erscheint es zwingend, dass alle Akteur/innen der Schule über ein Grundverständnis und ein Grundlagenwissen verfügen, um das Kindeswohl einzuschätzen. Ein solches Grundlagenwissen dient insbesondere auch dazu, potenzielle Kindeswohlgefährdungen im Schullalltag früh zu erkennen. Denn oftmals sind es Lehrpersonen, Speziallehrkräfte oder Betreuungspersonen der Tagesschule, die erste Auffälligkeiten beim Kind beobachten. Gerade in der Tagesschule liegt ein grosses Potenzial zur Früherkennung von Kindeswohlgefährdungen, denn diese zeigen sich häufig bei alltäglichen Aktivitäten wie beispielsweise beim Essen oder auch bei Freizeitaktivitäten. Dementsprechend wichtig ist es für alle Akteur/innen der Schule, diese ersten Beobachtungen einordnen zu können und zu wissen, welches die weiteren Schritte sind. Die vorliegende Praxishilfe macht einerseits Empfehlungen für diese Fragen, andererseits soll sie einem allgemeinen und kollektiven Verständnis des Vorgehens dienen. Letztgenanntes fördert insbesondere auch eine gemeinsame Sprache und Haltung innerhalb der Schule und erleichtert die Zusammenarbeit mit der Schulsozialarbeit. Die Rollen der einzelnen Akteurinnen und Akteure bei der Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung werden in den Kapiteln 2.3 (Lehrpersonen), 2.2 (Schulleitung), 2.5 (Tagesschule) und 3 (Schulsozialarbeit) vertieft.

Bei einer Einschätzung des Kindeswohls ist auf folgende Aspekte zu achten:33

•Die Einschätzung sollte nach dem Mehraugen-Prinzip vorgenommen und die verschiedenen ergänzenden Sichtweisen der Akteur/innen der Schule sollten berücksichtigt werden.

•Einschätzungshilfen sollten nicht starr angewendet werden, es handelt sich vielmehr um Orientierungshilfen, deren Ergebnisse auch kritisch reflektiert werden sollen.

•Es ist hilfreich, insbesondere wenn in der Schule keine Schulsozialarbeit vorhanden ist, regionale oder kantonale Angebote für anonyme Fallbesprechungen zu nutzen. Oft bietet auch die KESB die Möglichkeit, eine konkrete Situation anonym (d. h. ohne Angaben von Personalien) zu besprechen und das Vorgehen abzustimmen.

•Jede Einschätzung sollte nach einer gewissen Zeit wiederholt und damit aktualisiert werden.

•Schulinterne Abläufe sollten geklärt und berücksichtigt werden.

•Für die Akteurinnen und Akteure der Schule sind die kindbezogenen Anhaltspunkte sowie die kindbezogenen Risiko- und Schutzfaktoren aufgrund der Nähe zu den Schüler/innen oft relativ einfach zu erkennen, währenddem die Aspekte, die sich auf die Eltern und auf ihr Erziehungsverhalten beziehen, für die Schule oft verborgen bleiben. Hinweise dazu können jedoch im Rahmen von Elterngesprächen oder Schulanlässen durch die Klassenlehrperson, durch Speziallehrkräfte, durch die Schulsozialarbeit oder auch durch Äusserungen des Kindes selbst auftauchen.

•Einschätzungshilfen sollen nicht dazu anregen, aktiv nach Informationen zur familiären Situation des Kindes zu suchen, wie das bei einer Abklärung im Auftrag der KESB der Fall ist. Es geht vielmehr darum, das vorhandene Wissen innerhalb der Schule zusammenzutragen und für die Einschätzung zu nutzen.

•Es empfiehlt sich, Supervision und Intervision zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Fall zu nutzen.

•Auch wenn Kindeswohlgefährdungen emotional aufwühlen, ist es wichtig, Ruhe zu bewahren und nicht in einen übereilten Aktionismus zu verfallen (vgl. Kapitel 1.2.6).

•Eine sorgfältige Dokumentation der Beobachtungen und der Einschätzung ist unerlässlich (vgl. Kapitel 2.4).

•In der Schule besteht ein Spannungsfeld zwischen dem Erfüllen des Bildungsauftrags, dem Sicherstellen des Wohlergehens aller Schüler/innen einer Klasse, der Gesundheit der Lehrpersonen sowie dem möglichst reibungslosen Schulbetrieb einerseits und den individuellen Bedürfnissen und Ansprüchen jedes einzelnen Kindes andererseits. So können schulische Disziplinarmassnahmen in Form von einem Time-out oder einem Schulausschluss mit Blick auf die Aufrechterhaltung des Schulbetriebs und das Wohlergehen der Schüler/innen insgesamt notwendig sein, dem Wohl des betroffenen Kindes jedoch möglicherweise nicht dienen. Wenn die Schule in einer solchen schwierigen Situation eine Meldung an die KESB macht, kann dies aus Sicht der KESB und der betroffenen Familie als ein Abschieben des Problems an das System des zivilrechtlichen Kindesschutz wahrgenommen werden. In diesen Situationen ist es angezeigt, vor dem Erstatten einer Meldung den Kontakt zur KESB zu suchen und gemeinsam zu klären, ob die Eröffnung eines Kindesschutzverfahrens sinnvoll ist oder ob auf andere Massnahmen und Hilfestellungen zurückgegriffen werden muss. Eine Meldung an die KESB sollte im Grundsatz nicht erfolgen, damit der Schulbetrieb wieder möglich ist, sondern mit einer individuellen Gefährdung des betroffenen Kindes begründet sein.

Das Vorgehen bei möglichen Kindeswohlgefährdungen lässt sich in drei Phasen unterteilen (vgl. nachfolgende Abbildung). Zuerst werden Anhaltspunkte, Risiko- und Schutzfaktoren identifiziert. Anschliessend erfolgt eine Einschätzung des Kindeswohls. Basierend auf der Einschätzung wird danach das konkrete Vorgehen geplant.

Abb. 1: Phasen des Vorgehens bei möglichen Kindeswohlgefährdungen

1.2.1Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung erfassen

Um das Kindeswohl einzuschätzen, stützen wir uns auf Anhaltspunkte für Gefährdungen sowie auf Risiko- und Schutzfaktoren. Diese werden in einem ersten Schritt identifiziert. Diese Aspekte werden nachfolgend in separaten Unterkapiteln als drei einzelne Handlungsschritte thematisiert. In einem ersten Schritt werden die Anhaltspunkte bearbeitet: Anhaltspunkte für Kindeswohlgefährdungen sind Aspekte, die häufig für Aussenstehende sichtbar sind und als Anlass genommen werden, um die Situation des Kindes näher anzuschauen. Oftmals handelt es sich um Aspekte, wie sie in der Forschungsliteratur als Kurzzeitfolgen von Gefährdungen beschrieben werden (vgl. Kap. 1.1.4). Es ist nicht die Aufgabe der Schule, investigativ nach Indizien zu suchen. Vielmehr geht es darum, die bestehenden Informationen zusammenzutragen und allfällige Anhaltspunkte zu identifizieren. Werden Anhaltspunkte beobachtet, so hat sich unter Umständen also bereits eine Gefährdung manifestiert und erste Folgen sind sichtbar. Anhaltspunkte können aber auch auf andere Ursachen als auf eine Kindeswohlgefährdung (z. B. auf eine angeborene Behinderung) zurückzuführen sein. Deshalb ist bei der Erfassung von Anhaltspunkten für eine Gefährdung besondere Vorsicht angezeigt und voreilige Schlüsse sollten vermieden werden (zu Rollen und zum Vorgehen siehe Kap. 1.2.5).

Halten Sie schriftlich fest, welche der nachfolgenden Anhaltspunkte für eine mögliche bestehende Kindeswohlgefährdung vorhanden sind:

Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung34

Körperliche Anhaltspunkte

Chronische Unter- oder Fehlernährung

Andauernd unversorgte Wunden oder nicht behandelte Krankheiten

Wiederholte Krankheiten aufgrund von nicht witterungsgemässer Kleidung

Hämatome oder Knochenbrüche, die auf Misshandlung hindeuten

Körperliche und motorische Entwicklungsverzögerungen

Kognitiv-emotionale Anhaltspunkte

Mehrmonatiger Leistungsabfall in der Schule (Kind kann seine intellektuellen Möglichkeiten deutlich und seit ca. 3 Monaten nicht mehr in sachliche Schulleistungen umsetzen)

Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen

Sprach-, Lern- und Schulschwierigkeiten

Psychosomatische Beschwerden (z. B. Atembeschwerden, chronische Bauchschmerzen ohne körperlichen Befund)

Essstörungen

Ausgeprägte Schlafstörungen, dauerhaft ausgeprägte Müdigkeit im Unterricht

Deutlich nicht dem Alter entsprechendes Bettnässen oder Einkoten

Angststörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, Suizidgedanken

Feindseligkeit sowie allgemeine Auffälligkeiten in der Gefühlsregulation (z. B. ausgeprägte Impulsivität)

Soziale und verhaltensbezogene Anhaltspunkte

Selbstschädigendes Verhalten (Suizidversuch, Drogenkonsum)

Sehr häufiges Zuspätkommen in die Schule, Fernbleiben vom Unterricht

Weglaufen von zu Hause, Weglaufen von der Schule

Sozialer Rückzug, Kind/Jugendliche/r hat permanent Mühe, sich sozial in eine Peergruppe zu integrieren, sehr häufige Konflikte oder häufige Gefühle, nicht akzeptiert zu sein

Hyperaktivität

Delinquentes Verhalten (Diebstahl, mutwillige Sachbeschädigung, Tätlichkeiten, Körperverletzungen etc.)

Aggressives Verhalten

Weitere Anhaltspunkte

Gefährliche Wohnverhältnisse und/oder unzureichender Schutz vor Gefahren

Mangelnde Aufsicht und Betreuung

Wiederholtes unangekündigtes Nichterscheinen zu schulischen Elterngesprächen oder Elternabenden

Miterleben von häuslicher Gewalt/Partnerschaftsgewalt

Dauerhaftes Miterleben des Kindes von hochstrittigen Elternkonflikten um das Kind

1.2.2Schutzfaktoren identifizieren

Schutzfaktoren für Kindeswohlgefährdungen sind Aspekte, die mit einer statistisch erhöhten Wahrscheinlichkeit verbunden sind, dass sich ein Kind in Zukunft, trotz widriger Lebensumstände, gesund entwickeln kann.35 In Zusammenhang mit Schutzfaktoren ist das Konzept der Resilienz von Bedeutung. Resilienz ist ein Prozess, aus welchem eine Widerstandsfähigkeit resultiert und ein Kind sich trotz widriger Lebensumstände gesund entwickeln kann und die Wirkung von Risiken gemildert wird.36

Halten Sie schriftlich fest, welche der nachfolgenden Schutzfaktoren beim Kind und der Familie aus Ihrer Sicht mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhanden sind:

Schutzfaktoren37 für Kindeswohlgefährdungen

Schutzfaktoren beim Kind

Fröhliches Temperament

Hohes Selbstwertgefühl

Ausgeprägte Emotionsregulation/Impulsbedürfniskontrolle

Hohe Selbstwirksamkeitserwartung

Das Kind hat mindestens eine enge Freundin oder einen engen Freund (mittlere Kindheit/Jugend)

Enge, positive emotionale Beziehung eines Kindes zu einem/eines nicht misshandelnden/vernachlässigenden Elternteil/s oder einer anderen Hauptbetreuungsperson

Gute schulische Leistungen

Schutzfaktoren bei den Eltern

Ausgeprägte soziale Unterstützung der Eltern (z. B. durch Nachbarn, Freundschaften etc.)

Positives, feinfühliges, dem Entwicklungsstand und der Persönlichkeit des Kindes angemessenes Erziehungsverhalten

Elterliches Wissen über die Entwicklung von Kindern

Hohe Konstanz der Betreuungspersonen

Hohe Beziehungsqualität in Partnerschaft/Ehe (konstruktive Art, Konflikte zu lösen, harmonische Beziehung)

Familiare Stabilität

1.2.3Risikofaktoren identifizieren

In einem nächsten Schritt geht es darum, die Risikofaktoren für eine Kindeswohlgefährdung, soweit sie der Schule bekannt sind, zu identifizieren. Risikofaktoren für Kindeswohlgefährdungen sind Aspekte, die mit einer statistisch erhöhten Wahrscheinlichkeit verbunden sind, dass es in Zukunft zu einer Gefährdung kommen wird.38

Halten Sie schriftlich fest, welche der nachfolgenden Risikofaktoren beim Kind und der Familie aus Ihrer Sicht mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhanden sind:

Risikofaktoren39 für Kindeswohlgefährdungen

Risikofaktoren beim Kind

Ausgeprägte Verhaltensauffälligkeit

Psychische Störung

Ausgeprägt schwieriges Temperament

Deutliche Intelligenzminderung

Chronische Erkrankung, Behinderung

Keine konstante Betreuungsperson vorhanden, zu der eine enge positive Beziehung besteht

Risikofaktoren bei den Eltern

Frühere Meldungen an die Kindesschutzbehörde oder früheres Gefährdungsereignis, früherer Todesfall oder schwere Verletzungen wegen Misshandlung/Vernachlässigung in der Familie

Belastung durch ungenügende materielle Ressourcen

Fehlende soziale Unterstützung

Eigene Erfahrungen von Vernachlässigung/Misshandlung in der Kindheit

Partnerschaftsgewalt/häusliche Gewalt

Psychische Störung eines Elternteils (inkl. Suchtmittelabhängigkeit)

Ausgeprägte negative Emotionalität (leicht auszulösende, intensive Gefühle von Trauer, Niedergeschlagenheit oder Ärger)

Ausgeprägte Gefühle der Belastung, Hilflosigkeit oder Überforderung angesichts der Erziehungsaufgaben

Hohe Impulsivität

Stark verzerrte Wahrnehmung des kindlichen Verhaltens (z. B. die Interpretation, das weinende Kind wolle die Mutter bzw. den Vater ärgern)

Ausgeprägt unrealistische Erwartungen gegenüber dem Kind, eingeschränktes Einfühlungsvermögen in die Situation des Kindes

Anwendung drastischer Formen der Bestrafung

Stark verzerrte Vorstellung der Eltern von ihrer Verantwortung

Stark verringertes Selbstwertgefühl

1.2.4Einschätzung des Kindeswohls vornehmen

Nachdem Sie die Anhaltspunkte, Risiko- und Schutzfaktoren identifiziert haben, gilt es, im Lehrpersonenteam und mit Einbezug der Schulsozialarbeit eine Risikoeinschätzung vorzunehmen. Dabei bietet die Schulsozialarbeit eine Fachberatung an. Durch die gemeinsame Einschätzung wird beurteilt, wie hoch das Risiko einer Kindeswohlgefährdung für das Kind ist (vgl. Frage 1 im nachfolgenden Kasten). Wichtig ist, dass sich die Einschätzung nicht an einem idealen Zustand orientiert, sondern primär an der Frage, inwiefern die Lebenssituation des Kindes gut genug ist, damit es sich gesund entwickeln kann («Gut-genug-Variante», vgl. Kapitel 1.1.1). Einzelne Risikofaktoren sind in der Regel zu wenig aussagekräftig, um von einem hohen Gefährdungsrisiko auszugehen. Die Risikofaktoren haben aber eine kumulative Wirkung, d. h., wenn mehrere Risikofaktoren zusammen auftreten, kann dies zu einer überproportionalen Erhöhung des Gefährdungsrisikos führen. Das Gefährdungsrisiko ist beispielsweise deutlich erhöht, wenn eine diagnostizierte psychische Störung, Partnerschaftsgewalt, Alkoholprobleme oder Drogenkonsum einer mit dem Kind im Haushalt lebenden erwachsenen Person vorliegt.40 Bei der Risikoeinschätzung gilt es stets den Einzelfall zu beurteilen. Das Risiko einer Kindeswohlgefährdung ist abhängig von zahlreichen Faktoren. Es geht nicht um eine mathematische Einschätzung, sondern um eine fachliche Abwägung. Neben den eigentlichen Risikofaktoren berücksichtigen Sie bei der Einschätzung auch die zuvor erhobenen Schutzfaktoren und die Anhaltspunkte für Gefährdungen.

Die Risikoeinschätzung nehmen Sie durch die Beantwortung der zwei nachfolgend aufgeführten Fragen vor:

1. Wie hoch schätzen Sie das Risiko einer Kindeswohlgefährdung für das Kind ein?

2. Wie sicher fühlen Sie sich in der Einschätzung, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt?

Bei der zweiten Frage geht es darum, den Grad Ihrer subjektiven Gewissheit zu beurteilen im Hinblick auf die Einschätzung, ob eine Gefährdung vorliegt oder nicht. Für beide Fragen steht Ihnen in der nachfolgenden Abbildung eine fünfstufige Skala mit Antworten zur Verfügung. Sie können anschliessend Ihre Antworten auf die beiden Fragen miteinander kombinieren. Daraus resultieren vier mögliche Fallkategorien: Grün, Gelb, Orange und Rot, wie die nachfolgende Abbildung zeigt.

Abb. 2: Risikoeinschätzung (Quelle: Kinderschutz Schweiz (2020, S. 47), Hauri & Zingaro (2013, S. 44), mit freundlicher Genehmigung von Kinderschutz Schweiz)

1.2.5Entscheidungsbaum für die Planung des weiteren Vorgehens durch die Schule und die Schulsozialarbeit41

Nachdem Sie eine Risikoeinschätzung vorgenommen haben, geht es darum, die daraus resultierende Fallkategorie im Mehraugen-Prinzip zu überprüfen und das weitere Vorgehen zu planen.

Der nachfolgende Entscheidungsbaum gibt einen allgemeinen Überblick über das Vorgehen und die konkreten Schritte der Akteur/innen der Schule und der Schulsozialarbeit. Nähere Angaben zu den Aufgaben der einzelnen Akteurinnen und Akteure der Schule bei Kindeswohlgefährdungen sind in Kapitel 2 detailliert ausgeführt. Die Rolle, das Vorgehen und die Leistungen der Schulsozialarbeit bei möglichen Kindeswohlgefährdungen werden in Kapitel 3 dieses Handbuches ausführlich erläutert.

Grüner Fall – kein Hilfebedarf

Bei grünen Fällen haben Sie das Gefährdungsrisiko als «niedrig» oder «sehr niedrig» eingeschätzt und sind sich bei der Einschätzung «sicher» oder «sehr sicher». In diesem Fall besteht in der Regel kein Hilfebedarf.

Gelber Fall – Hilfebedarf

Haben Sie das Gefährdungsrisiko als «niedrig» oder «sehr niedrig» eingeschätzt und sind Sie bei dieser Einschätzung «sehr unsicher», «unsicher» oder «eher unsicher», kann zwar von einem Hilfebedarf beim Kind und/oder den Eltern ausgegangen werden, das Kindeswohl wird hier jedoch als genügend sichergestellt beurteilt, die «Gut-genug-Variante» ist erfüllt. Falls die Eltern und/oder das Kind nicht bereit sind, entsprechende Hilfsangebote wahrzunehmen, erfolgen hier deshalb in der Regel keine weiteren Schritte. Sind die Eltern und/oder das Kind hingegen bereit, Hilfen anzunehmen, werden diese eingeleitet oder vermittelt. Eine Information der Schulleitung oder anderer Akteur/innen der Schule ist nicht zwingend notwendig, kann jedoch im Einzelfall trotzdem sinnvoll sein.

Zeichnet sich ein Hilfebedarf aus einem Kontakt der Schülerin/des Schülers mit einer Lehrperson, einer Speziallehrkraft, einer Fachkraft der Tagesschule oder mit der Schulsozialarbeit ab und sind die Eltern noch nicht involviert, wird bei gelben Fällen geklärt, ob der/die Schüler/in einverstanden ist, dass die Eltern kontaktiert und ihnen Hilfe/eine Triage angeboten wird. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn sich eine Schülerin der Lehrkraft anvertraut und ihr erzählt, dass sie aufgrund von Elternkonflikten Mühe habe, sich in der Schule zu konzentrieren.

Die Fallführung bleibt bei den gelben Fällen in der Regel bei der Lehrperson oder bei der Schulsozialarbeit. Wird ein Fall primär im Rahmen der schulergänzenden Betreuung durch die Tagesschule als gelb eingestuft, kann die Fallführung, je nach Organisationsstruktur, bei der Tagesschulleitung liegen. Bei den gelben Fällen empfiehlt es sich, das Kind weiter zu beobachten und nach einer gewissen Zeit erneut eine Einschätzung vorzunehmen.

Oranger Fall – erheblicher Hilfebedarf

Ein oranger Fall ergibt sich, wenn Sie das Gefährdungsrisiko als «eher hoch», «hoch» oder «sehr hoch» einstufen und Sie sich bei dieser Einschätzung «sehr unsicher», «unsicher» oder «eher unsicher» fühlen. Ein oranger Fall bedeutet, dass ein erheblicher Hilfebedarf besteht, welcher unbedingt Hilfestellungen erfordert. Wenn sich die Einschätzung der Fallkategorie nach einer schulinternen Fallbesprechung im Lehrpersonenteam bzw. im Tagesschulteam und mit der Schulsozialarbeit bestätigt, ist zunächst die Schulleitung bzw. die Tagesschulleitung zu informieren. Die Schulsozialarbeit informiert ihre vorgesetzte Person, d. h. in der Regel die Leitung der Schulsozialarbeit, wenn ein Kind durch die Schulsozialarbeit begleitet wird und die Fallführung bei der Schulsozialarbeit liegt. Schulintern und mit der Schulsozialarbeit wird geklärt, wer an einem folgenden Gespräch mit den Eltern anwesend ist und wie das Gespräch ablaufen soll (vgl. Kap. 2.2, 3.5 und 3.6). In der Regel wird dieses Gespräch durch die Schulleitung, durch die Tagesschulleitung oder durch die Schulsozialarbeit, nicht jedoch durch die Lehrperson geleitet. Normalerweise wird vor der Einladung der Eltern der/die Schüler/in über das geplante Gespräch mit den Eltern informiert (vgl. Hinweis unten zur Informationsweitergabe). Anschliessend werden die Eltern (und je nach Situation auch der/die Schüler/in) zum gemeinsamen Gespräch eingeladen.

Mit den Eltern und je nach Situation auch mit der Schülerin/dem Schüler wird geklärt, ob diese bereit sind, verbindlich Hilfe anzunehmen und allfällige Vereinbarungen umzusetzen. Falls die Bereitschaft zur Inanspruchnahme von weiteren Hilfen durch die Eltern und/oder durch die Schülerin/den Schüler vorhanden ist, erfolgt eine verbindliche Triage an eine geeignete schulexterne Stelle (z. B. an eine Beratungsstelle). Verbindliche Triage bedeutet, dass diese Stelle von den Eltern die Erlaubnis erhält, der Schule zu bestätigen, dass eine weitere Beratung oder Unterstützung durch diese Stelle erfolgt. Kann der Hilfebedarf durch schulinterne Angebote (z. B. durch Spezialunterricht oder durch die Tagesschule) oder durch Angebote der Schulsozialarbeit gedeckt werden, kann die nötige Hilfe auch durch die genannten Angebote selbst erfolgen. Wichtig ist, dass nach einer definierten Zeit eine erneute Einschätzung des Kindeswohls erfolgt und kritisch geprüft wird, ob das Kindeswohl mit den vereinbarten Hilfen sichergestellt werden konnte. Je nach Situation und Organisation liegt die Fallführung bei orangen Fällen bei der Schulsozialarbeit oder bei der Schulleitung. In der Regel ist es bei orangen Fällen nicht angezeigt, dass Lehrpersonen die Fallführung innehaben (vgl. Kap. 2.3). Die Fallführung geht immer an die Schulleitung über, falls bei orangen Fällen die Eltern und/oder die Schülerin/der Schüler nicht bereit oder nicht in der Lage sind, verbindlich weitere Hilfen in Anspruch zu nehmen. Wenn mit der Familie keine Hilfe vereinbart werden kann, ist das Vorgehen gleich wie bei einem roten Fall, wie die nachfolgende Abbildung aufzeigt.

Bei orangen Fällen besteht ein gewisses Mass an Unsicherheit über die Situation des Kindes. Für die weitere Entwicklung des Kindeswohls ist es nicht ausreichend, dass Eltern und ihr Kind kooperationsbereit und -fähig sind und Hilfen installiert werden können. Es ist vielmehr nötig, dass diese Hilfen tatsächlich wirken und zu einer deutlichen Verbesserung der Situation des Kindes beitragen. Bei einem orangen Fall sollte deshalb immer wieder eingeschätzt werden, ob und inwiefern das Kindeswohl nach einer definierten Frist tatsächlich sichergestellt werden konnte. Es besteht ansonsten die Gefahr, dass die Meldepflicht umgangen und latente Gefährdungen verschleppt werden und die KESB zu einem späteren Zeitpunkt mit umso stärkeren Massnahmen eingreifen muss.

Roter Fall – Kindeswohlgefährdung

Wenn Sie das Risiko einer Kindeswohlgefährdung als «eher hoch», «hoch» oder «sehr hoch» einschätzen und Sie sich bei dieser Einschätzung «sicher» oder «sehr sicher» sind, besteht ein roter Fall. Dabei handelt es sich um eine Kindeswohlgefährdung. Nun besteht gemäss Art. 314d ZGB eine Meldepflicht an die KESB (vgl. Kap. 1.8), sofern Sie die Gefährdung nicht im Rahmen Ihrer Tätigkeit beheben oder eine verbindliche Triage an eine geeignete Stelle machen können. Um diese Frage zu klären, ist das Vorgehen vorerst gleich wie bei einem orangen Fall, wobei der Ermessensspielraum bei einem roten Fall kleiner ist als bei einem orangen Fall: Die Schulleitung, die Klassenlehrperson/en, die Eltern und die Schülerin/der Schüler werden informiert (Hinweise zur Gesprächsführung mit Eltern vgl. Kap. 2.8, 3.5, 3.6 und 3.7). Wird ein Fall im Rahmen der schulergänzenden Betreuung durch die Tagesschule als rot eingestuft, ist, wenn nicht bereits geschehen, die Tagesschulleitung zu informieren. Es sind dieselben Fragen nach Bereitschaft und Fähigkeit der Eltern und/oder der Schülerin/des Schülers zur verbindlichen Inanspruchnahme weiterer Hilfen zu klären, wie bei den orangen Fällen beschrieben. Ist es möglich, mit den Eltern, der Schülerin/dem Schüler verbindlich eine Hilfe zu vereinbaren, ist das weitere Vorgehen wie bei einem orangen Fall, d. h., Hilfe wird vermittelt (verbindliche Triage) oder selbst durch die Schule geleistet. Falls keine Hilfe vermittelt werden kann oder falls sich die Situation für das Kind auch nach erfolgter Hilfe nicht wesentlich verbessert, ist die Schule nach Art. 314d ZGB verpflichtet, eine Meldung an die KESB zu machen (vgl. Kap. 1.8