Schweinebande - Meddi Müller - E-Book

Schweinebande E-Book

Meddi Müller

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Beschreibung

Ein Ehepaar wird tot im Gebüsch vor ihrem Haus in der Frankfurter Nordweststadt gefunden. Auf den Bildern einer Überwachungskamera aus der besorgten Nachbarschaft ist deutlich eine Person zu erkennen, die beide vom Balkon wirft. Christian Köhler, Spitzname Shaft und Sabine Grotewohl, genannt Grotte, übernehmen die Ermittlungen. Was machte den Staplerfahrer einer Großmetzgerei so gefährlich, dass man ihn und seine Frau ermordet? Und warum verhält sich sein Chef so merkwürdig? Was am Anfang aussah wie ein einfacher Mord, entpuppt sich als großer Fall – der Shaft und Grotte an ihre Grenzen bringt.

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Meddi Müller

Schweinebande

Ein Frankfurt-Krimi mit Shaft und Grotte

Müller, Meddi: Schweinebande. Ein Frankfurt-Krimi mit Shaft und Grotte. Hamburg, edition krimi 2020

1. Auflage 2020

E-Book ISBN 978-3-946734-66-6

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

ISBN 978-3-946734-65-9

Lektorat: Birgit Rentz

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, edition krimi

Umschlagmotiv: pixabay.com

Coverbild: © New Africa/stock.adobe; © DenisMArt/stock.adobe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die edition krimi ist ein Imprint der Bedey Media GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© edition krimi, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.edition-krimi.de

Inhalt

DER STURZ

DIE WOHNUNG

RAUCHZEICHEN

PUZZLESPIELE

FLEISCH

DER NACHBARSCHAFTSBESCHÜTZER

KLARHEIT

DIE CHEFIN

GRILLPARTY

FORTSCHRITTE

VATER UND TOCHTER

INSTINKTE

VENUSFLIEGENFALLE

FALSCHE NACHRICHT

ERPRESSUNG?

KEINE FAKTEN

DER ANWAL

FAHRLÄSSIG

CHATVERLAUF

DNA

FRAU BECKER

ZU FRÜH GEFREUT

ANGST

FALSCH ADRESSIERT

FLUCHT UND ARROGANZ

VERWANDTSCHAFT

SPURENSUCHE

JAGD

ÜBERRASCHUNGEN

BLICKWINKEL

SCHICKSAL UND ENTSCHEIDUNG

EPILOG

DER STURZ

Als Christian Köhler sein Handy aus der Wertsachentüte nahm, die während des Spiels vom Spielausschussvorsitzenden Holger bewacht wurde, stand auf dem Display, er habe sage und schreibe zwölf verpasste Anrufe. „Scheiße!“, war alles, was ihm dazu einfiel. „Das riecht stark nach Arbeit.“

„Heute ist Sonntag“, entgegnete Holger, der die Tüte immer noch in der Hand hielt, und zog geräuschvoll die Nase hoch.

„Das Verbrechen schläft nie“, phrasierte Christian Köhler und wählte die Rückrufoption des Handys. Bereits nach dem ersten Klingeln hörte er die Stimme seiner Partnerin bei der Kriminalpolizei Frankfurt, Sabine Grotewohl, die ihn anblaffte: „Aha! Ist der Herr jetzt auch erreichbar.“

Köhler rollte mit den Augen, woraufhin Grotewohl rief: „Und roll nicht mit den Augen, ich kann das durchs Telefon sehen!“

„Was ist denn so wichtig, dass du mich in meiner Freizeit zwölf Mal anrufst?“, wollte Köhler wissen. Er griff nach einer Flasche eiskaltem Bier, klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Ohr und schlug die Flasche am Kasten auf. Durstig nahm er einen großen Schluck und unterdrückte einen Rülpser.

„Trinkst du etwa Bier?“, schlug es ihm im Telefon entgegen.

„Ich habe frei, Sabine“, wehrte er ab. „Da kann ich machen, was ich will.“

„Kannst du nicht, du bist Bulle.“

„Boah, du nervst!“ Köhler wurde lauter. „Heute haben Schmidt und Laußner Bereitschaft.“

„Der Boss hat aber mich angerufen.“

„Was soll denn das?“

„Schmidt und Laußner haben schon einen anderen Auftrag. Ein Aufgehängter am Roßmarkt.“ Grotewohl unterbrach sich kurz. Sie schien sich eine Zigarette anzuzünden. Kurz darauf hörte Köhler, wie sie den Rauch ausblies. Das war der Zeitpunkt für einen Konter.

„Seit wann rauchst du wieder?“

„Tu ich nicht.“

„Willst du mich für dumm verkaufen? Ich bin Bulle.“

Eine kurze Pause entstand. Köhler grinste in sich hinein.

„Geht dich einen Scheißdreck an, Köhler. Ich bin erwachsen.“

„Mal sehen, was Leonie dazu sagt.“

„Das wagst du nicht …“

Köhler lachte laut. Er hatte ein kehliges Lachen, das ansteckend wirkte. „Also …“, sagte er schließlich. „Ich komme wohl aus der Nummer nicht mehr raus.“ Er trank einen weiteren Schluck von seinem Bier. „Was ist los?“

Seine Partnerin setzte ihn grob ins Bild und gab ihm die Adresse durch. Er versprach, sich zu beeilen, und legte auf.

„Und?“, wollte Holger wissen. „Wer ist denn jetzt erschossen worden?“

Köhler griff sich eine Zigarette aus der Schachtel, die Holger ihm hinhielt, und steckte sie am dargebotenen Feuer an. Er nahm einen Zug, hustete und sagte: „Absturz in der Nordweststadt.“

„Routine“, entgegnete Holger. „Aber ich dachte, du hättest heute frei.“

„Dachte ich auch.“

„Super Spiel, Chris“, bemerkte ein Passant und schlug dem Polizisten auf die breiten Schultern.

Der nickte zustimmend und stieß mit dem Mann an, der ebenfalls eine Flasche aus dem Kasten genommen hatte.

„Aber das 3:0 war Abseits“, sagte dieser.

„Abseits ist, wenn der Schiri pfeift“, gab Köhler zurück und grinste.

„Fünf Euro ins Phrasenschwein.“ Der Mann grinste ebenfalls. „Hauptsache gewonnen“, fügte er noch hinzu.

Holger stieß mit Köhler an. „Ohne unseren Bomber wären wir längst abgestiegen. Ob A- oder B-Klasse, macht ja wohl kaum einen Unterschied. Ich versteh zwar nicht, warum du dir die Hackerei in der A-Klasse antust, Christian, aber ich bin froh, dass du bei uns bleibst.“ Er nahm einen tiefen Schluck aus seiner Flasche. „Du könntest locker in der Regionalliga kicken.“

„Da müsste ich aber trainieren.“ Köhler leerte seine Flasche in einem Zug. „Außerdem könnte ich dann keine bösen Buben fangen.“ Er griff nach Holgers linkem Arm und sah auf dessen Uhr. „So, jetzt muss ich schnell duschen und dann los!“

Holger zeigte sich enttäuscht. „Schade. Ich dachte, wir nehmen noch einen.“

„Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“, erwiderte Köhler und hob die Schultern. „Augen auf bei der Berufswahl. Ich hätte ja auch was Anständiges lernen können.“ Damit ließ er Holger zurück und ging in die Kabine, um sich zu duschen.

Kommissar Köhler war knapp eins neunzig groß, athletisch und elegant. Seine krausen Haare trug er sehr kurz, fast stoppelig; ebenso wie seinen Dreitagebart, der stets akkurat gestutzt war. Wenn er sprach, glich es einem Dröhnen. Jeder Chor wäre stolz auf einen solchen Bass. Seine Garderobe war kostspielig und größtenteils maßgeschneidert. Er konnte sich das leisten, denn sein viel zu jung verstorbener Vater hatte ihm und seiner Mutter ein beträchtliches Vermögen hinterlassen, das Köhler vermutlich in diesem Leben nicht mehr aufbrauchen würde. Wenn er nicht lebte wie ein Renaissance-Fürst, hätten auch nachfolgende Generationen ein Leben in Luxus zu erwarten. Er war Bulle aus Leidenschaft. Ihm machte es Spaß, Fälle zu lösen und für das Gute zu arbeiten. Sein schwebender Gang machte ihn zu einer Erscheinung, sein Charme und seine von Gott gegebene Präsenz erleichterten ihm das Leben nach seinen Spielregeln. Er war ein Mann Ende dreißig, hatte feine Gesichtszüge, braune Augen, schwarzen Humor und eine Haut wie dunkles Karamell, die ihm seine Mutter Yaruda vererbt hatte.

Jetzt fuhr er mit seinem Mercedes DB 300 SL W 198, Baujahr 1957, über die dorfähnlichen Stadtteile des Frankfurter Nordens. Viele Besucher, die zum ersten Mal in diese Gegend kamen, zweifelten daran, dass sie überhaupt noch in Frankfurt waren. Zwischen Nieder-Erlenbach, Harheim und Bonames lag die Kornkammer der Stadt. Mehr Feld und Acker als Häuser. Doch die Zahl der Neubaugebiete nahm zu, was das Erscheinungsbild hier und da sehr veränderte und die Einheimischen die Neubürger mit Argwohn begrüßen ließ. In Anspielung auf die verbohrten Einheimischen sagte Köhler stets: „Frisches Blut tut dem Norden gut.“ Womit er auch auf seine im Stadtteil immer noch exotisch anmutende Erscheinung anspielte.

Eine knappe Stunde nach Spielende bog der Hauptkommissar mit seinem Schmuckstück von Auto am kürzlich umgebauten Nordwestzentrum in die Ernst-Kahn-Straße ein und war wenig später an der Einsatzstelle. Es handelte sich um eine Wohnsiedlung in der Frankfurter Nordweststadt. Zwischen ausgedehnten Parkanlagen war hier in den 1970er Jahren eine Trabantenstadt gebaut worden. Eigentlich ganz nett, mit viel Grün, hin und wieder aber auch sozialer Brennpunkt. Es gab drei- bis viergeschossige Mehrfamilienhäuser, Hochhäuser mit über zwanzig Stockwerken und hier und da ein paar Parzellen mit Einfamilienhäusern. Köhler parkte seinen Mercedes in Sichtweite. Sein Herzstück würde er nicht aus den Augen lassen, und schon gar nicht in dieser Gegend. Das Fahrzeug zog alle Blicke auf sich. Auch diesmal waren die Kollegen, die seine Errungenschaft noch nicht kannten, beeindruckt. Schnell bildete sich eine kleine Gruppe um das Fahrzeug. Weil darunter etliche Uniformierte waren, machte sich der Kommissar keine Sorgen um sein Baby. Besser konnte es nicht bewacht werden. Die Polizisten bestaunten den Oldtimer und bedachten Köhler mit teils neidischen, teils anerkennenden Blicken.

„Hey, Sie!“, hörte er eine Männerstimme brüllen. „Fahren Sie mal Ihre Zuhälterkarre vom Acker, sonst lass ich sie abschleppen. Das hier ist ein Tatort!“

Köhler blickte auf. Etwa dreißig Meter von ihm entfernt kam ein uniformierter Kollege wild mit den Armen fuchtelnd auf ihn zugestapft. Er schob einen stattlichen Bierbauch vor sich her und seine Dienstmütze saß schief auf seinem Kopf.

Respektsperson geht anders, dachte Köhler. Er hätte ahnen müssen, dass so etwas passieren würde. Mit ausdrucksloser Miene griff er in die Innentasche seines Jacketts und suchte nach seiner Brieftasche, um sich auszuweisen. Wie immer war er äußerst elegant gekleidet. Das war ihm ein Bedürfnis. Seine Anzüge saßen wie eine zweite Haut und er trug nur Schuhe, die von einem Schuster eigens für ihn angefertigt wurden. Natürlich eckte er damit häufig an, aber das war ihm egal. Er hatte sich mit der Neidkultur arrangiert und ertrug sie stoisch. Mittlerweile machte er sich sogar einen Spaß daraus, andere mit seinem Erscheinungsbild zu provozieren.

„Schön langsam“, rief der wichtigtuerische Kollege, als er sah, dass Köhler in die Innentasche griff. Tatsächlich legte er die rechte Hand auf seine Dienstwaffe, streckte die freie Hand nach vorn, um Köhler zu stoppen, und blieb in Habachtstellung stehen.

„Sie haben sich wohl zu viele amerikanische Filme angesehen“, kommentierte Köhler unbeeindruckt. „Ich will doch nur meinen Ausweis rausholen.“

„Aber schön langsam“, beharrte der Kollege und behielt die Hand an der Waffe.

Köhler ersparte sich einen Kommentar. Er rollte mit den Augen und dachte sich seinen Teil, das war einfacher. Langsam holte er seine Brieftasche aus der Innentasche, zeigte sie dem Kollegen und zog seinen Ausweis heraus. Den hielt er dem Polizisten hin, der danach griff, ihn ausgiebig prüfte und wieder zurückgab.

Der Kollege entspannte sich. „Gut, Sie können durch.“ Er gab den Weg frei und tippte sich an die Mütze.

„Herzlichen Dank“, sagte Köhler und ließ den Polizisten stehen.

„Schickes Auto“, kommentierte dieser im Vorbeigehen.

„Ich weiß.“

„Wo bleibst du denn, Mann?“, blaffte Grotewohl, als Köhler endlich am Tatort erschien. Hemdsärmelig stand sie vor einem Hochhaus und hatte die Hände in die Hüften gestützt. Ihren Kopf hatte sie leicht geneigt. Trotz ihrer zerzausten Haare war sie, wie immer, äußerst attraktiv. Köhler war gute dreißig Zentimeter größer als sie, was ein bizarres Bild abgab. Aber das war nicht ausschlaggebend. Sabine Grotewohl hatte Feuer. Manch einer behauptete, sie hätte sogar Haare auf den Haaren. Köhler kam mit ihr wunderbar klar. Er ertrug ihre grobe Natur und bildete mit seiner ruhigen Art und seiner Ausgeglichenheit den perfekten Gegenpart. Sie war um die eins sechzig groß und von zierlicher Statur. Man sollte sich davon aber nicht täuschen lassen, denn sie war austrainiert. In ihrer Freizeit betrieb sie Hapkido und hatte den 3. Dan in dieser Kampfsportart erreicht. Ihre Kleidung war im Gegensatz zu der ihres Partners als lässig zu bezeichnen. Jeans, Bluse und Blazer in wechselnden Farbkombinationen waren ihre beliebtesten Kleidungsstücke. Ihr Gesicht war schmal und von einer beinahe perfekten Symmetrie. Ihre Augen waren hellgrün und auf ihrer Nase tanzten einige Sommersprossen. Umrahmt wurde das angenehm anmutende Gesicht von einer blonden Bobfrisur. Man könnte auch sagen: Sie war ausgesprochen hübsch.

„Du hast doch bestimmt wieder eine halbe Stunde nur an deine Klamotten verschwendet. Kannst du dich nicht ein einziges Mal normal anziehen?“

„Das ist normal“, entgegnete Köhler ohne den Hauch von Ironie. „Und ich brauche dafür auch nicht länger als du, wenn du dich in deine viel zu engen Jeans quälst.“

Grotewohl öffnete den Mund, um ihrem Partner möglichst schlagfertig zu begegnen. Allerdings fiel ihr nichts Passendes ein, also schloss sie den Mund wieder und gab sich geschlagen. „Schwamm drüber“, sagte sie und löste einen Kaugummi aus seiner Verpackung. Sie bog das flache Bändchen in der Mitte und schob es sich in den Mund. „Auch einen?“, fragte sie kauend und hielt Köhler die Packung hin.

Der schüttelte den Kopf und sagte: „Ich darf rauchen.“

Grotewohl hob drohend den Zeigefinger. „Ein Wort zu Leonie, und ich knall dich ab!“

Ergeben hob Köhler die Hände und versprach zu schweigen. „Setzt du mich jetzt endlich ins Bild?“, fragte er schließlich.

Grotewohl führte ihn um das Hochhaus herum und berichtete, was sie bereits herausgefunden hatten. „Beim Spaziergang mit seinem Hund hat ein Mann die beiden heute Mittag in einem Gebüsch entdeckt. Es scheint sich um das Ehepaar Stein zu handeln. Dennis und Jennifer. Sie wohnten im zwölften Stock. Beide waren nicht mehr zu retten. Wie es aussieht, haben die da schon länger gelegen.“

Sie erreichten die Fundstelle, wo es von Menschen in weißen Einmalanzügen nur so wimmelte.

„Warum sind die denn schon hier?“, wollte Köhler wissen.

„Es ist ja wohl nicht normal, dass ein Ehepaar gemeinsam aus dem Fenster springt. Also sichern wir lieber alles.“ Grotewohl sah ihn provozierend an. „Aber du bist ja jetzt hier der Einsatzleiter und kannst sie alle wieder nach Hause schicken. Ist dein Ding.“

Köhler schwieg kurz, dachte nach und sagte schließlich: „Nee, nee … lass mal. Alles gut.“

Grotewohl rollte mit den Augen, schüttelte genervt den Kopf und fuhr mit ihrem Bericht fort. „Viel wissen wir noch nicht. Die Kollegen befragen gerade die Nachbarn.“

„War die SpuSi schon in der Wohnung?“

„Nee. Wir wollten erst mal hier unten alles sichern, bevor es regnet.“

Köhlers Blick wanderte zum Himmel. Tatsächlich zogen ein paar Regenwolken auf. Er kniff die Augen zusammen und nickte zustimmend. „Ich geh mal hoch und schau mich in der Wohnung um“, sagte er und wandte sich zum Gehen.

„Aber fass nichts an!“, rief ihm Grotewohl hinterher.

Köhler drehte sich um und warf seiner Partnerin einen vernichtenden Blick zu.

Die merkte sofort, dass ihr Kommentar nicht gut angekommen war, und entschuldigte sich. „Sorry, war ein Reflex.“

DIE WOHNUNG

Köhler achtete darauf, im Haus möglichst wenig zu berühren. Das Gebäude war, typisch für einen Wohnblock in dieser Gegend, völlig verwahrlost. Bereits vom bloßen Durchgehen fühlte er sich schmutzig. Als er in den Aufzug stieg, flog ihm ein Geruch von Urin und Schweiß entgegen. Er rümpfte die Nase und zog ein Taschentuch aus seinem Jackett. Als er es sich um seinen Finger gewickelt hatte, drückte er damit auf die Zwölf.

„Ich kotz gleich“, murmelte er und fuhr nach oben.

Der Aufzug klapperte und knirschte. Köhler überlegte, was er tun würde, wenn er jetzt stecken bliebe. Eine Gänsehaut rann über seinen Rücken und er schüttelte sich angewidert. Erleichtert stieg er wenig später im zwölften Stockwerk aus und sah sich kurz um. Die Wohnung der Steins war unschwer zu erkennen, da ein uniformierter Kollege vor ihrer Tür Wache hielt. Köhler kramte seinen Ausweis hervor, um sich eine Szene, wie er sie bei seiner Ankunft erlebt hatte, zu ersparen. Allerdings war das nicht notwendig, denn wie sich herausstellte, hatte der Kollege ihn bereits erkannt.

„Shaft!“, rief er, als er Köhler sah. „Die schwarze Perle der Frankfurter Polizei.“ Er verließ seinen Posten, um Köhler in den Arm zu nehmen. Die beiden Männer herzten sich und klopften sich gegenseitig auf den Rücken. Der Uniformierte schob Köhler auf Armlänge von sich und musterte ihn. Dann nickte er mit anerkennender Miene und sagte: „Mein lieber Schieber, da ist aber einer in den Stiltopf gefallen. Respekt, mein Freund!“

„Danke“, erwiderte der Gelobte. „Dir steht die Uniform aber auch ausgezeichnet, Bernd.“

„Ich weiß.“ Der Kollege lachte. „Ich komme einfach nicht aus den blauen Klamotten raus.“

„Ich hab dir schon tausendmal gesagt: Bewirb dich bei der Kripo. Wir brauchen immer gute Leute.“

Bernd winkte ab. „Lass mal stecken. Ich bin gerne auf der Straße. Außerdem war ich nicht Klassenbester wie du.“ Er hob die Faust und rief: „Männer wie wir, vier Komma vier!“

Beide lachten.

Sie tauschten noch eine Weile die üblichen Floskeln aus, erkundigten sich nach dem Befinden des jeweils anderen und informierten einander über die aktuelle Familiensituation.

„So gerne ich noch mit dir plaudern würde, mein Lieber“, beendete schließlich Köhler den Small Talk und deutete auf die Wohnungstür, „aber ich muss mich ein wenig in der Wohnung umsehen, wenn du gestattest.“

„Klar!“ Bernd nickte und trat zur Seite.

Köhler betrat die Wohnung, schloss die Tür hinter sich und befand sich sofort in einer Art Trance. Er blendete alles aus, was nicht zu seinem Job gehörte, und richtete seine volle Konzentration auf das Aufspüren von Hinweisen. Es handelte sich um eine eng geschnittene Dreizimmerwohnung. Ein kleiner, schmaler Flur, links das Bad, rechts die Küche. Die Räume waren zweckmäßig eingerichtet. Es war unordentlich, aber nicht schmutzig. Man sah, dass die Bewohner mit dem Aufräumen nicht nachgekommen waren, was Köhler normal erschien. Geradeaus ging es ins Wohnzimmer. Die Möbel sahen aus, als wären sie jahrzehntealt. Neben der Küche befand sich ein kleines Zimmer, das allem Anschein nach als Kinderzimmer diente. Ein Doppelstockbett füllte den Raum zu einem guten Drittel. Der Einrichtung nach zu urteilen mussten die Kinder noch sehr jung sein. Überall lag Spielzeug herum. Legosteine, ein Spielzeugbagger, ein Kinderxylophon und etliche Kuscheltiere. Auf einem Spielteppich war eine kleine Stadt abgebildet mit Straßen, Feuerwache, Rathaus und Polizeistation. Köhler durchsuchte das Zimmer systematisch, wobei er penibel darauf achtete, nichts zu berühren oder zu verändern. Seine Augen erfassten jede Kleinigkeit. Er trat an den Kleiderschrank und öffnete ihn. Vorsichtig schob er ein paar Kleidungsstücke zur Seite, legte sie aber wieder exakt an die Position zurück, an der er sie vorgefunden hatte. Er schüttelte den Kopf. Dann kam ihm ein Gedanke. Er sah sich in jedem Raum gründlich um, ohne dabei nach Details zu schauen. Die Suche war erfolglos, sodass er zur Wohnungstür ging, sie öffnete und den Kollegen fragte: „Sachma, Bernd. Wo sind denn die Kinder?“

„Welche Kinder?“

„Da wohnen zwei Kinder. Die müssen doch irgendwo sein.“

Bernd hob ratlos die Schultern. „Ich weiß von nichts. Warte … ich frag mal nach.“ Er griff sich an die Schulter, über der das Handsprechgerät seines Funkgeräts hing, und rief nach dem Einsatzleiter, der sich sofort meldete.

„Frage: Sind bei euch die Kinder der Opfer?“

„Welche Kinder?“, kam es krächzend aus dem Funkgerät.

„Die Opfer hatten wohl Kinder, und die befinden sich nicht in der Wohnung.“

„Seid ihr euch sicher?“

Bernd sah Köhler an, der ihm mit einer Kopfbewegung zu verstehen gab, dass er sich sicher war.

„Positiv“, funkte Bernd zurück.

„Ich komm mal hoch.“

„Verstanden.“ Bernd hängte sich das Funkgerät wieder über die Schulter und wandte sich an Köhler. „Das klären wir gleich.“

Ein paar Minuten später meldete sich der Aufzug mit einem hellen Ton und die Tür öffnete sich. Ein uniformierter Kollege trat in den Flur. Köhler kannte den Mann nicht.

„Wer bist du denn?“, blaffte der Kollege ihn an.

Köhler, der einen unbeteiligten Eindruck erweckte, wollte antworten, doch der Uniformierte sprach bereits weiter. „Du geh’n weg. Hier Polizeieinsatz. Du verstehen?“ Er fuchtelte mit den Händen, als wollte er eine Fliege verscheuchen.

Derlei Dinge war Köhler mittlerweile gewohnt. Seine Hautfarbe war auch in diesem Jahrtausend für den ein oder anderen bildungsfernen Zeitgenossen ein Problem. „Ich sein der leitende Ermittler von Kriminalpolizei“, sagte er in abgehacktem Deutsch und grinste debil. „Ich gerade von Afrika mit Gnu hergeritten, du nicht schimpfen.“

Der Polizist wusste Köhlers Reaktion nicht richtig einzuordnen. Wie es schien, hatte er ihm auch nicht richtig zugehört. „Ich haben gesagt, du weggehen.“ Erneut fuchtelte er mit den Händen in der Luft herum.

„Und ich hab dir gerade gesagt, dass ich hier der Chef bin, du Hohlroller“, gab Köhler nun in perfektem Deutsch zurück und hielt dem Gegenüber seinen Ausweis hin. „Kriminalhauptkommissar Christian Köhler. Ich hab hier das Sagen, deshalb darf ich bleiben.“

Der Polizist betrachtete den Ausweis und wurde knallrot. „Ich … oh … Entschuldigung, ich wusste ja nicht … Also, das ist jetzt echt blöd. Normalerweise habe ich gar nichts gegen Ausländer.“

„Da bin ich ja froh, dass ich keiner bin“, erwiderte Köhler und steckte den Ausweis wieder ein.

„So war das nicht gemeint …“

„Schwamm drüber“, sagte Köhler. „Das nächste Mal einfach eine Prise weniger Rassismus, und schon passt’s.“

„Es tut mir schrecklich leid …“ Dem Polizisten war anzusehen, dass er am liebsten im Boden versunken wäre. „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch …“

„Geschenkt“, unterbrach ihn Köhler. Er las das Namensschild auf der Brust des Kollegen. „Wir haben keine Zeit für so was, Kollege Printer. Wo sind die Kinder?“

„Wir wissen nichts von irgendwelchen Kindern“, erklärte der Uniformierte, der sich mittlerweile gefangen hatte.

„War denn vor mir niemand in der Wohnung?“

„Nein.“ Printer versuchte sich zu rechtfertigen. „Wir sind viel zu wenige vor Ort, und die SpuSi wollte erst unten die Spuren sichern, bevor der Regen alles wegspült.“

„Ist ja gut“, sagte Köhler ruhig. „Ich wollte es nur wissen.“

Printer schien erleichtert. „Was machen wir denn jetzt?“, fragte er.

„Wir suchen erst mal die Kinder.“

„Gute Idee!“

Köhler ersparte sich einen Kommentar. Logisch war das eine gute Idee. Er widerstand dem Drang, mit den Augen zu rollen.

„Ich lasse sofort klären, ob es Verwandte gibt.“

„Gut“, sagte Köhler. „Sie reden mit der Zentrale, und wir zwei“, er deutete auf Bernd und sich, „befragen die Nachbarn.“

RAUCHZEICHEN

Köhler und Bernd klingelten zunächst bei den direkten Nachbarn. Während der ersten drei Versuche öffnete ihnen niemand. Erst die vierte Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. Hinter der Sicherheitskette wurde ein Augenpaar sichtbar. Allem Anschein nach handelte es sich um eine alte Frau.

„Ja, bitte?“, fragte sie mit brüchiger Stimme.

„Schönen guten Tag“, sagte Bernd zur Begrüßung und lächelte das Augenpaar an. „Wir sind von der Polizei und würden Sie gerne zu Ihren Nachbarn, den Steins, befragen.“

Die Alte lunzte durch den Spalt und erwiderte: „Des glaab isch nett.“

„Warum?“, fragte Bernd verwundert.

„Mer heert so viel. Mer soll nett alles glaabe. Sie könnte ja auch e paar Trickbetrüscher sein.“ Sie zögerte kurz und fügte dann hinzu: „Und seit wann hawwe mer denn Schwarze bei de Polizei? Un’ üwwerhaupt, der träscht ja ga kei Uniform.“

Das ging gegen Köhler. Der trat einen Schritt vor und zeigte der Alten seinen Ausweis.

„Gute Frau“, begann er, wobei er sich bemühte, sauberes Hochdeutsch zu sprechen. „Ich bin Hauptkommissar Christian Köhler, wie Sie meinem Ausweis hier entnehmen können. Schauen Sie ihn sich ruhig an.“ Er steckte den Ausweis durch den Türspalt, wo er von knochigen Fingern entgegengenommen wurde.

„Scheint echt zu sein“, sagte die Alte schließlich. „Aber ich trau Ihne nett.“

„Warum, wenn ich fragen darf?“, wollte Köhler wissen.

„Sie sinn viel zu gut agezoche. Und Ausländer nemme die nett bei de Polizei.“

Köhler musste erneut ein Augenrollen unterdrücken. Dieses ewige Gezacker wegen seiner Hautfarbe nervte. Er wechselte die Taktik und verfiel ins Hessische. „Hawwe Sie am Sonntach die Eintracht spiele seh’n?“

„Ei logisch. Vier null gewonne, die Bube.“

„Und wer hat denn des entscheidende Tor geschosse?“

„Ei, de Haller.“

„Und welche Hautfarbe hat der?“

„Schwarz, des weiß doch jeder.“

„Sehen Sie. Und das ist auch ein Frankfurter.“

„Kokolores“, rief die Alte. „Des iss’n Franzoos.“

„Der für Frankfurt spielt.“

„Was wollen Se mir eischendtlisch dademit sache?“

„Dass die Hautfarbe keine Rolle spielt, Frau …“ Köhler schaute auf das Türschild. „Kowalski“, vollendete er den Satz. „Sind Sie aus Polen?“

„Quatsch, isch bin e Frankforter Mädsche, dorsch und dorsch.“

„Sie haben aber einen polnischen Namen.“

Sie schwieg. Endlich schien sie zu begreifen.

„Also gut“, lenkte sie ein. „Komme Se enei. Des zieht uff’m Gang.“

Die Tür schloss sich. Einen Wimpernschlag später klapperte die Türkette und die Tür wurde geöffnet. Eine sehr kleine, bucklige Frau gab den Weg frei und watschelte vorweg in die Wohnung. „Komme Se ins Wohnzimmer“, befahl sie und ging voran.

Wenig später saßen alle drei auf einem Sofa aus den 1960er Jahren – zumindest dem Muster nach. Ein riesiger Schrank nahm die Hälfte des ohnehin schon kleinen Raumes ein. Es roch nach ungelüftetem Zimmer und schlechtem Essen. Zudem war es stickig und viel zu warm.

„Was issen da üwwerhaupt los?“, fragte die Alte.

„Das versuchen wir ja gerade herauszufinden. Wir bauen auf Ihre Hilfe, Frau Kowalski“, erklärte Köhler.

„Sie spresche aber super Deutsch, junger Mann.“

Köhler überlegte kurz, ob er erklären sollte, dass man auch als Schwarzer einen deutschen Pass und Deutsch als Muttersprache haben konnte, beließ es aber bei einem „Ich bin hier aufgewachsen“.

„Ach so …“

„Kennen Sie die Familie Stein?“

„Nur vom Sehen. Komische Leut’.“

„Inwiefern?“

„Hawwe nie gegrüßt. Immer nur, wenn mer se agesproche hat.“ Sie griff sich ans Ohr, um ihr Hörgerät zu überprüfen. „Die hawwe immer gestritte. Grad heut Nacht hawwe se widder de ganze Flur zusammegekrische.“

„Aha“, machte Köhler und notierte sich etwas auf seinem Block. „Wann genau war das?“

„So gesche vier Uhr de Moint.“ Frau Kowalski hob den Zeigefinger. „Dadebei is der Typ schon vor Monate ausgezoche. Kimmt immer nur zum Stunk mache.“

„Die Steins lebten also getrennt?“, vergewisserte sich Köhler und notierte das gerade Erfahrene.

„Mit dem Typ hätt isch’s aach nett ausgehalte. Immer besoffe oder bekifft.“

„Er war also gewalttätig.“

Frau Kowalski hob abwehrend die Hände. „Isch will kam was Beeses. Aber der hat die schon ab und zu emal gewamscht.“

Mit hochgezogenen Brauen tippte Köhler auf seinen Block. „Und heute Nacht, was konnten Sie da hören?“

„Nix Genaues. Ich belausch mei Nachbarn nett, wisse Se. Des geheert sisch nett.“

Köhler nickte. Wahrscheinlich hörte sie die Flöhe husten. „Also so gegen vier Uhr am Morgen kam es zum Streit bei den Steins“, nahm er den Faden wieder auf.

„Sach isch doch. Hern Se mir üwwerhaupt zu?“

„Ich will nur sichergehen.“ Köhler räusperte sich. „Wie lange ging der Streit?“

„Maane Se, isch guck da uff die Uhr?“

Köhler stöhnte innerlich. Die Alte wurde langsam anstrengend. Er musste sich ermahnen, sie ernst zu nehmen. Derartig neugierige Nachbarn konnten bei ihren Ermittlungen sehr hilfreich sein. Er wechselte das Thema. „Das können wir ja auch noch später klären. Was uns interessiert, ist der Aufenthaltsort der Kinder.“

„Sinn die nett in de Wohnung?“

„Sonst würden wir nicht fragen“, warf Bernd ein, der offenbar eine Retourkutsche fahren wollte.

Frau Kowalski quittierte die Spitze mit einem bösen Blick. „Wenn die nett deham sinn, wer’n se bei de Oma sein.“

„Sie wissen nicht zufällig den Namen der Oma und wo wir sie finden können?“

„Logisch weiß isch des. Die iss mei best Freundin.“

Köhler war erleichtert. Hatte sich der Besuch bei Frau Kowalski also doch gelohnt.

Es dauerte nicht lange, da hatte man eine Streife zu Gudrun Fischer, der Großmutter der vermissten Kinder, geschickt. Sie war die Mutter von Jennifer Stein. Die Kinder waren bei ihr und wohlauf. Als Frau Fischer von dem Tod ihrer Tochter und deren Ex-Mann hörte, blieb sie erstaunlich gelassen, wie die Kollegen berichteten. Allem Anschein nach hatte sie so etwas in der Art bereits erwartet.

In der Zwischenzeit war Köhler in die Wohnung der Steins zurückgekehrt, um sich weiter umzusehen. Mittlerweile war die Spurensicherung im Außenbereich fertig und man konnte nun an die Sicherung der Beweise in der Wohnung gehen. Köhler durfte dabei sein, musste sich aber einen Einmalanzug überziehen.

Aufgrund seiner ersten Besichtigung hatte er sich ein Bild der Wohnung im Kopf gemalt, sozusagen eine imaginäre Landkarte. Anhand dieser Karte ging er nun aktiv durch die einzelnen Räume, um gezielt nach Hinweisen zu suchen. Die Annahme, dass sich die Eheleute nicht im Guten getrennt hatten, bestätigte sich, als er Familienbilder in einer Schublade fand, aus denen Dennis Stein offensichtlich mit einer Schere herausgeschnitten worden war. Ob in der Wohnung ein Kampf stattgefunden hatte, war nicht zu erkennen.

„Na“, kommentierte Grotewohl grinsend, als sie Köhler in dem wenig kleidsamen Anzug sah, „das ist wohl nicht ganz deine Marke.“

Er konterte den Seitenhieb auf seine erlesene Garderobe mit den Worten: „Hilf mir einfach beim Suchen, ich habe immer noch meinen freien Sonntag.“

„Jawoll, Chef“, antwortete Grotewohl zackig und salutierte.

Köhler grinste. „Blödmann!“

„Selber!“

„Ich geh mal auf den Balkon und seh mich dort um“, beschloss Köhler und trat ins Freie. Der Balkon war als Abstellkammer missbraucht worden. Ein kleines Regal in der Ecke war überfüllt mit allerlei Dingen. Ein Kinderwagen nahm viel Raum ein und ein kleiner Tisch, auf dem ein Aschenbecher stand, füllte beinahe den Rest des Balkons. Köhler trat auf die verbliebene Freifläche und scannte den Balkon zunächst mit den Augen. Er warf einen Blick über die Brüstung und musterte die Stelle, an der die Leichen gefunden worden waren. Von hier oben war es schwierig, etwas zu erkennen. Kein Wunder, dass man die beiden erst Stunden später gefunden hatte.

Sein Blick fiel auf den Aschenbecher. Er zog einen Stift aus seiner Innentasche und durchwühlte den Rauchabfall. Es handelte sich um Kippen zweier verschiedener Zigarettenmarken. Doch etwas stimmte nicht. Köhler sah genauer hin. Er zählte insgesamt acht aufgerauchte Kippen. Sieben waren von der einen Marke und eine von der anderen.

„Grotte!“, rief er den Spitznamen seiner Kollegin, ohne seinen Blick von dem Aschenbecher zu wenden.

„Was gibt’s, Shaft?“, antwortete Grotewohl von drinnen.

„Komm mal her!“

Sekunden später war sie auf dem Balkon. Sie kannte ihren Kollegen gut genug, um an seiner Körpersprache abzulesen, dass er etwas entdeckt hatte.

„Ich glaube, wir haben hier etwas, was wir uns genauer ansehen müssen.“

„So, was denn?“, fragte Grotewohl. Neugierig trat sie näher an den kleinen Tisch heran und versuchte, etwas darauf zu erkennen.

Köhler schob seinen riesigen Körper zur Seite und gab den Blick frei. „Guck dir das mal an“, sagte er und deutete auf den Aschenbecher. „Fällt dir was auf?“

„Was meinst du?“, fragte Grotewohl nach einer Weile, in der sie auf den vollen Aschenbecher gestarrt hatte. „Ich sehe nur ein paar Kippen.“

„Dachte ich mir“, kommentierte Köhler.

„Jetzt komm schon mit der Sprache raus, Sherlock.“ Grotewohl war genervt von der Dramatik, mit der Köhler seine vermeintliche Entdeckung ins Licht rückte.

„Wir haben hier insgesamt acht Kippen. Sieben davon sind Giants. Das ist die Marke von Aldi.“ Er stocherte mit dem Stift im Aschenbecher herum und sortierte die Zigarettenstummel. „Und? Fällt dir jetzt was auf?“

Grotewohl kniff die Augen zusammen. Dann begriff sie. „Die vier hier haben Lippenstift am Filter, die drei da nicht, und diese hier ist eine Marlboro.“

„Genau!“, rief Köhler und klatschte Beifall. „Sehr gut beobachtet, Watson. Aber das ist noch nicht alles.“

„Spar dir deinen Hochmut“, blaffte die Kollegin. „Rück die Information raus!“

„Wenn die Steins die gleiche Marke geraucht haben – wovon ich jetzt mal ausgehe –, hat Frau Stein vier Kippen in den Aschenbecher geworfen und Herr Stein drei. Aber das ist noch nicht alles.“

„Bevor du weiter philosophierst“, unterbrach Grotewohl Köhlers Vortrag, „was sagt dir, dass die Steins beide die gleiche Marke rauchen?“

„Davon gehe ich aus, da beide zur sozialen Unterschicht gehören und sich teure Marken nicht leisten können.“

„Das ist aber ziemlich arrogant, mein Lieber.“

„Nee, das ist Fakt.“

Grotewohl rollte mit den Augen. Ihr Kollege konnte ziemlich anstrengend sein.

„Außerdem haben die Kollegen eine Packung Giants in Dennis Steins Hosentasche gefunden.“

„Manchmal bist du wirklich ein Arschloch, Shaft.“

Er grinste breit.

„Weiter!“, forderte Grotewohl genervt und wedelte mit der Hand.

Köhlers Tonfall glich dem eines Dozenten. „Die Giants wurden allesamt ausgedrückt. Dabei wurde der Filter geknickt und die Glut damit erstickt. Soweit verstanden?“

„Du fängst dir gleich eine, Köhler“, war alles, was Grotewohl dazu einfiel. „Komm auf den Punkt.“

Köhler ignorierte den Einwurf und fuhr ungerührt fort: „Die Giants wurden, wie gesagt, ausgedrückt, die Marlboro hingegen ausgedreht. Sie ist nahezu intakt.“

„Was soll mir das jetzt sagen?“

„Du rauchst doch selbst.“

„Ja, und?“

„Wie machst du deine Kippen aus?“

„Ich zerdrücke sie.“

„Immer?“

„Eigentlich schon.“

„Also haben wir es hier mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer dritten Person zu tun.“

PUZZLESPIELE

Am nächsten Morgen betrat Köhler früh das Polizeipräsidium an der Adickesallee. Er liebte es, einen neuen Fall aufzurollen. Das hatte etwas von einem Aufbruch zu neuen Ufern, und das war der Grund, weshalb er den Job machte. Die neue Herausforderung, die ihn zu Spitzenleistungen zwang. Voller Elan trat er in sein Büro und trällerte „Morsche zusammen!“ in die Runde. Er zog seinen Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe neben der Tür. Dann blickte er sich um.

Das Büro bestand aus zwei Räumen. Der eine war groß genug, um drei Schreibtische zu beherbergen. Die Tische standen in einer kleinen Gruppe zusammen. Darauf hatte Köhler als Chef der Truppe bestanden, um den Inseleffekt zu erhöhen. Seine Ermittler sollten sich fühlen, als befänden sie sich alle im selben Boot. Rund um die Schreibtischinsel waren Aktenschränke in unterschiedlichen Größen aufgestellt. Direkt neben der Tür stand der wichtigste Schrank, denn darauf war die Kaffeemaschine platziert, an der sich Köhler erst einmal bediente. Das Mahlwerk des Kaffeevollautomaten machte für Sekunden jegliche Konversation unmöglich. Der Nachbarraum, den man durch eine Wand mit einer Fensterscheibe vom Büro abgetrennt hatte, diente als Besprechungszimmer. Er war mit einem dunkelgrauen Teppich ausgelegt. Mehrere Whiteboards und ein Flipchart standen ebenso wie ein Besprechungstisch und acht Stühle mitten im Raum. Zwei der Wände dienten als Stellplatz für deckenhohe Aktenschränke. Durch einige Fenster, die den Blick auf den Innenhof des Polizeipräsidiums freigaben, fiel Tageslicht, das den Raum allerdings nur spärlich erhellte.

In beiden Räumen dominierten die Farben Grau und Weiß.

Lediglich Sebastian Müller war anwesend. Der junge Mann Mitte zwanzig sah so aus, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Unbeweglich stand er am Fenster und hielt eine Tasse mit dampfendem Kaffee in der Hand. Sein blondes Haar, das zu einer modischen Undercut-Frisur geschnitten war, hing ihm strähnig vom Kopf. Er hatte sich allem Anschein nach wenig Mühe mit dem Frisieren gegeben. Als er sich umdrehte, blickte er seinen Vorgesetzten aus müden grauen Augen an. Seine Stupsnase war leicht gerötet und sein Gesicht unrasiert. Sebastian Müller hatte einen Schlag beim anderen Geschlecht. Seine Ausstrahlung war jungenhaft und frech. Er war ein Typ, dessen Nähe man suchte.

„Müller, was ist los?“, rief Köhler dem Kollegen zu, der sich immer noch nicht bewegte.

„Nicht so laut, Chef. Bitte!“ Müller griff sich an den Kopf.

„War wohl spät gestern?“

„Wir sind aufgestiegen.“

„Na dann, herzlichen Glückwunsch!“ Köhler ging zu seinem Kollegen und schlug ihm kräftig auf die Schultern.

Der junge Mann konnte gerade noch seine halb volle Tasse ausbalancieren. Trotzdem schwappte einiges von dem Kaffee über. Müller schüttelte ein paar Tropfen von seiner Hand und quittierte die Glückwünsche seines Vorgesetzten mit einem bösen Blick.

„Und wie viele Tore hast du gemacht?“, wollte Köhler wissen.

„Ich bin der Torwart, Chef. Schon vergessen?“

„Mit Handball kenne ich mich nicht aus.“

Müller hob missbilligend die Brauen und schwieg.

„So!“, rief Köhler, klatschte in die Hände und rieb sie voller Tatendrang aneinander. „Gibt es schon was Neues im Fall Stein?“

„Ist das überhaupt ein Fall?“, murrte Müller und setzte sich an seinen Schreibtisch.

„Ich denke schon“, antwortete Köhler. „Und darauf kommt es an.“

„Na ja …“, widersprach Müller vorsichtig. „Ich glaube, da hat Berner auch noch ein Wörtchen mitzureden.“

Köhler lachte siegesgewiss. „Das lass mal meine Sorge sein.“

Kaum hatte er den Satz beendet, flog die Tür auf und ein vollbärtiger Mann betrat den Raum. Sein Oberlippenbart war an den Enden nach oben gezwirbelt und kein einziges Haar saß dort, wo es der Besitzer nicht haben wollte. Bei dem Mann handelte es sich um den Staatsanwalt Dirk Berner. Er hatte sich in einen merkwürdig blauen Anzug gezwängt, der aussah, als wäre er eine Nummer zu klein. Seine Schuhe waren graubraun und liefen vorne spitz zu. Sein Haupthaar war ebenso wie der Bart grau meliert, zudem in Form geföhnt und mit irgendeinem Festiger betoniert. Seine blauen Augen ließen einen hellen Verstand vermuten und er verströmte einen Geruch von Haarwachs. „Aah!“, rief Berner, breitete die Arme aus und lief auf Köhler zu. „Kommissar Shaft ist schon im Dienst.“

„Logo“, sagte Köhler gelassen und zog sich einen Kaffee. „Auch einen?“, fragte er Berner und hob die Tasse in dessen Richtung. „Oder kaut ihr Holzfäller zum Frühstück Bienen?“

Müller bekam einen spontanen Hustenanfall und spuckte seinen Kaffee über den Tisch. „’schuldigung“, murmelte er. Hektisch wischte er den Kaffee von seiner Schreibunterlage.

„Sehr witzig, Herr Köhler“, sagte Berner. Er legte seine Aktentasche aus Wildleder auf dem vor ihm stehenden Stuhl ab, trat an den Schrank, auf dem die Kaffeemaschine stand, und zog sich einen Kaffee in eine bereitstehende Tasse. Er wartete ab, bis der von der Maschine verursachte Höllenlärm verebbt war, und sprach zu Köhler: „Wenn die Kollegin Grotewohl dann endlich mal ihren Dienst beginnt, möchte ich Sie im Besprechungszimmer sehen. Alle!“

„Gerne“, sagte Köhler grinsend und nippte an seiner Tasse.

Berner warf ihm einen missbilligenden Blick zu, griff nacheinander nach seiner Aktentasche und der Tasse und verließ den Raum. Den Geruch von Haarwachs ließ er zurück.

Köhler rümpfte die Nase. „Mach mal das Fenster auf, Müllerchen. Das hält ja keiner aus!“

„Jaaa“, erwiderte Müller gedehnt. „Nie geht er so ganz.“

Wenig später hatte sich neben Köhler, Müller und Grotewohl auch ihr Vorgesetzter Sascha Ballauf im Besprechungszimmer eingefunden. Der Polizeihauptkommissar verbat es sich, mit dem gleichnamigen Tatortkommissar verglichen zu werden, zumal er dem Schauspieler Klaus J. Behrendt, der die Rolle des Max Ballauf spielte, entfernt ähnlich sah. Mit etwas Fantasie hätten die beiden Brüder sein können. Doch Sascha Ballauf war wesentlich schmaler und etwas kleiner als der Fernsehermittler. Allerdings kämmte er sich seine grauen Haare wellig nach hinten, was wiederum die Ähnlichkeit zum Tatortkollegen erhöhte. Der schmale Bartstreifen von der Unterlippe bis zum Kinnende, den sich Ballauf stehen ließ, war eine deutliche Abgrenzung zum Schauspieler Behrendt. Jedes Mal, wenn ihn trotz seines Verbots jemand wegen seines Namens und seines Berufs aufzog, hielt er ihm einen leidenschaftlichen Vortrag über die zahlreichen Falschdarstellungen in den Fernsehkrimis. Das konnte schnell eskalieren, weshalb es in seinem engeren Umfeld niemand wagte, ihn auf den Fernsehkommissar anzusprechen.

Schließlich gesellte sich Staatsanwalt Berner zu der Ermittlergruppe. Er betrat als Letzter den Raum und legte gleich los. „Herrschaften!“, rief er in die Runde und knallte eine schmale Akte auf den Tisch. „Nach eingehendem Studium Ihres Berichtes, Shaft, gehe ich davon aus, dass bei diesem Sturz vom Balkon was faul ist.“ Er beugte sich nach vorne und stützte seine Unterarme auf den Tisch. „Oder sehen Sie das anders, Herr Köhler?“

„Ich bin da ganz Ihrer Meinung, Mister Haggerty“, antwortete Köhler. „Da stimmt was nicht. Insbesondere wenn Sie das mit den Zigaretten meinen.“

Grotewohl und Müller steckten die Köpfe zusammen. Weshalb nannte er Berner „Haggerty“? Sie wussten es nicht und hoben ratlos die Schultern.

„Natürlich habe ich alles gelesen“, ereiferte sich der Staatsanwalt. „Schließlich bin ich gewissenhaft.“

„Die Frage ist: Wem gehört die ausgedrehte Kippe?“, fuhr Köhler fort, der Berners Einwurf ignorierte. „Und warum gab es keine Kampfspuren? Mindestens einer der beiden Toten ist unfreiwillig in der Gartenanlage eingeschlagen.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Abgerissene Fingernägel bei Frau Stein.“

Die übrigen Anwesenden sahen ihn fragend an.

„Was soll das beweisen?“, schaltete sich Ballauf ein.

„Nichts.“

Ballaufs Blick gab Köhler zu verstehen, dass er sich gefälligst erklären sollte. „Jetzt lass dir mal nicht alles aus der Nase ziehen, Mann.“

Grotewohl nickte beipflichtend.