Schwester Claudia – eine tapfere Frau - Patricia Vandenberg - E-Book

Schwester Claudia – eine tapfere Frau E-Book

Patricia Vandenberg

5,0

Beschreibung

Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Deutlich über 200 Millionen Exemplare verkauft! Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. Ein heftiger Sturm peitschte Regen und Hagelkörner durch die Straßen, an die Fenster, auf die Autos herab, die sich vorsichtig einen Weg durch die Wasserlachen bahnten. Auch Dr. Daniel Norden gehörte zu diesen geplagten Fahrern, denn er musste seine Krankenbesuche machen. Bei diesem Wetter wird wieder allerhand passieren, ging es ihm durch den Sinn. Kaum hatte er das gedacht, stieg er auch schon auf die Bremse, denn ein Junge, der sich die Kapuze seines Anoraks über das Gesicht gezogen hatte, lief direkt auf die Fahrbahn. Es war ein Glück, dass kein anderes Fahrzeug entgegenkam, denn trotz der Bremsung hatte Dr. Norden den jungen Mann noch gestreift, der daraufhin in eine Wasserlache gerutscht war. Dr. Norden war Arzt. Er dachte im Augenblick nicht daran, in welche Gefahr auch er gebracht worden war. Er stieg aus, konnte aber mit einem Aufatmen feststellen, dass sich der Bursche bereits aufrappelte. Hinter seinem Wagen hielten ein paar andere, doch bei solchem Wetter hupte keiner ungeduldig. Passanten waren nicht auf der Straße. Dr. Norden half dem nassen Jungen auf die Beine. Der hatte einen Schock bekommen und stammelte immer wieder: »Entschuldigung, Entschuldigung.« »Marsch ins Auto«, sagte Daniel Norden. »Kannst du gehen?« Ein kurzes Nicken war die Antwort, kaum wahrnehmbar, da der Regen dicht herabprasselte.

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Leseprobe: Vom Himmel das Blau

Ist es nicht erstaunlich, verehrte Leserin, geehrter Leser, wie schnell aus völlig unbekannten Menschen gute Bekannte, vielleicht sogar Freunde werden können? Bis vor kurzem kannten Sie Egidius noch nicht, seine Frau Corinna, und Daniel, den Schriftsteller. Haben Sie einen Sohn wie Lukas daheim? Ein lieber Junge, aber mit 15 mitten in der Pubertät! Dagmars Probleme scheinen gelöst. Endlich kennt sie ihre Eltern, und mit Anton scheint sie ihre große Liebe gefunden zu haben – im Gegensatz zu Frau Fürstenrieder! Den kleinen Hannes kann ich gut verstehen, aber auch Lily. Natürlich macht sie sich Sorgen um den Jungen, der ja unter einer psychischen Erkrankung leidet. Philipp und Chris gehen entspannter mit ihm um, vermutlich fühlt er sich bei den beiden wohler als bei seiner Mutter. Ich habe gerade eben das Ende des fünften Bandes noch einmal gelesen. Drei Informationen schulde ich Ihnen noch. Sie erinnern sich doch sicher an das Wichtelgeschenk für Ludwig, den jungen Assistenzarzt. Die Lotto-Ziehung fand am Samstag, den 22. 12. statt. Dann die Frage, wo und mit wem Lukas Silvester feierte. Und drittens: Wie verlief eigentlich der Besuch bei Professor Tauber? Egidius Sonntag mit seinem untrüglichen Gefühl für das richtige »timing«, wie man sagt, hatte ja exakt zu dem Zeitpunkt angerufen, an dem der Chefarzt der Pädiatrie, alles für sinnlos haltend, beschlossen hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen ... »Könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen?

Dr. Norden Bestseller Classic – 23 –

Schwester Claudia – eine tapfere Frau

Wann ist ihr Leidensweg endlich zu Ende?

Patricia Vandenberg

Ein heftiger Sturm peitschte Regen und Hagelkörner durch die Straßen, an die Fenster, auf die Autos herab, die sich vorsichtig einen Weg durch die Wasserlachen bahnten.

Auch Dr. Daniel Norden gehörte zu diesen geplagten Fahrern, denn er musste seine Krankenbesuche machen. Bei diesem Wetter wird wieder allerhand passieren, ging es ihm durch den Sinn. Kaum hatte er das gedacht, stieg er auch schon auf die Bremse, denn ein Junge, der sich die Kapuze seines Anoraks über das Gesicht gezogen hatte, lief direkt auf die Fahrbahn. Es war ein Glück, dass kein anderes Fahrzeug entgegenkam, denn trotz der Bremsung hatte Dr. Norden den jungen Mann noch gestreift, der daraufhin in eine Wasserlache gerutscht war.

Dr. Norden war Arzt. Er dachte im Augenblick nicht daran, in welche Gefahr auch er gebracht worden war. Er stieg aus, konnte aber mit einem Aufatmen feststellen, dass sich der Bursche bereits aufrappelte.

Hinter seinem Wagen hielten ein paar andere, doch bei solchem Wetter hupte keiner ungeduldig. Passanten waren nicht auf der Straße.

Dr. Norden half dem nassen Jungen auf die Beine.

Der hatte einen Schock bekommen und stammelte immer wieder: »Entschuldigung, Entschuldigung.«

»Marsch ins Auto«, sagte Daniel Norden. »Kannst du gehen?«

Ein kurzes Nicken war die Antwort, kaum wahrnehmbar, da der Regen dicht herabprasselte.

Daniel packte den Jungen am Arm, schob ihn dann in seinen Wagen und war froh, als er, nun auch durchnässt, wieder die Tür schließen konnte.

»Das hätte schiefgehen können, mein Lieber«, meinte er energisch.

»Entschuldigung«, stammelte der Junge jetzt wieder, dem die Kapuze bei dem Sturz vom Kopf gerutscht war.

»Wollen wir beide froh sein, dass nichts Schlimmeres passiert ist«, sagte Daniel und dachte an seine junge Frau, die kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes stand. Heiß und kalt wurde es ihm bei dem Gedanken, was es für Fee für ein Schock gewesen wäre, wenn es einen schweren Unfall gegeben hätte. Aber immerhin blutete der Junge aus einer Stirnwunde, und es konnte möglich sein, dass er auch andere Verletzungen, die nicht sichtbar waren, davongetragen hatte.

Dr. Norden war auf dem Wege zur Behnisch-Klinik gewesen und nicht mehr weit davon entfernt. Dort, so meinte er, konnte man den Verletzten besser untersuchen als im Wagen.

»Es tut mir so leid«, murmelte der Junge.

»Was meinst du, wie mir zumute wäre, wenn ich dich überfahren hätte«, sagte Daniel. »Hast du Schmerzen? Ich bin Arzt.«

»Jetzt mache ich auch noch Ihren Wagen schmutzig«, stotterte der Junge.

»Der wird auch wieder sauber«, sagte Daniel.

Er hielt vor der Klinik auf dem überdachten Parkplatz an. Nun konnte er sich ein paar Sekunden nehmen, den Jungen näher zu betrachten, der anscheinend gar nicht gemerkt hatte, dass ihm das Blut über die Wange lief.

Daniel griff nach seinem Koffer, der auf dem Rücksitz lag, und entnahm ihm Mulltupfer und blutstillende Tinktur.

»Das wird zu Hause nun erst recht Krach geben«, sagte der Junge, der doch nicht ganz so jung zu sein schien, wie Daniel ihn nach seiner schmächtigen Gestalt geschätzt hatte.

»Hast du Krach gehabt?«, fragte er. »Oder muss ich Sie sagen?« Er gab seiner Stimme einen aufmunternden Klang und lächelte.

»Noch nicht, aber den gibt es. Deswegen war ich ja so kopflos. Ich bleibe sitzen. Ich schaffe es einfach nicht, und das Abi erst recht nicht. Mir wäre es wurscht gewesen, wenn ich jetzt tot wäre.«

»Aber mir nicht, junger Mann«, sagte Daniel. »Nun hör mal zu, das ist die Behnisch-Klinik, und ich bin mit dem Chefarzt befreundet. Wir werden mal nachschauen, was du dir sonst noch getan hast.«

»Wir kennen Dr. Behnisch«, murmelte der Junge.

»Um so besser«, sagte Daniel.

»Mir ist schlecht.«

»Dann schnellstens hinein mit dir.«

*

Dr. Dieter Behnisch verabschiedete gerade einen Patienten, der nach längerem Klinikaufenthalt von seiner Frau abgeholt wurde.

»Wir werden nie vergessen, was Sie für mich getan haben«, hörte Dr. Norden den Mann sagen.

Das wurde oft gesagt, und doch vergaßen die meisten sehr schnell, wenn sie wieder gesund waren. In einer Klinik konnte man nicht auf ewige Dankbarkeit und Anhänglichkeit rechnen. In einer Allgemeinpraxis wie bei Dr. Norden war das anders. Da waren die Kontakte zu den Patienten enger.

»Nanu«, sagte Dr. Behnisch, den Jungen betrachtend, noch bevor er seinem Freund und Kollegen Daniel Norden die Hand reichte, »was ist denn mit dir passiert, Axel?«

»Er ist mir vors Auto gerutscht«, sagte Daniel.

»Ich habe nicht aufgepasst. Es hat so wahnsinnig gegossen, und dann der Sturm«, murmelte Axel. »Mir ist schlecht.«

Er war grün im Gesicht. Dr. Behnisch winkte Schwester Dora herbei, der der Junge anscheinend auch bekannt war, denn sie sprach ihn nach kurzem Zögern ebenfalls mit seinem Vornamen an.

»Ich möchte, dass er gründlich untersucht wird«, sagte Dr. Norden.

»Machen wir«, nickte Dr. Behnisch. »Wird eine leichte Gehirnerschütterung haben. Schwester Dora nimmt ihn jetzt unter ihre Fittiche. Was dir auch alles passiert, Daniel!«

»Heute wird noch mehr passieren, aber wenn ich an Fee denke, ist mir mulmig. Um ein Haar hätte es böse ausgehen können. Der Junge hat nicht rechts noch links geschaut und dazu seine Kapuze über das Gesicht gezogen.«

»Er ist unkonzentriert, überfordert außerdem. Sein Vater ist Studiendirektor. Kurz vor der Pensionierung. Dr. Hartwig, und hart ist er auch. Hat spät geheiratet und eine bedeutend jüngere Frau. Sie ist ihrem Mann untertan.«

Dr. Nordens Miene war immer nachdenklicher geworden. Den Schrecken hatte er überwunden. Was hätte geschehen können, war jetzt nicht mehr nachdenkenswert für ihn, da er schnell verstanden hatte, dass der Junge sich in einem seelischen Tief befand. Gedankenlos war er über die Straße gelaufen, und das entsetzliche Wetter hatte das Seine dazu beigetragen.

»Wie alt ist der Junge?«, fragte er.

»Müsste jetzt fast achtzehn sein und ist schon mal sitzen geblieben. Für seinen Vater ist das ein Tiefschlag. Er hatte vor acht Monaten eine schwere Magenoperation, ein sehr cholerischer Mann. Vom alten Schrot und Korn, mit wenig Verständnis für den Klinikbetrieb. Hat uns hübsch in Atem gehalten.«

»Das klingt alles nicht so gut«, sagte Daniel nachdenklich. »Der Junge hat Angst, und andererseits ist ihm sein Leben ziemlich gleichgültig.«

»Du meinst doch nicht, dass er dir mit Absicht ins Auto gelaufen ist?«, fragte Dr. Behnisch erschrocken.

»Nicht so direkt. Er war geistig weggetreten, aber er hat auch gesagt, es sei ihm wurscht, wenn er tot wäre. Dann sagte er noch, dass er in der Schule nicht zurechtkommt. Ich hätte ihn für jünger gehalten.«

»Er kann sich nicht frei entfalten«, sagte Dr. Behnisch. »Wir haben hier ein paarmal erlebt, wie er von seinem Vater angebrüllt wurde. Ich werde mit ihm sprechen.«

»Das möchte ich auch«, sagte Daniel.

»Eigentlich wollte ich mit dir über Martina Rittberg sprechen«, sagte Dr. Behnisch.

»Martina Rittberg? Ach, richtig, du meinst Schwester Claudias kleine Schwester?«

Schwester Claudia war erst ein paar Wochen an der Frauenklinik bei Dr. Leitner tätig, aber Georg Leitners Freunde kannten sie schon besser als jede andere der Krankenschwestern.

Von Schwester Claudia wusste man nun auch den Nachnamen. Es hatte überhaupt eine besondere Bewandtnis mit ihr, und nicht nur deshalb, weil Fee Norden sich schon ganz eigene Gedanken um sie gemacht hatte, als sie Schwester Claudia zum ersten Mal kennenlernte.

Eine sehr lange Freundschaft, schon seit der Universitätszeit, bestand zwischen Dr. Norden, Dr. Behnisch und Dr. Leitner. Grundverschieden im Naturell, waren sie doch ein Dreigespann, wie man es sich unter Ärzten besser nicht vorstellen konnte. Daniel, der Arzt für Allgemeinmedizin, Dieter Behnisch, der Chirurg und der Frauenarzt Dr. Georg Leitner, genannt Schorsch, konnten beispielgebend in ihrer Zusammenarbeit für ihren Berufsstand sein.

Sie hatten sich auf der Uni gesucht und gefunden, wie sie so manches Mal feststellten. Jetzt war jeder auf seinem Gebiet ein gestandener Arzt mit großer Erfahrung und doch nicht von jener Überheblichkeit, die so oft herber Kritik ausgesetzt wurde.

Sie halfen sich gegenseitig, wann immer Zweifel bei dem einen oder dem anderen aufkamen. Sie waren Freunde im besten Sinne des Wortes.

Daniel Norden und Dieter Behnisch waren mittlerweile glücklich verheiratet, Georg Leitner dagegen immer noch ein Einzelgänger. Er hätte kein Glück bei den Frauen, war seine Ansicht. Es wäre ihm einfach noch nicht die Richtige begegnet, meinte dagegen Fee Norden, die ihm gar zu gern auch zu privatem Glück verholfen hätte.

Sie hatte auch sofort die äußeren Vorzüge der jungen Schwester Claudia zur Kenntnis genommen. Dr. Leitner dagegen schätzte nur die berufliche Qualifikation Claudias, bis sie sich dann in einem sehr schwierigen Konflikt Hilfe suchend an ihn gewandt hatte.

Ihre um zehn Jahre jüngere Schwester Martina, die in einem Internat aufwuchs, war schwer krank. Man sah sich deswegen außerstande, Martina weiterhin in diesem Internat zu behalten, in das sie gebracht worden war, als ihre Eltern unter tragischen Umständen vor zwei Jahren verstorben waren.

Von diesen tragischen Umständen wusste noch niemand von den Freunden etwas, als Schwester Claudia ihren Chef um Hilfe ersuchte, aber Dr. Leitner hatte sofort dafür gesorgt, dass Martina in die Behnisch-Klinik gebracht wurde. Seit drei Tagen lag sie hier abgeschirmt auf der Intensivstation.

»Ich brauche deinen Rat, Daniel«, sagte Dr. Behnisch. »Selbst Jenny kann keine Diagnose stellen.«

Dass Jenny Lenz Dr. Dieter Behnischs Frau geworden war, war eigentlich auch Daniels und Fee Nordens Verdienst. Daniel hatte Dr. Jenny Lenz seinem Freund als Assistenzärztin vermittelt, Fee hatte diplomatisch dafür gesorgt, dass sie sich auch menschlich näherkamen. Auch sie hatten sich wohl gesucht und gefunden. Zwei Menschen wie Daniel und Fee, mit den gleichen Interessen und mit der Bereitschaft, helfen und heilen zu wollen. Jenny hatte ihre Erfahrungen in einem Urwaldlazarett gesammelt.

Daniel Norden blickte seinen Freund Dieter jetzt forschend an.

»Und wenn Jenny keinen Rat mehr weiß, meinst du, dass ich einen wüsste?«, fragte er.

»Ich bin Chirurg, Daniel«, sagte Dieter Behnisch. »Jeden Tag stehe ich am Operationstisch, aber du kennst die Patienten in- und auswendig. Das Mädchen ist sehr krank, aber es ist keinesfalls eine Infektionskrankheit. Der Ausschlag ist schlimm, aber es sind keine Pocken, wie sie in dem Internat gedacht hatten. Und aus ihr bringt man einfach nichts heraus. Ich habe Schorsch schon angerufen, damit er Claudia ausfragt, aber ich möchte unabhängig davon auch deine Diagnose hören.«

Es klopfte, Schwester Dora kam. »Axel ist jetzt wieder soweit okay«, sagte sie. »Er hat fürchterliche Angst, weil er Dr. Norden in eine so prekäre Situation gebracht hat.« Sie sah Dr. Norden flehend an.

»Werden Sie Ersatzansprüche geltend machen bei seinem Vater?«, fragte sie.

»Wofür denn?«, fragte Daniel.

Schwester Doras Gesicht entspannte sich. »Der Junge zittert vor Angst, weil er den Unfall verschuldet hat und Ihren Wagen beschmutzte.«

»Die Angst werde ich ihm schon ausreden«, erwiderte Daniel. »Kann man mit ihm reden?«

»Behutsam«, sagte Schwester Dora. »Er ist gut davongekommen. Mächtig übergeben hat er sich. Er hatte was getrunken. Aber halten Sie ihm das bitte nicht vor. Er hat in Latein wieder mal ’nen Sechser geschrieben und traute sich nicht nach Hause. – Diese Eltern«, fügte sie mit einem schweren Seufzer hinzu.

»Das Wetter, die Stimmung, wie leicht kann es da zu einer Kurzschlusshandlung kommen«, sagte Daniel.

»Und dann kein Verständnis im Elternhaus«, warf Dr. Behnisch ein. »Der Junge möchte so gern Kunsttischler werden.«

»Er schnitzt wunderschön«, sagte Schwester Dora. »Er brachte damals seinem Vater ein Relief in die Klinik, aber Anerkennung bekam er dafür nicht. Er solle lieber gute Noten schreiben, sagte der alte Hartwig. Da hat Axel mir das Relief geschenkt.«

Ihrem Tonfall war zu entnehmen, dass sie sehr viel für den Jungen übrig hatte, für seinen Vater aber gar nichts.

»Wir werden ihn jetzt mal untersuchen«, lenkte Dieter Behnisch ein.

»Vielleicht kannst du ihn ein paar Tage hierbehalten, bis sein seelisches Gleichgewicht wiederhergestellt ist«, schlug Daniel Norden vor.

»Was meinst du, was ich dann von seinem Vater zu hören kriege. Der jagt den Jungen auch noch mit Fieber in die Schule.«

»Mit diesem Herrn werde ich reden«, erklärte Daniel.

»Aber wenn du sagst, dass er dir vor das Auto gerannt ist …«

Daniel machte eine abwehrende Handbewegung und fiel ihm ins Wort.

»Ich lasse mir etwas einfallen, schreiten wir jetzt zu Taten.«

Bei allem Wohlwollen für Axel Hartwig mussten sie doch beide ihre Zeit einteilen. Auf Daniel warteten noch andere Patienten, und über Martina Rittberg wollten sie auch noch sprechen.

Axel hatte sich nur leicht verletzt.

Die Gehirnerschütterung war nicht bedenklich, aber man konnte sie als Vorwand benutzen, um ihn in der Klinik zu behalten, denn sein Seelenleben war so in Unordnung, dass man fürchten musste, dass es bei ihm tatsächlich doch noch zu einer Kurzschlusshandlung kommen könne. Als Daniel ihm sagte, dass er mit seinem Vater sprechen wolle, sah ihn der Junge ängstlich an.

»Sie haben mit mir schon genug Scherereien gehabt«, sagte er leise.

»So wollen wir es nicht bezeichnen«, sagte Daniel, »manche Patienten bereiten mir viel größere Sorgen.«

»Sie sind so menschlich«, sagte Axel leise. »Vielen Dank.«

Eigentlich schon erwachsen und doch noch ein Kind, befand er sich in einem schwierigen Stadium, in dem ihm geholfen werden musste. In seinem Elternhaus fand er diese Hilfe nicht. Daniel dachte darüber nach, wie viele junge Menschen an solchem Unverständnis scheiterten, und wie oft Eltern daran mitschuldig waren, ohne sich dessen bewusst zu werden. Axel hatte mit seinen knapp achtzehn Jahren seine Probleme, und es war nicht abzusehen, ob er sie bewältigen konnte.

Martina Rittberg mit ihren vierzehn Jahren blieb allerdings auch für Dr. Daniel Norden ein Rätsel, nachdem er sich eine Viertelstunde mit ihr unterhalten hatte. Es war eine recht einseitige Unterhaltung. Er versuchte, mit ihr in ein Gespräch zu kommen, aber ihre Antworten waren kurz und scheu. Sie war ein Mädchen voller Hemmungen, was allerdings nicht verwunderlich war. Ihr schmales Gesicht war von vielen Pickeln bedeckt, ihr aschblondes Haar strähnig, ihr schmächtiger Körper war der eines unentwickelten Kindes.

Mit ihrer aparten Schwester hatte sie nur eins gemeinsam, das waren die großen Augen von hellem durchsichtigem Grau und von langen dunklen Wimpern umrandet. Aber in diesen Augen stand aller Schmerz eines zerrissenen Kinderherzens zu lesen.

Ihre Seele konnte man nicht in einer Viertelstunde erforschen.

Dr. Behnisch sah seinen Freund forschend an, als er aus Martinas Zimmer kam.

»Nun?«, fragte er.

Daniel Norden zuckte die Schultern. »Im Augenblick kann ich nur bestätigen, dass die Mandeln herausmüssen. Sie sind ein Streuherd, aber ob sich ihr Allgemeinbefinden dadurch bessern wird, steht in den Sternen. Wann hat sie die Eltern verloren?«

»Vor zwei Jahren.«

»Wodurch?«

Nun zuckte Dr. Behnisch die Schultern. »Darüber hat auch Schwester Claudia sich nicht geäußert. Ich hoffe, dass sie uns mehr sagen wird, wenn man ihr klarmacht, wie wichtig es für eine erfolgversprechende Therapie ist. Ich habe mit der Internatsleiterin gesprochen. Eine sehr überhebliche Dame. Man könne ihren anderen Zöglingen nicht zumuten, eventuell von Martina angesteckt zu werden, hat sie gesagt.«

»Wenn ich schon ›Zögling‹ höre«, brummte Daniel. »Man wird dieses arme Kind wegen der Pickel gehänselt haben.«

»Ich fürchte, man hat sie wie eine Aussätzige behandelt«, sagte Dr. Behnisch ungehalten.

»Wahrscheinlich haben auch ihre schulischen Leistungen unter diesen Zwängen gelitten«, sagte Daniel.

»Nein, und das ist eigenartig, sie ist überaus intelligent. Man könnte sagen, einsame Klasse in dieser Altersstufe. Ein Extrem.«

*

Zur gleichen Zeit sprach Dr. Georg Leitner mit Schwester Claudia. Er hatte sich ein Herz gefasst, da Dr. Behnisch ihn so dringend gebeten hatte, sich einzuschalten.

Dr. Leitner, ein ausgezeichneter Gynäkologe, als Arzt selbstsicher und sehr beliebt, war als Mensch äußerst zurückhaltend und sogar schüchtern, zumindest wenn er privat mit weiblichen Wesen zu tun hatte.

Als Frauenarzt kam ihm das wohl zugute, denn schwärmerische Zuneigung wurde ihm von seinen Patientinnen nicht zuteil. Er war eher eine Vaterfigur ohne erotische Ausstrahlung.

Claudia hatte ihn in den wenigen Wochen, die sie nun an der Klinik tätig war, schätzen gelernt. Sie hatte zuvor in ihrem Beruf mit anderen Ärzten recht trübe Erfahrungen gemacht, denn in ihrer äußeren Erscheinung blieb sie selbst in der schlichten Krankenschwestertracht eine Dame.

Am Morgen hatte eine Geburt stattgefunden, die nicht ohne Komplikationen verlaufen war. Claudia war ihm gewissenhaft und umsichtig zur Hand gegangen. Das Personal, durch einige Krankheitsfälle sehr knapp, wurde von den Patientinnen in Atem gehalten, die bei solchem Wetter hektisch und überempfindlich waren. An solchen Tagen musste man schon sehr gute Nerven haben.

Dr. Leitner hatte nicht vorausgesetzt, dass Claudia sie besaß, da sie wahrhaftig genügend Sorgen hatte mit ihrer kleinen Schwester.