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Menschlichkeit, Mitgefühl und die Magie der Musik 1942 wird Singapur von der japanischen Armee eingenommen. Während die Insel brennt, versuchen die australische Krankenschwester Nesta James und die englische Musikerin Norah Chambers mit vielen anderen an Bord der HMS Vyner Brooke zu fliehen. Doch das Schiff wird bombardiert und versenkt. Nesta und Norah können sich an die Strände von Indonesien retten, werden aber gefangen genommen und in einem der berüchtigten japanischen Kriegsgefangenenlager festgehalten. Tapfer kämpfen die beiden Seite an Seite ums Überleben: mit außergewöhnlichem Mut und der Magie der Musik.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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www.piper.de
Übersetzung aus dem Englischen von Gabriele Weber-Jarić
© Heather Morris, 2023
Titel der englischen Originalausgabe:
»Sisters Under the Rising Sun«, Zaffre, London 2023
© der deutschsprachigen Ausgabe 2025:
Piper Verlag GmbH, Georgenstraße 4, 80799 München, www.piper.de
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Redaktion: Kerstin Kubitz
Alle Noten und Fotos von Norah Chambers und Familie mit freundlicher Genehmigung von Seán Conway/Nachdruck des Bildes YMS 16139 mit freundlicher Genehmigung der Australian Manuscripts Collection, State Library Victoria/Foto von Nesta James mit Ehemann Alexander Noy: mit freundlicher Genehmigung von Kathleen Davies und Brenda Pegrum/Nachdruck der Bilder 044480 und P01701.003 mit freundlicher Genehmigung des Australian War Memorials
Kartenillustration von Jake Cook
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München nach einem Entwurf von Nick Stearn
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
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Cover & Impressum
Widmung
Einführung
Prolog
Singapur
Februar 1942
TEIL I
Der Fall von Singapur
Kapitel 1
Singapur
Februar 1942
Kapitel 2
HMS Vyner Brooke, Bangkastraße
Februar 1942
Kapitel 3
Muntok, Niederländisch-Indien
Februar 1942
Kapitel 4
Muntok
Februar – März 1942
Kapitel 5
Lager II, Irenelaan, Palembang,Südsumatra
März 1942 – Oktober 1943
Kapitel 6
Lager II, Irenelaan, Palembang
April 1942 – Oktober 1943
Kapitel 7
Lager II, Irenelaan, Palembang
April 1942 – Oktober 1943
Kapitel 8
Lager II, Irenelaan, Palembang
April 1942 – Oktober 1943
Kapitel 9
Lager II, Irenelaan, Palembang
April 1942 – Oktober 1943
Kapitel 10
Lager II, Irenelaan, Palembang
April 1942 – Oktober 1943
Kapitel 11
Lager II, Irenelaan, Palembang
April 1942 – Oktober 1943
Kapitel 12
Lager II, Irenelaan, Palembang
April 1942 – Oktober 1943
Kapitel 13
Lager II, Irenelaan, Palembang
April 1942 – Oktober 1943
Kapitel 14
Lager II, Irenelaan, Palembang
April 1942 – Oktober 1943
TEIL II
Tief im Dschungel
Kapitel 15
Lager III
Oktober 1943 – Oktober 1944
Kapitel 16
Lager III
Oktober 1943 – Oktober 1944
Kapitel 17
Lager III
Oktober 1943 – Oktober 1944
Kapitel 18
Lager III
Oktober 1943 – Oktober 1944
Kapitel 19
Lager III
Oktober 1943 – Oktober 1944
Kapitel 20
Lager III
Oktober 1944
TEIL III
Die letzten Kriegswochen
Kapitel 21
Lager IV
November 1944 – März 1945
Kapitel 22
Lager IV
April 1945
Kapitel 23
Lager V, Belalau
April–September 1945
Epilog
Die letzte Vorstellung
Anmerkung der Autorin
Literatur
Krankenschwestern des Australian Army Nursing Service, die Singapur am 12. Februar 1942 auf der Vyner Brooke verließen:
Nachwort
von Kathleen Davies und Brenda Pegrum, Angehörige von Nesta
Nachwort
von Seán Conway, Enkel von Norah
Bildteil
Noten Ravel
Noten Dvořák
Karte
Dank
Liebe Leser:innen,
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für alle Krankenschwestern –früher, heute und zukünftig
Ihr macht die Welt zu einem besseren Ort.
Für Sally und Seán Conway
Danke, dass ihr die Geschichte eurer Mutter und Großmutter Norah Chambers mit mir geteilt habt.
Für Kathleen Davis, Brenda Pegrumund Debra Davies
Danke, dass ihr die Geschichte eurer CousineNesta (James) Noy mit mir geteilt habt.
Die japanische Invasion großer Teile Südostasiens begann im Winter 1941, unter anderem mit der Besetzung der Malaiischen Halbinsel und der Philippinen. Weitere Inseln im Pazifik und Indischen Ozean folgten. Singapur, damals eine britische Kronkolonie, fiel am 15. Februar 1942 an Japan.
Auf dem Handelsschiff HMS Vyner Brooke drängten sich verzweifelte Menschen, die aus Singapur fliehen wollten. Das Schiff wurde von der japanischen Luftwaffe bombardiert und sank innerhalb weniger Stunden.
Viele der Überlebenden konnten sich auf eine Insel vor Sumatra retten. Wenig später wurden sie von japanischen Einheiten gefangen genommen. Männer, Frauen und Kinder wurden voneinander getrennt. Ebenso wie zahllose andere, die die Invasoren zusammengetrieben hatten, kamen sie in Gefangenenlager tief im Dschungel. In den Lagern herrschten Hunger, Brutalität und Krankheiten, die sich in Windeseile ausbreiteten.
Gut dreieinhalb Jahre lang wurden die Gefangenen von einem Lager zum anderen geschafft, und in jedem mussten sie um ihr Überleben kämpfen.
Dies ist ihre Geschichte …
Norah setzt sich auf Sallys Bettkante und wartet darauf, dass ihre Tochter aufwacht. Kein anderes Gespräch wird für sie jemals so schmerzhaft sein wie das, das ihr nun bevorsteht. Sie muss ihrer Tochter erklären, dass ihre Eltern entschieden haben, sie zusammen mit ihren Cousins und Tante Barbara fortzuschicken.
Die Reaktion ist so, wie Norah erwartet hat. Sie drückt das verstörte kleine Mädchen an sich, das bei den Eltern bleiben will und schluchzend hervorstößt, es wolle nicht weg, weder jetzt noch irgendwann. Als ihre Cousins ins Zimmer platzen und aufgeregt erzählen, dass sie sich zu einem Abenteuer aufmachen und sogar übers Meer fahren, nimmt Sally sie kaum wahr.
»Sally, wir fahren nach Australien!«, rufen sie. »Auf einem großen Schiff.«
Was für eine Wahl hat Norah, wenn Singapur kurz vor dem Fall steht und ihr Mann mit Typhus im Krankenhaus liegt? Sie verspricht ihrer Tochter, sobald es ihrem Vater besser gehe, komme sie mit ihm nach.
Auf der Fahrt zum Hafen dreht Sally das Gesicht von ihrer Mutter fort zum Fenster und weint. Norahs Versuche, sie zu trösten, wehrt sie ab. Im Hafen schlingt das Mädchen die Arme um Norahs Taille. Für beide wird die Trennung qualvoll sein.
Eine nahe Detonation veranschaulicht ihnen, was vor ihnen liegt, und macht sie panisch. Sally fängt an zu schreien, Norah ist starr vor Entsetzen. Gleichzeitig spürt sie das Leid, das sie dem ihr liebsten Menschen zufügen muss. Als die Welt ringsum explodiert, nimmt Barbara Sally und rennt mit ihr zum Landungssteg.
»Daddy und ich kommen nach!«, ruft Norah. »Sei brav, mein Spatz, in ein paar Tagen sind wir bei dir. Versprochen.«
Schluchzend streckt Sally die Arme nach ihr aus. Unwillkürlich macht Norah einen Schritt auf sie zu. Ihre Schwester Ena packt sie am Arm und hält sie zurück. Sie sehen zu, wie Barbara und Sally an Deck gehen und verschwinden. Weder Mutter noch Tochter winken einander zum Abschied.
Norah wendet sich ihrer Schwester zu. »Ob ich Sally jemals wiedersehe?« Ihr Gesicht ist tränennass.
»Ich will nicht weg aus Singapur! Bitte, Norah, bitte zwing uns nicht dazu!« Enas Flehen geht in den Angstschreien von Frauen und Kindern unter, in den Detonationen auf allen Seiten und dem tiefen Brummen japanischer Kampfflugzeuge über ihnen.
Eltern treiben ihre Kinder an, rufen: »Lauft! Wir müssen uns beeilen!« Doch es ist zu spät. Die nächste Bombe trifft das alliierte Schiff, zu dem sie wollten, und es bricht auseinander.
Schrapnelle schießen durch die Luft. Norahs Mann John und Enas Mann Ken kauern sich zu ihren Frauen, schirmen sie mit ihren Körpern vor den umherfliegenden Metallkugeln ab. Doch sie können es sich nicht leisten, länger zu verharren. Ken hilft den beiden Frauen auf die Beine. John ringt nach Atem und versucht hochzukommen.
»Wir müssen an Bord, Ena, jetzt!« Noch immer versucht Norah, ihre Schwester zur Flucht auf der Vyner Brooke zu überreden. Überall herrscht Verzweiflung, alle wollen dem Chaos entfliehen und irgendwo einen sicheren Ort finden. Dennoch nimmt Norah sich die Zeit, ihren Mann zu umarmen. John ist noch immer kurzatmig, hätte eigentlich im Krankenhaus bleiben müssen, doch er würde seinen letzten Rest Kraft hergeben, um seiner Frau und ihrer Schwester beizustehen.
»Ena, bitte hör auf deine Schwester«, sagt Ken. »Du musst jetzt los, Liebling. Ich bleibe bei deinen Eltern und kümmere mich um sie.«
»Es sind unsere Eltern«, sagt Norah. »Wir sollten an ihrer Seite sein.«
»Irgendwo da draußen ist eure Tochter«, entgegnet Ken. »Du und John müsst Sally suchen. Und Ena an meiner statt beschützen.« Ken weiß, dass nur er in Singapur bleiben und für die Schwiegereltern sorgen kann. John ist dazu viel zu krank, genau wie James, sein Schwiegervater, der zu geschwächt ist, um aus Singapur zu fliehen. Und Margaret, Kens Schwiegermutter, weigert sich, ihn allein zurückzulassen.
Wieder schlägt in der Nähe eine Bombe ein, die Menschen gehen in Deckung. Hinter ihnen steht Singapur in Flammen, vor ihnen treiben zahllose brennende Wracks auf dem Meer, sowohl von großen als auch kleinen Schiffen.
»Lauft! Lauft, solange es noch möglich ist! Wenn das Schiff jetzt nicht ablegt, kommt es nicht mehr raus aus dem Hafen. Ihr müsst an Bord.« Ken muss schreien, um sich über den Lärm hinweg verständlich zu machen. Er küsst Norah auf die Wange und drückt Johns Arm. Dann zieht er Ena an sich, küsst seine Frau ein letztes Mal, bevor er sie in Richtung des Schiffs schiebt.
»Ich liebe dich!«, ruft Ena mit brüchiger Stimme.
»Verschwindet aus dieser Hölle!«, ruft Ken den sich entfernenden Gestalten nach. »Findet Sally. Findet Barbara und die Jungs. Ich komme bald nach.«
Norah, John und Ena sind irgendwo im Gedränge der Passagiere und werden in Richtung der Beiboote gestoßen.
»Sally – wir müssen Sally finden«, murmelt John. Seine Beine geben nach. Norah und Ena greifen nach seinen Armen und ziehen ihn mit sich.
Norah kann nichts mehr sagen. Während sie sich ihrem Schicksal entgegenschleppt, hört sie im Geist das Flehen ihrer Tochter. Ich will nicht weg. Bitte lass mich bei dir bleiben, Mummy, bitte. Vor einer Woche hat sie ihre achtjährige Tochter auf einem Schiff fortgeschickt.
Sie hat Sally gut zugeredet. Ich weiß, dass du es nicht möchtest, Schatz, und wenn es möglich wäre, würden wir zusammenbleiben. Aber jetzt musst du mir zuliebe ein tapferes kleines Mädchen sein und mit deinen Cousins und Tante Barbara gehen. Daddy und ich werden ganz schnell wieder bei dir sein. Sobald es Daddy besser geht.
Aber du hast mir versprochen, dass du mich nicht fortschickst. Du hast es versprochen. Sally war außer sich, hatte hektische rote Flecken im Gesicht und weinte.
Das weiß ich, aber wenn Mummys und Daddys wollen, dass ihre kleinen Mädchen in Sicherheit gebracht werden, können sie ihre Versprechen manchmal nicht halten. Ich verspreche dir …
Sag das nicht – sag nicht, dass du was versprichst, wenn du dein Versprechen nicht halten kannst.
Komm, Sally, kannst du Jimmy an die Hand nehmen?, fragte Barbara sanft. Sie war die Älteste der drei Schwestern. Bei ihr würde Sally gut aufgehoben sein. Das war Norah ein Trost.
»Sie hat sich kein einziges Mal nach mir umgedreht«, flüstert Norah vor sich hin und schleppt sich weiter. »Sie ist einfach an Bord gegangen, und dann war sie fort.«
Die Passagiere mit den erforderlichen Ausweisen und Einschiffungsdokumenten drängen sich in dem für sie abgesperrten Bereich des Hafens, unter ihnen panische Erwachsene und jammernde Kinder. Alle haben mit dem Gewicht ihres Gepäcks zu kämpfen. Es enthält die Besitztümer, die ihnen unentbehrlich sind.
Eine Gruppe uniformierter australischer Militärkrankenschwestern zeigt den Kontrolleuren ihre Dokumente und wird zum Absperrgitter weitergewinkt. Sie gehen hindurch und treten zur Seite, lassen zivile Passagiere auf dem Weg zu den Beibooten vor. Eine Schar Frauen in den gleichen Uniformen zwängt sich durch die Gitteröffnung. Die Krankenschwestern umarmen und begrüßen einander wie lange vermisste Freundinnen. Unter den Ankömmlingen befindet sich eine zierliche Person, die sich zu den anderen vorarbeitet.
»Vivian, Betty!«, ruft sie.
Vivian wendet sich Betty zu. »Nesta ist da!«
Die drei Frauen umarmen sich. Nesta James, Betty Jeffrey und Vivian Bullwinkel sind in Malaya Freundinnen geworden. Sie haben als Krankenschwestern in einem Lazarett der Alliierten gearbeitet, bis es von der japanischen Armee überrannt wurde. Wie so viele andere waren auch sie gezwungen, nach Singapur zu fliehen.
»Ich bin so froh, euch zu sehen«, sagt Nesta, und die Freude steht ihr ins Gesicht geschrieben. »Ich wusste nicht, ob ihr gestern mit den anderen aufgebrochen seid.«
»Betty sollte gestern fahren«, sagt Vivian. »Auf dem Weg zum Schiff hat sie sich verdrückt. Wir haben gehofft, dass wir nicht nach Hause geschickt werden. Dafür gibt es hier zu viel zu tun.«
»Oberschwester Drummond wird sich ein letztes Mal für uns verwenden«, sagt Nesta. »Noch sind wir nicht an Bord. Vielleicht sieht das alliierte Oberkommando ein, dass wir besser bei denen bleiben, die zu schwach sind, um zu reisen.«
»Das Oberkommando sollte sich beeilen, wir werden ja schon zum Schiff gebracht.« Betty blickt zu den Männern, Frauen und Kindern, die in die wild auf und ab tanzenden Beiboote klettern, auf dem Weg zur Vyner Brooke. Und noch immer werden gezielt Bomben abgeworfen, die das Meer aufwühlen. Wellen schlagen krachend gegen den Kai.
Nesta beobachtet drei Passagiere, die in ein Beiboot wollen. »Ich glaube, die können eine helfende Hand brauchen. Bin gleich wieder da.«
»Brauchen Sie Hilfe?« Nesta ist zu Norah und Ena getreten. Die beiden Frauen wissen nicht, wie sie John die steilen Stufen der Kaimauer hinunter in das wartende Boot schaffen sollen. Es ist schon zur Hälfte mit verängstigten Passagieren gefüllt, einige von ihnen weinen, andere sind schockstarr.
Norah spürt eine Hand auf der Schulter und dreht sich um. Vor ihr steht ein Persönchen in Uniform, so zart und klein, dass Norah sich fragt, wie sie ihnen helfen will, zumal Ena, John und sie selbst hochgewachsen sind.
»Ich bin Nesta James und Krankenschwester der australischen Streitkräfte. Außerdem bin ich stärker, als ich aussehe, und habe gelernt, mit Menschen umzugehen, die um einiges größer und schwerer als ich sind. Sie können mir vertrauen.«
»Ich glaube, wir schaffen das allein«, sagt Norah. »Trotzdem vielen Dank.«
»Wie wär’s, wenn eine von Ihnen in das Boot steigt, und wir dem Herrn zu zweit die Stufen hinunterhelfen. Danach können Sie wieder übernehmen.« Wie man auf höfliche Weise hartnäckig bleibt, hat Nesta in ihrem Beruf gelernt. »Kommen Sie direkt aus dem Krankenhaus?«, wendet sie sich an John und nimmt den Arm, den Norah losgelassen hat.
»Ja. Ich hatte Typhus.« John lässt sich von ihr stützen.
Norah setzt sich ins Boot. Ena und Nesta befördern John in ihre ausgebreiteten Arme.
»Kommen Sie nicht mit?«, fragt Ena die junge Krankenschwester.
»Ich bleibe bei meinen Freundinnen. Wir nehmen das nächste Boot.«
Ena blickt zum Kai hinauf, wo eine große Gruppe uniformierter Frauen wartet.
Als sich das Boot mit Norah, John und Ena in Bewegung setzt, hören sie Gesang. Die Krankenschwestern haben die Arme umeinander gelegt. Während nicht weit entfernt ein Benzintank explodiert und zu einem Feuerball wird, singen sie so laut, als wollten sie den Lärm übertönen.
Jetzt heißt es Abschied nehmen,bald segelt ihr über das Meer.Vergesst mich nicht in der Ferne,wenn ihr zurückkehrt, warte ich hier.
Und wieder geht im Hafen eine Bombe hoch.
***
Oberschwester Olive Paschke fängt Nestas Blick auf. »Oberschwester Drummond hat noch einmal die Bitte an das Oberkommando gerichtet, uns hier zu lassen, damit wir unsere Soldaten versorgen können. Ein Leutnant hat ihr erklärt, dass diese Bitte abgelehnt wurde.«
»Einen Versuch war’s wert«, sagt Nesta. »Es ist einfach nicht richtig, die verwundeten Männer im Stich zu lassen. Sie brauchen uns doch. Wie hat Oberschwester Drummond die Nachricht aufgenommen?«
»Was konnte sie denn anderes tun, als die Brauen hochzuziehen? Was glaubst du, was losgewesen wäre, hätte sie gesagt, was sie denkt?«
»Also hat sie es zähneknirschend hingenommen. Weil ihr nichts anderes übrig blieb.« Nesta schüttelt den Kopf.
»Kommt, wir müssen los. Sieht aus, als wären wir die Letzten, die an Bord gehen.«
An Bord gibt Vivian das, was sie über die Vyner Brooke weiß, zum Besten.
»Die Vyner Brooke wurde nach dem dritten Radscha von Sarawak benannt, doch seit die Royal Navy sie requiriert hat, ist es ein Schiff Seiner Majestät König Georgs VI. Eigentlich hat sie nur Platz für zwölf Passagiere und siebenundvierzig Seeleute.«
»Und woher weißt du das?«, fragt Betty.
»Weil ich mal mit dem Radscha diniert habe. Ja, da staunt ihr, ich, die arme, kleine Schwester Vivian Bullwinkel aus der Bergbausiedlung Broken Hill war bei einem Radscha zu Gast. Aber nicht allein, es waren auch noch andere da.«
Betty lacht. »O Bully, dieser Zusatz hat auch nur von dir kommen können. Jeder andere hätte es bei ›Ich habe mal mit dem Radscha diniert‹ belassen.«
Als die letzte Krankenschwester an Bord ist, gibt der Kapitän den Befehl, den Anker zu lichten und vorsichtig in See zu stechen. Vor ihnen liegen die Minenfelder der Briten, eine ebenso große Gefahr wie die feindlichen Bomber über ihnen.
Die Sonne geht unter. Singapur brennt, die Bombardierungen und das Geschützfeuer lassen nicht nach. Es ist die Kakofonie einer untergehenden Stadt. Norah, John und Ena wenden sich davon ab und überlassen sich für einen Moment dem lieblichen Gesang der australischen Krankenschwestern an Deck.
You’ll come a-waltzing Matilda with me …
»Was für ein fröhlicher Haufen diese Krankenschwestern sind – wenn man bedenkt …« Norah bemüht sich um einen leichten und lockeren Tonfall. »Schön, dass sie mit an Bord sind.«
Die letzte Zeile von Waltzing Matilda geht im Heulen des nächsten Fliegeralarms unter. Der Lärm folgt dem langsam aus dem Hafen gleitenden Schiff. Irgendwo explodiert ein Öltank, Trümmer fliegen durch die Luft. Es bedarf eines geschickten, erfahrenen Kapitäns, um das Schiff hinaus aufs Meer zu manövrieren und die Seeminen zu umfahren, die die Royal Navy gegen die japanische Marine gelegt hat.
Norah wendet den Blick von der apokalyptischen Szene im Hafen ab.
»Willst du nicht nachschauen, ob unter Deck ein Bett frei ist?« John blickt aufs Wasser hinaus.
Er braucht meine Hilfe, denkt Norah, und weil es ihm unangenehm ist, versucht er, es zu verbergen.
»Ich bleibe an Deck«, sagt Ena. »Es sind so viele Mütter mit Kindern an Bord. Und alte Leute. Sie sollen die Betten bekommen.«
John sieht seine Frau an. Sie wird entscheiden, ob sie nach unten gehen oder nicht.
»Ena hat recht«, sagt Norah. »Lass uns hier oben einen Platz suchen, auf dem wir uns ausstrecken können.«
Norah registriert den Ausdruck der Erleichterung, der über Johns Gesicht huscht. Sie kennt ihren Mann in- und auswendig; er ist froh, dass ihm nicht wieder jemand Stufen hinunterhelfen muss.
Sie überqueren das Deck auf der Suche nach einem freien Platz. Einmal bleiben sie stehen und beobachten die Krankenschwestern. Sie haben sich um eine ältere Frau geschart, die ihnen Anweisungen erteilt.
»Die Oberschwester«, murmelt Norah.
»Wir gehen hinunter in den Salon«, erklärt die Frau. An ihrer Seite steht eine zweite Oberschwester, noch etwas älter, die das Wort der anderen überlässt und die Krankenschwestern mit einem zufriedenen Lächeln betrachtet.
Die Krankenschwestern steigen durch die Deckluke nach unten. Norah, Ena und John belegen für die erste Nacht einen Platz auf dem Oberdeck. Am Kai steigen Flammen auf. Ihr Leuchten wetteifert mit der Sonne, die in einem ehemaligen Tropenparadies untergeht, aus dem nun Armageddon geworden ist.
John lässt sich an der Schiffswand hinuntergleiten und setzt sich auf die hölzernen Bodenplanken. Er bedeutet Norah und Ena, es ihm nachzutun. Sie flankieren ihn, rücken dicht an ihn heran, um ihn zu stützen. John legt die Arme um die beiden Frauen. Schweigend sehen sie zu, wie die Welt, die sie gekannt haben, untergeht.
Plaudernd betreten die Krankenschwestern den Salon. Sie sind aufgeregt, gleichzeitig fürchten sie sich vor dem, was vor ihnen liegt, und suchen die tröstliche Nähe ihrer Freundinnen und Kolleginnen.
»Ruhe, meine Damen!«, ruft Oberschwester Paschke. »Es gibt viel zu tun. Wir müssen uns um die Passagiere an Bord kümmern und werden vier Gruppen bilden. Für jede werde ich eine Leiterin ernennen, die sowohl für einen bestimmten Bereich als auch für die Disziplin und das Durchhaltevermögen ihrer Gruppe verantwortlich ist. Zunächst aber Folgendes: Sollte es zum Schlimmsten kommen und wir das Schiff verlassen müssen, helft ihr bei der Evakuierung und geht als Letzte von Bord.«
Paschke beobachtet die Mienen der Frauen. Sie sehen einander an, nicken, haben die Tragweite ihrer Aufgaben erfasst.
Nesta, Paschkes Stellvertreterin, wird als Erste zur Gruppenleiterin erkoren, danach die drei anderen. Flink und routiniert teilen sie Medikamente und Verbandsmaterial unter sich auf.
Drummond spricht noch einmal mit der ganzen Gruppe.
»Lasst mich vorab noch sagen, wie unglaublich stolz ich auf euch bin. Was immer uns erwarten mag, wir stehen es gemeinsam durch. Von unserem Kapitän habe ich erfahren, dass es, falls wir das Schiff verlassen müssen, nicht genügend Rettungsboote gibt. Deshalb behaltet bitte eure Rettungswesten an, auch beim Schlafen. Sie könnten den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen.«
»Und solltet ihr im Wasser landen, vergesst bitte nicht, eure Schuhe abzustreifen«, fügt Paschke hinzu. »Ich werde diese Reise nicht schönreden, meine Damen. Dass wir bombardiert werden, davon müssen wir ausgehen, so leid es mir tut, das zu sagen.« Um Stärke zu demonstrieren, strafft sie die Schultern und richtet sich zu voller Höhe auf. »Und jetzt geht zu den euch zugewiesenen Bereichen und übt die Evakuierung. Oberschwester Drummond und ich werden vorbeikommen und sehen, wie es läuft. Ach, und noch etwas: Sollten wir das Schiff verlassen müssen, gibt Oberschwester Drummond die Befehle. Alles klar so weit?«
Nesta führt ihre Gruppe zum Backbordbereich des Oberdecks. Norah, John und Ena sehen zu, wie sie die Rettung über die Reling proben, und entscheiden, an welchen Stellen sie im Ernstfall Taue verwenden. Nesta erklärt, dass sie mit panischen, möglicherweise verletzten Männern, Frauen und Kindern rechnen müssen. Mit sanften Stimmen üben sie beruhigende Worte ein. Die werden sie brauchen, wenn sie Passagiere überreden müssen, ins Meer zu springen.
»Vergesst nicht, dass einige nicht schwimmen können, unter ihnen Kinder, insbesondere Babys. Macht Kindern und Erwachsenen klar, dass man ihnen helfen wird, sobald sie im Wasser sind. Die Seeleute werden uns Rettungsflöße zuwerfen.«
Um sich von ihren Ängsten abzulenken, beobachtet Norah die junge Rednerin, bewundert die Art, wie sie die Krankenschwestern in ihrer Gruppe anleitet. Nesta fängt ihren Blick auf und schenkt Norah ein breites Lächeln. Offenbar erinnert sie sich, dass sie John vor einer Weile geholfen hat. Ihr Lächeln scheint zu sagen: Mach dir keine Sorgen. Was wir tun, gehört zu unseren Aufgaben. Ist Norah beruhigt? Sie ist sich nicht sicher, aber den guten Mut der Krankenschwester, während sie ein Kriegsgebiet durchfahren, weiß sie zu schätzen.
Dann wird sie sich wieder der Gefahr bewusst, in der sie schweben. Sie verbirgt ihr Gesicht in Johns Armen, erstickt die aufsteigenden Schluchzer. Sie darf nicht weinen, kann sich nicht wie ein Kind aufführen. Hat sie nicht gerade mitangesehen, wie tapfer die Krankenschwestern sind, wie sie die Rettung derjenigen planen, die Hilfe benötigen werden?
»Du denkst an Sally, nicht wahr?«, flüstert John an ihrem Haar.
»Hat sie das erlebt, was die Krankenschwestern gerade üben?« Norah fängt nun doch an zu weinen. »Wurde sie von einem, der es gut gemeint hat, über Bord geworfen? Wenn wir wenigstens wüssten, ob sie noch lebt und wo sie ist. Bitte sag, dass sie in Sicherheit ist.«
»Wenn nicht, würde ich es spüren.« Mit zitternder Hand hebt John Norahs Kinn an. »Du auch. Hier würdest du es spüren.« Er legt eine Hand auf Norahs Herz. »Sally ist in Sicherheit, Liebling. Daran musst du einfach glauben. Wenn du dich daran festhältst, werden wir bald wieder mit ihr vereint sein.«
Ena greift an John vorbei nach Norahs Hand. »Sally geht es gut, Norah. Sie wartet auf dich.«
Oberschwester Drummond kommt und schaut sich an, wie Nesta ihre Gruppe anleitet. »Ihr macht das gut. Wenn ihr fertig seid, führt Schwester Nesta euch nach unten, und ihr ruht euch aus. Leider hat sich herausgestellt, dass es an Bord nicht genug zu essen gibt. Oberschwester Paschke und ich haben erklärt, dass wir zugunsten der Kinder auf unsere Rationen verzichten. Wir sehen uns unten.«
Eine Schwester wendet sich Nesta zu. »Ich kann nicht schwimmen.«
»Oberschwester Paschke auch nicht, du befindest dich also in guter Gesellschaft.«
»Woher weißt du das?«
»Wir waren zusammen in Malakka, wo es die schönsten Strände gibt. Wenn wir frei hatten, sind wir dort schwimmen gegangen. Oberschwester Paschke hat nicht einmal in seichten Wellen geplanscht. Wasser macht ihr Angst.«
Kurz vor der Bangkastraße wird der Schiffsmotor ausgeschaltet und Anker geworfen; die schmale Meerenge scheint Kapitän Borton zu exponiert. Nur wenige der erschöpften oder schlafenden Passagiere bekommen es mit.
Wenig später ändert Borton seine Meinung. »Bleiben können wir auch nicht«, sagt er, an die Offiziere gewandt. »Wir durchqueren die Straße volle Fahrt voraus.«
Inzwischen brennt die Sonne aufs Deck, sodass diejenigen, die dort schlafen, wach werden. Die Passagiere unter Deck plagt nun drückende Hitze. Die Krankenschwestern verteilen die mageren Essensrationen. Danach kehren sie in den Salon zurück in Erwartung weiterer Befehle.
»Oberschwester Paschke und ich haben soeben mit Kapitän Borton gesprochen«, teilt Oberschwester Drummond ihnen mit. »Wir sind auf unserer Route zeitlich zurückgefallen. Ruht euch aus, solange es möglich ist. Die Leiterinnen der Gruppen bleiben noch. Alle anderen gehen besser an Deck, dort ist es ein wenig kühler.«
Als sie mit den vier Leiterinnen allein ist, sagt sie: »Bitte seht zu, dass alle Schwestern die Armbinden des Roten Kreuzes tragen. Sollte es zum Schlimmsten kommen, wird man uns daran erkennen. Und wer weiß, vielleicht sehen auch die japanischen Piloten das Emblem und verschonen dieses Schiff und die Passagiere. Kapitän Borton hat uns erklärt, dass wir auf die Schiffssirene achten müssen. Kurze Töne nacheinander bedeuten, dass wir angegriffen werden. Sobald ihr die hört, lauft ihr zu euren Bereichen und wartet auf meine Befehle. Ein lang gezogener Ton bedeutet, dass wir das Schiff verlassen müssen. Ihr wisst, was dann zu tun ist. Gebt diese Informationen an die Schwestern in eurer Gruppe weiter. Oberschwester Paschke und ich werden gleich noch einmal einen Rundgang machen.«
Auf dem Oberdeck ist es für die Passagiere eng geworden. Auch die aus dem Unterdeck sind nun dort, um der feuchten Hitze zu entkommen. Wer ein wenig Schatten gefunden hat, sitzt dort und döst. Nur wenige registrieren den nahenden Tiefflieger. Und die starren ihm wie gelähmt entgegen. Er hält auf sie zu.
»In Deckung gehen! In Deckung!«, ertönt es aus dem Lautsprecher.
Dann ist die Hölle los.
Das Flugzeug ist über ihnen, eine Bordkanone feuert auf die Passagiere, die in Panik ausbrechen. Die Geschosse treffen hart auf, prallen von Metall ab, suchen nach neuen Zielen.
John packt Norah und Ena am Arm und schreit: »Los, los, wir müssen unter Deck!« Die Frauen zerren ihn mit sich.
Die Krankenschwestern stürzen zu ihren Bereichen und machen sich bereit. Doch schon ist der Angriff vorbei, der Tiefflieger verschwindet, der Himmel ist wieder leer. Die Menschen an Bord atmen auf. Nur wenige sind verletzt. Der größte Schaden ist an den Rettungsbooten entstanden, ein Teil ist nicht mehr zu gebrauchen.
***
Borton spricht mit den Schiffsoffizieren. »Die nächsten Flugzeuge werden schon auf dem Weg zu uns sein, und wir sitzen hier wie auf dem Präsentierteller. Wenn wir auch nur den Hauch einer Chance haben wollen, ungeschoren davonzukommen, müssen wir es in die Bangkastraße schaffen.«
Die Vyner Brooke nimmt Fahrt auf. Borton sucht den Horizont mit dem Fernglas ab und entdeckt den ersten Küstenstreifen der Insel Bangka. Nun müssen sie bloß noch in einem Stück dorthin gelangen.
»Wir geben Entwarnung. Für den Moment jedenfalls«, ordnet Borton an.
»Lasst uns unter Deck bleiben«, sagt John. Er macht einen erschöpften Eindruck. Norah legt ihm eine Hand auf die Stirn und stellt fest, dass ihr Mann wieder Fieber hat. Vielleicht schafft er es noch einmal die Treppe hinauf, aber nicht viel öfter.
Nach der Entwarnung versammeln sich die Krankenschwestern erneut im Salon und warten auf die nächsten Befehle. Wie sich herausstellt, sind einige Passagiere geringfügig verletzt worden, überwiegend von abgeplatzten Holzsplittern an den Einschlagstellen der japanischen Geschosse. Die Vyner Brooke beschleunigt ihre Fahrt, sie hören den dröhnenden, stampfenden Schiffsmotor. Ab sofort wird das Schiff nicht mehr im großen, zeitaufwendigen Zickzack den Seeminen ausweichen.
Wieder ertönt die Schiffssirene. Auch unter Deck hört man die Rufe: »Kampfflugzeuge in Sicht!«
Sie sehen die Flugzeuge nicht, doch sie spüren die Auswirkungen der ersten Bombe, die im Wasser detoniert, die Wellen aufpeitscht und das Schiff schlingern lässt.
»Nummer eins!«, ruft jemand.
Borton setzt zu Ausweichmanövern an, versucht, dem Bombenhagel zu entgehen. Er denkt an den Küstenstrich, den er gesehen hat, und betet um ein Wunder.
»Zwei, drei … vierzehn, fünfzehn … sechsundzwanzig, siebenundzwanzig.« Norah, John und Ena hören, wie der Passagier weiter die Bomben zählt. Seltsamerweise hat nicht eine von ihnen das Schiff getroffen.
»Achtundzwanzig, neunundzwanzig …«
Die nächste Bombe findet ihr Ziel. Die Druckwelle schleudert Passagiere durch die Luft, gegen die Schiffswände, gegeneinander. Wieder bricht Panik aus. Die Leute unter Deck stürzen zu den Gängen, um nach oben zu gelangen.
»Was ist mit euch?«, ruft John seiner Frau und Ena zu. »Seid ihr verletzt?«
»Nein, aber wir müssen an Deck«, erwidert Norah. »Wenn das Schiff sinkt, sind wir hier unten verloren.«
»Dann lauft. Ich bin hinter euch.«
»Hilf John hoch, Ena. Er geht dahin, wo wir hingehen.« Norah sieht ihrem Mann fest in die Augen. »Das war unsere Abmachung.«
Die Frauen helfen John auf die Beine. Mit ihm in ihrer Mitte versuchen sie, sich zum Deck durchzukämpfen.
Norah bahnt ihnen einen Weg durch die Menge, rempelt andere an und wird angerempelt. Jeder will von dem untergehenden Schiff entkommen.
Die Krankenschwestern sind noch im Salon. »Los, Mädels, wir sehen uns oben!«, ruft Drummond.
Nesta hetzt mit ihrer Gruppe zur nächsten Treppe, zum Licht, kann es kaum erwarten, den Dienst zu verrichten, für den sie ausgebildet wurde. Als sie an Deck stürmt, nähert sich erneut ein Tiefflieger, belegt das Schiff mit Geschützfeuer, trifft Verwundete, zerstört weitere Rettungsboote. Nesta hält die Krankenschwestern ihrer Gruppe zurück, wartet, bis sich das Flugzeug entfernt.
Dann ruft sie: »Los, sucht die Verwundeten, sucht die, denen ihr helfen könnt.«
Norah stützt John auf dem Weg nach oben. Sie kommen nur langsam voran, werden von dem Mädchen vor ihnen aufgehalten, das Mühe hat, eine Treppenstufe nach der anderen zu nehmen. Norah berührt es vorsichtig an der Schulter.
»Du bist verletzt«, sagt sie. »Schwer verletzt. Dein Rücken ist …«
»Wirklich?« Das Mädchen scheint sich weder seiner Wunden noch des blutgetränkten Kleids bewusst zu sein.
Schließlich taumelt es an Deck und bricht zusammen.
»Schwester!«, ruft Norah. »Wir brauchen eine Krankenschwester!« Sie setzt sich zu dem Mädchen, legt seinen Kopf auf ihren Schoß.
Nesta kommt zu ihr, fühlt den Puls des Mädchens an der Halsschlagader, sieht ihm in die Augen. »Leider nichts mehr zu machen. Es ist furchtbar, aber die Kleine ist nicht mehr unter uns.«
»Wir müssen das Mädchen zurücklassen, Norah«, sagt John leise. »Wir müssen vom Schiff runter, vielleicht sogar schwimmen.«
Schon werden sie von den Menschen gestoßen, die in panischer Hast versuchen, in die noch intakten Rettungsboote zu gelangen.
Die Oberschwestern sind noch unter Deck. Sie wollen sichergehen, dass sämtliche Passagiere oben oder auf dem Weg nach oben sind.
Als die Letzten auf der Treppe sind, greift im Salon eine unheimliche Stille um sich. Sie wird von einer schrillen Frauenstimme durchbrochen.
»Halt! Alle stehen bleiben!«
Und trotz des Chaos auf dem sinkenden Schiff, trotz der Verwundeten und Sterbenden, erstarren alle.
»Meinem Mann ist die Brille runtergefallen.«
Angesichts der Umstände klingt es so verrückt, dass hier und da Gelächter ertönt.
An Deck setzen die Krankenschwestern das, was sie geprobt haben, in die Tat um. Zwei aus Nestas Gruppe sind bei dem Angriff umgekommen, die anderen helfen Frauen und Kindern in die verbliebenen Rettungsboote.
Ungeachtet des Lärms, des Durcheinanders und der Hilferufe von Verletzten und Verängstigten erteilt Oberschwester Drummond ihre Befehle mit klarer, ruhiger Stimme. Als die Rettungsboote voll sind, lassen sich Kinder in Rettungswesten an Strickleitern ins Meer hinab, gefolgt von ihren Eltern.
***
»Ich mache es als Erste«, erklärt Ena ihrer Schwester. »Du und John kommt nach.«
Ena greift nach einem Tau, das am Schiff hängt, lässt es, während sie sich abseilt, durch ihre Hände gleiten. John wählt den kürzeren Weg und springt in die Fluten. Seine Rettungsweste zieht ihn wieder hoch. Ena greift nach seinem Arm – und schreit auf. Sie hat sich die Handflächen wundgescheuert, die nun bluten. Sie winkt Norah hektisch zu und ruft: »Nimm nicht das Tau, Norah, spring! Spring!«
Norah sieht nur, dass ihre Schwester ihr winkt. Sie langt nach dem Tau, klettert über die Reling und rutscht nach unten.
John sieht Enas Hände. Im nächsten Moment schlägt Norah auf dem Wasser auf, an den Händen die gleichen Verletzungen wie ihre Schwester. John schwimmt zu ihr.
Nur haben sie keine Zeit, sich um ihre Wunden zu kümmern, sie müssen von dem sinkenden Schiff wegkommen. John lehnt jegliche Hilfe ab. Er weiß, dass er jetzt auf sich gestellt ist und den letzten Rest Kraft aktivieren muss, um die beiden Frauen und sich zu retten.
Nesta verfolgt den Strom von Männern, Frauen und Kindern, die entweder in die Rettungsboote gestiegen sind oder es an Tauen und Strickleitern nach unten geschafft haben. Es sind nicht mehr viele Menschen an Bord. Ein Passagier wirft einem Besatzungsmitglied einen kleinen Jungen zu.
»Oberschwestern Paschke und Drummond hierher!«, ruft jemand. »Im letzten Rettungsboot ist noch Platz.«
Nesta sieht die beiden Frauen in das Rettungsboot steigen. Als es schaukelt, landen sie wenig damenhaft und kichern, während sie sich hochrappeln. Das Boot wird aufs Wasser gebracht.
»Es ist so weit, Mädels!«, ruft Drummond. »Verlasst das Schiff!«
»Wir treffen uns an Land. Dort sehen wir weiter«, fügt Paschke hinzu.
Nesta wendet sich an ihre Gruppe. »Wir sind an der Reihe, ihr habt’s gehört. Ich danke euch für euren Einsatz. Zieht die Schuhe aus und springt!«
»Ich kann nicht schwimmen«, erinnert sie eine Kollegin. »Also kann ich genauso gut mit Schuhen ertrinken.«
Nesta sieht sich um. Ihr Blick fällt auf eine halbe Tür, die auf dem Deck liegt.
»Hier ertrinkt niemand«, sagt sie zu der Nichtschwimmerin. »Wir werfen die Tür über Bord, und wenn du unten bist, hältst du dich daran fest.«
Sie werfen das große Stück Holz ins Wasser. Die Nichtschwimmerin springt hinterher. Sie geht unter, kommt wieder hoch und paddelt wie ein Hund zu dem improvisierten Floß. Sie hält sich daran fest und strampelt mit den Beinen.
Noch einmal blickt Nesta sich um. Denn hebt sie den Saum ihres Kleids, streift Schuhe und Strümpfe ab und springt.
Überall in den Wellen rufen Menschen um Hilfe und nach ihren Angehörigen. Hinzu kommt der Lärm der knarrenden und auseinanderbrechenden Vyner Brooke.
Norah, Ena und John halten im Schwimmen inne, schauen zurück und verfolgen voller Entsetzen, wie sich das Schiff auf die Seite legt. Das Heck richtet sich auf, präsentiert die Schraube, bevor das Schiff lautlos und auf nahezu anmutige Weise versinkt.
»Und weg ist sie«, sagt John leise.
»O nein!«, schreit Ena. »Guckt nach oben!«
Auch andere Schiffbrüchige haben den japanischen Tiefflieger erspäht. Im nächsten Moment wirbeln Geschosse das Wasser auf, andere treffen Schiffbrüchige. Sie, die einen Sprung ins Ungewisse überlebt haben, treiben nun reglos in den Wellen. Ihr Kampf ist beendet.
»Mummy! Mummy, wo bist du?«
Ena und Norah entdecken das kleine Mädchen, das dabei ist zu ertrinken. Sie schwimmen zu ihm, die schmerzenden Hände sind vergessen. Eine Woge spült das Kind wieder hoch. Ena packt es und zieht es an sich.
»Ich hab dich, ich hab dich«, murmelt sie. »Alles wird gut.«
»Nimm die Kleine mit, Ena!«, ruft Norah. »Wir müssen zu John.«
»Wo ist meine Mummy? Ich kann meine Mummy nicht finden.« Das Mädchen weint und spuckt Wasser.
»Wir finden sie, das verspreche ich dir«, sagt Ena. »Halt dich einfach an mir fest und lass dich mit mir treiben. Sag mir, wie du heißt.«
»June. Ich bin June. Und meine Mummy heißt Dorothy. Ich bin fünf Jahre alt.«
»Freut mich, dich kennenzulernen, June. Ich heiße Ena. Und das da ist meine große Schwester Norah. Bis wir deine Mummy finden, kümmern wir uns um dich.«
Ena legt einen Arm um June und paddelt langsam auf John zu, der ihr entgegenschwimmt. Die Strömung zieht sie von dem untergegangenen Schiff fort, doch sie geraten in den Ölteppich, der aus dem gerissenen Tank des Schiffs aufgestiegen ist.
»Kann es überhaupt noch schlimmer kommen?«, fragt John, während sie versuchen, sich Öl aus dem Gesicht zu streichen, was ohne Seife und heißes Wasser aussichtslos ist. »Wir müssen es zu der Küste dahinten schaffen.«
»Wir scheinen uns aber davon zu entfernen«, sagt Norah.
»Das liegt an der Strömung«, entgegnet John. »Sie zieht uns in Richtung Bangkastraße. Am besten, wir ruhen uns kurz aus, sammeln unsere Kräfte und kämpfen uns weiter vor.«
Mit June, die sich an Ena klammert, überlassen sie sich der Strömung, die sie jedoch nicht dahin zieht, wo sie sein möchten.
Nesta hat ihre Rettungsweste beim Sprung an sich gedrückt. Unter Wasser lässt sie sie los, rudert mit den Armen und durchbricht die Wasseroberfläche. Noch während sie nach Luft schnappt, kollidiert sie mit einem Mann, der im Meer treibt. Instinktiv sucht sie nach einem Lebenszeichen und erkennt, dass es keine Hoffnung mehr für ihn gibt.
Sie hört Hilferufe und schwimmt darauf zu, sieht Krankenschwestern, die sich an einer Holzplanke festhalten und ihr zurufen, dass sie klarkommen. Mit kräftigen Beinschlägen will Nesta zu einem Rettungsboot aufholen. Eine Welle hebt sie hoch, und sie erkennt, es ist das Boot, in dem die Oberschwestern sitzen, zusammen mit anderen Passagieren und Krankenschwestern, von denen einige verletzt sind. An eine der Unverletzten klammern sich zwei kleine Kinder. Passagiere, die im Wasser sind, halten sich am Rand des Bootes fest. Aber die Oberschwestern sind in Sicherheit, und dafür ist Nesta dankbar.
Betty schwimmt auf sie zu und ruft: »Alles in Ordnung bei dir?«
»Ja. Was ist mit dir?«
»Mir fehlt nichts, ich versuche nur, die anderen zu finden. Ich glaube, nicht alle haben es …« Bettys Stimme versagt.
»Hierher! Hierher!«
Betty und Nesta schauen sich nach den Rufenden um. Es sind Krankenschwestern, die Wasser treten. Sie schwimmen zu ihnen.
»Ist irgendjemand verletzt?«, fragt Nesta.
»Nein«, erwidern sie wie aus einem Mund, aber aus Jean Ashtons Kopf rinnt Blut.
»Du hast eine Kopfwunde, Jean«, sagt Nesta. »Hast du auch Verletzungen, die ich nicht sehen kann?«
Jean schüttelt den Kopf. Die anderen erklären, dass sie sich bloß Prellungen und Schürfwunden zugezogen haben.
»Sag uns, was wir tun sollen«, wendet sich eine Schwester an Nesta, die ihre leitende Funktion auch als Schiffbrüchige nicht eingebüßt hat.
Sie schwimmen in einen engen Kreis, halten sich aneinander fest und überlegen, wie sie den Verletzten und Schwachen beistehen können. »Wir helfen, wo wir können«, erklärt Nesta, »aber vor allem müssen wir es sicher an Land schaffen. Da besprechen wir alles Weitere.«
»Habt ihr die Oberschwestern gesehen?«, fragt eine.
»Sie befinden sich mit anderen Krankenschwestern und Passagieren in einem Rettungsboot«, erwidert Betty.
»Ich habe sie ganz kurz gesehen«, sagt Nesta, »aber ich glaube, sie mich nicht. Ich wurde zu schnell an ihnen vorbeigetrieben.«
»Oberschwester Paschke schien von sich sehr angetan zu sein«, sagt Betty. »So nah am Wasser und trotzdem keine Panik. Wisst ihr noch, wie sie sich in Malakka nicht mal die Füße nass gemacht hat?«
»Und wir haben sie gehänselt. Künftig wird sie uns immer daran erinnern, dass sie als Schiffbrüchige auf einem Boot mitten im Meer war.«
»Sollen wir uns aufteilen und nach den anderen suchen?«, fragt Betty.
Eine Welle zieht Nesta mit sich. »Ja!«, ruft sie. »Schnappt euch die umhertreibenden Schiffsplanken und haltet euch daran fest. Wir sehen uns an Land.«
***
»Einige haben es zu der Insel da hinten geschafft«, ruft Norah ihrem Mann und ihrer Schwester zu. »Wenn die das können, können wir es auch.«
Zusammen mit anderen Überlebenden peilen sie die Insel an, die jedes Mal, wenn sie von einer Welle gehoben werden, zu sehen ist und wieder verschwindet, wenn sie in ein Wellental sinken. Zum Glück ist das Meer warm. Norah wirft John einen Blick zu. Ihr Mann darf sich nicht unterkühlen, das wäre so ungefähr das Letzte, was er braucht.
Die starke Strömung macht es ihnen schwer, die Insel zu erreichen. Stundenlang bewegen sie sich durch die Bangkastraße. June schläft ein, entweder vor Müdigkeit oder weil sie traumatisiert ist. Ena drückt sie an sich, der Kopf der Kleinen liegt an ihrer Schulter. Einen Moment lang treten die drei Erwachsenen Wasser, beobachten, wie die Sonne nach diesem grauenhaften Tag untergeht. Im nachlassenden Tageslicht schwimmen sie weiter, sehen Feuer an dem Ufer brennen, das sie verzweifelt versuchen zu erreichen.
Das Rettungsfloß erblicken die Schiffbrüchigen erst, als es an ihnen vorbeikommt. Einige schwimmen ihm nach, packen es und ziehen es zurück, damit sich so viele wie möglich daran festhalten können. Und obwohl die Erschöpfung sie zu überwältigen droht, schaffen es auch Norah, John, Ena und June auf das Floß. Als die Dunkelheit sie umhüllt, rücken sie eng zusammen. Andere schlafen ein.
***
Waltzing Matilda, waltzing MatildaYou’ll come a-waltzing Matilda with meAnd he sang as he stowed that jumbuck in his tucker bag»You’ll come a-waltzing Matilda with me …«
In der Dunkelheit überkommt Nesta ein Gefühl der Einsamkeit, doch sie hört den Gesang, der ihr ein Trost ist. Die Holzplanke, nach der sie vor Stunden gegriffen hat, ist zu ihrem Zuhause geworden. Als ihre Kraft zu paddeln schwindet, krabbelt sie darauf und lässt sich von der Strömung tragen.
Sie legt sich auf den Rücken, schaut zu den Sternen, denselben Sternen, die auch ihre Freunde und Verwandten in Australien sehen. Sie denkt an den weiten Himmel über ihrem Heimatort im ländlichen Victoria, den sie so oft voller Staunen betrachtet hat. Sie stellt sich vor, dass ihre Eltern zu ihm hinaufblicken, und schickt ihnen eine stille Botschaft.
Ich werde überleben und so bald wie möglich wieder bei euch sein. Ich weiß, ihr wolltet nicht, dass ich in den Krieg ziehe. Ich habe euch das Leben nicht leicht gemacht, und das tut mir leid. Nach meiner Rückkehr werde ich euch nicht mehr verlassen, das verspreche ich.
Sie denkt an Dr. Rick Bayley. Beide waren sie in Malaya stationiert, haben die alliierten Soldaten versorgt, deren Aufgabe es gewesen war, japanische Truppen zurückzuschlagen. Sie weiß noch, wann Rick zum ersten und dann zum letzten Mal mit ihr gesprochen hat, und sie fragt sich, ob er es rechtzeitig aus Malaya hinausgeschafft hat und wo er jetzt sein mag …
***
Nesta hat sich bereit erklärt, Bettys Nachtschicht zu übernehmen; Betty hat eine Einladung zu einem Dinner.
Kurz vor Mitternacht macht sie einen Kontrollgang durch die Krankenstation, vergewissert sich, dass die Männer schlafen und es keine Probleme gibt. Anschließend kehrt sie zu ihrem Tisch zurück, um ihren Bericht zu schreiben. Der Arzt, der Nachtdienst hat, tritt zu ihr.
»Ist alles in Ordnung, Schwester James?«
»Die Männer schlafen wie Babys. Ich denke, morgen können wir sie entlassen«, erwidert Nesta leise, um keinen ihrer Schutzbefohlenen aufzuwecken.
»Ach ja? Sind Sie jetzt der Arzt?«
Nesta erkennt, dass sie etwas Falsches gesagt hat. Errötend steht sie auf, eine Frau von einem Meter siebenundvierzig vor einem hochgewachsenen Mann.
»Entschuldigen Sie, das war unangemessen«, stammelt sie. »Ich werde weiter meine Anmerkungen für die Frühschicht eintragen.«
»Schon gut. In Anbetracht des allgemeinen Schnarchkonzerts haben Sie vermutlich recht. Ich schätze, auch Dr. Raymond wird sich Ihrer Meinung anschließen. Und setzen Sie sich bitte, Sie müssen keine Habachtstellung einnehmen.«
»Danke, Dr. Bayley«, murmelt Nesta und setzt sich.
»Mein Name ist Richard, meine Freunde nennen mich Rick. Den Namen Nesta habe ich noch nie gehört. Woher kommt der?«
Nesta lächelt. »Es ist ein walisischer Name. Ich wurde in Wales geboren. Als ich acht war, sind meine Eltern mit mir nach Australien ausgewandert.«
»Aha. Aus Wales kommen die eigentümlichsten Namen, oder?«
»Ja, die Waliser wollen besonders sein. Niemand soll uns für Engländer halten.«
Rick setzt sich auf die Tischkante, schiebt Akten zur Seite, lässt den Blick über die Kranken wandern. Dann wendet er sich wieder Nesta zu.
»Ist es zu aufdringlich, wenn ich frage, was Sie vor dem Kriegsdienst gemacht haben?«
»In Australien sind wir nach Shepparton gezogen.«
»Das liegt im Norden von Victoria, nicht wahr?«
»Ja. Umgeben von Agrarland. Überwiegend Obstplantagen.«
»Und wie weiter?«
»Ich wusste schon immer, dass ich Krankenschwester werden wollte, und bin im Royal Melbourne Hospital ausgebildet worden.«
»Und da waren Sie, bevor Sie hierherkamen?«
Nesta lacht. »Nicht ganz. Ich war in Südafrika.«
»Wo? Okay, diese Geschichte möchte ich hören. Einen Moment, ich hole mir einen Stuhl. Sie haben übrigens ein wunderschönes Lachen. Ich höre es jetzt seit Wochen und glaube, Sie lachen mehr als jeder andere, den ich kenne.«
Rick kommt mit einem Stuhl, setzt sich und beugt sich interessiert zu Nesta vor.
»Also, ich war in Südafrika.«
»Warum?«
»Darf ich meine Geschichte jetzt erzählen oder nicht?« Diesmal hat Nestas Lächeln etwas Keckes.
»O Entschuldigung, bitte fahren Sie fort.«
»Ich möchte nicht, dass Sie einen falschen Eindruck bekommen, ich habe die Arbeit im Royal Melbourne geliebt. Aber ich wollte mehr. Wollte heilen, nicht nur Patienten pflegen.«
»Sie wollten also Ärztin werden.«
»Warum lassen Sie mich nicht zu Ende erzählen?«
»Entschuldigung.«
»Eines Tages habe ich in der Zeitung eine Stellenanzeige entdeckt. Da wurden Krankenschwestern für die Arbeiter in den Gold- und Diamantbergwerken Südafrikas gesucht. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete, aber ich war auf der Suche, wollte Abenteuer erleben. Ich bewarb mich, wurde angenommen und machte mich auf den Weg nach Südafrika. Dort habe ich für ein Bergwerk in der Nähe von Johannesburg gearbeitet.«
»Schlimm?«
»Manche Tage waren sehr schlimm. Es gab schwere Verletzungen – durch Unfälle, Erdrutsche, eingestürzte Stollen und Prügel. Einige davon waren für mich neu, und nicht immer war ein Arzt vor Ort.«
»Also haben Sie getan, was getan werden musste. Auch eigene Entscheidungen bezüglich der Arbeitsfähigkeit der Leute getroffen?«
Wieder lacht Nesta. »Ja, so in etwa. Wie auch immer, ich war dort zwei Jahre lang. Und dann, eines Sonntags, haben wir …«
»Wer waren ›wir‹?«
»Außer mir waren es Krankenschwestern aus England und Schottland. Auch einheimische, obwohl die nicht so gut ausgebildet waren wie wir. An jenem Sonntag jedenfalls saßen einige von uns im Pausenraum und aßen zu Mittag. Eine der Engländerinnen griff nach einer herumliegenden Zeitung und fing an zu lesen. Und dann sagte sie, dass England und Australien im Krieg sind. Dazu muss man wissen, dass wir kaum internationale Nachrichten bekamen. Die meisten von uns interessierten sich auch nicht dafür. Wir wollten nur unsere Arbeit machen, wollten helfen. Aber mir war sofort klar, dass ich zurückkehren musste, um für meine Landsleute da zu sein. Es dauerte ein paar Monate, bis ich wieder in Sydney war, und dann habe ich mich freiwillig gemeldet. Und jetzt bin ich hier. Sind wir hier.«
»Sie sind also eine Abenteurerin, Schwester Nesta James.«
»Vielleicht. Und vielen Dank, dass Sie nach meiner Geschichte gefragt und mir zugehört haben. Ich habe sie bisher nur der Oberschwester erzählt.«
»Sie sollten sie auch anderen erzählen. Ich bin sicher, Ihre Kolleginnen würden Ihnen ebenso fasziniert wie ich zuhören. Aber jetzt überlasse ich Sie wieder Ihrer Arbeit. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie mich brauchen.«
»Gute Nacht, Doktor Bayley.«
»Rick. Meine Freunde nennen mich Rick.«
***
Nesta döst vor sich hin. Als ihre Planke gegen etwas Festes stößt, sagt sie sich, dass sie Land erreicht haben muss. Wie lange sie im Meer war, weiß sie nicht, doch inzwischen dürfte es Mitternacht sein, und nur die Sterne leuchten in der mondlosen Nacht. Ein wahnsinniger Durst plagt sie. Schwerfällig setzt sie sich auf und entdeckt einen kleinen Sandstrand, hinter dem der Dschungel wie eine schwarze Wand aufragt. Sie rutscht von der Planke, krabbelt weiter vor und lässt sich auf den sandigen Boden sinken. Sie sieht sich um, diesmal fällt ihr Blick auf etwas Helles. Es kommt von einem Leuchtturm, der seine Lichtsignale über das Meer schickt.
Zittrig steht Nesta auf, macht sich auf den Weg dorthin und klopft an die Tür des Unterbaus.
Sie öffnet sich langsam und knarrend. Zwei Malaier spähen heraus.
»Darf ich reinkommen?«, fragt Nesta.
Die Männer verstehen sie nicht, sie erkennt es an ihrem leeren Blick. Mit sanfter Hand drückt sie die Tür weiter auf. Die Männer treten zur Seite. Nesta betritt einen kleinen Raum, in dem ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle und eine Bank stehen, auf der Bank liegen die notdürftigsten Küchengeräte.
»Sprechen Sie Englisch?«, fragt Nesta.
»Bisschen«, antwortet einer der Männer.
»Wohnen Sie hier?«
Die Männer wechseln einen Blick und ein paar Worte auf Malaiisch.
»Holländer hier gewohnt. Jetzt weg.«
»Wasser? Können Sie mir bitte etwas Wasser geben?«
Bevor einer der beiden ihr antworten kann, fliegt die Tür auf. Zwei japanische Soldaten stürmen herein. Die Malaier weichen zurück. Mit Nesta haben die Japaner eindeutig nicht gerechnet. Sie richten ihre Gewehre auf sie, die Spitzen der aufgepflanzten Bajonette nur wenige Millimeter von Nestas Bauch entfernt. Sie regt sich nicht.