Schwestern des Mondes: Katzenjagd - Yasmine Galenorn - E-Book

Schwestern des Mondes: Katzenjagd E-Book

Yasmine Galenorn

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Beschreibung

Die Dämonin Stacia Bonecrasher hat ein hohes Kopfgeld auf die drei „Schwestern des Mondes“ ausgesetzt – und das ist nicht das einzige Problem, mit dem die Vampirin Menolly, die Gestaltwandlerin Delilah und die Hexe Camille kämpfen müssen: Rätselhafte Morde an Werwölfen und ein leibhaftiger Gott, der Delilah in seinen Dienst zwingen will, erfordern all ihre Aufmerksamkeit ...

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Yasmine Galenorn

Schwestern des Mondes: Katzenjagd

Roman

Aus dem Englischen von Katharina Volk

Knaur e-books

Gewidmet dem Geist des Herbstes, dem Herbstkönig,

und all jenen, die seinen Weg der Ernte beschreiten.

 

 

Man kann nicht auf zwei Hochzeiten zugleich tanzen.

– Sprichwort

 

 

Alle zieht es heimwärts im Oktober; den Seemann zum Meer, Reisende zu Zäunen und Gemäuern, Jäger zu Feld und Flur und dem Geläut der Hunde, den Liebenden zur Liebe, die er verlassen hat.

– Thomas Wolfe

 

[home]

Kapitel 1

Meine Nase zuckte. Irgendetwas roch ganz wunderbar. Ich folgte der Duftspur durch das Gedränge im Saal, bis ich vor dem Buffet landete.

Meine Schwester Menolly und ich hatten gerade neben unserer Schwester Camille gestanden, als die ihren dritten Ehemann geheiratet hatte. Drei – ja, wirklich – drei Ehemänner. Gleichzeitig. Trillian war der schickste Gothic-Bräutigam aller Zeiten in einer schwarzen Lederhose, die zum Onyxschimmer seiner Haut passte, einem schwarzen Mesh-Tanktop und einem blutroten Samtumhang.

Morio und Smoky trugen das, was sie bei ihrer Hochzeit mit Camille angehabt hatten: Smoky seinen langen weißen Trenchcoat mit einer blau-goldenen Weste, einem hellblauen Hemd und einer engen weißen Jeans, und sein knöchellanges silbernes Haar wand sich um seine große Gestalt wie tanzende Schlangen. Morio trug einen rot-goldenen Kimono mit einem Zierschwert am Gürtel, und das Haar fiel ihm offen über den Rücken.

Meine Schwester sah natürlich zum Anbeißen aus. Ihr rabenschwarzes Haar schimmerte vor ihrem hauchzarten Priesterinnengewand, das so durchscheinend war, dass ich ihre Dessous darunter sehen konnte. Nun, da sie offiziell zur Priesterin der Mondmutter geweiht worden war, erwartete man von ihr, dass sie zu den meisten wichtigen Anlässen ihre zeremoniellen Gewänder trug.

Die vier waren vor Iris getreten, die auch diesmal die Zeremonie leitete, und hatten gemeinsam eine Variante des Seelensymbiose-Rituals vollzogen, das Trillian in ihre magische Verbindung einschloss. Menolly und ich trugen lange Kleider – ihres schwarz mit glitzernden Kristallen, meines golden – und spielten wieder Trauzeuginnen.

Inzwischen waren wir beim festlichen Teil des Abends angelangt.

Ich warf einen Blick auf die Wanduhr mit Datumsanzeige. Der zweiundzwanzigste Oktober, nicht mehr lange bis Samhain, dem Fest der Toten. Unser vergeblicher Überfall auf das Versteck von Stacia Knochenbrecherin war fast genau einen Monat her.

Die Erinnerung führte zwangsläufig zu einem weiteren Gedanken, dem ich bisher ausgewichen war. Ich schaute durch den Saal zu Chase Johnson hinüber. Der Detective saß ganz allein an einem Tisch und beobachtete die Party mit leicht verwunderter Miene. Ich konnte nicht anders – ich stand auf und ging zu ihm. Er blickte mir entgegen, und sein Gesicht nahm einen sorgsam neutralen Ausdruck an. Ich setzte mich ihm gegenüber.

»Eine schöne Hochzeit.« Nervös spielte ich mit der Serviette, die vor mir auf dem Tisch lag. »Findest du nicht?«

»Ja, sehr schön.« Er blinzelte sehr langsam, und ich fragte mich, was er wirklich dachte. »Aber Camille kam mir ein bisschen angespannt vor. Warum ist sie so gestresst?« Obwohl seine Stimme normal klang, wusste ich, dass an Chase nichts mehr normal war.

»Unser Vater hat sich geweigert, heute zu kommen. Nicht nur, dass er ihre Hochzeit mit Trillian missbilligt, offiziell vertritt er den Standpunkt, dass sie ihrer Verpflichtung gegenüber dem Anderwelt-Nachrichtendienst den Rücken gekehrt, also praktisch den Dienst quittiert hat, indem sie Priesterin geworden ist und sich bereit erklärt hat, Aevals Hof beizutreten. Er fand, er würde ihr Verhalten stillschweigend billigen, wenn er heute käme. Und wenn sie erst Aeval die Treue schwört … mir graut davor, was dann passieren wird.«

»Ihren Pflichten den Rücken gekehrt? Das klingt ziemlich unfair, wenn man bedenkt, was sie alles für den AND getan hat. Ich weiß, Sephreh ist euer Vater, aber das ist verdammt kaltherzig.« Er nippte an seinem Sekt und klang wieder mehr wie er selbst als seit einem ganzen Monat.

Ich warf einen Blick auf die verblassenden Narben an seinen Händen. Die tiefen Schnittwunden und inneren Verletzungen, die er von den Messerstichen davongetragen hatte, waren bemerkenswert schnell verheilt. Doch es würde sehr, sehr lange dauern, bis er sich von dem Trank erholte, der ihm das Leben gerettet hatte. Der Nektar des Lebens hatte seine ganze Welt in Scherben gesprengt und dann wieder zu einem verrückten neuen Gebilde zusammengesetzt. Unsere Beziehung stand bestenfalls auf schwankendem Boden.

»Dass sie zugesagt hat, sich von Morgana ausbilden zu lassen, und vor allem, sich Aevals Dunklem Hof anzuschließen, hat Vater als persönliche Beleidigung aufgefasst. Aber Camille bleibt keine andere Wahl. Die Mondmutter selbst hat ihr das befohlen.«

»Ja, das habe ich mitbekommen«, sagte er und drehte immer wieder sein Glas zwischen den Fingern herum.

»Nach Mutters Tod hat sie alles für uns getan, ohne sie wäre unsere Familie auseinandergefallen. Vater war furchtbar grausam zu ihr, als sie zuletzt miteinander gesprochen haben, und ich bin stinksauer, weil er heute nicht gekommen ist. Unser Cousin Shamas hat versucht, die Lücke zu füllen, aber das ist einfach nicht dasselbe.«

»Was hat er denn gesagt?« Chase spielte mit seinem Kelch. »Ach, übrigens, wie ist das mit Alkohol … jetzt? Ich habe seit dem Unfall nichts mehr getrunken.«

»Nein, der wird dir nicht schaden. Du kannst immer noch alles essen und trinken, was du willst. Es ist ja nicht so, als wärst du zum Vampir geworden.« Ich starrte auf meine Hände hinab. So loyal ich unserem Vater gegenüber war, ich konnte mich der Wahrheit nicht verschließen. »Sein letzter Besuch war eine Katastrophe. Als er gegangen ist, lag Camille als schluchzendes Häuflein auf dem Sofa. Smoky ist in dem Moment hereingekommen, als Sephreh ihr damit gedroht hat, sie zu enterben. Daraufhin hat Smoky damit gedroht, seine Drachengestalt anzunehmen und unseren Vater zu rösten.«

»Scheiße. Das muss ja üble Folgen haben.«

»Die Situation war völlig verfahren, bis Menolly da reingegangen ist, Vater nach Hause geschickt und Smoky gesagt hat, er solle sich gefälligst beruhigen. Aber das war wirklich nicht schön.«

»Also eine Katastrophe auf ganzer Linie.« Verdrießlich hob Chase seinen Kelch und kippte den Rest des perlenden Sekts hinunter. »Und … da sitzen wir nun.« Er starrte mich über den Tisch hinweg an. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Delilah. Ich wüsste nicht mal, wo anfangen.«

Ich hätte weinen können. Nichts schien so zu laufen, wie wir gehofft hatten. Für uns alle war die Welt den Bach runtergegangen. Ich blinzelte gegen die Tränen an.

»Warum sagst du mir für den Anfang nicht einfach, wie es dir geht? Wir haben in den letzten zwei Wochen nur zweimal miteinander gesprochen.« Ich erwähnte lieber nicht, dass wir uns kaum mehr geküsst hatten, seit er als geheilt entlassen worden und wieder im Dienst war.

Chase dachte über meine Frage nach und betrachtete mich dabei mit diesen klaren, seelenvollen Augen. Sie waren noch leuchtender geworden, seit er den Nektar des Lebens getrunken hatte. Seine Aura hatte sich auch verändert. Ein Funken, irgendeine Kraft, die ich nicht genau benennen konnte, schien ihn zu verändern.

»Wie soll ich dir das sagen, wenn ich es nicht einmal selbst weiß? Was soll ich denn machen? Aufspringen und schreien ›Ha-haa, jetzt werde ich jeden überleben, den ich jemals kennenlerne‹?« Er knallte den Kelch so heftig auf den Tisch, dass er beinahe zersprang.

Getroffen kämpfte ich mit den Tränen. »Dir das Lebenselixier zu geben war die einzige Möglichkeit, die wir hatten – es sei denn, du wärst lieber gestorben.«

Chase rutschte auf seinem Stuhl herum und seufzte tief. »Ja, ich weiß. Ich weiß. Und ich bin euch wirklich dankbar. Aber dieses verdammte Zeug macht einen total kirre im Kopf. Es ist nicht nur die Erkenntnis, dass ich tausend Jahre leben werde. Es hat so etwas … Nebulöses. Der Nektar hat etwas in mir aufgerissen – ich fühle mich nackt und schutzlos und kann die Stücke nicht wieder zusammenfügen. Und ich habe Angst davor, mir allzu gründlich anzuschauen, was da passiert.« Langsam streckte er den Arm aus und nahm meine Hand.

Ich starrte ihn einen Moment lang an, doch er schwieg. Sowohl Camille als auch Chase hatten die Tagundnachtgleiche diesen Herbst gerade so überstanden, zutiefst erschöpft und blutbesudelt. Camille hatte im Blut des Schwarzen Einhorns gebadet und damit eine schicksalhafte Prüfung der Mondmutter bestanden: das Schwarze Tier zu opfern, damit es seiner phönixartigen Bestimmung folgen konnte, während sie selbst die Große Jagd mit anführte. Und dann war sie unter Aevals Räder geraten, und bald würde sie gezwungen sein, in die Reiche hinabzusteigen, die einstmals von der uralten Dunklen Königin regiert worden waren.

Und Chase … sein Leben hatte sich ebenso drastisch verändert. Er war in seinem eigenen Blut gebadet worden und war jetzt – nach menschlichen Maßstäben – praktisch unsterblich.

»Wenn du so weit bist, dass du darüber reden möchtest …«

»Was? Dann spielst du gern die Seelenklempnerin für den Mutanten?«

»Nein. Ich werde dir zuhören. Als deine Freundin.« Ich starrte ihn an, und seine boshafte, zornige Art machte mir allmählich zu schaffen. »Chase, das ist unfair. Wir hatten doch sowieso geplant, dass du den Nektar trinkst, und jetzt klingt es so, als wolltest du mir die Schuld an allem geben, was passiert ist.«

»Ich weiß! Und es tut mir leid – ich meine es nicht so. Aber du hast mir gesagt, dass man auf dieses Ritual vorbereitet werden muss, und jetzt verstehe ich, warum. Ich bin kein Mensch mehr. Ich weiß nicht, wer – oder was – ich bin. Tausend beschissene Jahre liegen vor mir, und ich habe keine Ahnung, was ich damit anfangen soll.«

Ich hatte genug, und ich war zu müde, um mich mit seiner Lebensangst zu befassen, zusätzlich zu meiner eigenen. Ich schob meinen Stuhl zurück. »Also … es fällt mir schwer zu verstehen, was du durchmachst. Ich gebe mir Mühe, ehrlich. Aber bis du es selbst besser verstehst, möchtest du mich wohl lieber nicht in deiner Nähe haben.«

»Warte! Es ist nur … ach verdammt, ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Er sank auf seinem Stuhl zurück. »Ich würde dir gern sagen, dass alles in Ordnung ist. Ich meine, ich sollte doch wohl denken: Wow, jetzt können meine Freundin und ich jahrhundertelang zusammenbleiben. Aber, Delilah … ich muss dir die Wahrheit sagen. Ich weiß nicht, ob ich bereit bin für so eine Bindung, jetzt, wo es tatsächlich möglich ist.«

Die Tränen brannten in meinen Augen, doch ich blinzelte dagegen an. »Anscheinend kümmert Sharah sich besser um dich als ich.«

Die Elfe arbeitete als Notärztin in Chases Anderwelt-Erdwelt-Ermittlerteam. Sie hatte ihn medizinisch überwacht, während der Trank sich durch seinen Körper gearbeitet, jede Zelle verändert und sogar seine DNS umgewandelt hatte.

Chase schnaubte. »Vielleicht liegt das daran, dass sie sich nicht um mich kümmert. Ich kann sie jederzeit um Rat fragen, aber sie verzärtelt mich nicht oder behandelt mich wie einen Invaliden, den man mit Samthandschuhen anfassen muss.« Ein kummervoller Ausdruck huschte über sein Gesicht, und er barg den Kopf in den Händen und rieb sich die Stirn. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid, Delilah. Ich liebe dich, glaub mir das, aber im Moment tue ich keinem von uns beiden sonderlich gut.«

Es drehte mir den Magen um, und ich setzte mich wieder auf die Stuhlkante. »Ja, ich weiß, dass du im Moment durcheinander bist. Aber, Chase, bitte, schließ mich nicht aus.«

»Ich muss eine Weile allein sein. Über alles Mögliche nachdenken. Außerdem braucht Camille dich jetzt dringender als ich. Ihr Leben ist auch das reinste Chaos. Und Henry … der arme Henry hat nicht mal mehr ein Leben. Geh und genieß die Party. Sei für deine Schwester da. Sie hat jede Unterstützung verdient. Und wenn du jemanden kennenlernst und ihn … willst, werde ich keine Fragen stellen.«

Ich versuchte zu protestieren, aber er schüttelte den Kopf. Ich fühlte mich wie plötzlich aus dem Nest geschubst und eilte zur Tür, wobei ich mir die Tränen verbiss. In einem Punkt hatte Chase recht: Unseren Freund Henry Jeffries hatte es bei weitem am schlimmsten getroffen. Er hatte in Camilles Buchhandlung gearbeitet – dem Indigo Crescent –, als die Dämonen dort eingedrungen waren. Sie hatten ihn ermordet und den halben Laden in die Luft gejagt, um uns eine deutliche Warnung zukommen zu lassen. Wir hatten den Rauchgestank immer noch nicht aus den Wänden bekommen.

Als ich die Tür fast erreicht hatte, hörte ich hinter mir eine Stimme.

»Delilah, alles in Ordnung?«

Ich drehte mich um und sah Vanzir, den schlaksigen Traumjäger-Dämon, der an meine Schwestern und mich gebunden war. Im Lauf der letzten sieben Monate hatte sich zwischen uns langsam eine gewisse Freundschaft entwickelt. Menolly und Vanzir verbrachten viel Zeit zusammen. Ich unterhielt mich ab und zu mit ihm. Camille wahrte Distanz, aber ihr Argwohn ihm gegenüber ließ allmählich nach.

Vanzirs Augen waren wie Strudel, ein wirbelndes Kaleidoskop von Farben, die keinen Namen hatten. Er trug das platinblonde Haar stachelig à la David Bowie als Kobold-König, und ohne seine Lederhose und das zerrissene Tanktop schien er sich nicht ganz wohl zu fühlen. Doch der Smoking stand ihm gut.

Ich zuckte mit den Schultern und sagte: »Ja, ja.«

»Ja, ja, von wegen. Was ist los? Spürst du da draußen irgendwas? Dämonen?« Vanzir lehnte sich vor mir an die Wand und musterte mich bewundernd von Kopf bis Fuß. Mir wurde klar, dass er tatsächlich keine Ahnung hatte, was mir zu schaffen machte.

»Männer. Sogar ihr Dämonen habt absolut keine Peilung.« Er starrte mich an, und ich schüttelte den Kopf und schob mich an ihm vorbei. »Ich mache einen kleinen Spaziergang. Ich brauche frische Luft.«

»Was? Was habe ich denn gesagt?«

Vanzir schnaubte. Ich schlüpfte zur Tür hinaus, während alle anderen auf das glückliche … na ja, nicht direkt Paar … auf eine glückliche Ehe anstießen. Camille würde das schon verstehen. Sie würde mir verzeihen, dass ich nicht dabei gewesen war. Denn nur sie und Menolly wussten wirklich, was ich durchmachte. Was wir alle durchmachten.

 

Die Rhyne Wood Reception Hall lag in einem der größeren Parks, und die Stadt vermietete den Saal für Partys und Events. Camille hatte die Hochzeit hier feiern wollen, weil diese – im Gegensatz zu ihrer spontanen Eheschließung mit Smoky und Morio – liebevoll geplant worden war, mit über hundert Gästen. Und für so viele Leute brauchte man Platz. Der Saal hatte eine Tanzfläche, eine schöne, große Küche und das Catering-Personal dazu.

Die ehemalige Villa lag im Fireweed Park und besetzte einen winzigen Teil der über vierhundert Hektar großen Wildnis am Ufer des Puget Sound. Ich hielt mich von der Klippe fern, die über dem Sound aufragte. Ich hasste Wasser und hatte keineswegs die Absicht, da hinunterzustürzen. Aber es gab hier viele Pfade und Bäume und Büsche, zwischen denen ich mich verlieren konnte. Sobald ich weit genug von der Villa weg war, um mich außer Sicht zu fühlen, verwandelte ich mich in das Tigerkätzchen, meine erste Wergestalt. Die Leute glaubten immer, das sei schmerzhaft, aber wenn ich es langsam angehen ließ, tat es gar nicht weh. Es gab nur einen Moment, in dem alles verschwamm wie in Nebel, wenn das Leben in mir seine Wahrnehmung änderte.

Von meiner Kleidung befreit – die sich in ein hellblaues Halsband verwandelte –, raste ich los. Ich flitzte durchs Unterholz und genoss die Gerüche, die satt und cremig waren wie heiße Schokolade in einer kalten Herbstnacht. Kalt war es wirklich, aber dank meines Fells war mir wohlig warm. Meine Sorgen verflogen, während ich durch das Gras hüpfte, auf dem Regentropfen glitzerten. Ich streifte durch den nebligen Abend und jagte die letzten paar Falter, die sich noch tapfer dem Regen aussetzten.

Ich sprang nach einem von ihnen, einem Bläuling, und fing ihn mit dem Maul. Mit einem raschen Njom-njom schluckte ich ihn hinunter und rümpfte die Nase, als die federleichten Flügel in der Kehle kitzelten. Gleich darauf lenkte mich ein Rascheln im Gras davon ab, und ich raste in Richtung eines Erlenwäldchens, das von dichten Heidelbeerbüschen umgeben war.

Ich war klug genug, den Büschen nicht zu nahe zu kommen – ihre scharf gezahnten Blätter rupften einem gern mal ein Büschel Schwanzhaare aus. Doch ich konnte riechen, dass da drin etwas war, und der Duft ließ meinen Puls rasen. Ich wollte jagen, meine Beine richtig strecken und die Erregung der Hatz spüren. Ich brauchte etwas, das ich zerreißen konnte, um meine aufgestauten Aggressionen loszuwerden. Und was auch immer in dem Gebüsch da steckte, könnte sich für ein kleines Katz-und-Maus-Spiel eignen.

Ich schlich um das Gebüsch herum, das Rascheln wurde lauter, und hervor schoss eine … Katze?

Verwundert neigte ich den Kopf zur Seite und starrte das Geschöpf an. Keine Katze. Aber was zum Teufel war es dann? Flauschiges Fell, buschiger Schwanz, niedlich, dunkel mit einem hellen Streifen … Ich wusste, dass ich so ein Tier schon mal irgendwo gesehen hatte, aber ich konnte mich nicht daran erinnern. Ich fragte mich, ob es wohl freundlich sei, und tat zögerlich einen Schritt darauf zu. Sein großer, buschiger Schwanz flatterte im Wind. Dieser Puschel war so hübsch und verlockend, dass ich meine Katzenmanieren vergaß und mich darauf stürzte.

Das Geschöpf wirbelte herum und kehrte mir das Hinterteil zu.

O Scheiße! Ein Stinktier!

In dem Moment, als mir wieder einfiel, was das war, zielte das Vieh, wackelte leicht mit dem Hintern, und ein breiter Sprühstrahl schoss auf mich zu. Ich jaulte auf und sprang mit großen Sätzen davon, aber da hatte mich das widerlich stinkende Parfüm schon durchnässt. Zum Glück hatte der Strahl nicht meine Augen erwischt, aber ich gab dem Skunk keine Gelegenheit, einen zweiten Treffer anzubringen. Ich flitzte schleunigst zum Festsaal zurück.

Als ich die Treppe erreichte, bremste ich ab, weil ich heftig niesen musste. Was zum Kuckuck sollte ich jetzt machen? Wenn ich als Katze da hineinlief, würde ich den ganzen Laden verpesten. Als Mensch hineinzugehen wäre aber noch schlimmer, denn je größer ich war, desto mehr von dem Geruch würde ich verströmen. Nervös tigerte ich vor den Stufen auf und ab und wollte nur noch, dass dieser widerliche Gestank verschwand. Sofort.

Das Glück war auf meiner Seite. Vanzir stand vor dem Eingang und beobachtete mich. Während ich ihn mit großen Augen anstarrte und darum betete, dass er nicht in Lachen ausbrechen würde, schlüpfte er auf einmal durch die Tür nach drinnen. Gleich darauf erschien er wieder, mit Iris und Bruce im Schlepptau. Iris blickte sich um, rümpfte die Nase, und ich stieß ein klägliches Miauen aus.

»Ach du meine Güte!« Iris drückte Bruce ihren Sektkelch in die Hand und stürmte mit einem Ausdruck des Grauens auf dem Gesicht die Stufen herunter. In sicherem Abstand blieb sie stehen. »Du armes Ding. O je, wie sollen wir dich jetzt nach Hause schaffen?«

Jetzt kam Rozurial zur Tür heraus. Er warf einen Blick auf Vanzir, dann auf Bruce, der immer noch das Sektglas hielt, und schaute dann zu Iris und mir herab.

»Das Kätzchen ist doch nicht die, für die ich es halte, oder?« Er konnte sein Lachen kaum unterdrücken, und ich fauchte ihn an. »O ja, Süße. Du riechst ein bisschen scharf, weißt du das?«

»Was machen wir jetzt mit ihr?«, fragte Bruce.

Iris musterte mich mit zur Seite geneigtem Kopf, und ich konnte es förmlich in ihrem Hirn rattern sehen. »Rozurial, du bringst sie übers Ionysische Meer nach Hause. Ich komme mit Bruce im Wagen nach, und dann waschen wir sie erst mal gründlich.«

Sie beugte sich herab und wackelte tadelnd mit dem Zeigefinger. Das war verlockend, aber ich hatte gelernt, nicht mit den Pfoten nach Iris zu schlagen. Es war ihr zuzutrauen, dass sie mich im Nacken packte und vom Boden hochhob, obwohl sie kaum einen Meter zwanzig groß war.

»Hör mir gut zu, Delilah – und ich weiß, dass du mich verstehen kannst, also tu lieber, was ich sage. Wage es ja nicht, dich wieder zu verwandeln, ehe wir uns um diese Sauerei gekümmert haben. Ich garantiere dir, dass es viel schlimmer sein wird, wenn du mit einem Meter achtzig nach Stinktier riechst denn jetzt als kleines Kätzchen. Verstanden?«

Ich starrte sie an und zwinkerte. Wenn ich ihr diesmal nicht gehorchte, würde sie mir das Fell über die Ohren ziehen. Ich stieß ein langsames, braves Maunzen aus.

»Gut. Also, Rozurial, bring sie jetzt nach Hause. Und ich will kein Theater deswegen – tu es einfach. Schatz, würdest du Camille Bescheid sagen, dass wir gehen?« Iris hatte sich an Bruce gewandt, der prompt nach drinnen verschwand.

»Ich komme mit«, sagte Vanzir zu ihr. »In einem Smoking fühle ich mich sowieso nicht sonderlich wohl.«

»Gut. Ich kann deine Hilfe gebrauchen.«

Roz nahm mich auf den Arm, und ich schmiegte mich an den Incubus und rieb das Kinn an seiner Brust. Ich hatte so eine Ahnung, dass mir nicht gefallen würde, was Iris mit mir vorhatte, und ich brauchte Trost. Laut schnurrend bedachte ich ihn mit meinem besten Braves Miezekätzchen-Blick, und er schnaubte und kraulte mir die Ohren.

»Da musst du wohl durch, meine Schöne. Komm mit, dir passiert schon nichts. Versuch bloß nicht, mir vom Arm zu hüpfen.« Und binnen eines Wimpernschlags sprangen wir ins Ionysische Meer und durchquerten eine ganze Welt, um fünfundzwanzig Kilometer zurückzulegen.

 

Roz setzte mich vor dem Haus ab und warnte mich, ja nicht hereinzukommen, ehe Iris sich um mich gekümmert hatte. »Ich komme gleich zurück und passe auf dich auf. Aber so, wie du stinkst, wird dir wohl niemand zu nahe treten.«

Er verschwand in dem zum Gästehaus umgebauten Schuppen, den er sich mit Vanzir und meinem Cousin Shamas teilte. Da jetzt Camilles drei Ehemänner bei uns wohnten und Bruce schon beinahe mit Iris zusammenlebte, waren wir inzwischen praktisch zur Großfamilie geworden.

Ich versuchte zu wittern, ob irgendwelche Feinde in der Nähe sein könnten, doch der Skunk-Gestank war mir in alle Poren gedrungen. Meine Augen taten weh, meine Nase tat weh, meine Kehle tat weh, und mir war schlecht. Es fühlte sich an, als rollte die Mutter aller Haarballen in meinem Magen herum. Ich kauerte mich in der Nähe der Hintertür zusammen, um möglichst nicht von irgendwelchen Möchtegern-Helden der Tierwelt entdeckt zu werden.

Roz kam nach einer Weile in einer hautengen Jeans und einem Muskelshirt zurück. Er legte sich neben mich auf den Rücken, das lange, lockige Haar auf dem Gras ausgebreitet, und starrte zu den Sternen hinauf.

»Schau dir mal den Himmel an, Fellknäuel.« Er strich mir über den Kopf. »Sieh nur, wie all die Sterne da oben tanzen … ich bin schon mit ihnen gewandert, weißt du?« Seine Stimme wurde tiefer und nahm einen sinnlich weichen Klang an. Selbst in meiner Katzengestalt fand ich sie beruhigend und verführerisch.

»Ich habe im Nordlicht getanzt und bin durch die Ionysischen Lande gezogen. Auf der Suche nach Dredge bin ich jeder noch so kleinen Spur gefolgt, wohin der Wind mich auch geweht hat. Ich bin von den Nordlanden bis ins Südliche Ödland gereist, von Walhalla bis vor die Tore Hels, um diesen Dreckskerl zu finden. Ich habe in meinem Leben so viel Schönheit und Grauen gesehen, dass man meinen sollte, mich könnte nichts mehr erstaunen … aber die Sterne … sie sind immer noch der kostbarste Schatz. Makellos, strahlend und ewig außer Reichweite.«

Er rollte sich auf den Bauch, zupfte einen langen Grashalm ab und kitzelte mich damit an der Brust, als ich mich neben ihm ausstreckte. »Ich weiß, dass du Kummer wegen Chase hast. Aber, Delilah, du musst loslassen, wenn es das ist, was er braucht. Der Nektar des Lebens stürzt Menschen ins völlige Chaos, wenn sie nicht auf die Veränderung vorbereitet werden. Du hast ihm das Leben gerettet, aber er hat etwas verloren, das aufzugeben er noch nicht bereit war. Seine Sterblichkeit – im menschlichen Sinne – hat einen riesigen Anteil daran, was Menschen … na ja … menschlich macht. Wenn man nur so kurze Zeit zu leben hat, macht man das Beste daraus. Du musst dich jetzt zurückhalten und es Sharah überlassen, ihm zu helfen. Sie weiß, was zu tun ist.«

Ich wusste, dass das stimmte, ich wollte es nur nicht hören. Aber natürlich hatte er recht. Camille und Menolly sagten mir schon seit Tagen dasselbe, doch wenn das von ihnen kam, fühlte es sich eher an wie schwesterliche Einmischung statt wie ein kluger Rat. Ich maunzte leise.

»Ja, ich weiß, dass du das weißt, und ich weiß, dass es dir nicht gefällt, aber nimm dieses eine Mal meinen Rat an, ja? Ich weiß, wie es ist, wenn das eigene Leben in Stücke gesprengt und so drastisch verändert wird.«

Roz konnte das tatsächlich nachvollziehen, das wusste ich. Er hatte seine Familie an Dredge verloren, und er hatte seine Frau verloren, weil Zeus und Hera die beiden wie Schachfiguren für ihren Zwist benutzt hatten. Binnen eines Augenblicks war er von einer normalen Fee in einen Incubus verwandelt worden. Chases Leben war ebenso plötzlich auf den Kopf gestellt worden, wenn auch nicht ganz so grausam wie Rozurials.

Ein Wagen hielt vor dem Haus. Bruce und sein Fahrer und Iris. Sie stiegen aus, und ich sah, dass sie auch Vanzir mit nach Hause genommen hatten. War vermutlich besser so. Er war nicht gerade der vornehmste Gesellschafter, und ich hatte das Gefühl, dass er es sich lieber hier gemütlich machen würde, als bis in den frühen Morgen auf einer Party herumzuhängen, wo die meisten anderen Gäste ihn mieden.

Iris sauste ins Haus, und keine zehn Minuten später kam sie auf der hinteren Veranda wieder heraus. Sie trug eine gewachste Schürze über dem Kleid, das sie eigens zu den schmutzigsten Arbeiten anzog. Sie baute sich vor mir auf, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Tja, ich weiß nicht, wie du dich in diesen Schlamassel gebracht hast, aber jetzt machen wir dich erst mal sauber.« Sie beugte sich vor, nahm mich auf den Arm, und ihre Nase zuckte. »Du stinkst wie die Pest, Mädchen. Was hast du bloß zu diesem Skunk gesagt?«

Ich wollte protestieren – das war nicht meine Schuld, ich habe nichts gemacht! Aber ich wusste, dass Iris mich durchschauen würde. In Wahrheit war ich in das Territorium des Stinktiers eingedrungen und hatte es bedroht, indem ich es angesprungen hatte.

Iris hielt mich an eine Hüfte gedrückt und trug mich die Hintertreppe hinauf auf die umgebaute Veranda. Dort sah ich etwas so Schreckliches, dass ich mich wand und verzweifelt zu entkommen versuchte: einen Bottich voll mit eigentümlich dunklem Wasser.

Iris rang mit mir, verlor aber in ihren dicken Gummihandschuhen den Halt. Sobald ich mich ihr entwunden hatte, schoss ich zur offenen Küchentür.

»Komm zurück! Delilah, schaff deinen pelzigen Hintern wieder hierher, und zwar sofort!«

Ich galoppierte zur Treppe, doch bevor ich sie erreichen konnte, stand Vanzir vor mir und lachte spöttisch. Ehe ich mich versah, hatte er mich blitzschnell gepackt und hochgehoben.

»Hab ich dich, kleine Miezekatze.«

Ich zappelte wie wild, aber er ließ nicht locker, hielt mich auf Armeslänge von sich und trug mich zur Veranda, wo er mich umstandslos ins Wasser plumpsen ließ. Iris knallte die Tür zu, damit ich nicht wieder ins Haus flitzen konnte. Resigniert schnaubte ich und wartete geduldig. Nass war ich ohnehin schon, also konnte ich mich ebenso gut gleich von ihr baden lassen. Der Duft von Tomatensaft drang mir in die Nase, und ich schleckte vorsichtig an dem Wasser.

Nicht schlecht, nicht schlecht.

Iris begann mich mit dem Saft abzuschrubben, und so ungern ich das zugab, es fühlte sich gut an. Ich verabscheute den Skunk-Gestank – mir wurde übel davon. Und wenn Iris meinte, dass mir ein Bad in V8-Gemüsesaft helfen könnte, dann würde ich mich von ihr baden lassen. Ich erlaubte ihr sogar, mir den Bauch zu schrubben. Sie nahm mir das Halsband ab, und auf einmal kam ich mir nackt vor. Immerhin enthielt dieses magische Halsband meine Kleidung. Wenn ich mich zurückverwandelte, ohne das Halsband zu tragen, würden meine Kleider nicht da sein.

Nach etwa zehn Minuten gab Iris Roz einen Wink, und die beiden traten beiseite. Vanzir hielt mich nun in dem Zuber fest.

»Hat die kleine Miezekatze fein gebadet? Fein plitsch-platsch gemacht?«, fistelte er.

Ich weiß, dass du mich nur necken willst. Dein Glück, dachte ich. Sonst wärst du jetzt tot. Vanzir war unser Sklave, und wenn wir es wünschten, würde er sterben. Ihn zu versklaven war die einzige Alternative dazu gewesen, ihn umzubringen, als er damals zu uns übergelaufen war. Diese Unterwerfung konnte man niemals rückgängig machen. Er gehörte uns, für immer.

Ich gab mich damit zufrieden, ihm kräftig in den Daumen zu beißen. Er zog die Augenbrauen hoch, doch dieser Ziggy-Stardust-Platin-Igel zitterte kaum. Ich fragte mich, wie viel Gel er wohl brauchte, damit das Ding so hielt.

Iris und Roz kamen mit einem großen Eimer zurück, und sie hob mich aus dem Zuber und tunkte mich in den Eimer voll warmem, sauberem Wasser, um den Tomatensaft abzuspülen.

»O-oh«, sagte sie.

Das klang nicht gut.

»Mamma mia.« Roz schnaubte vor Lachen. »Das wird ihr gar nicht gefallen. Ich frage mich … wird sich das auf ihre menschliche Gestalt übertragen?«

Was? Wie, übertragen? Was zum Teufel lief denn hier?

»Delilah, Liebes, ich glaube, du solltest dich jetzt zurückverwandeln. Vanzir, würdest du ihr ein Badetuch holen? Die Sachen wird sie nicht mehr anziehen wollen, das kann ich euch garantieren. Was für ein Jammer – dein schönes Kleid. Du wirst ein neues brauchen.«

Mein Kleid! O nein! Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, aber Iris hatte recht. Das Stinktier hatte mein elegantestes Abendkleid ruiniert. Mein einziges Abendkleid.

Sie setzte mich ab, und ich schnupperte. He – was zum Teufel …? Ich stank immer noch nach Skunk! Mit einem lauten Schnaufen schüttelte ich den Kopf, und Wasser spritzte überall hin. Iris machte einen Satz zurück.

»Ich weiß, dass du nicht begeistert bist, aber bitte benimm dich. Ich möchte wirklich so wenig wie möglich nach Stinktier riechen. Ah, da ist das Badetuch. Jungs, seid nett und hört auf, euch über sie lustig zu machen.«

Sie nahm Vanzir, der inzwischen von einem Ohr zum anderen grinste, das große Strandlaken ab. Oh, dem würde ich es zeigen. Iris hielt ein Ende fest, Roz das andere. Dann starrte sie die Jungs durchdringend an, bis die den Blick abwandten. Normalerweise wäre es mir scheißegal gewesen, wenn die beiden mich nackt gesehen hätten, aber im Moment war ich äußerst missgelaunt, und die Talonhaltija wusste das genau.

Ich verwandelte mich langsam zurück, denn mir war wirklich nicht nach hässlichen Muskelkrämpfen zumute. Je langsamer ich mich verwandelte, desto weniger anstrengend war es. Als ich aufstand, fühlte ich mich immer noch schmuddelig und stinkig. Ich schlang das Badetuch um mich. Iris’ Blick glitt aufwärts zu meinem Gesicht.

»Ach du meine Sterne«, hauchte sie mit weit aufgerissenen Augen. »Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass das passieren könnte.«

»Was? Was ist los? Wenn ihr es mir nicht bald sagt, verwandele ich mich wieder in eine Katze und bekomme einen kleinen Schredder-Anfall.«

»Immer mit der Ruhe, Rotschopf«, sagte Vanzir und zerzauste mir das Haar über den Ohren. Nur dass er dazu jetzt den Arm heben musste.

Rotschopf?

»Nein … nein … du meinst nicht etwa, was ich glaube, dass du meinst, oder?« Ich raste ins Bad, gefolgt von einer Wolke Stinktier mit tomatiger Note.

Ich knipste das Licht an, starrte in den Spiegel und stöhnte laut. Mein wunderschönes goldblondes Haar hatte nun leuchtend rote Strähnen. Ich sah aus wie Ronald McDonald, nur getigert. Der Tomatensaft hatte die helleren Partien meines Haars gefärbt, so dass ich jetzt einen Flickenteppich aus Rosa-, Rost- und Orangetönen auf dem Kopf trug. Auch einzeln hätte mir keine dieser Farben gestanden.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«

Iris spähte durch den Türspalt. »Es tut mir so leid, Delilah. Ich habe wirklich nicht geahnt, dass Tomatensaft so wirken würde. Und gegen den Gestank hat er auch nicht viel geholfen.«

»Ich stinke zum Himmel, und mein Haar sieht aus, als wären ein paar Farbbeutel darin eingeschlagen!«

Ich ließ mich auf den Rand der Badewanne sinken. Ich liebte mein Haar. Es war nie umwerfend frisiert, es war nichts ganz Besonderes, aber es war mein Haar. Jetzt sah ich aus wie ein miserables Lil’-Kim-Double.

»Na, stell dich erst mal unter die Dusche, vielleicht kannst du etwas von dem Gestank mit Seife abwaschen. Inzwischen sehe ich zu, ob ich mehr herausfinden kann. Mit so etwas musste ich mich noch nie befassen – niemand, den ich kannte, ist je von einem Stinktier erwischt worden.« Sie murmelte vor sich hin, während sie das Bad verließ.

Ich schnitt ihr eine Grimasse und musterte mich dann erneut im Spiegel. Der Kontrast zwischen meinen smaragdgrünen Augen und dem goldenen Haar hatte mir immer besonders gut gefallen, aber jetzt sah ich aus, als hätte ich halbherzig versucht, zum Punk zu werden. Übel, ganz übel. Mein Haar hatte Flecken in Knallrosa und Orange, und selbst wo es nicht so schlimm war, hatte mein natürlicher Farbton einen scheußlichen Messingstich. Außerdem hatte mein Haar nicht nur auf dem Kopf die Färbung einer Schildpatt-Katze angenommen, sondern am ganzen Körper. Die Augenbrauen, die Stoppeln an meinen Beinen, und … o ja, man durfte mit Fug und Recht von einer dreifarbigen Muschi sprechen. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich mir vorstellen, dass ich Camille geradezu anflehen würde, mir das mit der Bikinirasur zu zeigen.

»Verdammt. Noch etwas, worum ich mich kümmern muss.« Aber vorerst musste ich mich darauf konzentrieren, diesen Gestank loszuwerden.

»Kann losgehen«, sagte Iris, als sie mit einer Plastikschüssel, einer Flasche Wasserstoffperoxid-Lösung, einem Päckchen Natron und der Spülmittelflasche zurückkehrte. »Lass ein Bad ein.«

Stumm drehte ich das Wasser auf, trat zurück und sah zu, wie sie eine Tasse Natron in das blubbernd einlaufende Wasser kippte. Dann fügte sie einen guten Liter von dem Bleichmittel und etwa eine Vierteltasse Spülmittel hinzu. Ich starrte auf das trübe Badewasser und stieg erst behutsam in die Wanne, als sie mir einen kleinen Schubs versetzte.

Gegen ein schönes, frisches, nach Minze duftendes Schaumbad hätte ich rein gar nichts einzuwenden gehabt, aber das hier fühlte sich eher an, als wollte Iris mir die letzten sieben Jahre Haut vom Leib scheuern. Bis wir mich mitsamt den Haaren gründlich gewaschen hatten, war ich knallrosa vom energischen Schrubben mit dem Luffahandschuh. Während ich mich abduschte, konnte ich den Skunk-Gestank noch riechen, aber zumindest war er ein wenig gedämpft. Ein wenig.

»O je«, sagte sie, als sie zu mir aufblickte.

Wortlos riskierte ich einen Blick in den Spiegel. Jetzt war mein Haar nicht nur rosa, orange und messinggelb, ich hatte obendrein platinblonde Flecken von dem Bleichmittel. Oben wie unten.

»Verdammt«, wiederholte ich und schüttelte den Kopf. »Was machen wir jetzt mit meinem Haar?«

Iris biss sich auf die Lippe. Ich hatte sie noch nie so reuig und zerknirscht gesehen. »Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, wie Haarfarbe bei dir wirken würde, wegen deines Anteils Feenblut. Vor allem nach dem Bleichmittelbad. Lass mich mal nachsehen, was ich an Zaubern finden kann. Vielleicht können wir da magisch etwas machen.«

»Frag ja nicht Camille. Die kommt mir nicht an meinen Kopf«, brummte ich. »Ich weiß noch ganz genau, was passiert ist, als sie versucht hat, sich unsichtbar zu machen. Sie war eine Woche lang nackig und konnte nichts dagegen tun. Und sie hat es nicht einmal gemerkt, bis ihr jemand gesagt hat, dass ihre Kleider unsichtbar waren.«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach uns. Ich wickelte mich in das Badetuch, und Iris öffnete. Es war Vanzir.

»Delilah – Luke ist da, aus der Bar. Er will dich sprechen.«

Luke? Luke war ein Werwolf und arbeitete im Wayfarer Bar & Grill, der Kneipe, die meiner Schwester Menolly gehörte. Er kam manchmal zum Abendessen vorbei, aber wenn er jetzt hier war, statt hinter dem Tresen zu stehen, musste etwas Schlimmes passiert sein.

Ich starrte auf das Handtuch hinab, das meinen Oberkörper umhüllte. Mit meinen eins achtzig war ich zwar schlank, aber beim besten Willen nicht hager. Meine Knochen konnte man nicht sehen – alles mit einer straffen Schicht Muskeln bedeckt.

»Er wird damit leben müssen, dass ich halbnackt bin. Ich ziehe nichts von meinen Sachen an, bis wir irgendeine Möglichkeit finden, sie vor dem Skunk-Gestank zu schützen.«

Ich trat hinaus auf den Hausflur und nickte dem großen, schlaksigen Werwolf zu, der lässig an einer Wand lehnte. Luke hätte genauso gut ein Cowboy sein können, wenn da nicht die Narbe gewesen wäre, die sich breit über seine Wange zog. Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. Der Pferdeschwanz, der ihm über den Rücken hing, war ordentlich gebürstet, vermittelte mir aber trotzdem den Eindruck, dass sein Haar von Natur aus eher störrisch und strubbelig war.

Er tippte sich an den Hut. »Miss Delilah, wie geht’s? Bist wohl einem Stinktier begegnet, was?«

»Ist das so offensichtlich?«

»Na ja, dieses … Parfüm, und die neue Haarfarbe – ja. Ich wette, Iris hat es mit Tomatensaft versucht, aber das hat nichts genützt.« Seine besorgte Miene wich einem gemächlichen Lächeln, als er Iris zuzwinkerte. Sie errötete.

Ich nickte. »Ja, so ähnlich. Und nach dem Saft gab es noch einen kleinen Wasserstoffperoxid-Cocktail. Du weißt nicht zufällig, was da hilft, oder?«

»Schon möglich«, antwortete er. »Zumindest gegen den Geruch. Aber da muss ich erst nach Hause, ist bei mir in der Wohnung. Das Rezept zu brauen habe ich vor Jahren gelernt, als ich noch zum Rudel gehörte. Wir haben auch die Erfahrung machen müssen, dass Tomatensaft hellem Fell nicht gut bekommt. Aber zuerst benötige ich deine Dienste, falls du willens bist …«

»Meine Dienste?«, erwiderte ich halb empört. Ich war mir meiner halbnackten Erscheinung auf einmal allzu bewusst.

»Du bist doch Privatdetektivin, oder nicht?« Er gab sich alle Mühe, mir ins Gesicht zu schauen, aber ich ertappte ihn ein paarmal dabei, wie sein Blick ein Stück tiefer rutschte. Jedes Mal hob er ihn hastig wieder und sah mir in die Augen. Irgendwie ganz niedlich. Er errötete. Und in den Stinktiergeruch, den Tomatensaft und den Gestank des Bleichmittels mischte sich ein leichter Moschusduft, wenn auch nicht so stark, dass er auf unmittelbare Erregung hingewiesen hätte. Aber er stand auf Frauen, so viel war klar.

»Ach so. Äh … ja.« Ich ging vorsichtig in meinem Handtuch ins Wohnzimmer hinüber und bedeutete ihm mit einem Nicken, mir zu folgen. »Setz dich doch. Was kann ich für dich tun?«

Luke ließ sich auf der Sofakante nieder, während ich auf den Schaukelstuhl zuhielt. Ehe ich mich setzen konnte, schoss Iris hinzu und breitete ein altes, schmuddeliges Laken über das Polster. Wunderbar. Allmählich kam ich mir vor wie eine Aussätzige. Ich kuschelte mich in den Schaukelstuhl und sorgte dafür, dass nichts zu sehen war, was nicht zu sehen sein sollte.

»Meine Schwester ist verschwunden.«

»Ich wusste gar nicht, dass du eine Schwester hast«, entgegnete ich.

Er nickte. »Amber wollte hierherziehen. Sie hatte eine Vision, dass sie aus irgendeinem Grund in Seattle leben müsse. Vor ein paar Wochen hat sie das Rudel verlassen, was ein starker Tabubruch ist – außer man wird exkommuniziert, so wie ich.«

»Hat sie dir gesagt, warum?« Allmählich wurden mir die Lykanthropen suspekt – die Sozialordnung war nicht bei allen Werspezies gleich, und ich hatte gehört, dass die Regeln bei den Wölfen sehr patriarchalisch sein sollten. Selbständiges Denken wurde bei Weibchen wohl nicht gefördert.

»Ja … Erzähle ich dir gleich. Jedenfalls hat sie mich heute Nachmittag angerufen, als sie hier angekommen ist. Sie wollte sich ein Zimmer nehmen, ein bisschen ausruhen und dann gegen acht in der Bar sein. Aber sie ist nicht gekommen. Ich habe die Polizei angerufen, aber die nehmen Vermisstenanzeigen für Übernatürliche erst auf, wenn derjenige mindestens seit achtundvierzig Stunden verschwunden ist. So ein Schwachsinn. Meine Schwester ist den ganzen weiten Weg von Arizona hierhergekommen, und ich mache mir Sorgen. Im Hotel habe ich auch angerufen. Da hat sie um zwei Uhr nachmittags eingecheckt, aber seitdem haben sie nichts mehr von ihr gehört oder gesehen.«

»Könnte es sein, dass sie noch jemand anderen besucht hat und da aufgehalten wurde oder so?« Mein Interesse war geweckt, und ich nahm einen Notizblock vom Beistelltischchen neben mir und begann, mir Notizen zu machen.

Luke schüttelte den Kopf. »Nein. Sie kennt hier sonst niemanden, aber sie war ganz sicher, dass sie in diese Gegend gerufen worden war. Das ist das Wort, das sie gebraucht hat – gerufen. Ich mache mir vor allem Sorgen, weil sie schwanger ist. Eine Werwölfin im siebten Monat verschwindet nicht einfach. Sie sollte ein Nest bauen, die Wurfhöhle für die Welpen vorbereiten … oder Kinder, wenn man so will.« Seine Stimme passte nicht zu seinem gelassenen Äußeren, ich konnte die Panik hören, die bis kurz unter die Oberfläche aufstieg.

»Wie heißt sie mit Nachnamen, und hast du ein Foto von ihr?«

Er nahm ein verblasstes Foto aus seiner Brieftasche und gab es mir. Als ich es nahm, fielen mir die starken, alten Schwielen an seinen Fingern und der Handfläche auf. Dieser Mann hatte schon hart gearbeitet, viel härter als jetzt in der Bar, und seine Haut war mit verblassten Narben bedeckt.

Ich betrachtete die junge Frau, die mir von dem Bild entgegenstarrte. Sie schien etwa fünfundzwanzig zu sein – das täuschte natürlich, da ÜWs für gewöhnlich sehr langlebig waren. Sie hatte Lukes Augen. Ungezähmt, und doch steckte eine Sehnsucht hinter der wilden Wachsamkeit. Langes, weizenblondes Haar fiel ihr über die Schultern, und ihre Haut hatte einen warmen, lebendigen Honigton. Sie war schön, strahlend und gefährlich.

»Sie heißt Amber, Amber Johansen. Wir haben uns seit Jahren nicht mehr gesehen.«

Irgendetwas ließ er unausgesprochen. Das verriet mir, dass Luke einen Verdacht hegte, was passiert sein könnte.

»Was glaubst du, was da los ist?« Ich fing seinen Blick auf, drehte meinen Glamour auf und befahl ihm, sich mir zu öffnen.

Er holte tief Luft, stieß sie langsam wieder aus und hielt meinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich glaube, ihre miese Ratte von Ehemann ist hinter ihr her. Am Telefon hat sie mir gesagt, dass ihr jemand hierher gefolgt ist, und ich schätze, er will sie dazu überreden, zum Rudel zurückzukehren. Sein Ego, das Ego des Rudels … verträgt es nicht, wenn Frauen fortgehen. Rice ist ein brutaler Scheißkerl, und ich fürchte, wenn er sie aufspürt, bringt er sie um.« Und dann sank er langsam in sich zusammen. »Amber ist alles, was mir von meiner Familie geblieben ist.«

»Wir finden sie«, sagte ich und legte eine Hand auf seine. »Wir werden tun, was wir können, das verspreche ich dir.« Im Stillen betete ich allerdings darum, dass es nicht bereits zu spät war.

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Kapitel 2

In diesem Augenblick ging die Haustür auf, und Menolly kam herein, einen Arm um Nerissa geschlungen, die offensichtlich sturzbetrunken war. Die beiden lachten, und die Fangzähne meiner Schwester waren ausgefahren, doch ein Blick auf Nerissa zeigte mir, dass Menolly nicht die Kontrolle verloren hatte. Sie deponierte Nerissa sacht in einem Sessel, küsste sie auf die Wange und drehte sich dann zu uns um.

»Was zum Teufel machst du denn hier? Ist in der Bar alles in Ordnung?« Sie starrte Luke mit diesem unheimlichen Blick an, bei dem sie nie blinzelte. Ich konnte es kaum erwarten, bis sie ihn mir zuwandte. Was dann aus ihrem Mund kommen würde, konnte ich mir gut vorstellen, und nichts davon wollte ich unbedingt hören.

Luke zuckte mit den Schultern. »Chrysandra ist für mich eingesprungen. Ich musste mit deiner Schwester reden … und mit dir, falls du es auch hören möchtest.«

Er hatte ihr gegenüber manchmal eine ziemlich große Klappe, und sie stutzte ihn hin und wieder zurecht, aber sie kamen besser miteinander aus, als es bei Werwölfen und Vampiren meistens der Fall war. Luke war ein verdammt guter Barkeeper und meine Schwester eine verdammt gute Chefin.

»Was gibt’s?« Menolly schmiegte sich in die Sofaecke und zog die Beine unter. Dann hielt sie inne, schnupperte und sah mich an. »Bist du das? Warum zum Teufel …« Sie starrte mich an und stieß dann ein ersticktes Lachen aus. »Ach du Scheiße, was ist denn mit deinem Haar passiert?«

Ich verzog das Gesicht. »Ach so … das. Ich. Stinktier. Tomatensaft. Bleiche und Natronlauge. Ich habe mich in eine knallorangegelbe Schildpatt-Katze verwandelt, nur ohne die schwarzen Flecken, wie du ja siehst. Iris forscht gerade nach, ob es von Haarfarbe noch schlimmer werden würde.«

»Bin ich froh, dass ich nicht zu atmen brauche.« Menolly lachte erneut.

»Ich glaube, bei dem Gestank kann ich dir helfen«, sagte Luke und lehnte sich zurück. »Aber diesen Mopp auf deinem Kopf fasse ich nicht mit der Kneifzange an.«

Ich sah ihn blinzelnd an und runzelte die Stirn. »Ja, ich habe das ungute Gefühl, dass ich damit werde herumlaufen müssen, bis die Flecken rauswachsen.«

Menolly unterdrückte ein Schnauben. Ich warf ihr einen bösen Blick zu, doch sie zuckte mit den Schultern. »Was denn? Es ist lustig – und wenn irgendjemand diesen Look tragen kann, dann du.«

»Na klar, und die Brooklyn Bridge gibt’s für zehn Cent obendrauf.« Ich seufzte laut. »Was ist mit Nerissa? Solltest du dich nicht lieber um sie kümmern? Sie sieht aus, als würde sie gleich umkippen. Wie viel habt ihr – äh, hat sie – eigentlich getrunken?«

Menolly grinste mit reichlich Zähnen. »Ich glaube, sie hat ganz allein eine Flasche Champagner geleert. Camille und ihr Harem kommen übrigens auch bald nach Hause. Sie sind noch geblieben, um sich von den letzten Gästen zu verabschieden. Aber ich warne euch: Um das Thema unseres verehrten Vaters, der nicht geruht hat, zu ihrer Hochzeit zu erscheinen, macht ihr vorerst besser einen großen Bogen. Das hat sie tief getroffen. Ich habe vorhin gehört, wie sie kurz mit Iris darüber gesprochen hat, und da musste sie sich die Tränen verkneifen.«

»Verdammt. Warum hätte er nicht dieses eine Mal den lieben Papa spielen können? Er war noch nie so gemein zu Camille.«

»Stimmt, er hat ihr immer die Stange gehalten, außer damals, als sie ihm ihre sogenannte Affäre mit Trillian gebeichtet hat. Dass er sie jetzt so mies im Stich lässt, nach allem, was sie für den Nachrichtendienst und unsere Familie getan hat, finde ich kotzerbärmlich. Ich bin stinksauer auf ihn! Seine beschissene Einstellung kann er sich von mir aus in den –«

»Du sprichst von unserem Vater!« Ob er sich falsch verhielt oder nicht, ich konnte nicht anders, als ihn in Schutz zu nehmen. Das lag einfach in meiner Natur, obwohl ich in meinem Herzen diesmal nicht viel zu seiner Rechtfertigung finden konnte.

»Und wenn wir hier von Zeus persönlich sprechen würden – er hatte kein Recht, ihr das anzutun.« Sie warf einen Blick zu Nerissa hinüber. »Ihr geht’s gut. Sie hat es bequem. Wo ist Vanzir?«

»Er ist rüber ins Gästehaus gegangen«, antwortete Iris.

Menolly nickte. »Also dann, Luke – sag mir, was los ist.«

Während Luke ihr von seiner verschwundenen Schwester erzählte, starrte ich aus dem Fenster. Menolly hatte recht. Dass Vater Camille die kalte Schulter zeigte, nach allem, was wir im vergangenen Jahr durchgemacht hatten, war schlimmer als ein Schlag ins Gesicht.

 

Also, wer bin ich? Manchmal weiß ich das selbst nicht mehr genau – so viel hat sich im vergangenen Jahr verändert. Früher dachte ich, das Leben und die Leute seien im Allgemeinen gut, aber jetzt lebe ich praktisch in einem Kriegsgebiet und habe die Naivität, mit der ich anfangs durch die Erdwelt gelaufen bin, so ziemlich abgelegt. Die meisten VBM – Vollblutmenschen –, denen man auf der Straße begegnet, ahnen nichts davon, aber ihr Leben und ihre Welt sind in Gefahr. Ich bin eine von nur wenigen Kriegerinnen an der vordersten Front, die versuchen, eine Katastrophe zu verhindern.

Noch vor einem Jahr hätte ich mich nie als Soldatin bezeichnet. Als Agentin, ja – beim Anderwelt-Nachrichtendienst. Doch wir sind alle zu Kriegern geworden, meine Schwestern und ich und unsere Freunde. Wir kämpfen gegen Horden von Dämonen, die die Grenze zwischen den Welten niederzureißen versuchen. Schattenschwinge, der oberste Herr der Unterirdischen Reiche, will sowohl die Erdwelt als auch die Anderwelt zu seinem privaten Spielplatz machen, indem er die Geistsiegel wieder zusammenführt. Das sind die neun Teile eines uralten Artefakts, das zerbrochen und über die ganze Welt verstreut wurde, um die Welten der Feen und der Menschen vor den Bestien aus den Unterirdischen Reichen zu schützen. Aber die Siegel kommen wieder zum Vorschein, und nun liefern wir uns ein Rennen mit den Dämonen, wer sie zuerst findet: Schattenschwinge oder wir.

Ich heiße Delilah D’Artigo, und ich bin eine Werkatze. Außerdem habe ich eine weitere Seite meines wandelbaren Wesens entdeckt: Ein schwarzer Panther kommt hervor, wenn mein Herr ihn lockt – der Herbstkönig, einer der Schnitter. Er hat mich als die einzige Lebende unter seinen Todesmaiden gezeichnet, und es ist mir bestimmt, ihm ein Kind zu gebären. Mein Panther-Selbst ist wild und mitleidlos wie die Natur, und allmählich lerne ich es zu lieben, statt es zu fürchten. Der Panther wird zu einem so festen Teil von mir, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Ich stehe voll zu meiner Raubtier-natur, als Hauskatze wie als Panther. Und ich habe eine Zwillingsschwester, Arial, die bei unserer Geburt starb und manchmal als Geist eines Leoparden erscheint, um mir beizustehen. Ich kann sie immer in meiner Nähe spüren – sie beschützt mich. Ich wünschte nur, dass wir uns eines Tages richtig zusammensetzen und miteinander reden könnten.

Meine Schwestern – Menolly, eine Vampirin, und Camille, eine Mondhexe – und ich haben halb Menschen- und halb Feenblut, und diese Abstammung bringt unsere besonderen Fähigkeiten in den unmöglichsten Momenten zum Absturz. Belassen wir es einfach dabei, dass keine von uns je als Mitarbeiterin des Monats ausgezeichnet wurde, obwohl wir uns redlich bemüht haben.

Unsere menschliche Mutter, Maria D’Artigo, verliebte sich in unseren Vater, der zum Feenvolk der Sidhe gehört. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs folgte sie ihm zurück in die Anderwelt. Sie heirateten, führten eine romantische Ehe, und dann bekamen sie uns. Camille kam als Erste, ein paar Jahre später ich, und weitere zwei Jahre später wurde Menolly geboren. Nach menschlichen Maßstäben sehen wir aus wie Anfang zwanzig. Unserer geistigen Reife nach würde man uns auch so schätzen, obwohl wir in den vergangenen zwei Jahren schnell erwachsen geworden waren. Tatsächlich sind wir jedoch alle über sechzig Erdwelt-Jahre alt.

Mutter starb, als wir noch sehr jung waren. Sie stürzte vom Pferd. Camille bemühte sich, ihre Rolle zu übernehmen, eine viel zu große Aufgabe für ein junges Mädchen. Und vor etwa dreizehn Erdwelt-Jahren wurde Menolly in einen Vampir verwandelt. Aber auf Vater hatten wir uns immer verlassen können. Bis vor einem Monat war er unser Fels in der Brandung gewesen, auf dessen Unterstützung wir zählen konnten. Jetzt ist vieles im Wandel, das Rad des Schicksals dreht sich weiter, und nichts ist mehr so, wie es scheint.

Uns bleibt keine Zeit, uns an all das zu gewöhnen. Die Karten sind verteilt, und wir sitzen in einem Turnier auf Leben und Tod, aus dem man nicht aussteigen kann.

 

Menolly lehnte sich zurück, den Blick auf Luke geheftet. »Wir werden tun, was wir nur können, um sie zu finden. Und falls ihr beschissenes Arschloch von Ehemann hinter ihr her ist, sorgen wir dafür, dass er ihr nie wieder zu nahe kommen kann.« Gewalttätigen Männern bekam Menollys Nähe schlecht, denn meistens wurden sie zu ihrem Abendessen. Sie ernährte sich vom Abschaum und von den Gewaltverbrechern dieser Welt.

Luke lächelte dünn. »Danke, Boss. Das sieht jetzt vielleicht so aus, als hätte ich einen übertriebenen brüderlichen Beschützerinstinkt. Aber Amber war noch nie in einer Großstadt, und ich kann nicht anders, als mir Sorgen zu machen.«

Menolly beugte sich vor, und die Elfenbeinperlen in ihren Afro-Zöpfen klapperten. Ihr Haar hatte die Farbe von poliertem Kupfer, und sie war so zierlich wie ich groß.

»Luke, kann ich dich etwas fragen?«, begann sie.

»Sicher, was denn?«

»Warum hat das Rudel nichts dagegen unternommen, dass ihr Mann sie misshandelt hat?« Menolly runzelte die Stirn und tippte mit den Fingernägeln auf der Sofalehne herum.

Er seufzte. »Das ist einer der Gründe, weshalb ich weggegangen bin. Na ja, genau genommen wurde ich verbannt. Ich rede nicht gern darüber. Die Männchen des Zone-Red-Rudels sind extreme Alpha-Tiere – im schlechtesten Sinne. Ich habe es nicht mehr ausgehalten.«

»Was ist passiert?«, fragte ich. Auf einmal kam mir der Gedanke, dass an Luke viel mehr dran war, als ich bisher angenommen hatte.

»Ich war in ein Mädchen verliebt – Marla. Wir wollten heiraten, aber der Rudelführer hat sie an jemanden vergeben, der sie grün und blau geprügelt und dann an seine Kumpels ausgeliehen hat. Ich habe versucht, mit ihr abzuhauen, und sie haben uns erwischt. Es kam zu einem großen Kampf … eine üble Sache. Sie ist tot, und ich bin ein Ausgestoßener. Ich kann nie dorthin zurück. Ich habe mich dem Rudelführer widersetzt.«

Weder Menolly noch ich sagten etwas, wir warteten nur ab. Der Schmerz, den ich in seiner Stimme hörte, stand ihm auch in den Augen, und ich hatte das Gefühl, dass ich zu aufdringlich gewesen war.

Er stand auf. »Ich habe Delilah alles über Amber gesagt, was mir eingefallen ist. Den Skunk-Entferner bringe ich morgen in die Bar mit. Da kannst du ihn jederzeit abholen, Delilah.«

Er nickte, tippte sich wieder an den Hut, und ich errötete unwillkürlich. Ich hatte seit über einem Monat mit niemandem mehr geschlafen, und er war schlank, groß und sehr männlich. Doch er warf nicht einmal beiläufig ein Auge auf mich, und eigentlich war ich erleichtert darüber. Ich war so durcheinander wegen Chase. Und Zach, der Werpuma, mit dem ich zweimal geschlafen und der Chase das Leben gerettet hatte, brauchte sehr viel länger, um sich von seinen schweren Verletzungen zu erholen, als man zunächst angenommen hatte. Als ich ihn das letzte Mal in der Reha-Klinik besucht hatte, hatte er mich nicht sehen wollen, und wir hatten seit über einem Monat nicht mehr miteinander gesprochen, obwohl ich jede Woche dort anrief.

Menolly begleitete Luke zur Tür, während ich die Notizen durchging. Als sie zurückkam, blickte ich auf, und sie lächelte mir sanft zu. Ihre Augen waren früher leuchtend blau gewesen, doch je tiefer sie in ihr neues Leben als Vampirin einsank, desto grauer wurden sie. Inzwischen schimmerten sie beinahe silbrig.

»Du bist scharf, nicht?« Sie seufzte tief. »Das ist das Problem, wenn man sich auf eine Beziehung einlässt. Man fängt an, den anderen zu brauchen … und dann …« Mit einem Blick auf Nerissa zuckte sie mit den Achseln. »Und dann kann man sich das Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen.«

Erst jetzt fiel mir ein goldener Ring an ihrem rechten Zeigefinger auf. Ich deutete darauf. »Der ist neu. Seit wann und woher genau hast du ihn?« Ich hielt ihren Blick gefangen, und sie kniff die Augen zusammen und schnaubte leicht. Wenn sie atmete, obwohl sie gar keine Luft mehr brauchte, wusste ich immer, dass ich sie erwischt hatte. Volltreffer!

»Ach, na gut. Nerissa hat ihn mir geschenkt. Das ist … ein Freundschaftsring. Ein Symbol dafür, dass wir nicht mehr zu haben sind, zumindest, was andere Frauen betrifft. Kerle – pff, die kommen und gehen, aber … Wir haben ausgemacht: keine anderen Frauen. Ich habe ihr auch einen geschenkt.« Sacht hob sie die Hand des Werpumas an, und ich sah das Gegenstück an Nerissas Finger. Beide Ringe waren mit keltischen Knoten verziert. Mir stockte der Atem, und ich sah meiner Schwester erstaunt in die Augen.

Menolly hatte eine unglaubliche Entwicklung durchgemacht, seit sie gefoltert, vergewaltigt, ermordet und dann als Vampirin wieder in die Welt hinausgeschickt worden war. Inzwischen war sie glücklich, jedenfalls meistens, und sie hatte sich tatsächlich wieder der Liebe geöffnet – so, wie sie im Moment damit klarkam.

Ich ergriff ihre freie Hand und drückte sie an meine Wange, und zum ersten Mal zuckte ich nicht zusammen, als ich die Kälte ihrer Haut spürte. Als ich die Lippen auf ihre Finger drückte, blickte ich auf und sah blutige Tränen über Menollys Wangen rinnen. Stumm breitete sie die Arme aus, ich schmiegte mich an sie und ließ mich von ihr drücken.

»Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Ich habe mich so lange bemüht, dich zu akzeptieren wie Camille, ohne jeden Vorbehalt. Aber ich hatte Angst … und jetzt …«

»Und jetzt hast du keine mehr«, flüsterte sie.

»Und jetzt habe ich keine mehr«, wiederholte ich, und mir wurde klar, dass das stimmte. Ihr grausiger Tod und ihre Wiedergeburt als Untote hatten mir stets Angst gemacht, doch die war auf einmal von mir abgefallen wie ein Grabtuch, und jetzt stand nur noch Menolly vor mir. Meine Schwester, endlich offen und unverschleiert in ihrem neuen Leben, fröhlich und strahlend und nicht länger das Ungeheuer, in das Dredge sie verwandelt hatte. Ich erinnerte mich nur zu gut an dieses Ungeheuer, das nach Hause geschickt worden war, um uns zu töten, und daran, wie Camille mich zum Fenster hinausgescheucht hatte, um mich zu schützen.

Langsam ließ sie mich los, und ich setzte mich wieder. Menolly verzog das Gesicht. »Ich bin sehr glücklich. Aber, Kätzchen, du musst mir versprechen, etwas für mich zu tun.«

»Was denn?«, fragte ich atemlos. Ob sie eine Wiedergutmachung dafür erwartete, dass ich ihr all die Jahre so zögerlich begegnet war?

»Unternimm etwas gegen diesen Wischmopp.« Sie deutete auf mein Haar.

Iris schlenderte in einem seidenen Kimono herein. Ihr offenes Haar, das wie ein goldener, seidiger Wasserfall bis zu ihren Knöcheln hinab schimmerte, war ein wenig zerzaust. Ihre Wangen hatten so ein rosiges Glühen, das sie unmöglich hätte verbergen können.

Grinsend tadelte ich sie mit erhobenem Zeigefinger. »Na, was habt du und Bruce so gemacht?«

»Du sei still«, schalt sie. »Das geht dich nichts an, Mädchen. Aber ich erzähle dir gern, was ich herausgefunden habe. Die Haare sollten wir dir lieber nicht färben, jedenfalls jetzt noch nicht. Nach dem Peroxid würde Haarfarbe sie noch mehr schädigen, und du würdest wahrscheinlich noch schlimmer aussehen als jetzt.«

»Also, das kommt nicht in Frage.« Ich runzelte unglücklich die Stirn. »Verdammt.« Ich warf Menolly einen Blick zu. »Du hast recht, ich muss irgendetwas unternehmen – so kann ich es unmöglich lassen. Vielleicht wird es Zeit für eine neue Frisur.« Ich bat Iris: »Hol deine Schere.«

»Wie bitte? Du machst wohl Witze.« Sie starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

»Nun mach schon. Ich will sie kurz und flippig haben. Wenn ich schon aussehe wie ein Punk, dann wenigstens richtig. Außerdem wächst die Farbe so schneller heraus, und ich brauche immer nur die Spitzen nachzuschneiden, bis die ganzen Flecken weg sind.«

Menolly kicherte. »Willst du das wirklich tun, Kätzchen? Ich wette, das ziehst du nicht durch.«

Ich schnaubte. »Das wirst du gleich sehen. Schalt Jerry Springer ein und hol die Chipstüte, wir feiern eine Party.«

Menolly brachte mir liebenswürdigerweise eine Tüte Cheetos, die ich so sehr liebte, und dazu ein Glas Milch. Dann bugsierte sie Nerissa sanft aufs Sofa, wo die prachtvolle, goldblonde Amazone einfach weiterschlief. Menolly zog die Beine an, schwebte hinauf an die Decke und warf mir die Fernbedienung zu.

Während ich mich durch die Programme zappte, legte Iris ihr Werkzeug zurecht und bat mich dann, auf dem Bodenkissen vor ihr Platz zu nehmen. Sie musste trotzdem auf einen Tritthocker steigen, weil ich so groß war.

»Kannst du es richtig stylish machen?«

»Ich weiß, was du willst, Mädchen. Und jetzt halt still.«

Der erste Schnitt war die reinste Folter. Ich hörte die Schere säbeln und schauderte, als Iris mir eine Handvoll fleckiger langer Haare reichte. Doch während ich das Büschel anstarrte, fand ich die Idee mit dem radikalen Kurzhaarschnitt auf einmal gar nicht mehr so übel. Ich hätte abscheulich ausgesehen, denn die Haare waren ganz strohig von der Bleiche und der Natronlauge.

Während sie sich kreuz und quer über meinen Kopf schnippelte und hier und da auch rasierte, freute ich mich allmählich auf die Verwandlung. Verdammt, ich fühlte mich auch schon anders – endlich meine Angst vor Menollys Vampirnatur zu verlieren, hatte in mir den Drang geweckt, große Veränderungen anzugehen und die Teile von mir zu opfern, die mich unsicher und furchtsam machten. Ich hatte es satt, ängstlich und zaghaft zu sein.

»Bin gleich fertig«, sagte Iris und pinselte meinen Nacken ab.

Mein Kopf fühlte sich viel leichter an und der Nacken eigenartig nackt und schutzlos, so ganz unbedeckt. »Darf ich es jetzt sehen?«

»Einen Moment noch.« Sie verschwand kurz und eilte mit einer Tube Haargel, einer Sprühflasche und einem Fön wieder herein. Sie sprühte mein Haar ein, verrieb ein wenig Gel zwischen den Fingern, zupfte die Spitzen zurecht, hielt noch kurz den Fön daran und trat dann zurück. »Okay, sieh es dir an.«

Langsam stand ich auf und ging auf den Spiegel über dem Kamin zu. Ich starrte hinein und hätte mein Spiegelbild beinahe nicht wiedererkannt. Ich war eins zweiundachtzig groß, und mit der neuen Frisur wirkte ich sogar noch größer. Mein Haar sah völlig anders aus – immer noch fleckig, doch jetzt wirkte es süß, frech – beinahe ein bisschen zickig und hart.

»Gefällt mir«, sagte ich und wandte den Kopf hin und her. Die Tätowierung mitten auf meiner Stirn schimmerte unter den schräg gekämmten Ponysträhnen hervor. Die schwarze Sichel kennzeichnete mich als Maid des Herbstfürsten. Langsam hob ich die Hand und betastete sie. Die pulsierende Energie, die ich darin spürte, war immer da, und im Lauf der vergangenen Monate war sie noch stärker geworden. Ich hatte das Gefühl, dass etwas auf mich zukam, etwas Großes, Erschreckendes, fühlte mich aber seltsamerweise zugleich getröstet und geborgen.