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Der Morgen ist für niemanden gewiss.
Nachdem Julius und Avian ihr das Herz gebrochen haben, will sich Indigo ganz auf den Film konzentrieren. Auch wenn jede Szene mit Avian und Julius ihre Gefühle auf eine harte Probe stellt. Und dann sind da noch die Geheimnisse ihrer verstorbenen Mutter. Je tiefer Indigo gräbt, desto näher kommt sie der Wahrheit. Dabei bringen ihre Nachforschungen nicht nur sie, sondern auch die beiden Männer, die sie nicht loslassen kann, in Gefahr. Denn es gibt jemanden aus der Vergangenheit ihrer Mutter, der vor nichts zurückschreckt, um sie aus dem Weg zu räumen …
Ein Buch wie ein Rausch – das heiß ersehnte Finale der Hollywood-Romance mit Why Choose-Trope!
Alle Bände der New Adult Romance-Dilogie im Planet!-Verlag:
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Der Morgen ist für niemanden gewiss.
Nachdem Julius und Avian ihr das Herz gebrochen haben, will sich Indigo ganz auf den Film konzentrieren. Auch wenn jede Szene mit Avian und Julius ihre Gefühle auf eine harte Probe stellt. Und dann sind da noch die Geheimnisse ihrer verstorbenen Mutter. Je tiefer Indigo gräbt, desto näher kommt sie der Wahrheit. Dabei bringen ihre Nachforschungen nicht nur sie, sondern auch die beiden Männer, die sie nicht loslassen kann, in Gefahr. Denn es gibt jemanden aus der Vergangenheit ihrer Mutter, der vor nichts zurückschreckt, um sie aus dem Weg zu räumen …
Das Finale der Romantic-Suspense-Dilogie
© Isabella Böhm
Magdalena Gammel wurde 1997 in München geboren. Literatur und Film waren schon immer ihre Leidenschaft. Ein paar Ausflüge in die Schauspielerei machten ihr aber klar, dass sie die Geschichten lieber erzählt, als sie darzustellen. Auf das Kunst-Abitur folgte eine Ausbildung zur Mediengestalterin für Bild und Ton. Wenn sie nicht gerade in Südafrika bei ihrer Familie nach neuen Abenteuern sucht, lebt und schreibt Magdalena in ihrer Heimatstadt München.
Für mehr Informationen über Magdalena Gammel und ihre Bücher folgt der Autorin auf: www.instagram.com/magdalena.gammel
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Magdalena Gammel
Planet!
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Auf der vorletzten Seite findest du eine Themenübersicht, dieSpoiler für die Geschichte beinhaltet.
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Magdalena Gammel und das Planet!-Team
# Scripted – Giorg¡a
# Florence + The Machine – Bedroom Hymns
# OneRepublic – Counting Stars
# Bishop Briggs – Dream
# BANNERS – Supercollide
# Henrik – Half of forever
# Hozier – Sunlight
# Arctic Monkeys – I Wanna Be Yours
# Dotan – Mercy
# Talos – Boy Was I Wrong
# Florence + The Machine – Over The Love
Für uns,
die wir mehr sind als nur die Rollen,
die wir spielen.
Noch nie war ich so froh gewesen, eine erfundene Rolle spielen zu dürfen.
Noch nie war ich so froh, nicht ich selbst sein zu müssen.
»Kinn ein bisschen höher.« Ich gehorchte Hadley, meiner Maskenbildnerin, in deren Raum ich seit einer knappen Stunde saß. Sie schminkte meine Lippen rot und verpasste mir einen dramatischen Lidstrich. Dann strich sie behutsam mein Haar beiseite und betrachtete mich.
»Wirst du sie überdecken können?«, fragte ich und beobachtete im Spiegel, wie sie verlegen die Lippen zusammenpresste.
»Natürlich. Sie fällt ohnehin kaum auf.«
Die Narbe auf der linken Seite meiner Stirn, die direkt unter dem Haaransatz verlief, war zwei Finger breit und verblasste mit jedem Tag ein bisschen mehr.
Aber ganz verschwinden würde sie wohl nie.
Das hätte mich weniger gestört, wenn sie nicht ein Andenken der besonders schmerzhaften Art wäre.
Eine auf meine Haut geritzte Erinnerung.
Damit ich auch ja niemals den Tag vergaß, an dem nicht nur mein Herz, sondern auch mein Schädel verletzt worden war, als dieser Bekanntschaft mit dem Bordstein gemacht hatte.
»Siehst du«, sagte Hadley, nachdem sie mit meiner Stirn fertig war. Mit dem richtigen Make-up und ein paar wohlplatzierten Haarsträhnen war die Narbe kaum auszumachen.
»Danke«, murmelte ich und zwang mich, nicht länger in trübsinnigen Gedanken zu baden. Die daraus resultierende Laune würde ansonsten nicht nur mir, sondern auch allen anderen am Set den Tag verderben.
Hadley zog den höhenverstellbaren Stuhl, auf dem ich saß, ein Stück zurück, zückte einen Pinsel und begann, meine Knie zu pudern.
»Komisch, ich weiß«, lachte sie dabei und zog eine Grimasse, »aber wenn man bedenkt, dass es vor nicht allzu geraumer Zeit total angesagt war, wie ein glasierter Donut herumzulaufen, kommen einem die Trends der Zwanzigerjahre gar nicht mehr so seltsam vor.«
»Mich kann nichts mehr schocken, seitdem ich auf TikTok gesehen habe, wie sich ein paar Mädchen absichtlich müde schminken!«
Hadley nickte bestürzt.
»Verrückt, oder? Ich meine, ich liebe Make-up und jeder hat das Recht, sich so zu bemalen, wie er möchte – aber Augenringe? Da bin ich raus.«
»Dafür sind wir beide jetzt absolut in«, scherzte ich.
»Richtig!«, rief Hadley triumphierend und riss die Augen auf, als wolle sie so die dunklen Schatten darunter betonen. Meine hatte sie längst überschminkt, was einiges an Concealer gekostet hatte, da schlechter Schlaf und zu frühes Aufstehen die besten Voraussetzungen für diesen sinnbefreiten Müdigkeits-Trend waren.
»Ta da«, sagte Hadley und präsentierte mir meine eigenen Knie mit einer galanten Handbewegung.
Skeptisch hob ich eine Augenbraue.
Viel hatte sich nicht verändert.
»Punkt für Authentizität. Aber wird mein Kleid deine Kunst nicht sowieso verdecken?«
»Die meiste Zeit über ja. Sobald du gehst oder tanzt, rutscht gelegentlich der Saum nach oben und gibt den Blick auf deine nun wunderschönen Knie frei. Die meisten Flapper-Girls der Zwanzigerjahre haben das gemacht, weil es als provokant und verrucht galt.«
»Aha, verstehe. Das ist so ein Knöchel-Ding wie damals, als Frauen bloß nicht zu viel Haut zeigen durften, weil die armen Männer sich ja sonst nicht kontrollieren konnten?«
»Ganz genau.«
»Dann liebe ich es.«
Flapper-Girls, das wusste ich inzwischen, waren emanzipierte, moderne Damen, die sich damals über das klassische Frauenbild hinweggesetzt hatten, indem sie rauchten, tranken und tanzten. Sie trugen kürzere Röcke, gingen in Jazz-Clubs, fuhren Automobile, standen offen zu ihrer Sexualität und scherten sich einen Dreck um die Regeln des guten Benehmens.
Meine Rolle Pleasance verwandelte sich im Laufe des Films in solch ein Flapper-Girl, was sie mir noch sympathischer machte.
Ich wandte mich der fremden Frau im Spiegel zu.
Ihr Kostüm war meine Rüstung.
Ihre Geschichte meine Zuflucht.
Der Realität entfliehen, um dem Kummer zu entkommen, war meine aktuelle Mission. Ich hatte mir das Leben der jungen Frau, die mich so frech anstarrte, geborgt, und ihr Verhalten adaptiert.
Eine geniale Methode, um sich nicht mit den eigenen Problemen auseinandersetzen zu müssen.
Verleugnung war die Devise, nach der ich seit zwei Monaten lebte.
Liebeskummer ist ein kleines fettes Monster, das die Hand beißt, die es füttert.
Das war zumindest die Meinung meiner Mutter gewesen. Unglücklicherweise half mir das nur bedingt weiter, denn selbst wenn sie damit recht gehabt hätte, bot ihr Spruch einigen Raum für Interpretationen.
Und sie war zu tot, um sie nach weiteren Erklärungen zu fragen. »Fertig«, rief Hadley, zufrieden mit sich selbst. Sie war gerade mal Anfang dreißig, konnte mit etwas Make-up aber mindestens genauso beeindruckende Kunstwerke erschaffen wie die Künstler, deren Namen einem nie einfielen, wenn man sie für einen Vergleich brauchte. »Und? Was sagst du?«
Sie sah mich erwartungsvoll an und steckte eine Spange in meine S-förmige Wasserwellen-Frisur. Ich hatte einen Seitenscheitel verpasst bekommen und stark gewellte Locken, die mit genügend Haarspray perfekt drapiert worden waren.
»Wow«, sagte ich ehrlich beeindruckt und lehnte mich nach vorne. »Da hat sich das Haareabschneiden doch tatsächlich gelohnt.«
Hadley schnaubte pikiert.
»Mag sein, aber dieses Verbrechen werde ich trotzdem keiner von uns beiden jemals verzeihen. Meine Reue nehme ich mit ins Grab.«
»Ich habe dich zu nichts gezwungen!«, erinnerte ich sie.
»Oh doch! Wenn ich dir diesen masochistischen Wunsch nicht erfüllt hätte, wärst du am Ende zu irgendeinem dilettantischen Friseur gegangen. Das war moralische Erpressung!«
»Natürlich.«
Niemand war so verliebt in meine langen roten Locken gewesen wie Hadley. Während der Pre-Production der vergangenen zwei Monate, in denen sie die unterschiedlichsten Looks für meine Rolle an mir ausprobiert hatte, waren wir Freundinnen geworden. Dennoch hatte es einiges an Überredungskunst gebraucht, um sie dazu zu bringen, meine Haare bis auf Kinnlänge zu kürzen.
»Augen zu«, befahl sie und drehte mich zu sich herum, um mein Gesicht mit Fixing-Spray zu besprühen, damit mir das Make-up nicht so schnell davonrann.
Als sie fertig war, sah sie auf ihre Uhr und fluchte.
»Wenn wir noch was frühstücken wollen, sollten wir langsam mal los.« Eilig steckte sie Puder, Pinsel, Lippenstifte und Wimperntusche in ihren bunten Schminkgürtel und scheuchte mich aus dem Stuhl. »Oder hast du schon wieder keinen Hunger?«
Ich schlüpfte in die Spangenpumps, die ich aus Bequemlichkeitsgründen ausgezogen hatte, und hielt den gigantischen Thermobecher hoch, auf dem mein Name stand. Eines der vielen, personalisierten Geschenke der Goldfarb Group.
»Kaffee ist mein Frühstück. Ich verstehe ohnehin nicht, wie man um sieben Uhr morgens bereits etwas essen kann.«
»Ich bin hier nicht die Komische!«, sagte Hadley mit einem Lachen und öffnete die Tür. »Außerdem könnte ich Juris Essen zu jeder Tag- und Nachtzeit verschlingen.«
»Guter Punkt«, gab ich zu. Juri, der Chefkoch für die gesamte Filmcrew, hatte uns bereits während der Vorbereitungen zum Dreh mit allerlei Köstlichkeiten versorgt.
Leider mangelte es mir bereits seit Wochen an Appetit.
Ich war nicht mehr hungrig. Nur noch müde. Und verbittert. Furchtbar sarkastisch und verbittert.
Aber Kaltschnäuzigkeit und schwarzer Humor brachten mich neuerdings durch den Tag.
»Zu Pancakes mit Ahornsirup würde ich nicht Nein sagen«, sinnierte ich, während wir durch die Korridore gingen, vorbei an meinem privaten Aufenthaltsraum und weiteren Zimmern, die ausschließlich für unsere Produktion benutzt wurden.
Juri hatte seine eigene Küche mit angrenzender Cafeteria, sowie einen gigantischen Foodtruck, der durch die zwanzig Hektar große Filmstadt der Goldfarb Group überallhin fahren durfte, um die Mitarbeiter während der sehr kurzen Drehpausen zu versorgen.
Wir betraten den Speisesaal, wo Daisy uns mit einem Klemmbrett unter dem Arm begrüßte. Gemmas Assistentin hatte die ehrenwerte Aufgabe bekommen, mich im Auge zu behalten, nachdem sich herumgesprochen hatte, was für einen unzuverlässigen Orientierungssinn ich hatte. Dabei war ihre eigentliche Aufgabe, sich um alles zu kümmern, wofür die Produzentin keine Zeit hatte. Und das beinhaltete Dutzende von unterschiedlichen Terminplanungen, sowie für einen Normalsterblichen unüberschaubare Abläufe.
»Du siehst bezaubernd aus!«, rief sie begeistert.
»Danke«, erwiderte ich verlegen und beobachtete beeindruckt, wie sie, ohne mich aus den Augen zu lassen, auf ihrem Handy herumtippte.
Ich war mir ziemlich sicher, dass es die gesamte Produktion ohne Daisys organisatorisches Talent nicht einmal bis zum ersten Drehtag geschafft hätte.
»Du hast noch genau dreizehn Minuten fürs Frühstück. Dann müssen wir leider los.«
Daisy deutete zu einem Tablett, das hinter ihr auf einem der Tische stand. Neben einem Glas Orangensaft, Rührei mit Speck, Toast und Obstsalat, lagen noch zwei Muffins und ein Müsliriegel. Ich starrte das üppige Mahl an und kniff die Augen zusammen.
»Willst du das nicht endlich sein lassen?«, fragte ich Daisy, die unschuldig mit den Schultern zuckte.
»Kann ich nicht. Anordnung von ganz oben.«
»Ja ja«, brummte ich, griff nach dem Orangensaft und trank einen Schluck.
Acht Wochen lang hatten mir Daisy oder eine Assistentin jeden Morgen das Frühstück gebracht. Zusammen mit dem Drehbuch, das abends wieder abgeholt wurde, damit es nicht versehentlich in die falschen Hände geriet.
Angeblich war das eine nicht-monetäre Zusatzleistung der Produktionsfirma, insgeheim war ich überzeugt, dass mein Großvater dahintersteckte. Er machte sich Sorgen um mich.
Ich war mir nur noch nicht sicher, ob ich das liebenswert oder bevormundend finden sollte.
Wenn dieser ätzende Liebeskummer überstanden war, würde sich auch mein Appetit wieder einstellen.
Aber um Daisys willen nahm ich mir noch einen Muffin und bedankte mich artig.
»Weißt du, wo Mikayla steckt?«
Daisy nickte und deutete zur Essensausgabe, wo sich Mikayla gerade einen Kaffee holte. Als meine Agentin und beste Freundin hatte sie einen Pass für die Studios und durfte bei jedem Dreh dabei sein.
»Wenn ich Nora nicht augenblicklich ein Bild von dir schicke, wird sie mir das niemals verzeihen«, sagte sie, als ich mich zu ihr gesellt hatte und der Dame hinter der Theke meinen Becher reichte, damit mich der nächste halbe Liter Kaffee davor bewahrte, im Stehen einzuschlafen.
Mikayla zückte ihr Handy und ich posierte artig für das Foto, das Nora vermutlich ausdrucken und einrahmen würde.
Sie musste sich um ihr eigenes Restaurant kümmern. Ich hatte sie gerade noch so davon abhalten können, das Hungry Angels zu schließen, nur um mich an meinem ersten Drehtag mit ihrer Anwesenheit zu unterstützen.
»Ahhhhhhh. Und Ahhhhhhhhh!«, las Mikayla die Nachricht vor, die Nora in unsere Gruppe geschickt hatte. Dann räusperte sie sich und reichte mir ihr Handy. »Das kann und will ich nicht laut vorlesen.«
Ich hob eine Augenbraue und überflog, was meine Freundin mit ihrem Hang zur schamlosen Wortwahl geschrieben hatte.
Nora: Wenn die beiden Arschgeigen in den vergangenen Wochen ihr grenzdebiles Verhalten nicht längst bereut haben, wird ihnen spätestens dein bombastischer Anblick den benötigten Leidensdruck in ihre Schwachköpfe hämmern, um vor dir auf die Knie zu fallen!
Ich unterdrückte ein Lachen, weil ich wusste, dass es augenblicklich in ein Schluchzen übergehen würde, wenn ich meinen Gefühlen plötzlich nachgab. Sie mussten eingesperrt bleiben. Nichts durfte die Maske der Unbekümmertheit, an der ich in schlaflosen Nächten so hart gearbeitet hatte, durchbrechen. Ich konnte es mir nicht leisten, dass jemand meine Verzweiflung sah.
Eine weitere Nachricht von Nora ließ das Handy vibrieren, das ich beim Lesen beinahe fallen ließ.
Nora: Ich weiß, dass muss schwierig sein, aber … hast du sie schon gesehen?
Mein Magen verkrampfte sich. Mir wurde schwindelig. Das Gefühl, zu fallen, schoss durch meinen Körper und brachte die Welt um mich herum ins Schwanken.
Schnell gab ich Mikayla ihr Handy zurück.
Sie las die Nachricht, atmete scharf ein und schickte Nora die Antwort, für die mir die Kraft fehlte. Dann schenkte sie mir ein zwangloses Lächeln.
»Wollen wir?«
Ich nickte, ignorierte den brennenden Schmerz und dankte Mikayla im Stillen, dass sie um meinetwillen so tat, als ginge es mir gut.
Wir verließen die Kantine und trafen Daisy auf dem kleinen Parkplatz vor dem Ausgang des westlichen Gebäudekomplexes. Die Büros und Räume dort waren für die Crewmitglieder der Produktionen gedacht, die aktuell in der Filmstadt drehten. Das war der privateste Bereich der Goldfarb Group Studios. Wir setzten uns hinter Daisy auf die Rückbank des kleinen Golfcarts und fuhren los.
Vorbei an dem weiter oben liegenden Teil des Geländes, an dem sich vor allem die Touristen aufhielten. Die Restaurants, Giftshops und Cafés waren besonders am Wochenende stark besucht.
Es gab sogar zwei kleine Kinos und mindestens drei Spielplätze, die den Szenerien berühmter Goldfarb Group Filme nachempfunden waren.
»Aufgeregt?«, fragte mich Daisy, die abbog und uns durch eine Straße fuhr, die eins zu eins aus dem Wilden Westen hätte stammen können.
»Mehr, als ich zugeben möchte«, gestand ich und blickte mich neugierig um.
Die gesamte Filmstadt war eine gigantische Attraktion. Es gab antike Tempel, mittelalterliche Marktplätze, viktorianische Häuser, Straßen mit Kutschen oder Heuwägen.
Teilweise gehörten diese Fassaden zu echten Gebäuden, in denen sich Büros oder Studios befanden.
Das Viertel, in dem wir heute drehen würden, sah aus, als habe man es direkt aus New York gepflückt und hier wieder eingepflanzt. Gleichzeitig ließen altmodische Automobile, saubere Wände und die Abwesenheit von modernem Müll den Eindruck entstehen, dass man es aus einer anderen Zeit gestohlen hatte.
Wir parkten neben weiteren Golfcarts, die zwischen Anhängern voller Technik und überschatteten Sitzgelegenheiten standen.
»Da seid ihr ja endlich«, begrüßte uns Gemma, die gerade aus dem Brown-Stine-Haus kam, das optisch an die ältere Architektur New Yorks erinnerte.
Es war kurz vor sieben. Wir waren also überpünktlich, was für die Produzentin des Films nie pünktlich genug sein würde.
»In einer halben Stunde geht es los«, sagte sie, während Daisy mir die Dispo, eine Art Ablaufplan, sowie das Drehbuch reichte, in dem die Szenen für den heutigen Tag markiert worden waren.
Ich bekam gar nicht die Chance, Gemma einen guten Morgen zu wünschen oder irgendeinen halbwegs geistreichen Kommentar von mir zu geben. Sie klatschte voller Tatendrang in die Hände und scheuchte mich voran.
»Los. Avian und Julius sind ausnahmsweise auch mal pünktlich.«
Ich stolperte über meine Füße und wurde gerade noch rechtzeitig von Mikayla am Arm festgehalten, bevor ich mich der Länge nach hinlegte.
»Sie sind bereits da?«, fragte sie an meiner Stelle.
»Ja«, sagte Gemma. »Ich konnte es auch kaum glauben.«
Renn weg!
Das war mein erster Gedanke.
Dreh dich um und renn weg!
Schön und gut, aber wohin?, fragte ich zurück.
Scheißegal! Hauptsache, weg!
Prinzipiell eine gute Idee, aber gewiss keine Lösung. Früher oder später würde ich den beiden Männern, die mir das Herz gebrochen hatten, gegenübertreten müssen. Und dann würde sich zeigen, wie stark ich tatsächlich war.
Also folgte ich Gemma ins Haus.
Mit jedem Schritt stolperte mein Herz aus seinem Takt.
Mit jedem Atemzug wehte der Schmerz ein bisschen kälter durch meine Brust.
Ich zwang mich zur Ruhe und vergrub die Gefühle, die an die Oberfläche zu dringen drohten, noch etwas tiefer.
Dann betrat ich das Filmset, das bis ins Detail einer alten Bar aus den Zwanzigerjahren nachempfunden war. Überall standen Tische und Stühle herum. Die aus dunklem Kirschholz gezimmerte Theke war voller Bierflaschen und Gläser. Von der Decke hingen zu Kronleuchtern umfunktionierte Wagenräder und allerhand andere Lampen. Trotz der unverputzten Backsteinwände versprühte die Location einen herrschaftlichen Charme.
Lediglich die ganze Technik, die einen Teil des großen Raumes einnahm, zerstörte diese Illusion. Es war ein ordentliches Chaos aus Kabeln, Regiestühlen, Stativen, Licht-Reflektoren, Decken- und Stehlampen.
Angespannt sah ich mich um. Crewmitglieder wuselten durcheinander, Statisten wurden instruiert. Aber von Julius und Avian fehlte jede Spur.
Wo seid ihr?
In einem Eck entdeckte ich unsere Regisseurin Isla vor einem Video-Referenz-Monitor sitzend, auf welchem sie während des Drehs verfolgen konnte, was die Kamera aufnahm. Diese wurde gerade auf einem Dolly befestigt, einer Art Kamerawagen, der über Schienen fuhr, damit das Bild möglichst ruckfrei blieb.
»Hadley hat wirklich ganze Arbeit geleistet«, begrüßte sie mich und nickte anerkennend.
»Das höre ich gerne«, lachte Hadley, die wie aus dem Nichts plötzlich neben mir auftauchte. Sie zog mich auf einen Regiestuhl, auf dessen Rückenlehne doch tatsächlich mein Name stand, und begann, meine Knie nachzupudern. Links und rechts von mir standen die Stühle von Avian und Julius. Aber sie waren leer.
»Und was ist mit mir?«
Verwundert drehte ich mich nach der Stimme um und entdeckte Penelope, die Kostümbildnerin, die sich mit einer glitzernden, altmodischen Handtasche einen Weg durch das Gewusel bahnte.
»Du würdest deinen Kopf vergessen, wenn er nicht angewachsen wäre«, tadelte mich die ältere Dame, klemmte mir die Tasche unter den Arm und tätschelte meine Wange.
»He, he, he«, protestierte Hadley. »Nicht ins Gesicht!«
Penelope verdrehte die Augen und machte sich daran, mein Kostüm fachmännisch zu überprüfen. Sie hatte für heute ein dunkelblaues A-Linien-Kleid mit Matrosenkragen gewählt, das knapp über die Knie ging. Während Hadley meinen Lippenstift nachzog, kümmerte sich ihr Assistent um den letzten Schliff für meine Haare.
Von drei Personen gleichzeitig angefasst zu werden, war nicht gerade die angenehmste Prozedur. Ich ließ sie stillschweigend über mich ergehen und hörte Isla aufmerksam zu, als sie begann, mir die Szene erneut zu erklären.
»Okay, also du kommst von hier herein«, sagte sie und deutete auf eine Tür, dem künstlichen Eingang zur Bar, »siehst dich kurz etwas um, wütend und frustriert, aber auch ein klein wenig eingeschüchtert von der Gesellschaft. Dann entdeckst du Hatter und March an der Bar und steuerst direkt auf sie zu.« Sie deutete zur Theke, hinter der Hunderte von Flaschen das Wandregal füllten. »Erhobenen Hauptes versteht sich. Ich will, dass man deutlich sieht, wie verletzt und aufgebracht du bist.«
Kein Problem.
Ich sah mich erneut um.
Wo seid ihr?
»Alle auf Position!«, schrie Isla plötzlich. Die sonst so zurückhaltende, recht unscheinbar wirkende Frau verwandelte sich regelrecht in einen Drillsergeant, deren Stimme bis ins letzte Eck der Bar reichte.
»Keine Angst. Sie ist noch immer harmlos.«
Roscoe, der hünenhafte, bärtige Kameramann, lachte und tätschelte mir die Schulter.
Dann setzte er sich auf den Hocker des Dollys und tauschte sich mit seinem Gehilfen aus, der dafür verantwortlich war, den Wagen zu bewegen.
Die über vier Dutzend Statisten und Nebendarsteller verteilten sich im Raum, suchten nach ihren auf dem Holzboden mit Gaffa Tape markierten Positionen oder nahmen an der Bar und an den Tischen Platz.
Es waren überwiegend Männer in Anzügen, deren Kostüme so authentisch wirkten, dass ich mir, trotz all der Technik, die uns umgab, wie in einer Kneipe aus den goldenen Zwanzigern vorkam. Aufgrund der Prohibition waren zu dieser Zeit unzählige Speakeasy-Bars, sogenannte Flüsterkneipen, aus dem Boden New Yorks geschossen. Betrieben von den Mitgliedern organisierter, krimineller Banden, mit Anführern wie March und Hatter – die beiden Gangster-Freunde, in die sich meine Rolle verliebt hatte. Hier konnte man dem Alkohol frönen, was ein verdammt lukratives Geschäft gewesen sein musste, in einer Zeit, als der Konsum gegen das Gesetz verstieß.
Wo seid ihr?!
Nein, konzentrier dich.
»Du wartest genau hier«, befahl mir Islas Regieassistentin, nachdem sie mir die vermeintliche Eingangstür geöffnet und mich in den schmucklosen Flur komplimentiert hatte. »Wir drehen zuerst den Master-Shot in der Halbtotalen. Das heißt, einmal die gesamte Szene von vorne bis hinten, mit euch dreien im Mittelpunkt.«
Ich wusste, was ein Master-Shot war, nickte aber wie jemand, der keine Ahnung vom Szenenaufbau hatte. Er verdeutlichte, welche Charaktere in der Szene vorkamen und in was für einer Beziehung sie zueinander standen.
In keiner guten, was Avian, Julius und mich betraf.
Ich spähte durch den Spalt der halboffenen Tür und beobachtete, wie sich das Durcheinander zu einer glaubwürdigen Szene sortierte.
Zwar war ich kein Filmset-Neuling, trotzdem beeindruckte es mich, wie leicht es einer guten Regisseurin fiel, mit ihrer Autorität für Ordnung zu sorgen, ohne die Stimmung dabei zu ruinieren. Sie hatte sich wieder auf den Regiestuhl vor den Referenz-Monitor gesetzt, der die weite Raumaufnahme der Kamera zeigte.
Überall waren aufgeregte, fröhliche Gesichter von Leuten, die es kaum fassen konnten, Teil dieser ungewöhnlichen, fast schon legendären Produktion zu sein.
Gemeinsam würden wir das letzte Drehbuch einer toten Autorin verfilmen, die tiefe Spuren in der Filmgeschichte Hollywoods hinterlassen hatte.
Ich befreite meinen Kopf von allen Gedanken, die mich daran hinderten, in die Rolle der Pleasance Silverstone zu schlüpfen.
Eine starke, unabhängige Frau, die ihre Naivität überwand, indem sie der Liebe die Bedeutung und dem Verlust seine Macht nahm.
Wenn ich diesen Film überleben wollte, musste ich ganz in ihrer Rolle aufgehen.
Und dann sah ich sie.
Julius und Avian …
Zum ersten Mal seit zwei Monaten.
Das waren acht Wochen, sechzig Tage oder eintausendvierhundertvierzig Stunden.
»Ruhe bitte!«, hörte ich die Aufnahmeleiterin wie aus weiter Ferne rufen. All meine Aufmerksamkeit galt den beiden Männern, die mit ihrem Auftritt die gesamte Szene beherrschten.
Avian lehnte sich lässig gegen die Bar.
Julius nahm elegant auf einem Hocker Platz.
Und ich stützte mich an der Wand ab, um nicht umzukippen.
»Ton ab!«, befahl Isla.
Sie konnten mich nicht sehen, aber sie wussten, dass ich da war. Versteckt hinter der Tür.
»Ton läuft«, antwortete ein mit Kopfhörern und Tonangel bewaffneter Mann. Es wurde mucksmäuschenstill, was in einem Raum voller Statisten, die sich gebärdeten, als unterhielten sie sich angeregt, sehr befremdlich wirkte.
Aber die Atmosphäre würde extra aufgenommen werden, damit während des Drehs keine Störgeräusche die Tonaufnahme der Hauptgespräche ruinierten.
»Kamera ab!«, hallte Islas Stimme durch den Raum.
Julius’ Rolle March begann, mit zwei Nebendarstellern zu reden, die Teil der Gang waren, während Avian seinen stoischen Blick durch die Kneipe wandern ließ.
Die Brüder waren nicht nur die Besitzer dieser und vieler anderer Bars, sondern vor allem die Drahtzieher der New Yorker Unterwelt.
Und jeder Mann in diesem Raum, auch wenn er nur ein Statist war, verdeutlichte durch seine Haltung, wie sehr er sie respektierte – oder fürchtete.
»Kamera läuft«, brummte Roscoe.
Islas Assistentin trat aus dem Halbdunkel, das die gesamte Crew verschluckt hatte, ins Licht und hielt eine Filmklappe vor die Kamera.
»The Wonderland Society, Zwölf-Eins, die Erste!«
Der Schlag der Klappe zuckte wie ein Donnerschlag durch meinen Körper.
»Und Action!«
Ich regte mich nicht.
Zu Eis erstarrt – wie an Ort und Stelle gebannt, von den Blicken, die Julius und Avian mir aus den Augenwinkeln zuwarfen, konnte ich meine Füße nicht vom Boden heben.
Ich musste die Tür öffnen. Ich musste durch den Raum stürmen. Ich musste sie zur Rede stellen.
Ich musste … aber ich konnte nicht.
Ich konnte nicht atmen, nicht denken, nicht … nicht fühlen.
»Indigo!«, rief Isla mir wispernd zu.
Auf der Bühne kann dir die Realität nichts anhaben, also vergiss wer du bist und spiel deine Rolle!
Ich streifte mein wahres Ich ab und umhüllte mich mit Pleasance’ Gedanken, die mir den Weg vorgaben.
Mit zwei Händen stieß ich die Tür auf und betrat die Bar.
Ich war ein wütendes Flapper-Girl, das gerade herausgefunden hatte, dass die beiden Männer, mit denen sie eine Affäre hatte, die gefürchtetsten Gangster New Yorks sein sollten.
Aber ich empfand keine Angst. Oh nein. Alles, was mich trieb, war Wut.
Angewidert von den Trunkenbolden um mich herum, die ein Bier nach dem anderen kippten, machte ich mir mit den Ellbogen Platz.
Die Kamera, die mich beobachtete, nahm ich gar nicht wahr.
Die Tonangel, die mir folgte, hätte genauso gut unsichtbar sein können.
Vom Zorn getrieben, den nicht nur Pleasance, sondern auch Indigo empfand, hielt ich zielstrebig auf die beiden Männer zu, die uns eine Antwort schuldeten.
Avian kniff die Augen zusammen, als er mich entdeckte, und stupste Julius an, der mir über seine Schulter einen Blick zuwarf.
Nach einer gefühlten Ewigkeit stand ich plötzlich wieder den beiden Männern gegenüber, die mich beschenkt und bestohlen, gerettet und verraten hatten.
Schlagartig verschwand mein Zorn – meine mühsam zusammengeklaubte Selbstsicherheit.
Ich hatte sie vermisst.
Ich hatte sie so entsetzlich vermisst.
Julius’ Zärtlichkeit, Avians Leidenschaft. Ihre Unterstützung, ihren Humor.
Ihre Art, mich zu lieben.
Ihre Fähigkeit, mich zu verstehen.
Der Herzschmerz, der mich seit ihrem Verschwinden zu ersticken drohte, entflammte erneut und tobte wie eine Feuersbrunst durch meine Adern.
Das alles hier fühlte sich so surreal und quälend echt zugleich an.
Und dass ich aufgrund ihres fehlerfreien Spiels nicht erkannte, was sie fühlten – was mein Anblick in ihnen auslöste, machte dieses Wiedersehen noch schmerzhafter.
»Pleasance.« Julius lächelte überrascht. Die Stimme seiner Rolle, Marchs Art zu sprechen, war neckend. Verführerisch. Er schwang auf seinem Barhocker zu mir herum und lehnte sich lässig mit dem Rücken gegen die Theke.
Julius’ Anblick war schockierend. Selbst das Make-up konnte nicht verbergen, wie ausgemergelt, fast schon krank, er aussah. Seine Wangen waren eingefallen, die Schatten unter seinen Augen noch immer deutlich zu erkennen.
»Hast du dich verlaufen?«
Trotz der selbstherrlichen Attitude, die seine Rolle verlangte, erkannte ich in seinen braunen Augen die Sanftmut, mit der mich Julius stets betrachtet hatte.
»Ganz und gar nicht«, zischte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. March hob amüsiert eine Augenbraue und sah zu seinem Freund, dessen Miene nicht düsterer hätte sein können.
»Was hast du hier zu suchen, Liebes?«, knurrte Hatter und betrachtete mich wie einen Eindringling.
»Dasselbe könnte ich euch fragen.«
March lachte und auch Hatters Mundwinkel zuckte, obwohl er keineswegs erheitert wirkte. Er kam mit bedrohlicher Eleganz auf mich zu, bis er mir so nahe war, dass ich den Kopf in den Nacken legen musste, um unseren Blickkontakt nicht zu unterbrechen.
»Wie es der Zufall will, gehört uns dieses kleine Etablissement«, sagte er. »Aber das wusstest du bereits, sonst hättest du dich gar nicht erst hierher getraut, nicht wahr?«
Mein Herz begann zu rasen. Heiße und kalte Schauer durchströmten mich von Kopf bis Fuß.
Avian war ein gutes Stück größer als ich und in der Anzugweste, unter der er ein helles Hemd trug, das die Tattoos seiner muskulösen Oberarme verbarg, war seine Gestalt noch anziehender als ohnehin schon.
Sein Duft umhüllte mich und weckte Erinnerungen, die so schmerzhaft waren, dass mir die Luft wegblieb und ich nach Atem rang.
»Ich …« Mir versagte die Stimme.
Das war okay.
Genauso stand es im Skript.
Pleasance ließ sich von der Dominanz, die March und Hatter ausstrahlten, verunsichern, während mich Julius und Avians bloße Nähe beinahe in Tränen ausbrechen ließ.
»Da bist du doch tatsächlich mutig genug, uns bis in das ruchloseste Loch der Stadt zu folgen«, amüsierte sich March mit einem bedrohlichen Funkeln in den Augen, »und dann verschlägt es dir ausgerechnet jetzt die Sprache?«
Das Blut rauschte in meinen Ohren.
So hätte der echte Julius niemals mit mir gesprochen.
»Sie sollte nicht hier sein«, stellte Hatter tonlos klar. »Das ist mir zu riskant.«
Er machte sich Sorgen um Pleasance. In jeder Szene war ihre Sicherheit seine oberste Priorität.
Mir wurde schwindelig und entsetzlich schlecht, bei der Fürsorglichkeit in Avians Miene, die nicht mir, sondern meiner Rolle galt.
»Wenn das eure Bar ist, was soll mir dann schon passieren?«, erkundigte ich mich möglichst bissig, damit der Subtext meiner Frage deutlich herauszuhören war. Hatter presste die Kiefer zusammen.
»Sieh einer an«, murmelte March. Er rutschte vom Barhocker und kam mir so nahe, dass mir die vertraute Wärme seines Körpers beinahe den Verstand raubte, »der kleine Fuchs ist allem Anschein nach gekommen, um uns zur Rede zu stellen.« Sein mokantes Lächeln barg so etwas wie Stolz, als er sich zu mir hinabbeugte und sein Blick auf meine Lippen fiel. »Tapferes Ding.«
March spielte gerne. Das wusste Pleasance. Aber sie hatte sein Herz berührt, was niemandem jemals gelungen war. Deshalb sah er sie, aus irgendeinem Grund, als ebenbürtig an.
»Geheimnis?«, fragte ich. »Die halbe Stadt weiß, wer ihr seid.«
Hatter schmunzelte, genauso wie Avian es oft tat.
»Nicht so vorwitzig, Liebes. Bis vor Kurzem hast du noch zur unwissenden Hälfte gehört.«
»Ja, weil ihr nicht den Anstand besessen habt, mir zu sagen, wer ihr in Wahrheit seid.«
»Hätte das etwas geändert?«
Ich stutzte.
»Natürlich …«
March seufzte und betrachtete mich mit schiefgelegtem Kopf.
»Versuch dir das ruhig einzureden.«
»Das heißt also«, sinnierte Hatter und schenkte mir ein Lächeln, das genauso charmant wie gefährlich war, »dass wir uns, jetzt, wo du weißt, was wir so treiben, von dir fernhalten sollten?«
Ich erschauderte.
Indigos Gedanken schrien Ja, aber Pleasance hatte ihre Vernunft längst in den Wind geschlagen.
»Nein.«
Meine Stimme klang verunsichert und trotzig zugleich.
»So?«, fragte Hatter und musterte mich herausfordernd. »Sicher, dass das ratsam ist, Liebes?«
»Vielleicht hat sie nicht ganz verstanden, wer wir wirklich sind«, überlegte March und strich wie nebenbei meinen Arm hinab.
Mir schoss das Blut in den Kopf. Ein Wirbelsturm aus Aufregung und Angst tobte durch meine Brust.
Sie waren so gut.
Avians Mienenspiel verlieh ihm die Aura eines Mannes, der die halbe Stadt regierte.
Julius’ selbstgefällige Haltung verwandelte ihn in den Gangster, der niemanden außer sich selbst respektierte.
»Na schön«, knurrte Hatter, schob March beiseite und griff nach meinem Kinn, um es anzuheben. »Dann müssen wir wohl etwas deutlicher werden.«
Die Berührung kam so plötzlich, so intensiv, dass mir die gepuderten Knie weich wurden. Ich krampfte mich zusammen.
»Du magst das Theater lieben, aber mir ist die Lust daran vergangen. Also lass uns reinen Tisch machen, hm?«
Trotz seines begnadeten Spiels erkannte ich in Avians grünblauen Augen einen Funken von Zerrissenheit, der absolut nichts mit dem Skript zu tun hatte.
Seine Finger lagen federleicht auf meiner Haut, als habe er Angst, sich an mir zu verbrennen.
»Wir haben dich niemals belogen«, stellte er klar. »Aber es gibt Wahrheiten, von denen du nichts erfahren darfst, aus Gründen, die du nicht wissen willst.«
Auf einmal kam es mir so vor, als würde Avian nicht länger in seiner Rolle zu mir sprechen. Als seien das nicht Hatters, sondern seine Worte.
»Und wenn ich das nicht akzeptieren kann?«, wisperte ich. »Werde ich euch dann vergessen müssen?«
Zum ersten Mal stahl sich ein Hauch von Unsicherheit in Hatters Miene.
Selbst March war die Lust an seinen Scherzen vergangen. Er lächelte mitleidig und hob die Hand, um mir über die Wange zu streicheln.
»Dafür ist es längst zu spät, kleiner Fuchs«, knurrte er.
Das war zu viel für mich.
Pleasance’ Emotionen vermischten sich mit den meinen und verwischten die Grenze zwischen Leben und Spiel.
Ich konnte dem Schmerz nicht entkommen.
Er lauerte in beiden Welten.
»Verlasst euch nicht zu sehr auf meine Naivität«, erinnerte ich mich gerade noch rechtzeitig an meinen Text. »Die Schatten der Stadt und das, was in ihnen haust, mögen eurer Kontrolle unterliegen, aber meine Gefühle tun das gewiss nicht.«
Weder Pleasance noch ich glaubten diese Lüge.
Zum Glück war das mein letzter Satz gewesen.
Für mehr hätte ich auch nicht die Kraft gehabt.
Der Raum kam mir stickig vor, das Kleid unerträglich eng.
Ich musste nur noch einen halbwegs überzeugenden Abgang hinlegen, dann konnte ich endlich aufatmen.
Also drehte ich mich auf dem Absatz um und marschierte erhobenen Hauptes zum Ausgang.
»Cut!«, rief Isla, kaum war ich durch die Tür hindurch
Ich wurde brutal aus meiner Rolle herausgerissen und zurück in die Wirklichkeit geschleudert. »Das war schon sehr gut«, lobte Isla, während Bewegung in den Raum kam. Statisten und Requisiten kehrten auf ihre Positionen zurück, Kostüme wurden zurechtgerückt und Gesichter nachgepudert.
»Kommst du bitte, Indigo«, rief Isla, die bei Julius und Avian an der Bar stand. Widerwillig verließ ich mein kindisches Versteck und trat mit gesenktem Kopf dazu.
»Die Spannung war super, aber lasst uns noch etwas mehr Intimität erzeugen. Mehr Nähe, mehr Berührungen.«
Oh ja bitte, tolle Idee!
Hadley kam zu mir und ließ ihren Assistenten auf die beiden Männer los.
»Das war mega«, raunte sie mir zu und zog meinen Lippenstift nach.
Bevor ich ihr antworten konnte, hatte mich Isla auch schon am Arm gegriffen.
»Spielt mehr mit dem Größenunterschied«, befahl sie. »Wir sehen euch von Kopf bis Fuß, also nutzt eure Körpersprache, um die Spannung zwischen euch zu betonen.«
Ich wurde so dicht vor Avian geschoben, dass uns kaum mehr eine Handbreit trennte, was dieser lediglich mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte. »Die Dynamik zwischen euch dreien gibt unglaublich viel her, also nutzt Gestik und Mimik, um sie noch intensiver in Szene zu setzen.«
Ja ja, theoretisch kein Problem.
Wären da nicht das Herzrasen und die Tränen gewesen, die mir die Kehle zuschnürten, als ich einen Blick in Avians Gesicht riskierte. Keine Emotion, kein Funke von Zuneigung lag darin. Er betrachtete mich wie eine Fremde.
»Alles auf Anfang«, riss mich Isla aus meinen Gedanken.
Ich drehte mich um, ohne Avian oder Julius noch einmal anzusehen, und ging zurück auf meine Position, die mich so weit weg von ihnen brachte wie möglich.
Vier Master-Shots später war es Zeit für den ersten Umbau und eine Pause. Die Kamera wurde neu ausgerichtet, um nun uns drei nacheinander im Medium Close-up zu filmen.
Davor brauchte ich Kaffee, einen Sitzplatz und wenigstens fünf Minuten, in denen ich nicht die gleiche Luft wie Avian und Julius atmete.
Also stahl ich mich nach draußen. Die Mittagssonne stach mir in die Augen und riss mich aus der Illusion des Abends, die im Studio geherrscht hatte.
Dank der von außen verdunkelten Fenster verlor man während des Drehs jegliches Zeitgefühl.
Mikayla wartete bereits am Foodtruck auf mich, die Dispo des Tages in der einen und meinen Thermobecher in der anderen Hand.
»Danke«, murmelte ich und ließ mich erschöpft auf eine Holzbank fallen, von der aus ich die anderen Crew-Mitglieder beobachtete, die sich ebenfalls eine kurze Pause leisten konnten.
Zwischen ihnen und am Rande der Trailer, entdeckte ich die Sicherheitsleute, die auf Rubens Geheiß hin jede Sekunde der Dreharbeiten überwachten. In schwarzer Montur, mit Headsets und Sonnenbrillen bewaffnet, erinnerten sie an die Hollywood-Version von Geheimagenten.
Etwas zu auffällig, um unauffällig zu sein.
Und ihre oberste Priorität war ich.
Unautorisierte Personen durften das Filmgelände ohnehin nicht betreten, aber die Überwachung der Mitarbeiter und Besucher war seit meinem »Autounfall« verschärft worden.
Ich wusste, dass diese muskulösen, mich um gut einen Kopf überragenden Männer und Frauen eine Liste von meinen Freunden und Bekannten hatten – von jenen, die sich mir nähern durften.
Das war alles schön und gut, aber sinnvoller wäre eine Liste mit potenziellen Verdächtigen gewesen.
Dummerweise hatte ich keine Ahnung, wer mich töten wollte.
»Wärst du mir böse, wenn ich dir sage, dass man auf dem Bildschirm kein bisschen erkennt, wie schwierig dieser Tag für dich sein muss?«, fragte Mikayla und setzte sich mit einem eingepackten Bagel neben mich. Ich lachte gequält und trank meinen Kaffee.
»Kein bisschen. Das würde nämlich bedeuten, dass ich meine Rolle doch überzeugender spiele als befürchtet.«
»Glaub mir: Gemma ist hellauf begeistert«, versicherte sie mir. »Und damit du weder physisch noch psychisch vor diesen beiden Vollidioten zusammenbrichst, solltest du etwas essen.« Sie hielt mir den Bagel unter die Nase, den ich widerwillig entgegennahm, um vor den nächsten Aufnahmen wenigstens ein bisschen was im Magen zu haben.
»Das ist die einzige Szene, die wir heute drehen, oder?«, fragte ich kauend. Mikayla sah auf die Dispo und nickte.
»Morgen und übermorgen werden im Theater die beiden Kennenlernszenen gedreht und Pleasance’ erstes Gespräch mit Nave Queens.«
Nave Queens war der Direktor des Greater Bless Theatre und wurde von Oliver White gespielt, den ich aus einer meiner Lieblingsserien kannte. Mit ihm zu drehen war eigentlich eine Ehre, über die ich mich in meiner jetzigen Verfassung leider nicht richtig freuen konnte.
Scheiß Liebeskummer.
Was, wenn es mir irgendwann nicht mehr gelang, mich zu beherrschen?
Was, wenn ich einen schlechten Job machte?
Die Dreharbeiten verkomplizierte?
Den Erwartungen nicht entsprach?!
Es gab mehrere Kuss- und mindestens zwei angedeutete Sex-Szenen im Skript. Wie sollte ich die nur überstehen?
»Indy?«, fragte mich Mikayla besorgt und legte mir eine Hand auf die Schulter. Erst jetzt bemerkte ich, wie zitterig ich war. Mein Atem ging immer schwerer. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn.
Der plötzliche Schwindel ließ mich würgen.
»Ganz ruhig«, flüsterte Mikayla und rieb meinen Rücken. Ich holte tief Luft und richtete mich gerade auf.
»Alles gut«, log ich und erhob mich langsam. Sofort sprang Mikayla auf und machte Anstalten, mich zurück auf die Bank zu drücken.
»Bleib sitzen. Du bist furchtbar blass.«
»Quatsch. So sehe ich immer aus.«
»Indy!«
»Mir geht es gut«, beschwichtigte ich sie und löste mich von ihr. »Gib mir nur einen Moment, okay? Ich muss eh gleich wieder rein.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte ich ihr meinen Becher und den Bagel in die Hände und verschwand um das Eck des Trailers, der für die Statisten gedacht war.
Erst als die Geräusche erstarben und ich weit genug entfernt war, um nicht zufällig entdeckt zu werden, blieb ich stehen und ließ mich auf die nächstbeste Sitzbank fallen.
Viel weiter hätten mich meine zitterigen Beine auch nicht getragen. Ich stützte die Ellbogen auf die Knie und hielt meinen Kopf mit den Händen fest.
Atmen.
Einfach atmen.
So schwer war das gar nicht.
Plötzlich berührte kühles Plastik meine Stirn. Ich zuckte zusammen und hob widerwillig den Kopf. Vor mir stand Avian. Eine Wasserflasche in der Hand.
»Durst?«
Ich blinzelte mehrfach, in der Hoffnung, dass er eine Wahnvorstellung war, die verschwinden würde, wenn ich sie nur lange genug anstarrte.
Aber nichts geschah.
Er stand nach wir vor da, eine Hand lässig in die Hosentasche geschoben und betrachtete mich mit ausdrucksloser Miene.
»Geh weg«, stöhnte ich und vergrub mein Gesicht in den Händen, damit mich mein Herzrasen bei seinem Anblick nicht noch ins Krankenhaus beförderte.
Denn unabhängig von unserer schmerzhaften Vorgeschichte, wäre diese Situation sehr viel einfacher gewesen, wenn Avian in seinem Tweed-Anzug nicht so unverschämt gut aussehen würde.
In Kombination mit seinen grünblauen Augen und dem dunkelbraunen Haar hätte er problemlos einen der Peaky Blinders-Brüder spielen können.
»Ich gehe nirgendwohin, bevor du nicht etwas zu dir genommen hast«, brummte er. »Du siehst aus, als würdest du gleich umkippen.«
Wo andere etwas durch die Blume sagten, bevorzugte Avian den Kaktus.
»Hör zu«, setzte ich an und hob erneut den Kopf, um ihm zu erklären, dass er Land gewinnen sollte, verstummte aber, weil er direkt vor mir in die Hocke gegangen war.
»Nur einen Schluck«, bat er und hielt mir die Wasserflasche unter die Nase.
Ich schnaubte verärgert.
Als sei es nicht ohnehin schon schmerzhaft genug, in derselben Zeitzone wie Avian zu existieren, musste er mir jetzt auch noch nahe kommen.
»Ich brauch deine Fürsorge nicht«, murmelte ich mit immer schwächer werdendem Trotz.
Leise lachend griff er in seine Westentasche und zog einen Schokoriegel hervor.
»Natürlich nicht.« Zusammen mit der Wasserflasche drückte er ihn mir in die Hand. Dabei berührten seine Finger die meinen. Ganz kurz nur. Ein flüchtiger Moment, der mich an Stunden voller Zärtlichkeit erinnerte.
Ich zuckte zurück.
»Entschuldigung«, murmelte Avian, erhob sich und brachte Abstand zwischen uns.
Ein scharfer Stich fuhr mir in die Brust. Aus Kummer wurde Wut, die wie ein wildes Tier, das nach einem Ausgang suchte, durch meinen Körper tobte.
Ich legte den Riegel und die Wasserflasche neben mich. Auch wenn es kindisch war, aber ich würde nichts mehr von ihm annehmen. Gar nichts mehr.
»Ich sollte gehen«, sagte ich mit fester Stimme. »Meine Knie müssen nachgepudert werden.«
Avian hob eine Augenbraue und schien zu überlegen, ob ich scherzte.
»Wir haben noch ein paar Minuten.«
»Ich weiß.« Mein gesamter Körper stand unter Strom. »Aber die muss ich nicht unbedingt mit dir verbringen.«
Avian spannte die Kiefer an und sah mir direkt in die Augen.
»Ist meine Gegenwart so unerträglich?«
Am liebsten hätte ich laut losgelacht.
»Was kümmert dich das?«
Ich wollte mich mit ihm anlegen, mich mit ihm streiten – all den Herzschmerz, den er verursacht hatte, an ihm auslassen.
Aber dafür blieb Avian zu ruhig. Zu distanziert.
Er zuckte mit den Schultern.
»Tut es nicht.« Seine Miene war zu jener ausdruckslosen Maske geworden, die er wie kein anderer trug. »Ich versuche lediglich eine möglichst professionelle Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Du wirst noch ein paar Wochen mit mir auskommen müssen.«
Ich erstarrte.
Genauso gut hätte er mir in den Bauch boxen können.
Jemand räusperte sich und riss mich aus meiner Bewegungsunfähigkeit. Ich wandte den Kopf und starrte Julius an, der uns beide mit todernster Miene beobachtete.
»Es geht weiter.« Seine Stimme war farblos, sein gesamtes Erscheinungsbild eine verblasste Kopie des Mannes, der Los Angeles vor einigen Wochen verlassen hatte.
Avian nickte, wandte mir den Rücken zu und ging. Neben Julius blieb er noch einmal stehen und legte seinem besten Freund die Hand auf die Schulter. Dessen Blick bohrte sich in mich, als wollte er damit verhindern, dass ich ihnen folgte.
Avian raunte ihm etwas zu und schaute sich ein letztes Mal nach mir um. Beide sahen mich an, als sei ich eine Gefahr, vor der sie sich gegenseitig beschützen mussten.
»Ist das alles?«, fragte ich und bereute es im nächsten Moment.
»Ja«, knurrte Avian und packte Julius am Arm. »Das ist alles.«
Damit verschwanden sie und nahmen mir erneut die Chance, ihnen zu zeigen, wie tief sie mich verletzt hatten.
Es interessierte sie nicht länger.
Ich wankte, gab der Schwäche, die meine Knie zum Zittern brachte, nach, und sackte auf die Bank.
Tränen brannten mir in der Kehle. Ich presste mir die Hand auf den Mund, um mein Schluchzen zu ersticken.
Zwei Monate lang hatte ich sie nur in meinen Albträumen gesehen.
Zwei Monate lang hatte mir der Gedanke an unser Wiedersehen den Schlaf geraubt.
Zwei Monate lang hatte mein Herz jeden Tag ein bisschen mehr geblutet. Es konnte nicht heilen, solange es nicht wusste, warum es so rücksichtslos zerbrochen worden war.
Zwei Monate zuvor.
Nicht weinen, Schatz. Ich komme dich holen, dann reden wir.
Nicht weinen, Schatz … dich holen … reden wird …
Schatz … holen … wir.
Der letzte Satz meiner Mutter hallte wie das Echo durch meinen Kopf.
Die Worte tanzten in Form von bunten Lichtern durch eine Welt voller Schatten und regneten auf eine schwarze Leinwand hinab.
Tausende von Tropfen flossen über das Canvas und malten Momente, an die ich mich seit Jahren nicht mehr erinnert hatte.
Meine Mom, wie sie mich anlächelte, das Gesicht voller Farbe, einen Pinsel in der schlanken Hand.
Jedes Jahr zu meinem Geburtstag hatte sie ein Porträt von mir gemalt.
Sie war eine begnadete Künstlerin gewesen. Ihre Leidenschaft, die Geschichten, die sie beim Malen gespürt haben musste, hatte man in jedem Pinselstrich erkannt.
Wo waren ihre Gemälde eigentlich gelandet?
Ich hatte nie hinterfragt, wo meine Mom sie aufbewahrte, denn nach ihrer Fertigstellung waren sie wie von Zauberhand verschwunden.
Nachdenklich, entspannt bis in jede Faser meines Körpers, der immer tiefer zu sinken schien, betrachtete ich die Erinnerungen, die über die Leinwand huschten.
Mom, wie sie mit mir zusammen Schwarz-Weiß-Klassiker ansah.
Mom, wie sie einmal die Woche mit mir ins Theater ging.
Mom, wie sie mich bei meinen Aufführungen in der Schule anfeuerte.
Mom, wie sie mit mir über meine Bewerbung an der Lee Strasberg stritt.
Mom, wie sie mir klarzumachen versuchte, dass die Filmindustrie von Hollywood nur etwas für nichtssagende Schauspielerinnen sei.
Ja, und dann …
… riss die Leinwand, denn das war das letzte Mal gewesen, dass ich sie gesehen hatte.
Die Ruhe und die Geborgenheit, dich mich bis gerade eben noch beschützt hatten, lichteten sich wie Nebel, hinter dem ein entsetzliches Ungeheuer lauerte.
Ein Ungeheuer, Schmerz genannt.
Es zerfetzte alle Erinnerungen, schnappte nach jedem glücklichen Moment, an dem ich mich noch festzuhalten versuchte, und verbiss sich in meinen Kummer.
Hunderte von Emotionen überfluteten mich, wurde von Wellen aus Bildern getragen.
Die Beerdigung meiner Mom.
Mein letzter Tag in New York.
Die Ankunft in Los Angeles.
Das Vorsprechen.
Meine neue Familie.
Avian und Julius …
Ich riss die Augen auf und starrte eine kalkweiße Decke an.
Unfähig, mich zu bewegen, ließ ich den Blick wandern.
»Sie ist wach!«, schrie jemand. »Mikayla, sie ist wach!«
Schritte näherten sich und leises Gemurmel erfüllte den Raum.
»Nora?«, wisperte ich und erschrak darüber, wie rau meine Stimme klang. Jemand hielt mir einen Strohhalm an die Lippen und ich trank gierig aus einem Plastikbecher mit frischem Wasser.
»Danke«, krächzte ich und erkannte Benjamin.
Mein Onkel schenkte mir ein erleichtertes Lächeln, seinem Gesicht war anzusehen, dass er sich Sorgen gemacht hatte.
Meinetwegen.
Ich richtete mich schwerfällig auf und schnappte erschrocken nach Luft, als ein scharfer Schmerz durch meine rechte Seite schoss. Eine Mischung aus entsetzlichem Seitenstechen und brennenden Ameisen, die unter meiner Haut herumwuselten. Dabei bemerkte ich, dass ich nicht länger das verhasste Abendkleid trug, das mir Avians Bruder Everett so geschickt untergejubelt hatte, sondern ein kratziges Krankenhaushemd.
Benjamin machte einem Mann im weißen Kittel Platz, der mir behutsam eine Hand auf die Schulter legte.
»Ganz langsam«, sagte er und leuchtete mir mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen. »Wissen Sie, wo Sie sind, Miss O’Malley?«
Ganz bestimmt nicht in Disneyland.
»In einem Krankenhaus«, krächzte ich, da ich meine schnippischen Gedanken lieber für mich behielt.
»Und erinnern Sie sich, was passiert ist?«