Sebastian Kurz - Judith Grohmann - E-Book

Sebastian Kurz E-Book

Judith Grohmann

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Beschreibung

Sebastian Kurz ist eine politische Ausnahmeerscheinung. Österreichischer Bundeskanzler mit gerade einmal 31 Jahren, charmant und redegewandt. »Wunderknabe« (FAZ), »Polit-Popstar« (Tagesanzeiger) bis hin zu »Trojanisches Pferd« (Le Monde) titelt die Presse. Und auch neben seinem Alter sorgt sein Koalitionspartner für Aufsehen: Um die österreichischen Regierungsgeschäfte übernehmen zu können, ging der junge Konservative ein Bündnis mit der Rechtspartei FPÖ ein. Judith Grohmann hat Sebastian Kurz über die Jahre als Journalistin intensiv begleitet. In dieser autorisierten Biografie beschreibt sie den Weg des Polit- Karrieristen an die Macht, analysiert seine Haltung gegenüber der FPÖ und beleuchtet seine Position innerhalb der EU und der Weltpolitik. Und sie stellt die Kardinalfragen: Was möchte Kurz als Politiker erreichen? Wie sehen seine Strategien aus, wie sein Marketing? Wie weit nach rechts muss eine Partei rücken, wenn sie mit Rechtspopulisten zusammenarbeitet? Und wie agiert Kurz nach 526 Tagen im Amt und einem Misstrauensantrag, um seine Partei bei den Neuwahlen wieder an die Macht zu führen? Wie überzeugt er seine Wähler ein zweites Mal? Eine aufwendig recherchierte Biografie über ein politisches Ausnahmetalent.

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Seitenzahl: 402

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Judith Grohmann

SEBASTIAN KURZ

Die offizielle Biografie

Judith Grohmann

SEBASTIAN KURZ

DIE OFFIZIELLE BIOGRAFIE

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Originalausgabe, 1. Auflage 2019

© 2019 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Sämtliche Inhalte dieses Buchs wurden – auf Basis von Quellen, die die Autorin für vertrauenswürdig erachtet – nach bestem Wissen und Gewissen recherchiert und sorgfältig geprüft. Der Verlag haftet für keine nachteiligen Auswirkungen, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Informationen stehen, die in diesem Buch enthalten sind. Sämtliche Textstellen, die direkt oder indirekt Zitate wiedergeben und nicht anderweitig belegt sind, stammen aus persönlichen Gesprächen der Autorin mit den betreffenden Personen.

Redaktion: Christiane Otto

Korrektorat: Maike Specht

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, München

Umschlagabbildung: Jakob Glaser

Satz: Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts.

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-95972-267-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-489-0

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-490-6

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter:

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

INHALT

PROLOG

1. Kapitel

Ein Kind aus dem Arbeiterbezirk

2. Kapitel

Vom Rathaus ins Staatssekretariat

3. Kapitel

Wahlkampf – der Weg ist das Ziel

4. Kapitel

Besuch bei den Verbündeten

5. Kapitel

2019 – sein zweites Regierungsjahr

6. Kapitel

Sebastian Kurz und seine Rolle in der internationalen Politik

7. Kapitel

Wahlkampf made in Austria

Epilog

Danksagung

Anmerkungen

»Regieren ist ein Rendezvous mit der Realität«

Wolfgang Schäuble, Präsident des DeutschenBundestages, Politiker der CDU

Februar 2015

PROLOG

Sonnenstrahlen bedeckten mein Gesicht, während ich hastig über das steinerne Pflaster auf dem Wiener Minoritenplatz huschte. In der Mitte dieses Platzes steht eine gotische Kirche aus dem 13. Jahrhundert. Wir schreiben den 30. November 2016. Die Vorweihnachtszeit hatte begonnen. Draußen waren es sechs Grad. Ich hatte meinen Wintermantel angezogen und fror trotzdem ein wenig. Noch ein paar Schritte, dann betrat ich die beheizte Empfangshalle an der Rückseite des Palais Niederösterreich. Es handelt sich um ein Gebäude, welches über 500 Jahre alt ist. Die Wiener Innenstadt kann nicht nur aus kultureller, sondern auch aus politischer Sicht einiges vorweisen und erzählen. Während der Sicherheitsbeamte meinen Presseausweis prüfte, wurde ich von seinem Kollegen im Kabinett angemeldet. Danach führte man mich in einen eleganten Warteraum mit einer Ledercouch. Dort nahm ich Platz. Vor mir stand ein Pult, dahinter saß ein Wächter. Er lächelte mir freundlich zu. Wenige Minuten später holte mich eine Mitarbeiterin aus einem Büro, welches ein Stockwerk höher lag, ab. Die junge Frau lächelte mich an und streckte mir ihre Hand zur Begrüßung entgegen. Dann stiegen wir gemeinsam über die geschwungenen barocken kalksandsteinernen Treppen in den ersten Stock hinauf. Entlang der Mauern befand sich schöne Stuckatur aus einem anderen Jahrhundert. Oben angekommen, mussten wir zunächst zwei Sicherheitstüren durchqueren, bevor wir in einem schmalen, endlos langen und mehrere Meter hohen, weißen Korridor standen. Dieser Korridor war voller Türen. An einer dieser Türen lehnte ein Mann im dunkelgrauen Anzug, der nachdenklich mit seinem Zeigefinger über seine Lippe strich. Der Pressesprecher des Außenministeriums galt als Troubleshooter der Nation und war ein in der österreichischen Medienszene bestens vernetzter Mensch, der seinen Chef stets vor kritischen Journalisten verteidigte. Während er noch die gegenüberliegende Seite des Korridors mit seinem scharfen Blick fixierte, gingen wir langsam weiter. Irgendwann sah er neugierig zu uns herüber und lächelte mich an. Willkommen im Ministerium.

Er führte mich in sein Arbeitszimmer. Es war nicht groß. Vor dem Fenster standen zwei riesige Holzschreibtische, die aneinandergestellt waren. Darauf thronten zwei Computer und zwei hellgraue Telefone. In einer Ecke, an der Wand, stand eine kleine schwarze Ledercouch. Ich nahm darauf Platz. Er setzte sich mir gegenüber. Aus den Augenwinkeln beobachtete er mich. Er schien neugierig zu sein auf das, was ich ihm erzählen würde.

Zwei Espresso mit Milch und Zucker wurden serviert, bevor wir mit dem Hintergrundgespräch beginnen konnten. Er wollte sofort mehr über mich erfahren: Meine Karriere, meine Arbeitgeber und meine Kollegen interessierten ihn. Aber auch die Artikel, die ich schrieb. Ich schmunzelte innerlich und begann zu erzählen. Dazwischen tranken wir unseren Espresso.

Ich sprach nicht gerne über mich selbst, denn als Journalist ist man zur Bescheidenheit erzogen. Doch dieser Termin war wichtig, denn ich wollte unbedingt rasch ein Interview mit seinem Chef haben.

In Österreich ist der Aufbau eines Interviews mit einem internationalen Medium mit einem der Großen aus der Politik ähnlich dem Aufbau einer Geschäftsbeziehung zwischen zwei Unternehmen aus unterschiedlichen Ländern. Zugegebenermaßen hat es fast schon etwas Komödiantisches an sich, wenn man als Journalist auf den Pressesprecher eines wichtigen Ministers trifft. Denn in Österreich beherrschen die Beamten in den Kabinetten ihrer Minister das freundschaftliche, wienerische Palavern mit Medienvertretern ausgezeichnet. Man spricht über alles und nichts, über Gott und die Welt. Und man schenkt sich gegenseitig Komplimente, genauso wie es soeben hier am Minoritenplatz gerade geschah. An einem der ältesten öffentlichen Plätze mitten in der Wiener Altstadt fand genau in diesem Augenblick ein Gespräch statt, das sich in etwa wie folgt anhörte: »Sie sind sehr jung Journalistin geworden, Bravo!«, »Sie sind im Kabinett des jüngsten Außenministers von Österreich, Bravo!«

Diese Form der Konversation erschien auf den ersten Blick hin sehr unkonventionell. In Wahrheit war sie essenziell, um einen engeren Kontakt zum Sprecher des Ministers zu bekommen. Die Sympathie wurde sukzessive im Gespräch aufgebaut. In Momenten wie diesen versucht der Journalist sich in diplomatischer Art und Weise für die Tätigkeit seines Gegenübers zu interessieren. Die beiden Gesprächspartner testen sich gewissermaßen ab, bevor der Journalist zur Tat schreiten kann und ihm mit der Zeit gezielte Insiderinformationen anvertraut werden. Doch sobald man das Vertrauen seines Gegenübers gewonnen hat, wird man vorerst meist in kleine, unwichtige Details aus der Politik eingeweiht. Eines ist bei diesem Spiel die Bedingung: Man muss Österreichs politisches Umfeld zunächst über mehrere Stunden, meist mehrere Tage und Wochen in dieser Form kennenlernen, bevor gegenseitiges Vertrauen überhaupt entstehen kann und Informationen ausgetauscht werden können. Und eines war für mich an diesem Tag von Anfang an sonnenklar: Ohne diesen Termin gab es kein Interview.

Das Gespräch dauerte eine ganze Stunde. Wir tauschten uns ein wenig über unseren beruflichen Alltag aus und verstanden uns sehr gut. In einer Pause beschloss ich, noch einen Schluck Kaffee zu trinken, bevor ich mich neugierig erkundigte: »Und wie geht es unserem Herrn Minister?«. Genau das schien eine wichtige Frage gewesen zu sein. Mir fiel auf, dass mein Gegenüber zwar antworten wollte, er aber stattdessen begann, die offene Türe, die sich gleich rechts neben uns befand, mit seinen Augen zu fixieren. ›Seltsam‹, dachte ich mir, denn ich war es gewohnt, dass man sich in Momenten wie diesem, eigentlich in die Augen sah und auf das gemeinsame Gespräch konzentrierte. Deshalb wunderte es mich, dass mein Gesprächspartner konzentriert in eine andere Richtung blickte. Vielleicht hatte er die Frage ja überhört, dachte ich mir und legte einfach noch eine Frage nach: »Ist unser Herr Außenminister gerade in Wien, oder ist er im Ausland unterwegs?«

Doch der Pressesprecher schien mich zu ignorieren. Er starrte konzentriert zur offenen Türe. Ich war verwundert. Es ist in diplomatischen Kreisen gänzlich unüblich, dass ein wohlerzogener Gesprächspartner eine Frage seines Gegenübers einfach nicht zur Kenntnis nimmt. Und so war ich der festen Überzeugung, dass ich meiner journalistischen Neugierde freien Lauf lassen sollte und ergründen musste, was ihn von einer Antwort abhielt.

Und so sah auch ich zur Türe hinüber. Doch mit einem Mal erklärte sich die Abwesenheit des Pressesprechers. Zunächst erblickte ich nur eine Silhouette. ›Ist er es wirklich?‹, dachte ich mir. Ich sah lediglich einen Teil eines Kopfes, doch der kam mir bekannt vor. Diese dunkelbraunen Haare, die streng nach hinten gekämmt waren, und die kleine, spitze Nase, die aus seinem Gesicht hervorlachte. Der Mann, der hier lässig an der Türe lehnte, war fast einen Meter neunzig groß und von merklich dünner Statur. Er wirkte wenig ministeriell. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, dazu schwarze Socken, schwarze Schuhe und ein weißes Hemd mit einer dunklen Krawatte, die fest saß. Und völlig unerwartet trat er mit einem Mal durch die Tür.

Er sah aus dem Fenster und blickte gedankenversunken in die Ferne. Ob er uns wahrgenommen hatte, war fraglich. Das helle Sonnenlicht leuchtete in den Raum hinein. Doch das störte ihn nicht. Die Herbstsonne blendete sein Gesicht. Er war vertieft und in Gedanken versunken. Er fokussierte, und das schien – wie ich später erfuhr – ein Markenzeichen von ihm zu sein.

Ein paar Sekunden lang beobachteten wir ihn gemeinsam. Dann beschloss der Pressesprecher seinen Vorgesetzten anzusprechen. »Sebastian, kann ich etwas für dich tun? Brauchst du etwas von mir?« Keine Reaktion. Weder ein Augenzwinkern, noch ein Schmunzeln, noch eine abwehrende Handbewegung. Nichts. Der Minister starrte weiterhin ins Leere. Er schien mit seinen Gedanken weit entfernt von dem Ministerium zu sein, das er zu diesem Zeitpunkt leitete. Vielleicht dachte er ja über die aktuelle Politik in Österreich nach, über den Koalitionspartner oder über eine Bemerkung aus den eigenen Reihen, die er selber erst verdauen musste. Oder aber über einen wichtigen Schritt, den er als Politiker in den nächsten Tagen offiziell setzen wollte. Der junge Außenminister war konzentriert und überdachte eine Angelegenheit, die ihn offensichtlich stark beschäftigte, so viel war gewiss. Es war ein besonderer Augenblick für mich. Denn ich sah einen Politiker bei seiner täglichen Arbeit, versunken in Gedanken über die beste Strategie. Abseits von Kameras und Mikros. Für eine Journalistin ein besonderer Augenblick, kennt man doch Politiker meist nur von öffentlichen Auftritten und Medienterminen. So etwas passiert wirklich nicht jeden Tag.

Schließlich atmete er tief durch. Also sprang ich auf und ging einen Schritt auf ihn zu: »Herr Minister, wollen Sie sich zu uns setzen?« Dabei machte ich eine einladende Handbewegung zum schwarzen Ledersofa. Doch der Mann, der an die Türe gelehnt stand, schüttelte nur sanft seinen Kopf, weiter in die Leere blickend. Noch einmal atmete er tief durch, dann sah er uns in die Augen und nickte uns zu, bevor er sich umdrehte und wortlos aus dem Raum verschwand. Diese Szene hatte nur wenige Minuten gedauert. Ich ging zurück zur schwarzen Couch und versuchte, das soeben Erlebte in meinem Kopf zu sortieren.

Jener Mann, der gerade vor uns in der Türe gestanden hatte, war Sebastian Kurz. Zur damaligen Zeit, mit knapp 30 Jahren, Österreichs jüngster Außenminister. Er war danach der jüngste Bundeskanzler Österreichs, den es jemals gab. Welches politische Thema ihn in das Bürozimmer seines Pressesprechers geführt hatte, habe ich niemals erfahren. Doch dass er mit Sicherheit einer der interessantesten Politiker unserer Zeit ist, stand außer Zweifel. Er galt als Integrationsfigur für junge Menschen, die sich nach konservativen Werten sehnten, und stellte eine echte Alternative zu den alten Politikern dar.

Dieser Sebastian Kurz ist heute – trotz seiner Jugend – einer der am längsten dienenden Politiker Österreichs. Er ist einer, der sich nicht vor den üblichen politischen Karren spannen lässt. Aber vor allem ist er ein beinharter Macher einer neuen, modernen, sensiblen Politik. Sebastian Kurz nahm eine Führungsposition ein, bei der er Integrität und Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit widerspiegeln wird. Das nennt man Leadership. Kurz macht jene Politik, die ihm von seiner Fahrtrichtung her richtig erscheint. Er erlaubt sich deshalb auch Dinge, die ihm in seinem politischen Leben und seiner Meinung nach wichtig erscheinen, in Ruhe mit politischer Gelassenheit über mehrere Tage zu überdenken.

»Ich war ein Suchender und bin es immer noch, aber ich habe aufgehört, die Bücher zu fragen und die Sterne – und angefangen, auf die Lehren meiner Seele zu hören«, formulierte schon der persische Dichter des Mittelalters Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī. Der Politiker Sebastian Kurz scheint ständig auf der Suche nach neuen Wegen in der Politik zu sein.

Doch gehen wir wieder zurück in das Büro des Pressesprechers im Außenministerium. Der Pressesprecher griff sich instinktiv an den Haaransatz und sah verlegen zu mir herüber. Es war ihm nicht recht, dass eine Außenstehende seinen Minister so erlebt hatte, in einer Situation, die ein gänzlich neues Gesicht des jungen Ministers offenbarte. Nämlich die Nachdenklichkeit, das politische Grübeln. Doch es war schon geschehen, und so beschloss ich, mich schleunigst zu verabschieden. Als ich die Treppen am Minoritenplatz Nummer acht hinabstieg, dachte ich mir, dass das Erlebte kein Zufall sein konnte.

Fast ein Jahr später kam es zu Neuwahlen in Österreich. Zu diesem Zeitpunkt erhoben sich mehrere bekannte Stimmen aus der österreichischen Unternehmerszene, um den jungen Minister bei der Wahl tatkräftig zu unterstützen. Einer unter ihnen war der österreichische Rennfahrer Niki Lauda. Lauda war in Österreich dafür bekannt, dass er immer offen sagte, was er sich dachte, auch wenn es für sein Gegenüber unangenehm war.

Was Niki Lauda in einem Video vor den Wahlen im Jahr 2017 aussprach, wurde von vielen Menschen im In- und Ausland gesehen und für richtig erkannt. Lauda sagte, er sei seit Jahren frustriert, weil in Österreich nichts weitergehe. Die Große Koalition zwischen Christdemokraten (ÖVP) und Sozialdemokraten (SPÖ) setze sich ständig mit Kleindetails auseinander, die den Österreichern nichts brächten. Das missfiel selbst einem Lauda. In Österreichs Politik, erklärte er, sei es zuletzt zu einem Stillstand gekommen. Aus diesem Grund sei er froh darum, dass es zu Neuwahlen kommen werde. Sebastian Kurz sehe er als Mann an, der, gerade aufgrund seiner Jugend und Dynamik, eine Änderung herbeiführen könne. Er gehe die Dinge anders an. »Er ist ein Mann, den man versteht, dem kann man zuhören. Er ist transparent und kompetent.« Seine Unterstützung gelte daher Kurz, auch weil dieser zur Modernisierung der ÖVP beigetragen habe. Die Partei sei wieder zurückgehkehrt ins Rampenlicht. »Der Anspruch des Bundeskanzlers ist, dass er das Land anständig vertritt und uns das Leben hier in Österreich besser gestalten kann. Mit allen Ups and Downs die man natürlich hat. Und gerade bei den Problemen ist er, glaube ich, der Richtige der sie richtig lösen kann.«1

Ein dermaßen spannender junger Politiker, der sogar alte Haudegen wie Niki Lauda als Fürsprecher gewinnen konnte, zog 2017 einen logischen Umkehrschluss mit sich, und dieser lautete: Wenn sich ein Niki Lauda hinter einen Sebastian Kurz stellte, dann konnte Sebastian Kurz kein Blender sein. Oder?

Andererseits deutete vieles darauf hin, dass es einen großen Moment der Veränderung in der kleinen alpinen Republik im Herzen Europas mit einem Kanzler Sebastian Kurz im Jahr 2017 geben würde. Denn die Mehrzahl der Bürger war in den letzten Jahren sehr unzufrieden mit der Politik gewesen, die in verschiedene Richtungen zog und viel versprach, aber im Grunde genommen nichts zusammenbrachte. Es war immer öfter von politischem Stillstand die Rede. Die Mehrzahl der Menschen war aber auch unzufrieden damit, wie Demokratie funktionierte, und so wurde über die Jahre die Frustration über das demokratische System nicht nur in Österreich, sondern auch in vielen anderen EU-Ländern noch größer.

Es schien ganz so, als herrsche ein Mangel an politischer Führungsqualität in einer Zeit, in der man einen führungsstarken Politiker benötigte. Leadership war jedoch durchaus gefragt und erwünscht bei der Bevölkerung.

Sollte es Österreich im Jahr 2017 mithilfe der Geschicke des jungen Bundeskanzlers gelingen, wieder zu einem angesehenen Entscheidungspartner in Europa zu werden – vielleicht sogar zum wichtigsten Entscheidungspartner in Europa – so wie es einst mit den Königen in der Habsburger Monarchie der Fall war, dann hätte Sebastian Kurz gewonnen.

Und so geschah es, dass am 15. Oktober 2017 Sebastian Kurz mit seiner Liste Sebastian Kurz – Die neue Volkspartei nach einer Umfärbung des Parteilogos von Schwarz auf die hellere Farbe Türkis zur stimmenstärksten Partei gewählt wurde. Er ging als Wahlsieger mit den Freiheitlichen unter Heinz-Christian Strache (FPÖ) eine Koalition ein. Diese Koalition war ein neuerliches Experiment für die Volkspartei: ähnlich wie bereits im Jahr 2000, als Wolfgang Schüssel die Wahl gewann und mit der FPÖ unter Jörg Haider koalierte.

Bis zum 27. Mai 2019 war Sebastian Kurz Bundeskanzler. Die Augen der internationalen Medien waren immer wieder auf den jungen, sympathischen, durchsetzungsstarken Mann aus Österreich gerichtet. Man nannte ihn in den Medien »Wunderwuzzi« oder »Polit-Popstar«. Doch das interessierte ihn nicht sonderlich. Er sah sich mehr als Macher einer neuen Form der Politik in Österreich. Bis an einem Freitagabend im Mai 2019 die politische Landschaft in Österreich auf den Kopf gestellt wurde. Grund dafür war ein Video, entstanden im Juli 2017 während des Wahlkampfes, das den damaligen Parteiobmann und derzeitigen Vizekanzler Heinz-Christian Strache und seinen Parteifreund Johann Gudenus mit dessen Frau in einem Haus auf der spanischen Insel Ibiza zeigte. Die beiden Männer diskutierten – in den öffentlich gemachten Videoteilen – mit einer nicht näher erkennbaren, russischsprachigen Frau und mit einem Mann, der auch im Verborgenen blieb. Es ging um Geld, um Großinvestitionen, um Spenden und um mögliche Gegengeschäfte für diese Spenden. Das Video schien ein Hinweis darauf zu sein, dass Strache jederzeit zur Korruption, Umgehung der Gesetze und Übernahme und Kontrolle von Medien bereit sei. Dieses Video entwickelte sich zu einem handfesten Skandal, über den international berichtet wurde.

Einen Tag später kündigten Strache und Gudenus ihren Rücktritt von all ihren politischen Ämtern an, und Kanzler Sebastian Kurz erklärte das Ende der politischen Koalition. Für die Fortführung der Koalitionsregierung verlangte er den Rücktritt des Innenministers, mit dem die »lückenlose Aufklärung« der Vorkommnisse – in seinen Augen – nicht möglich sei, da dieser zur Zeit der Anfertigung des Videos Generalsekretär der Freiheitlichen Partei und somit auch verantwortlich für die Finanzen der Partei gewesen war.2 Das war Sebastian Kurz’ Vorstoß. Doch daraufhin traten alle Freiheitlichen Minister geschlossen zurück.

Und so erlebte Kanzler Kurz einen Regierungssturz aufgrund eines Ibiza-Videos und danach sogar noch einen Misstrauensantrag. Er wurde somit zum Kanzler der kürzesten Regierungsperiode Österreichs mit nur 526 Tagen. Über den Sommer gab es in der Alpenrepublik nun eine Übergangsregierung, und für den Herbst waren Neuwahlen angesetzt.

Nach den Neuwahlen am 29. September 2019 wird Leadership in Österreich mehr denn je gefragt sein. Wie Sebastian Kurz sich als Politiker diesmal halten wird, bleibt spannend. Doch offenbar besitzt der dann 33-Jährige Durchhaltevermögen, und er überzeugt auch nach den härtesten Prüfungen, die ihm seine Regierungspartner sowie die Oppositionsparteien durchlaufen lassen.

Was kann man aus seiner Persönlichkeit für die Politik des 21. Jahrhunderts ableiten? Und wie viel Ideologie steckt eigentlich in Sebastian Kurz?

Ist er, wie einige Journalisten behaupten, Pragmatiker oder vielmehr ein Opportunist? Ist er ein Techniker der Macht mit freundlichem Antlitz oder ein berechnender Machtmensch, der seinen Machiavelli in und auswendig kennt? Welche Eigenschaft trifft nun wirklich auf ihn zu?

Wie Sebastian Kurz als Politiker des 21. Jahrhunderts, trotz der harten Machtkämpfe, denen Entscheidungsträger in Regierungen ständig ausgesetzt sind, in der österreichischen und der internationalen Politik zu reüssieren versucht, möchte ich in diesem Buch herausfinden.

1. KAPITEL

EIN KIND AUS DEM ARBEITERBEZIRK

Sebastian Kurz erblickte im Sommer 1986 unter einem der letzten bedeutenden sozialdemokratischen Kanzler in Wien das Licht der Welt. Dessen Name war Franz Vranitzky, er hatte das Auftreten eines Technokraten und war, was man in der damaligen Zeit in Österreich einen typischen »Nadelstreifsozialisten« nannte. Vranitzky war wirtschafts- und finanzpolitischer Berater von Finanzminister Hannes Androsch in der Regierung des schillernden Nachkriegskanzlers Bruno Kreisky gewesen. Danach wurde er Generaldirektor mehrerer österreichischer Banken, darunter die Creditanstalt und die Länderbank. Vranitzky stellte in seiner Zeit als Kanzler besondere Weichen für die Zukunft in Österreich – und zwar sowohl praktisch-politisch als auch aus geistig-moralischer Sicht. Als Politiker interessierte er sich für die ungelösten Themen seiner Zeit und setzte seine Entscheidungen mit Konsequenz durch. Darunter fand sich ebenso das offizielle Bekennen der Mitverantwortung der Österreicher für die Verbrechen während des Nationalsozialismus, wie die Entscheidung, den österreichischen EU-Beitrittsantrag nach Brüssel zu senden. Vranitzky war bekannt dafür, als Politiker Zeichen zu setzen. Es gelang ihm trotz der anhaltenden Diskussion um die Kriegsvergangenheit von Ex-Außenminister Kurt Waldheim, das Verhältnis zu Israel und den USA wieder zu normalisieren. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks war er auf die Intensivierung der Kontakte Österreichs mit den osteuropäischen Staaten fokussiert. Er entwickelte sich international zu einem Verhandler mit einem außergewöhnlich feinen diplomatischen Geschick.

Doch 1986 war ein Jahr, in dem auch international sehr viel geschah. Es begann damit, dass im Frühjahr in Deutschland erstmalig das Erziehungsgeld und der Erziehungsurlaub eingeführt wurden. Unterdessen schlug der russische Premierminister Michail Gorbatschow dem Westen vor, sämtliche Kernwaffen bis zum Jahr 2000 abzurüsten. Gorbatschow forderte darüber hinaus zwei wichtige Dinge in seinem eigenen Land: einerseits die Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit, bekannt unter dem Begriff »Glasnost«, und zusätzlich eine Umstrukturierung des politischen und wirtschaftlichen Systems Russlands unter dem Namen »Perestroika«. Diese beiden Schlagwörter wurden zu einer politischen Bewegung und galten viele Jahre als jene Begriffe, die dem Umbau der politischen Situation in Russland dienten und letztendlich der Demokratisierung des ganzen Landes. Währenddessen wurde in der Amtszeit von US-Präsident Ronald Reagan 1986 auch die Iran-Contra-Affäre enthüllt. Dabei ging es um geheime Waffenverkäufe der US-Behörden an die Guerilla-Bewegung der Contras in Nicaragua. Und in Bonn-Ippendorf wurde ein hochrangiger deutscher Beamter des Außenministeriums und Diplomat namens Gerold von Braunmühl von Terroristen der RAF vor seinem Haus auf der Straße bestialisch ermordet. In Vancouver, Kanada, wurde die Weltausstellung Expo 86 von Prinz Charles und Prinzessin Diana eröffnet, die Sowjetunion schoss die Raumstation Mir in die Erdumlaufbahn, und der französische Rennfahrer Alain Prost wurde zum zweiten Mal Formel-1 Weltmeister. Zu den Katastrophen des Jahres sind vielen unter uns noch die Explosion der Raumfähre Challenger mit sieben Astronauten an Bord sowie die Reaktorkatastrophe in der ukrainischen Stadt Tschernobyl im Gedächtnis. Unter den prominentesten Persönlichkeiten, die 1986 starben, befanden sich US-Schauspieler Cary Grant, der deutsche Operettentenor Rudolf Schock und der österreichische Schriftsteller Fritz Hochwälder.

All das geschah im Laufe des Jahres 1986. Es war also ein durchaus bewegtes Jahr mit vielen unterschiedlichen Höhen und Tiefen in der Politik, der Kultur und der Wirtschaft. Ein Jahr, das viele Menschen aufgrund dieser Ereignisse noch in Erinnerung haben.

Und dieses spannende Jahr war erst acht Monate alt, als Sebastian Kurz in Wien geboren wurde. Wien gilt für die meisten Menschen als Traumstadt mit einer märchenhaften Geschichte und vielen interessanten Herrschaftsbauten aus einer anderen Epoche. Kaiserlich-nostalgischer Flair trifft hier auf eine sehr kreative Kulturszene. Die Architektur der Habsburger prägt das Erscheinungsbild der Stadt: Prachtbauten aus allen Epochen lassen vergessen, dass es sich um die Hauptstadt der Republik Österreich handelt. Und dieses Erbe ist in ganz Wien präsent: in der Architektur, aber auch in der kulturellen Tradition. So kann man den Spuren der Kaiser in Schloss Schönbrunn folgen, der ehemaligen Sommerresidenz der Habsburger, ebenso wie in der Hofburg, die bis 1918 der Regierungssitz der Kaiser der Habsburgermonarchie war.

Doch nicht nur all diese Bauten aus einer imperialen Epoche machen Wien zu einer Stadt voller Schönheit und Kunst. Museen, Sammlungen und Kunstwerke von Weltrang sind hier zu bewundern. Dazu zählen auch das Kunsthistorische Museum mit der größten Sammlung an Bruegel-Gemälden sowie die Werke Gustav Klimts in der Österreichischen Galerie Belvedere und das Museumsquartier, das seit seiner Fertigstellung Mitte 2001 einer der größten, modernen Kulturkomplexe Europas ist, mit dem Leopold Museum, in dem die größte Schiele-Sammlung der Welt und die österreichische Moderne zu Hause sind.

Hinzu kommt, dass die mit Schokolade überzogenen Torten mit dem Namen »Sachertorte« unübertroffen sind, die gesellige Atmosphäre der Heurigenlokale (volkstümliches Wort für Weinstuben) unschlagbar ist und der Maler Gustav Klimt ebenso wie der Psychoanalytiker Sigmund Freud in der ganzen Stadt noch immer stark präsent sind.

Am Mittwoch, dem 27. August, waren Elisabeth und ihr Mann Josef Kurz sehr glücklich über die Geburt ihres Sohnes. Elisabeth ist eine Gymnasiallehrerin und Josef Kurz ein Feinwerktechniker bei Philips Österreich. Beide stammen aus Niederösterreich. Elisabeth Kurz wurde in der 130-Einwohner-Gemeinde Zogelsdorf im Waldviertel, dem Nordwesten von Niederösterreich, geboren. Ihre Familie besitzt dort einen wunderschönen Vierkantbauernhof, in dem ihre Mutter Magdalena Döller heute noch lebt. Magdalena Döllers Eltern waren das, was man heute gemeinhin als »Donauschwaben« bezeichnet: Ihr Vater, der Landwirt Michael Müller, und seine Frau Katharina Jäger heirateten im Jahr 1928 in Temerin und siedelten sich dort an. Die Stadt Temerin gehörte einst zu Jugoslawien, dem heutigen Serbien. Temerin war an das Eisenbahnnetz angeschlossen, begann sich deshalb industriell rasant zu entwickeln und zu einem der bedeutendsten Handelszentren der südlichen Bačka-Region zu werden. Doch im Oktober 1944 flüchtete Magdalena aus Temerin aufgrund der von der Spitze des »Dritten Reiches« gestarteten »Operation Heimatort« über die Grenze zurück nach Österreich. In Zogelsdorf lernte sie den Landwirt Alois Döller kennen und heiratete ihn, um mit ihm eine Familie zu gründen und in Niederösterreich in Ruhe und fernab der politischen Wirren in ihrem Heimatland zu leben.

Josef Kurz wiederum kommt aus Wetzleinsdorf im Weinviertel, dem Nordosten von Niederösterreich. Dort hatten seine Eltern ebenfalls einen Bauernhof. Josef ist ihr ältester Sohn, er hat noch fünf Geschwister. Josef war ein guter Schüler, er kam mit 14 Jahren in ein Knabenseminar nach Hollabrunn. Doch in diesem Internat der katholischen Kirche fühlte er sich nicht sehr wohl: »Ich habe die Ausbildung nicht lange verfolgt. Dafür gab es viele Gründe. Einer war wohl, dass ich Latein nicht mochte, und zweitens wollte ich immer eine Frau und eine Familie haben«, erzählt er heute. Deshalb wechselte er nach einem Jahr in die Höhere Technische Lehranstalt – HTL genannt – nach Mödling, rund 25 Kilometer von Wien entfernt, wo er Feinwerktechnik studierte und in einer kleinen Wohnung im Speckgürtel von Wien, in Maria Enzersdorf, lebte. Nach der Matura machte Josef seinen Zivildienst, danach begann er mit 22 Jahren bei Philips in der Breitenseerstraße im Bezirk Hütteldorf zu arbeiten. In diesem Philips-Werk wurden in den 1980er-Jahren die ersten Radiorekorder angefertigt.

An einem Wochenende knapp vor Weihnachten war die 16-jährige Elisabeth bei einer Freundin in Stockerau zu Besuch. Gemeinsam gingen die beiden Mädchen zu einer Tanzveranstaltung. Dabei lernte Elisabeth den 23-jährigen Josef kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Doch Elisabeth hatte noch ihre Internatszeit in der Berufsfachschule in Hollabrunn, die insgesamt vier Jahre dauerte, zu absolvieren. Fortan besuchte sie jedoch Josef in seiner Wohnung in Wien, die ziemlich zentral gelegen war. In dieser Garçonniere gab es »eine Eingangstüre mit Glasfenstern, eine schmale Einbauküche und einen Schrank, in dem sich eine Badewanne befand, die man herausklappen musste«. Dann war kein Platz mehr in dem kleinen Raum, erzählt Josef heute lächelnd. »Man hat Wasser eingelassen, und nach jedem Bad musste es mit einer Pumpe abgepumpt werden.« Im Zimmer stand das Bett mit dem Kopfende an der Wand, daneben stand ein Eiskasten – sozusagen als Nachtkästchen. »Es war ein lautes Nachtkästchen, denn in der Nacht schepperten die Flaschen, die ich darin gelagert hatte. Der Eiskasten vibrierte ständig.« Es gab auch keine Gasetagenheizung, sondern einen Ölofen. Mit einem kleinen Kanister ging Josef Kurz immer zu einer Tankstelle in der Nähe seiner Wohnung, um sich das Öl zum Heizen zu holen. Wenn sie bei ihm in Wien war, begleitete ihn Elisabeth.

Mit 19 Jahren maturierte Elisabeth und heiratete ihren Traummann. Sie begann ein Lehramtsstudium und spezialisierte sich auf Deutsch und Geschichte, während ihr Mann bei Philips als Techniker weiterarbeitete. Er verdiente nun das Geld für seine kleine Familie. Über Monate hielt Elisabeth Ausschau nach einer neuen, größeren Wohnung in Wien für sich und ihren Mann. Schließlich wurde sie in Meidling, einem damals jungen Wiener Bezirk, fündig. Die meisten Bewohner dieses Bezirks sind heute unter 40 Jahre.3 Doch der Anteil an ausländischen Bezirkseinwohnern ist für Wiener Verhältnisse gerade in diesem Landstrich extrem hoch: Ein großer Teil stammt aus Serbien, der Türkei, Polen und Rumänien sowie Bosnien und Herzegowina oder auch Syrien.4

Im Jahr 1977 wurden Josef und Elisabeth stolze Besitzer einer Wohnung beim Schönbrunner Tor im Arbeiterbezirk Meidling in einem fünf Stockwerke hohen Plattenbau mit vielen Stiegen, errichtet von einer Wiener Baufirma namens Mischek. »Wir hatten zu Beginn wenig Geld für Möbel«, sagte Elisabeth Kurz. Es ist das Los vieler junger Paare – auch heute noch. Daher kauften die beiden ihre ersten Kästchen bei Ikea, ein Bett borgten sie sich von Elisabeths Schwester aus, und einen Schrank mit einer Glasvitrine holten sie sich aus einem Nachlass ab. Eine Sitzgarnitur fürs Wohnzimmer erstanden sie später bei der Wiener Möbeltischlerei Wiesner Hager. »Diese Sitzgarnitur gibt es heute immer noch«, erzählt Elisabeth Kurz.

In dem neuen Wohnhaus machten sie die Bekanntschaft von acht weiteren Familien, die auch aus Niederösterreich hinzugezogen waren. Es sollten ihre ersten Freunde in Wien werden. Die jungen Pärchen luden sich gegenseitig ein. Josef und Elisabeth Kurz lebten nur wochentags in der Wohnung, an den Wochenenden waren die beiden wieder in Niederösterreich bei Elisabeths Eltern und halfen auf dem Bauernhof in der Wirtschaft aus.

Es dauerte zehn Jahre, bis die Wohnung endlich komplett eingerichtet war. Elisabeth wurde schwanger. Knapp vor der Geburt entschied sich Josef, einen großen, bunten Teppich für das Wohnzimmer zu kaufen. Die Nachbarn im Haus halfen alle mit, den schweren Teppich in die Wohnung ins obere Stockwerk zu tragen. Es gab keinen Lift im Haus. Der Transport war mühsam, auch Elisabeth half – hochschwanger – mit.

Und dann kam der Tag der Geburt. Es war Mittwoch, der 27. August 1986. Elisabeth erinnert sich: »Unser Kind war schnell da. Man hat ihn gewaschen und angezogen und mir gebracht. Und ich fand, er ist irrsinnig süß, obwohl er ein zartes Baby war.« Der neugeborene kleine Junge erhielt von seinen Eltern einen Namen, der zwar im deutschsprachigen Raum schon im Mittelalter gebräuchlich war, jedoch erst wieder in den 1990er-Jahren in Deutschland und danach auch in Österreich zu den am häufigsten vergebenen zählte, nämlich: Sebastian. Dieser Name leitet sich von der griechischen Stadt Sebaste ab und bedeutet so viel wie »der Erhabene«, »der Ehrwürdige«.

Fast wäre man versucht anzunehmen, dass den Eltern als Vorbild für die Namensgebung der Komponist Johann Sebastian Bach gegolten habe. Immerhin ist Österreich ein Land der Kultur, und Wien ist bekannt als die Hauptstadt der klassischen Musik mit 15.000 Veranstaltungen jährlich.5 Besonders auffällig erscheint es, dass gerade in dieser Stadt, in der Snobismus nichts Ungewöhnliches ist, die klassische Musik alle Menschen zusammenhält. Die Bewohner Wiens – egal ob wohlhabend oder nicht so wohlhabend – besuchen allesamt sehr gerne und auch oft klassische Konzerte. In diese berauschende, melodiöse Stadt der 1980er-Jahre wurde Sebastian Kurz also hineingeboren und so benannt, weil Elisabeth in Wahrheit einen Schüler in ihrer Klasse hatte, der ebenfalls so hieß und der sie zu diesem Namen inspiriert hatte. »Für mich war der Name Sebastian in den 1980er-Jahren der schönste Name, obwohl er zu dieser Zeit wirklich noch sehr selten war.«

Die Wohnung der kleinen Familie befand sich in unmittelbarer Nähe zur Politischen Akademie der Volkspartei in der Tivoligasse. Sebastians Eltern kamen fast täglich mit ihrem Sohn an dieser Kaderschmiede für die Bildungsarbeit im Bereich der politischen Parteien und der Publizistik vorbei, vor allem, wenn sie mit dem Kinderwagen zum Hintereingang des prunkvollen Schlosses Schönbrunn gingen.

Unterdessen entpuppte sich ihr Sohn als ein Baby, das auf der Überholspur fuhr. Denn Sebastian Kurz war in seiner Entwicklung anderen Kindern um Längen voraus. Während die meisten Babys mit zwölf bis 18 Monaten das Laufen erlernen, konnte Sebastian Kurz bereits mit zehn Monaten gehen und ab dann auch ständig in der Wohnung herumlaufen, wodurch er die ständige Aufmerksamkeit seiner Eltern forderte. Aber damit noch nicht genug: Die ersten kompletten Sätze sprach der kleine Sebastian Kurz bereits mit einem Jahr und stellte damit viele andere Kinder in den Schatten. Es waren keine Sprechversuche die er machte, sondern er sprach bereits ganze Sätze. »Das war enorm rasch vor allem für einen Buben.« Denn gerade Söhne, so sagen seine Eltern, seien meist langsamer als die Töchter.

Sebastian Kurz war als Kind ständig in Bewegung. Und er war außerdem bereits in seinen ersten Lebensjahren ein guter Zuhörer. Besonders wenn ihm die Eltern vor dem Schlafengehen Geschichten erzählten, dann war der kleine Junge regelrecht fasziniert: »Man musste ihm jeden Tag mindestens eine Geschichte vorlesen«, erzählt die Mutter. Wenn sie nicht da war, übernahm sein Vater Josef das Geschichtenerzählen. Mit einem dicken Buch ausgestattet, betrat er das Kinderzimmer, setzte sich ans Kopfende des Kinderbetts, sah seinem Sohn in die Augen, lächelte ihn an und begann eine Geschichte vorzulesen. Manchmal übersprang der Vater einige Seiten, um die Aufmerksamkeit seines Sohnes zu testen. Doch Sebastian Kurz ließ sich nicht düpieren, auch nicht von seinem Vater: »Er hat die Seiten, die ich nicht gelesen habe, einfach sofort reklamiert.«

Elisabeth und Josef sind beide extrem sozial denkende Menschen. Sie waren immer offen, sind sehr liberal, und sie wollten ihrem Kind nicht nur viel Liebe auf seinem Weg mitgeben, sondern vor allem Werte, aber auch viel Freiraum. Sie prägten ihn, was das Thema Zusammenhalt in der Familie betraf. Aber sie lehrten ihn auch, dass man sich anstrengen muss, um etwas zu erreichen. Und, dass jeder in seinem Leben einen Beitrag leisten muss. »Was ich bei der Kindererziehung empfehlen kann, ist, die Kinder einfach normal aufwachsen zu lassen. Das Kind zu betrachten, wie man sich selber betrachten würde«, erklärt Josef Kurz die Erziehungsweise in seiner Familie.

Irgendwie muss das Flair der Politischen Akademie in der Tivoligasse auf Sebastian Kurz mit der Zeit übergegangen sein. Und auch der Hang zur Politik scheint sich einerseits aus der Nähe zur Akademie, andererseits aus den vielen Gesprächen mit seiner Familie heraus entwickelt zu haben. »Als Geschichtslehrerin habe ich mich immer für Politik interessiert. Das war so zu der Zeit von Bruno Kreisky und das war auch danach so. Wir haben oft in der Familie über Politik gesprochen. Keine Klischees, sondern was uns auffällt und was unsere Meinung dazu ist«, erklärt Elisabeth Kurz. Sebastian lernte, dass die Politik, wie der Politologe Thomas Meyer klassisch formulierte, »die Gesamtheit der Aktivitäten zur Vorbereitung und zur Herstellung gesamtgesellschaftlich verbindlicher und/oder am Gemeinwohl orientierter und der ganzen Gesellschaft zugute kommender Entscheidungen«, ist.6

Er interessierte sich sehr für Politik, wollte aber nie Berufspolitiker werden, erklärte Sebastian Kurz Jahre später in einem Parteivideo.7

Doch nicht nur die Politik schien ihn zu begeistern, sondern vielleicht auch der Ruhe einflößende große Garten der Politischen Akademie, der sich auf über 40.000 Quadratmetern erstreckte und ein im Jahr 1887 erbautes kleines Schlösschen namens Springer Schlössl beheimatete. Dort konnte man seine politischen Gedanken schweifen lassen, mit anderen politikinteressierten Menschen diskutieren oder sich einfach nur im Grünen entspannen.

Sebastian Kurz erlebte eine unbeschwerte, schöne Zeit in den ersten Jahren seiner Kindheit, wie er selber gerne erzählt. Er besuchte mit drei Jahren den Gatterhölzl-Kindergarten in Wien Meidling. Das war ein Privatkindergarten mit einer wunderbaren Atmosphäre, mit einem schönen Garten und hochgewachsenen alten Bäumen, dem Sebastians Mutter vollends vertraute. Das Ambiente war hier besser und harmonischer als in vielen öffentlichen Kindergärten dieser Zeit.

Bei der Volksschule entschied sich Elisabeth Kurz für ein Institut in der Nähe ihres Gymnasiums. »Ich habe es aus praktischen Gründen ausgesucht, da Sebastian nach der Volksschule meist zu mir ins Gymnasium kam. Er rief mich von der Volksschule aus an und sagte, er wolle bei mir in der Klasse sein.« Aus diesem Grund meldete ihn seine Mutter vom Hort ab. In ihrer Schule gab es viele junge Lehrerinnen, deren Kinder auch – so wie Sebastian – am Nachmittag artig in der Klasse saßen und still und brav dem Unterricht der Gymnasiasten folgten und dabei ihre Aufgaben machten.

Sein Vater Josef versuchte seit Sebastians Geburt, diesen ein wenig in die Richtung zu beeinflussen, dass er auch Techniker werden sollte. Doch Josefs Mühe war vergeblich, obwohl er einige Tricks anwandte, um seinen kleinen Sohn zu überzeugen: So brachte er ihm beispielsweise Lego-Bausteine mit. Aber zu seinem großen Erstaunen ließ Sebastian Kurz seinen Vater die Steine zu den vorgegebenen Modellen vor seinen Augen einfach selbst zusammensetzen. Seine Mutter machte dieselbe Erfahrung mit ihm: »Wann immer ich mit Lego-Bausteinen oder mit dem Matador-Baukasten gekommen bin, musste ich basteln und bauen, und er hat mir minutenlang nur ruhig zugesehen, oder mir erklärt, was ich wie bauen sollte.«

Sebastian Kurz ging während seiner Schulzeit mehreren Hobbys nach. Er lernte, Klavier zu spielen. Das förderte seine Ausdauer und sein Durchhaltevermögen. Daneben besuchte er einen Judo-Unterricht, der ihn zum respektvollen Umgang mit seinen Kontrahenten und Mitstreitern erzog. Respekt und Fairness werden bei Kampfsportarten wie Judo und Karate großgeschrieben. Dies hat Sebastian enorm geprägt. Das ging so weit, dass er Jahre später diesen Grundsatz auch in der Politik anwenden würde. Außerdem lernte er, Tennis zu spielen, was seine Begeisterung für Bewegung und Spiel förderte. Darüber hinaus schulte die Sportart seine Konzentrationsfähigkeit in der gemeinsamen Interaktion mit einem Gegenüber.

Insgesamt betrachtet, bestätigen beide Eltern, dass Sebastian Kurz kein »schwieriges Kind« gewesen sei. Aus diesem Grund mussten sie auch nicht streng mit ihm sein. »Er ist meist spät schlafen gegangen, doch das haben wir ihm ohne Weiteres durchgehen lassen. Er durfte dafür nicht lange Computerspiele spielen. Aber das war nur eine kurze Phase, die er hatte, und das ist auch niemals bei ihm eskaliert«, sagt sein Vater.

Wenn man seine Eltern nach seinen charakteristischsten Eigenschaften befragt, sagen sie, dass er »sehr aufmerksam« sei und dass man »mit ihm immer über alles reden« könne. Man habe mit ihm auch nie große Konflikte gehabt, die sich über Tage oder Wochen hinzogen. Im Gegenteil. Als Kind sei Sebastian Kurz nicht nur sehr brav und folgsam, sondern laut seiner Mutter sei er vielmehr »ein liebenswürdiger Schlingel« gewesen.

Mit 14 Jahren wechselte Sebastian Kurz in die Sekundarstufe, die wenige Gassen von zu Hause entfernt in der Erlgasse lag. Dort steht das Gebäude des Bundes- und Realgymnasiums 1120 Wien (GRG LX12). Es ist ein Bau in L-Form mit einem fünfstöckigen Turm. Diese Sekundarstufe ist besonders bekannt für ihre bunt durchmischten Klassen, und sie bietet einen Unterricht mit besonderen pädagogischen Zielen. Darunter versteht man in der Erlgasse, dass »Lehrende und Lernende einander nicht als Gegner, sondern vielmehr als Partner mit unterschiedlicher Verantwortung sehen« und dass die »Meinungsfreiheit selbstverständlich und angstfreies Sprechen in jeder Situation möglich ist«. Aber auch, dass vorausgesetzt wird, dass »von keiner Seite Macht missbraucht wird«.8

Sebastians Vater gab seinem Sohn auf dem Weg zur Sekundarschule die Neugierde für die Welt der Technik und Wirtschaft mit, seine Mutter die Liebe zu Büchern und die Welt der Sprachen, aber auch, »dass man sich selber treu bleiben sollte und die Dinge macht, die zum Guten sind«. Mit waghalsigen Ideen hat er eher nichts am Hut, erzählt Sebastian Kurz später. »Ich habe durch sie gelernt, die Welt zu sehen und von ihnen mein Grundrüstzeug fürs Leben mitbekommen. Meine Eltern haben mir immer sehr viel Freiheit gegeben. Sie haben mich sehr liberal erzogen und mir die Möglichkeit gegeben alles auszuprobieren, aber auch mich gelehrt zu entscheiden, was ich in meinem Leben machen möchte. Sie haben mir weiters ein Wertefundament mitgegeben, für das ich heute sehr dankbar bin.« Er sei in einer sehr motivierten Klasse mit interessierten Schülern gewesen, umgeben von Lehrern, die es gewohnt waren, die Jugendlichen, so gut es eben geht, zu fördern.

»Es war insgesamt ein guter Jahrgang. Sebastian war ein sehr angenehmer, sehr ruhiger Schüler. Nichts konnte ihn erschüttern. Er konnte schon immer gut reden und hatte gute Manieren«, erinnert sich heute Martin Neubauer, sein Lehrer für Geschichte und Sozialkunde in der Maturaklasse, an ihn. Er sieht Kurz generell als einen Menschen, der alles aus Überzeugung macht, um etwas weiterzubringen. Nicht um Punkte einzusammeln, sondern vielmehr in der Überzeugung, dass das, was er denkt, der richtige und der überzeugende Weg sei. Neubauer freute, dass sich Sebastian Kurz für seine Fächer Geschichte und Sozialkunde interessierte und dass er ein Grundwissen besaß. Sebastian Kurz habe, als er ihn unterrichtete, fast ständig aufgezeigt. »Er war einfach gescheit.« Neubauer konnte nicht ahnen, dass sein Schüler einmal Bundeskanzler werden würde. Auch dann nicht, als Sebastian Kurz mit »Sehr gut« und einem Vorzug maturierte.

Seine Kollegin, die Biologie- und Physiklehrerin Regina Bitschnau, bemerkte schon früh einen »besonderen Ehrgeiz« beim jungen Sebastian Kurz. Dieser trat vor allem während der Projekttage, einer Lehrform, bei der die Schüler komplexe Aufgaben üben und zielorientiert und im Team handeln müssen, um auf die Anforderungen des Berufslebens vorbereitet zu werden, zutage. Bitschnau erinnert sich daran, dass Sebastian Kurz sehr aktiv und hoch motiviert ständig in der Klasse herumgesaust sei. Und, dass er viel gelacht habe. Er sei überhaupt »ein aufgeweckter, junger, intelligenter Mann« gewesen und habe zielgerichtet Situationen analysiert. Er hat sich für seine Mitschüler eingesetzt und war zeitweise Klassensprecher.

Kurz selbst wird in einem Interview mit dem Standard später auf die Frage, ob er auch rebelliert habe, sagen: »Dauernd. Meine ehemaligen Lehrer sind mittlerweile so freundlich zu sagen, dass ich ein interessanter Schüler war. Als ich noch Schüler war, hat sich das anders angehört. Ich hatte gute Noten, aber die Betragensnoten wären verbesserbar gewesen.«9

Regina Bitschnaus Kollege, der Chemie- und Physiklehrer Johannes Fuchs, beobachtete, dass Sebastian Kurz »einer war, der Initiative gezeigt habe«. In der Gruppendynamik zählte er zu jenen Kindern, die unaufdringlich, aber bestimmt auftraten, Situationen rasch erfassten und Ideen hatten, was man noch zusätzlich machen könne. Er sei »nie eine Rampensau« gewesen, sondern im Gegenteil ein »ruhiger, besonnener, zielbewusster, ehrlicher Mensch mit Rückgrat, der nie Auseinandersetzungen mit den anderen Klassenkameraden oder gar den Lehrern« gesucht habe. Eine Eigenschaft, die man später bei ihm auch in der Politik finden wird.

Dass genau diese Schule in der Erlgasse ihm seine ersten Erfahrungen mit dem Thema Politik ermöglichte, durch ihre Besonderheit und ihren Respekt den Menschen, der Meinungsfreiheit und dem Thema Macht gegenüber, ist ein weiterer interessanter Punkt. Dass Sebastian Kurz sich mit der Zeit stärker für Politik interessieren würde, sei laut Deutschlehrerin Irmgard Bauerstatter schon immer ein großer Traum von ihm gewesen. Man habe hinter vorgehaltener Hand in der Erlgasse sehr wohl davon gehört, dass er Kontakt zur Volkspartei gesucht habe, doch schließlich sei das »sein privates Ding gewesen«. Während des Unterrichts habe man davon nichts bemerkt.

Sebastian Kurz sei auch Mitglied einer Dreierbande gewesen: Andi, Markus und Sebastian seien ständig beisammen gewesen – auch in ihrer Freizeit. Die drei wohnten im selben Bezirk, nämlich in Meidling. Auch während des Unterrichts gab es ständig ein gewisses Wetteifern zwischen den drei Jungen. Sie habe gewusst, wenn sie eine Frage stelle, dann würden die drei sofort aufzeigen, erinnert sich Regina Bitschnau.

Die Schule in der Erlgasse ist in Wien seit Jahren dafür bekannt, einen sehr hohen Anteil an Ausländerkindern zu unterrichten. In der Klasse von Sebastian Kurz gab es Ende der 1990er-Jahre Kinder aus Polen, Kroatien, Österreich und Indien. Und es kamen auch Kinder aus Familien, die wegen des Krieges aus Bosnien geflüchtet waren, hinzu. Doch das störte Sebastians Eltern keineswegs, denn diese Sekundarstufe aus dem Bezirk setzt verstärkt darauf, den Schülern besonders eigenwillige Schulfächer wie Soziales Lernen, Reformpädagogik oder Hilfe in Krisensituation, wie etwa Lernstörungen, Ausgrenzung oder Probleme mit den Eltern, anzubieten. Das gefiel seinen Eltern und besonders seiner Mutter Elisabeth, die ja selber Pädagogin ist. Die Gymnasien in Österreich ebenso wie in Deutschland und der Schweiz setzen mit ihrem Programm in der Sekundarstufe ihren Schwerpunkt auf den theoretischen Unterricht und die Vorbereitung auf eine weiterführende akademische Ausbildung. Dorthin sollte es also gehen, Sebastian sollte einmal studieren.

Doch davor nahm er in der Schule an Theater- und Hörspielen teil, zwar nicht in einer tragenden Sprechrolle, sondern mehr im Hintergrund, aber immerhin. Sebastian Kurz machte mit, und so wurden in gewisser Weise schon in der Schule seine künstlerischen und kreativen Fähigkeiten gefördert.

Die Direktorin der Schule, Elfriede Wotke kennt Sebastian Kurz aus seiner Zeit als Schülervertreter. Sie erinnert sich daran, dass er schon damals eine besondere Merkfähigkeit hatte: »Was Sebastian Kurz auszeichnet, ist sein unglaubliches Gedächtnis für Personen, die er vielleicht einbis zweimal in seinem Leben gesehen hat. Die erkennt er auch wieder, und das ist beeindruckend.« Wotke arbeitete zur besagten Zeit auch in einer Lehrerorganisation: »Wir hatten immer wieder Schülervertreter in Jurys sitzen. Sebastian war einer von ihnen. Ich kann mich gut daran erinnern, wie gewissenhaft er mit Einreichungen der Lehrer umgegangen ist. Und er hat auch bei einer Veranstaltung die Laudatio für jene Kollegin, die ihn am meisten beeindruckt hat, gehalten. Dabei war er sehr souverän. Die Kollegin hat geweint vor Rührung.«

Unter der Woche ging Sebastian Kurz zur Schule, doch an den Wochenenden verließ die Familie immer wieder die Stadt, um nach Niederösterreich zu fahren. Im Waldviertel, in der Gemeinde Zogelsdorf, wo seine Großeltern mütterlicherseits auf einem Bauernhof lebten, da fühlte er sich sichtlich wohl. Sebastian Kurz liebte Tiere, und es schien fast ein Wink des Schicksals zu sein, dass es gerade auf dem Bauernhof seiner Großeltern besonders viele Tiere gab. Er verbrachte seine Schulferien meist auf diesem Bauernhof. Einmal brachte er einen Ziegenbock von einem Mann aus dem Nachbardorf mit. »Dieser Ziegenbock folgte Sebastian wie ein Hündchen die gesamte Strecke nach Hause nach Zogelsdorf. Dort durfte er dann im Innenhof leben, bis die Schulferien wieder vorüber waren. Dann haben wir den Ziegenbock wieder zu seinem ursprünglichen Besitzer zurückgebracht«, schildert die Mutter.

Wenn Sebastian Kurz mit seiner Cousine Marlene einen Flohmarkt besuchte, konnte es schon vorkommen, dass die beiden mit einem Meerschweinchen oder einem Hasen zurück zum Bauernhof kamen. Marlene war für Sebastian wie eine Schwester und seine engste Vertraute. Hatte die Familie einen ganzen Tag unter der Woche frei, dann fuhr sie ebenfalls nach Niederösterreich, und Sebastian ging dort mit seinem Vater einige Stunden lang Rad fahren.

Wieder zurück an der Schule in der Erlgasse gründete Sebastian Kurz in der siebten Klasse mit einigen seiner Schulkollegen im Rahmen des Wahlpflichtfachs Geografie eine Übungsfirma. Der Geschäftszweck ist einfach erklärt: Die Schüler betreuten gegen Geld Volksschulkinder, indem sie mit ihnen lernten, zusammen mit ihnen die Hausaufgaben machten und spielten. Sebastian Kurz war Marketingleiter und Geschäftsführer dieser Übungsfirma. Dieses Projekt wurde von ihm und seinem damaligen Team – seinen Schulkameraden – in der Klasse auch stolz präsentiert. Dazu hatte sich Sebastian einen schwarzen Anzug angezogen, und er trug eine orangefarbene Krawatte. Er hatte in kurzer Zeit rhetorisch alle Mitschüler in seinen Bann gezogen und bewiesen, dass er innerhalb des Projektes sehr gut gewisse Aufgaben an die Klassenkameraden delegieren konnte. Sein Klassenvorstand erinnert sich gerne an einen jungen Mann, der, wenn er für eine Idee eine Begeisterung entwickelt hatte, »alles sammelt, was dazu an Informationen nötig ist. Dann prüft er und dann erst, sucht er sich sein Team zur Realisierung der Idee, aus.« Für den Klassenvorstand war klar, dass Sebastian einmal in die Wirtschaft gehen würde. Für seine Kollegen war er eher der geborene Jurist oder Richter: korrekt und mit einem souveränen Auftreten gesegnet – so auch bei seinem Abitur. »Ich sah ihn in die Klasse kommen und dachte einfach nur: ›Wow, wie der auftritt!‹«, erinnert sich Regina Bitschnau.

Jugend im Interesse der Politik

Aus seinem steigenden Interesse an der Politik heraus und motiviert, sich mit einer Jugendorganisation innerhalb der Politik auseinanderzusetzen, rief Sebastian Kurz eines Tages bei der Meidlinger Volkspartei an und teilte dem Mitarbeiter am anderen Ende der Leitung mit, dass er »mitarbeiten wolle«. Einfach so. Hineinschnuppern in die österreichische Politik. Er war jetzt 16 Jahre alt. Wir schreiben das Jahr 2002. In Österreich ist Wolfgang Schüssel Bundeskanzler, ein Mann der christlich-konservativen Volkspartei (ÖVP). Er war Wirtschaftsminister und bis 1999 Vizekanzler, als er bei der Wahl kandidierte, aber der Sozialdemokrat Viktor Klima als Gewinner der Wahl und als Bundeskanzler zunächst in Koalitionsgespräche trat. Klimas Gespräche scheiterten jedoch. Und so einigte sich Schüssel mit dem Spitzenkandidaten der Freiheitlichen Partei (FPÖ) Jörg Haider, der bei der Wahl die stimmenstärkste zweite Partei anführte, auf eine ÖVP-FPÖ-Koalition.

Am 4. Februar 2000 wurde Wolfgang Schüssel Kanzler mit den rechtspopulistischen Freiheitlichen unter der von Jörg Haider nominierten Susanne Riess-Passer als Vizekanzlerin. Sie lösten damit die Große Koalition zwischen SPÖ und ÖVP ab. Doch die EU war erzürnt. Es kam zu diplomatischen Zerwürfnissen und internationalen Protesten, da durch Jörg Haider eine rechtspopulistische Partei in die Regierung aufstieg. Daraus resultierten internationale Sanktionen von 14 EU-Regierungen gegen Österreich. Im Jahr 2002 kamen interne Koalitionsdifferenzen innerhalb der Freiheitlichen Partei hinzu. Diese führten zu einem außerordentlichen Parteitag der Freiheitlichen in der steirischen Stadt Knittelfeld und zum Rücktritt der drei freiheitlichen Regierungsmitglieder Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer, Finanzminister Karl-Heinz Grasser und FPÖ-Klubobmann Peter Westenthaler. Die Koalition zerbrach nach nur zwei Jahren. Es folgten Neuwahlen im November des Jahres 2002. Österreich brauche eine »stabile Regierung«, sowie »Lösungen und nicht Machtkämpfe oder Machtkrämpfe«, forderte Wolfgang Schüssel.10 Er machte klar, dass es sein Ziel sei, den Kanzler zu stellen. Im November passierte dann das Unglaubliche: Die christlich-konservative Volkspartei unter Wolfgang Schüssel erzielte einen Rekordwahlgewinn mit 42,3 Prozent der Stimmen. Daraufhin erneuerte Schüssel die Koalition mit den Freiheitlichen.