See No Evil – Rache wird dich treffen - Allison Brennan - E-Book

See No Evil – Rache wird dich treffen E-Book

Allison Brennan

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Beschreibung

Wenn Mordfantasien wahr werden

Ein angesehener Richter wird grausam verstümmelt in seinem Haus aufgefunden. Seine Stieftochter Emily, die zum Zeitpunkt des Mordes zuhause war, gerät ins Visier der Ermittler - die Beweise sind erdrückend. Doch Staatsanwältin Julia Chandler, Emilys Tante, glaubt nicht an die Schuld ihrer Nichte. Um das zu beweisen, schreckt sie nicht mal davor zurück, Privatdetektiv Connor Kincaid anzuheuern, obwohl die beiden schon in der Vergangenheit aneinandergeraten sind. Und tatsächlich kommen die beiden einer ganzen Reihe ungelöster brutaler Verbrechen auf die Spur. Und der Killer ist noch lange nicht fertig ...

Der zweite Band der No-Evil-Trilogie von Allison Brennan erstmals als eBook. Intelligente Spannung und ein Ermittlerduo, bei dem die Funken fliegen.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


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Seitenzahl: 511

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Ähnliche


Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

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Danksagung

Über dieses Buch

Ein angesehener Richter wird grausam verstümmelt in seinem Haus aufgefunden. Seine Stieftochter Emily, die zum Zeitpunkt des Mordes zuhause war, gerät ins Visier der Ermittler – die Beweise sind erdrückend. Doch Staatsanwältin Julia Chandler, Emilys Tante, glaubt nicht an die Schuld ihrer Nichte. Um das zu beweisen, schreckt sie nicht mal davor zurück, Privatdetektiv Connor Kincaid anzuheuern, obwohl die beiden schon in der Vergangenheit aneinandergeraten sind. Und tatsächlich kommen die beiden einer ganzen Reihe ungelöster brutaler Verbrechen auf die Spur. Und der Killer ist noch lange nicht fertig ...

Über die Autorin

Allison Brennan ist fest überzeugt, dass das Leben zu kurz ist, um sich zu langweilen. Deshalb bekam sie fünf Kinder und schreibt drei Bücher im Jahr. Nachdem sie dreizehn Jahre lang als Justizberaterin in Kalifornien gearbeitet hat, hat sie nun schon mehr als drei Dutzend Thriller und romantische Thriller veröffentlicht und ist New-York-Times- und USA-Today-Bestsellerautorin. Heute lebt Allison Brennan mit ihrem Mann und ihren Kindern in Nordkalifornien.

Allison Brennan

See No Evil – Rache wird dich treffen

Aus dem Amerikanischen von Sabine Schilasky

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2007 by Allison Brennan

Published by Arrangement with Allison Brennan

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »See No Evil«

Originalverlag: Ballantine Books, New York

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Für die deutschsprachige Erstausgabe:

Copyright © der deutschen Übersetzung 2010 by Verlagsgruppe Random House GmbH

Verlag: Diana Verlag, München

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Projektmanagement: Johanna Voetlause

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven © Getty Images/ petrenkod; Getty Images/ ivandzyuba

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7325-9033-9

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für Gary und Karin Tabke

Prolog

Das junge Mädchen hatte eine Waffe in der Hand. Paul Judson sollte ihr erster Mord sein.

Robbie war der Fahrer und parkte zwei Häuser weiter, wo es dunkel war. Die Nummernschilder hatte er von seinem neuen schwarzen Truck abgeschraubt. Vor dem Haus stand Cami Schmiere. Falls jemand kam, würde sie sich um ihn kümmern. Was genau das heißen sollte, wusste Faye nicht, aber das musste sie auch nicht, solange Cami es tat. Angeblich stammte die Idee ja von ihr.

Faye wusste allerdings, dass Cami nicht der Kopf hinter dem Ganzen war. Vielmehr waren sie alle Marionetten in einem Puppenspiel, bei dem jemand anders Regie führte. Und sollten sie mit dieser Nummer hier durchkommen, ging es erst richtig los.

»Das wird leicht«, hatte Cami vorhin zu ihr gesagt. »Schieß ihm zwischen die Augen.«

Faye konnte Schusswaffen nicht leiden.

Jetzt begleitete Skip Faye zu der Tür und stand dann direkt neben ihr auf der Veranda, als sie klopfte.

»Ich kann das nicht«, sagte sie.

»Was?«

Skip sah panisch aus und blickte sich nervös zur Straße um. Offensichtlich war er besorgt, und dabei war er voll und ganz von dem Plan überzeugt gewesen, arrogant und selbstsicher, wie er war – wie so viele Jungs an ihrer Schule. »Jetzt kannst du nicht mehr zurück, Faye.«

»Ich mag solche Waffen nicht.«

»Was hat das denn damit zu tun?«

Sie gab ihm die Pistole und holte das Messer aus ihrer Tasche. Die rostfreie Stahlklinge blitzte im Licht der Verandalampe, als Faye sie in der Hand hin und her drehte. »Ich nehme das.«

»Sei nicht blöd«, sagte Skip.

Die Tür ging auf.

Faye umfasste den Messergriff und starrte in die Augen des Mannes, den sie töten sollten.

»Wer seid ihr?« Judson blinzelte. »Ich kenne euch nicht. Ihr seid nicht aus der Schule.«

Aber er rührte sich nicht.

Faye hob das Messer.

Sie hatten nachgeforscht und wussten, dass Judson extrem kurzsichtig war. Er sah das Messer nicht gleich, folgte jedoch Fayes Armbewegung mit den Augen.

Er begriff genau in dem Moment, als Skip ihm zwei Kugeln hintereinander ins Hirn jagte.

»Weg hier, Faye!« Skip steckte die Waffe ein. »Jetzt! Beeil dich!«

Sie schob ihr Messer wieder in die Tasche, während sie zum Auto zurückrannten. Dort sprang sie auf die Rückbank. Sie war in Sicherheit. Trotzdem hörte ihr Herz nicht auf zu rasen, als Robbie ruhig wegfuhr, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Der Mord war zu schnell, zu leicht gewesen. Peng, peng – und ein Mann war tot. Eine Kugel in jedes Auge, sodass seine Hirnmasse ins Zimmer hinter ihm spritzte.

Dabei hatte sie sein Blut fühlen wollen, es anfassen, schmecken.

Sie hasste Schusswaffen.

Und eines Tages würde Faye ihr Messer bei jemand anderem als sich selbst benutzen.

1

Wie würdest du ihn töten?

Ich weiß nicht.

Denk nach. Er hat dir wehgetan. Er hat dich gezwungen, ihn anzufassen, und dich erniedrigt. Du musst doch wollen, dass er dafür bezahlt.

Ja, aber ...

Du würdest ihn nie wirklich umbringen, das weiß ich. Aber du musst deine Wut überwinden, sie herauslassen. Du kannst dich nur von ihm befreien, indem du ihn dir in einer Situation vorstellst, in der er keinerlei Macht über dich hat. Stell dir den einen Menschen auf der Welt vor, den du am meisten hasst. Kannst du das?

Ja.

Wie sieht er aus?

Er sitzt an seinem Schreibtisch.

Und du kommst rein ... Was sagt er zu dir?

»Komm her. Knie dich hin. Sofort!«

Was machst du?

Ich geh hin. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, sonst schicken sie mich wieder weg ... Ich habe schon auf der Straße gelebt und war schon im Jugendknast. Das ist schlimmer, als ihm den Schwanz zu lutschen.

Stell dir vor, du gehst auf den Schreibtisch zu. Und dieses Mal wirst du Nein sagen. Dieses Mal lässt du ihn dafür bezahlen, dass er dich betatscht und dich gezwungen hat, ihn anzufassen. Wie?

Ich will, dass er erfährt, wie sich das anfühlt.

Und?

Ich will ihm den Schwanz abschneiden und ihn ihm ins Maul rammen. Soll er ihn doch lutschen!

Gut. Sehr gut. Jedes Mal, wenn du wütend oder traurig bist, stell dir vor, wie er an seinem Penis erstickt. Das ist der erste Schritt, um die Wut und den Zorn loszuwerden. Der erste Schritt, alles zu überwinden und normal zu werden.

Ich werde nie normal sein.

Emily Chandler Montgomery würde nie normal sein.

Ihren VW-Käfer in Leerlauf geschaltet, saß sie da und starrte auf das Haus, das bedrohlich vor ihr aufragte. Sie wollte nicht einmal die Einfahrt hinauf und in die Garage fahren, die sie verschlang und nicht wieder freiließ. Wie sie es hasste, nach Hause zu kommen!

Nach Hause. Was für ein Witz! Sie hatte kein Zuhause, nicht mehr, seit ihr Vater gestorben war. Alles, was sie hatte, war ein Haus mit vielen Zimmern, von denen sie in keinem willkommen war, außer oben in ihrem kleinen Versteck.

Aber wo sollte sie sonst hin? Sie war schon einmal weggelaufen, und das hatte nicht funktioniert. Auf der Straße zu leben war unmöglich, vor allem für ein verwöhntes, reiches Kind wie sie.

Zumindest hatte ihr Seelenklempner ihr das gesagt.

Und ein bisschen – mehr als nur ein bisschen – stimmte es sogar. Sie wollte nicht auf der Straße leben und ihren Körper verkaufen. Ihr blieben also exakt zwei Möglichkeiten: auf den Strich gehen oder unter der Brücke schlafen. Emily mochte ihr Zimmer, das große Bad, den riesigen Swimmingpool, in dem sie schwimmen konnte, bis ihr die Arme wehtaten und sie nach Luft japste. Und sie mochte die Klamotten in ihrem Kleiderschrank, das Essen, das Dach über dem Kopf.

Wenn Victor doch nur weg wäre, könnte sie ohne Angst in diesem Schloss wohnen. Warum hatte ihre Mutter Richter Victor Montgomery überhaupt geheiratet? Er war schon ein Kotzbrocken, als sie zusammen ausgingen, und inzwischen war er noch schlimmer: ein Lügner und Heuchler.

Ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich hasse dich!

Sie trommelte mit den Fäusten aufs Lenkrad ein, bis ihre Hände schmerzten. Der rasende Zorn in ihr brachte ihre Ohren zum Glühen und trübte ihr die Sicht. Sie wollte am liebsten etwas kaputtmachen, aber die Worte ihres Therapeuten rangen mit der Wut.

Atme tief ein. Noch mal. Atme langsam wieder aus. Konzentrier dich auf deinen friedlichen Ort. Stell dir eine leere Leinwand vor. Jetzt mal deine Oase, den Ort, an dem du dich sicher fühlst. Mal ihn auf die Leinwand in deinem Kopf. Und bring dich selbst dahin, in dein Bild.

Emily ließ die Kupplung los und fuhr langsam in die Garage. Sie stellte sich vor, sie würde mitten im Meer treiben, wo nichts um sie herum war. Das Meer war ruhig, friedlich, das Wasser leuchtend blau, der Himmel orange, rot und violett in der untergehenden Sonne.

Ihre Oase.

Als Emily ihren Wagen neben Victors Jaguar parkte, verschwand ihr sicherer Ort. Sie hielt ihre Schlüssel in der Hand und überlegte, seinen kostbaren Sportwagen damit zu zerkratzen. Aber sie wüssten, dass sie es war, und würden sich etwas ausdenken, um sie zu bestrafen. Womöglich noch ein Wochenende im Jugendknast. Im Geiste hörte sie ihre Mutter mit strenger und kalter Stimme sagen: »Es ist nur zu deinem Besten, Emily. Mit deinem Benehmen hast du die Familie schon wieder in eine peinliche Situation gebracht.«

Wenn du wütend wirst, überlässt du deinen Feinden die Kontrolle. Hol tief Luft. Stell dir vor, diejenigen, die dich quälen, kriegen, was sie verdient haben. Gerechtigkeit für dich und für alle anderen, denen es geht wie dir. Schreib darüber. Rede darüber. Mach dich frei davon. Wenn du die Gefühle in dir einsperrst, gewinnt die Wut. Dann gewinnt dein Feind.

Lass ihn nicht gewinnen.

Emily holte tief Luft. Einmal. Noch einmal. Das Licht, das durch die Fenster an der anderen Seite der Garage hineinfiel, schien sich verändert zu haben. Wie lange saß sie schon in ihrem Auto? Sie sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Halb sechs? Eine volle Stunde? Das konnte doch nicht sein.

Sie holte ihr Handy aus der Tasche und sah auf die Zeitanzeige. Tatsächlich halb sechs.

Es war nicht das erste Mal, dass sie bei dem Versuch, ihre Wut zu kontrollieren, vollkommen die Zeit vergaß. Sie nahm ihren Rucksack und verließ widerwillig die Sicherheit ihres kleinen Wagens. Es war Mittwoch, was bedeutete, dass ihre Mutter erst spät nach Hause kam. Mittwoch, Mittwoch ... ja, genau – mittwochs plante sie ihre jährliche Wohltätigkeitsauktion. Dieses Jahr waren es Welpen und kleine Katzen. Letztes Jahr waren es Kinder gewesen. Jedes Jahr war es eine andere gute Sache, die Vorrang hatte. Eine gute Sache, die wichtiger war als ihre Tochter.

Die einzige Zeit, in der Emily glaubte, dass ihre Mutter sich tatsächlich für sie interessierte, war das Jahr gewesen, in dem sie für junge Ausreißer sammelte. In dem Jahr verbrachte sie Zeit mit Emily, aber das war alles bloß Show gewesen. Sie war nur das Kind auf dem Plakat, und die Tränen und die Vergebung waren bloß gespielt. Sie galten den Kameras und den Gesellschaftsseiten, und sie sollten Richter Victor Montgomery helfen, wiedergewählt zu werden.

Crystal Montgomery interessierte sich nicht für ihre Tochter, und Emily wünschte sich fast, deshalb nicht mehr traurig zu sein. Leider konnte sie das nicht. Manchmal fragte sie sich, ob sie jemals wirklich eine Mom gehabt hatte. Vielleicht waren die Erinnerungen daran, wie sie zusammen am Strand spazieren gingen, mit Barbiepuppen spielten und Kekse buken, nur Träume. Jene Zeiten schienen so weit weg, dass Emily nicht sicher war, ob sie manches vielleicht nur erfunden hatte, um die Abende durchzustehen, an denen ihre Mutter nicht zu Hause war.

Dreizehn Monate noch, dann konnte sie fortgehen und allein leben. Dann gehörte der Treuhandfonds rechtmäßig ihr, und sie war nicht mehr von ihrer Mutter und Victor abhängig.

Dreizehn Monate. Sie betete, dass sie so lange überlebte. Nicht, dass sie Angst hatte, Victor könnte sie umbringen. Sie fürchtete sich eher vor sich selbst.

Sie schloss das riesige Garagentor mit der Fernbedienung und ging zur Seitentür, durch die man zu einem überdachten Weg gelangte. Das Haus war gigantisch groß, viel größer, als es für sie drei nötig gewesen wäre. Aber Crystal und Victor empfingen hier, was hieß, dass sie ein repräsentatives Haus brauchten, dessen Riesenräume sie mit Leuten füllen konnten, die genauso gekünstelt waren wie sie.

Merkwürdig, als ihr Vater noch lebte, war Emily das Haus nie so unheimlich groß vorgekommen, obwohl sie da noch viel kleiner war. Aber mit ihrem Dad war alles ein Spiel gewesen. Sie hatten Matchbox-Autos durch die langen Marmorflure flitzen lassen, in den unzähligen Zimmern Verstecken gespielt und waren das Geländer der geschwungenen Haupttreppe heruntergerutscht.

Der Spaß starb mit Dad.

Emily betrat das Haus durch den Nebeneingang, den die Haushaltshilfe gemäß Victors Anweisung zu benutzen hatte. Keine der Haustüren wurde mit einem Schlüssel geöffnet. Das wäre gewöhnlich. Emily tippte den Sicherheitscode in das Schaltbrett an der Wand ein, und die Tür sprang auf. Drinnen war es kühl, was sowohl die Temperaturen als auch die Einrichtung betraf. Ihre Mutter ließ das Erdgeschoss alle zwei Jahre von einem Innenarchitekten umgestalten. Letztes Jahr wollte sie alles nach Ozean aussehen lassen, und so waren die Räume ganz in Blau- und Grüntönen gehalten. Über versteckte Lautsprecher erklangen dazu künstliche Wellengeräusche, wenn ihre Mutter zu Hause war.

Kein Wellenrauschen, keine Mutter.

Emily wartete darauf, dass die Gegensprechanlage summte. Jede einzelne Nervenzelle in ihrem Körper war in Alarmbereitschaft. Victor war zu Hause, denn sein Jaguar stand in der Garage. Natürlich war er zu Hause, schließlich war Mittwoch. Ihre Mutter war weg, das Personal hatte seinen freien Abend, und Emily musste zu Hause sein, jeden Tag bis spätestens sechs Uhr. Das war gerichtlich angeordnet.

Zum Teufel mit der Ausgangssperre! Zum Teufel mit der Polizei. Zum Teufel mit dem ganzen Scheißsystem.

Und zum Teufel mit ihr, weil sie so blöd gewesen war, in einem Gericht zu randalieren. Was hatte sie sich dabei gedacht? Nichts natürlich. Genauso wenig wie beim Ausreißen. Alles bloß Gefühle, planlos. Emily konnte ihre Wut nicht in den Griff bekommen, und dafür bezahlte sie jetzt. Vielleicht hatte sie es nicht anders verdient.

Die Gegensprechanlage blieb stumm. Ihr Stiefvater zitierte sie nicht in sein Arbeitszimmer. Sie zog ihre Sandalen aus, um lautlos über den Marmorboden zu tapsen. Langsam schlich sie den langen, breiten Korridor zur Diele entlang und wartete auf das verräterische Klicken der Sprechanlage, dem Richter Montgomerys tiefe, widerliche Stimme folgen würde.

Emily, komm bitte in mein Arbeitszimmer.

Nichts. Stille.

Möglicherweise telefonierte er. Oder er hatte nicht auf das Sicherheitssystem geguckt und nicht mitgekriegt, dass sie nach Hause kam. Oder aber er hatte sich aufgehängt. Das wäre zu schön, um wahr zu sein.

Sie stieg die große Treppe hinauf. Ihr Herz raste, und je weiter sie nach oben kam, umso schneller lief sie. Frei! Sie war frei. Sie konnte sich in ihr Zimmer einschließen, weil er es nicht wagte, ihr dort hinein zu folgen. Es musste immer in seinem Arbeitszimmer, an seinem Schreibtisch sein. In seinem Reich.

Grinsend verriegelte sie die Tür hinter sich, sprang auf ihr Bett und hüpfte wie ein kleines Kind darauf herum. Dann ging sie in ihr Bad und ließ sich Wasser in die Wanne ein, ganz heiß und mit viel Schaum.

Alkohol war ihr verboten; nicht nur, weil sie minderjährig war, sondern auch als Teil der Bewährungsauflagen vom letzten Jahr. Sie war betrunken gewesen, als sie im Gericht wütete. Aber sie hatte eine Flasche dunklen Rum in ihrer Kommode versteckt, die sie regelmäßig an Victors Bar auffüllte.

Sie musste einfach etwas haben, um seinen fiesen Geschmack aus ihrem Mund und ihrem Kopf zu spülen.

Jetzt jedoch trank sie, weil sie Grund zum Feiern hatte. Sie feierte, dass sie sicher in ihrem Zimmer eingeschlossen war und in Ruhe gelassen wurde.

Unten saß Victor Montgomery in seinem Schreibtischstuhl, tot. Sein blutiger Körper war entsetzlich verstümmelt.

2

Ein Mord sowie ein möglicher Selbstmordversuch.

Detective Will Hooper arbeitete allein an dem Fall, denn seine Partnerin Carina Kincaid machte mit ihrem Verlobten Urlaub. Natürlich hatte Carina ihren Urlaub mehr als verdient, aber sie fehlte Will. Er tauschte gern Ideen und Theorien mit ihr aus. Die beiden waren ein Spitzenteam.

Und die Gewalt machte keinen Urlaub.

Er kam gleichzeitig mit dem Leiter der Kriminaltechnik, Dr. Jim Gage, am Tatort an. Bei Verbrechen wie diesen wurden die ganz schweren Geschütze aufgefahren.

Das Mordopfer war ein Richter, Victor Montgomery, was bedeutete, dass sich sofort die Politiker und sonstigen hohen Tiere in den Fall einmischen würden. Und sobald die Presse Wind davon bekam, würden sie hier in Scharen einfallen und den Tatort zertrampeln. Fürs Erste allerdings waren sie nur zu sechst: die beiden Officers, Gage mit seinen zwei Technikern und Will.

Ein weiblicher Teenager, Emily Montgomery, war ins Krankenhaus gebracht worden. Anscheinend ein versuchter Suizid. Will wollte keinerlei Vermutungen anstellen, obwohl sie offensichtlich getrunken hatte – reichlich sogar – und die Polizisten, die auf den Notruf reagierten, eine halb leere Flasche Xanax fanden. Im Krankenhaus würden sie ihr den Magen auspumpen. Danach konnten die Ärzte sagen, ob sie tatsächlich versucht hatte, sich umzubringen.

Die Tatsache, dass Richter Montgomery gerade Herman Santos zum Tod durch die Giftspritze verurteilt hatte, durfte nicht außer Acht gelassen werden. In San Diego war Santos das, was einem Mafiapaten am nächsten kam, und das Urteil erfolgte aufgrund seiner Beteiligung an einer drei Jahre zurückliegenden, an eine Hinrichtung erinnernde Ermordung zweier Polizisten.

»Warum erfuhren wir nichts von dem Mädchen, als der Notruf einging?«, fragte Gage Will, als sie sich draußen in der Zufahrt trafen. Eine breite Treppe führte von dort aus zu einer großen Flügeltür hinauf, die jetzt weit offen stand und von zwei Uniformierten bewacht wurde. Selbst am späten Abend war es noch so warm, dass Will sein Jackett im Auto ließ.

»Die Ehefrau hat die Leiche ihres Mannes gefunden, als sie von einer Veranstaltung zurückkam. Sie lief zu den Nachbarn und rief dann von dort aus die Polizei an, sagte aber nichts über ihre Tochter. Diaz fand das Mädchen oben.« Will winkte Diaz zu. »Schön, dass du wieder dabei bist.«

Officer Diaz zeigte ein schiefes Lächeln. »Seit zwei Tagen zurück im Dienst, und endlich fühle ich mich wieder wie ein Mensch.« Im letzten Monat war Diaz im Dienst von einem Gangmitglied angeschossen worden, für das es eine Art Aufnahmeprüfung gewesen war, auf einen Cop zu feuern. Zum Glück überlebte Diaz den Anschlag und durfte seit Kurzem wieder arbeiten.

»Was ist mit dem Mädchen passiert?«, fragte Gage, der zu den oberen Fenstern hinaufsah.

Diaz schaute in seine Notizen und räusperte sich. »Wir kamen um 22:14 Uhr am Tatort an, neun Minuten nachdem der Notruf einging. Wir sind einmal um das Haus herum, haben versucht reinzukommen, aber die Tür war gesichert. Dann kam Mrs. Crystal Montgomery aus dem Nachbarhaus«, er zeigte nach Norden, »und ließ uns mit ihrem Sicherheitscode rein. Sie blieb im Wohnzimmer, während wir das Erdgeschoss überprüften, wo wir den Toten fanden.« Als Diaz zu Will und Gage aufsah, war er ein bisschen blass. »Das war kein schöner Anblick.«

Gage bedeutete ihm fortzufahren. Sie rechneten ohnehin nicht mit einem angenehmen Tatort.

Diaz sagte: »Wir fragten, ob sonst noch jemand zu Hause wäre, und da sagte uns Mrs. Montgomery, dass ihre sechzehnjährige Tochter Emily eigentlich zu Hause sein müsste.«

Will unterbrach ihn. »Was für einen Eindruck hat sie dabei gemacht?«

»So, als würde es ihr in dem Moment erst einfallen.«

Ihre Tochter war ihr erst in dem Moment eingefallen? »Und dann?«

»Wir haben die Mordkommission angerufen und das Haus abgesucht. Oben haben wir an ihre Tür geklopft, die verriegelt war, und als sich drinnen nichts rührte, haben wir die Tür aufgebrochen. Sie lag im Bademantel neben ihrem Bett, bewusstlos. Wir vergewisserten uns, dass sie noch lebte, riefen den Notarztwagen und haben ihre Vitalfunktionen geprüft, die ziemlich schwach waren. Im Zimmer roch es nach Alkohol, und wir fanden eine leere Halbliterflasche im Bad neben der Wanne. Die Wanne war feucht, und auf dem Boden lagen benutzte Handtücher sowie eine Flasche mit einem verschreibungspflichtigen Medikament.«

»Was habt ihr angefasst?«

»Außer Emily Montgomery – ach ja, und wir haben die Decke von ihrem Bett genommen, um sie warm zu halten – haben wir gar nichts angefasst. Im Zimmer des Mädchens war Blut, aber sie hatte keine sichtbaren Verletzungen.«

Gage sagte: »Ich schicke einen meiner Leute ins Krankenhaus, um die Beweise zu sichern.«

»Wo ist Mrs. Montgomery jetzt?«, fragte Will.

»Immer noch im Wohnzimmer.«

»Danke, Diaz.«

Nachdem Will und Gage ins Haus gegangen waren, wies Gage einen Techniker an, alle Eingangstüren und Fenster zu überprüfen. Die andere Technikerin folgte Will und Gage mit einer Kamera, um den Tatort zu fotografieren.

Richter Montgomery hatte ein sehr großes Arbeitszimmer mit hoher Decke, das dunkel und elegant wirkte. Exakt die Art von dezenter Eleganz, die man bei einem geachteten Juristen erwartet. Ein Schreibset, eine kleine Uhr und ein Foto seiner Frau standen auf seinem riesigen Schreibtisch, der ansonsten tadellos aufgeräumt war.

Der dicke weiße Teppich war über und über mit Blut bespritzt, und ein breiter roter Streifen bedeckte Richter Montgomerys Brust, die jedoch keine sichtbare Wunde aufwies. Seine Augen waren offen, glasig und leer. Getrocknetes Blut klebte an seinem geschwollenen Mund, auf seinem Gesicht und in Klecksen im ergrauenden blonden Haar. Auch die Bücherregale hinter ihm waren rot bespritzt.

Gage ging um den Schreibtisch herum, blieb abrupt stehen und starrte nach unten. Sogleich trat Will zu ihm. Als er ihm über die Schulter sah, wurde er kreidebleich.

Montgomerys Hose und Boxershorts waren bis zu den Knöcheln heruntergeschoben, die Beine gespreizt und sein Schritt eine einzige blutige, klaffende Wunde. Man hatte ihm den Penis auf brutalste Weise entfernt, sodass Muskel- und Hautgewebe in Fetzen herunterhing.

»Heilige Scheiße!« Unwillkürlich griff Will sich in den Schritt.

»Keine Angst, Alter, deine Ausstattung ist noch da«, sagte Gage mit einem zynischen Grinsen. »Nur dem Richter ist seine abhandengekommen.« Gage schaute sich die Wunde genauer an, wobei er sich so hinstellte, dass seine Kriminaltechnikerin Fotos aus verschiedenen Winkeln machen konnte. »Guck dir das hier mal an. Siehst du die Riffelung?«

Will schluckte und versuchte sich auf die Stelle zu konzentrieren, auf die Gage zeigte.

»Nein.« Alles, was Will sah, war eine breiige Masse.

»Das sieht nach etwas Scharfem aus«, sagte Gage. »Eine Doppelklinge, wie bei einer starken Schere.«

»Man kann einen Schwanz mit einer Schere abschneiden?«, fragte Will ungläubig.

»Wenn sie scharf genug ist. Und die muss es gewesen sein, denn offenbar genügte ein Schnitt.«

Das waren mehr Informationen, als Will haben wollte, vor allem solange er gleichzeitig auf das Resultat blickte.

Will sah sich nach dem fehlenden Organ um. »Hat der Täter ihn mitgenommen?«

»Guck mal in seinen Mund.«

Montgomerys Penis war ihm in den Hals gerammt worden. Sein Mund war nicht geschwollen – er war voll.

»Siehst du die breiten Spritzer vom Arterienblut?« Gage deutete auf die langen Blutlinien auf dem Schreibtisch, dem Boden und dem Körper des Opfers. »Diese Reichweite und Stärke weist darauf hin, dass das Blut noch zirkulierte. Er hat also während der Amputation noch gelebt. Das sind Blutspuren, wie wir sie bei Teilenthauptungen oder Stichverletzungen an Hauptschlagadern bekommen.«

»Aber ihm wurde weder die Kehle durchgeschnitten noch ins Herz gestochen.«

»Stimmt. Ich vermute, dass Richter Montgomery gerade Sex hatte, als ihm der Penis entfernt wurde. Aber Genaueres weiß ich erst nach der Autopsie. Ein schlaffer Penis lässt sich wie Gummi durchtrennen. Hier jedoch war ein ziemlich kräftiger Schnitt nötig, bis die Schere durch den Muskel war, also würde ich davon ausgehen, dass der Penis erigiert war.«

Will ertrug normalerweise die brutalsten Verbrechensschauplätze, indem er sich auf seine Professionalität besann. Dieser hier war allerdings ganz besonders grauenhaft und ungewöhnlich. Er war froh, dass seine Partnerin nicht dabei war und das sah. Und zwar nicht, weil sie Schwierigkeiten mit dem vielen Blut hätte, sondern weil sie wahrscheinlich monatelang Peniswitze reißen würde.

»Kein Kerl sitzt still da und lässt sich den Schwanz abschneiden«, sagte Will. Der Richter war körperlich fit, groß, und wies keine Merkmale von Fesselung auf.

Gage schritt vorsichtig um den Stuhl herum und sah sich die Bücherregale an. »Blair«, wandte er sich an seine fotografierende Assistentin, »hol mir bitte mal meine Ausrüstung aus der Diele und das Schwarzlicht und einen hochempfindlichen Film aus dem Van. Ich will hier alles mit Luminol absprayen. Ich glaube, ich weiß, was passiert ist.«

»Und?«, fragte Will. »Was glaubst du, was passiert ist?«

»Komm mal her.«

Gage stand auf der anderen Seite des Stuhls. »Siehst du den Unterschied zwischen den Blutspritzern auf meiner und denen auf deiner Seite?«

»Auf dieser Seite sind keine. Als hätte hier jemand gestanden.«

»Genau. Und jetzt sieh dir Montgomerys Hemd an.«

Der Kragen war offen und nahezu blutfrei. »Verstehe.« Will stellte sich hinter den Stuhl. »Jemand hielt ihn von hinten fest, indem er ihm die Arme um den Hals schlang. Und ein anderer führte den Schnitt aus.«

»Deshalb haben wir dieses Muster. Nur wieso war er erregt? Wenn das eigene Leben auf dem Spiel steht, denkt man an alles Mögliche, nur nicht an Sex«, überlegte Gage laut. »Sie könnten ihn erst festgehalten und ihm dann die Hosen runtergezogen haben.«

»Oder aber er hatte gerade Oralsex, als der Täter kam«, mutmaßte Will und runzelte die Stirn. »Dann wäre die Frage, wo ist die Frau? Ein Mörder lässt eine potenzielle Zeugin nicht einfach zur Tür rausmarschieren. Sie ist entweder tot oder eine Komplizin.«

Gage sagte nichts, sondern blickte zur Decke hinauf. »Sehen wir mal nach, wie viel Blut oben ist.«

»Die Tochter? Das ist krank!«

»Die Stieftochter.«

»Das ist trotzdem krank.« Will schüttelte den Kopf. »Zeitpunkt des Todes?«

Gage sah wieder auf die Leiche. »Weniger als sieben, mehr als vier Stunden.«

»Also zwischen halb vier und halb sieben. Das ist ein ziemlich großes Zeitfenster.«

»Der Gerichtsmediziner ist unterwegs. Er kann die Todeszeit näher eingrenzen. Wir sind immer noch im Zwölf-Stunden-Fenster.« Je eher eine Leiche entdeckt wurde, umso genauer ließ sich bestimmen, wann der Tod eingetreten war.

»Santos wurde letzte Woche verurteilt«, sagte Will. Allein den Namen des Polizistenmörders auszusprechen war ihm zuwider.

»Daran hatte ich auch schon gedacht. Santos hat genug Leute auf seiner Gehaltsliste, die eine solche Nummer abziehen würden.«

»Ich weiß nicht. Entspricht eine Kugel in den Schädel nicht eher seinem Stil?«

»Das ist nicht mein Fachgebiet. Ich sammle die Beweise, du findest raus, wer es getan hat. Aber«, fuhr Gage fort und sah Will an, »Santos könnte damit irgendeine Botschaft übermitteln.«

»Ich rede mal mit ein paar Jungs von der Streife, ob irgendwas im Umlauf ist.« Will überlegte. »Aber ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass er so eine Aktion befiehlt.«

Als Gages Assistentin zurückkam, wies er sie an, weiterzufotografieren und schon mal anzufangen, den ganzen Tatort virtuell nachzubauen. Seit letztem Jahr verfügte Gages Abteilung über ein hypermodernes Forensikprogramm, für das eine einmalige Budgeterhöhung bereitgestellt worden war. Es war doch immer wieder erstaunlich, dass das Labor jeden Penny dreimal umdrehen musste, wenn es um gängige Materialbestellungen ging, und dass die Gehälter in den letzten Jahren nur minimal angehoben worden waren, die Abteilung jedoch in der Lage war, ein Millionen-Dollar-Computersystem anzuschaffen, einfach weil die zuständigen Politiker das für angebracht hielten.

»Ich komme gleich wieder, um alles mit Schwarzlicht zu untersuchen, sobald wir oben fertig sind.«

Gage und Will bewegten sich vorsichtig aus dem Zimmer, um keine Beweise zu vernichten. »Wieso sind hier keine Blutstropfen?«, fragte Gage. »So nahe, wie die Mörder dem Opfer waren, müssten sie getropft haben.«

»Vielleicht hatten sie sich extra etwas übergezogen und es abgelegt, ehe sie wieder gingen.«

»Das hieße, dass es geplant war.«

»Vorsätzlicher Mord gibt eine sehr viel längere Strafe«, sagte Will.

Unten an der Treppe prangte ein blutiger Handabdruck auf dem Holzgeländer.

Will und Gage gingen weiter nach oben zu Emily Montgomerys Zimmer und sahen sich auf dem Weg dorthin sorgfältig überall um. Die Marmorstufen waren mit azurblauem Teppich ausgelegt, der zum Ozeanlook passte, in dem das ganze Haus dekoriert zu sein schien. An den Kanten zwischen Teppich und Marmor fanden sich mehrere Tropfen getrockneten Bluts. Zwei weitere waren weiter oben. Ein zweiter, etwas blasserer und verschmierter Handabdruck war hier im Teppich, etwas links von der Stufenmitte.

»Da scheint nicht besonders viel Blut zu sein«, bemerkte Will, »was die Theorie bekräftigen würde, dass Waffe und Kleidung vielleicht in eine Tüte gepackt oder irgendwie anders beseitigt wurden.«

Über Funk bat Gage seine Assistentin, systematisch jeden Raum auf der Suche nach Blut durchzugehen und alles zu fotografieren, egal, wie klein die Spur war. Hinterher sollte sie die Mülltonne durchsuchen.

Dann sagte Gage: »Auf jeden Fall war mehr als eine Person beteiligt. Also könnte die zweite mit der Waffe und der Kleidung verschwunden sein.«

Will wusste nicht, warum er sich besser bei dem Gedanken fühlte, dass Emily Montgomery ihren Stiefvater vielleicht gar nicht selbst verstümmelt hatte, obwohl es natürlich fast genauso schlimm wäre, wenn sie tatsächlich beteiligt gewesen war.

»Und sie haben sich nicht die Mühe gemacht, die Treppe zu säubern?«

»Panik? Angst? Diaz sagte, im Zimmer der Tochter roch es nach Alkohol.«

Emily Montgomerys Zimmer war oben die erste Tür rechts, wie der zersplitterte Rahmen verriet. Diaz hatte gesagt, dass er die Tür aufbrechen musste.

Drinnen war es ziemlich unordentlich, was sicher zum Teil auf die Sanitäter zurückzuführen war, die Emily stabilisieren mussten, bevor sie das Mädchen ins Krankenhaus brachten.

Auf den ersten Blick entdeckten sie hier nichts Auffälliges. Der Teppich war ebenfalls weiß, ansonsten war alles mehr im Teenager-Geschmack gehalten: dunkles Lila, Schwarz und Rot anstelle der verhalten kühlen Eleganz im Rest des Hauses.

Im Bad befand sich verschmiertes Blut auf einem Handtuch und auf der Waschbeckenarmatur.

»Ich muss mehr Leute hier haben, sonst brauchen wir die ganze Nacht für das Haus«, stellte Gage fest und rief seine Abteilung an.

Will bemerkte die leere Flasche und das Tablettenröhrchen. »Warum solche Tabletten?«

Gage bückte sich und nahm das Röhrchen mit seiner behandschuhten Hand auf. »Xanax. Verschrieben für Emily Montgomery vor zwei Wochen. Leer.« Er richtete sich auf und deutete auf die auf dem Boden verstreuten Tabletten. »Hier liegen mindestens zwanzig Tabletten rum. Sie könnte das halbe Fläschchen oder fast das ganze geschluckt haben. Die Dosierung lautet: Nach Bedarf anwenden. Nicht mehr als zwei innerhalb von zwölf Stunden.« Er öffnete den Medizinschrank.

»Dieses Kind hat ja eine größere Apotheke als ich«, stellte Will entgeistert fest.

Acht oder neun verschreibungspflichtige Medikamente standen auf dem oberen Regal, alle von einem Dr. Garrett Bowen verordnet. Zwei weitere Flaschen standen in den Seitenfächern und noch einmal drei im unteren Fach. »Noch mehr Xanax, aber ältere. Antidepressiva. Tylenol.«

»Tylenol in einer Rezeptflasche?«

»In verschreibungspflichtiger Stärke. Und hier ist Imitrex, vor allem gegen Migräne.«

»Sechzehn Jahre alt, und sie hat mehr legale Drogen in ihrem Bad, als ich in meinem ganzen Leben geschluckt habe«, murmelte Will.

Gage runzelte die Stirn. »Einige von denen sollten nicht zusammen genommen werden. Jemand muss mit diesem Dr. Bowen reden und nachfragen, was da los ist.«

Will machte sich eine Notiz. »Ich nehme mir erst mal die Mutter vor.«

»Bis wir mit der Beweissicherung durch sind, ist für dich hier nichts zu tun. Ich lasse dich dann wissen, was wir gefunden haben.«

»Ich bin unten bei Mrs. Montgomery.« Will hielt inne. »Was denkst du?«

»Zu diesem Zeitpunkt kann ich noch nicht mal raten.«

Will starrte ihn fassungslos an. »Ich brauche irgendwas, womit ich arbeiten kann.«

Gage schüttelte den Kopf. »Meine Theorie, aber wirklich nur Theorie, ist, dass es zwei Täter gab. Und es würde mich nicht wundern, wenn es drei waren. Es gibt keinen Hinweis auf gewaltsames Eindringen, also hat sie jemand reingelassen. Einer oder mehr von ihnen waren dem Opfer oder der Stieftochter bekannt.«

»Und dieses Blut?«

»Wir haben heute Nacht eine Menge Arbeit vor uns, hier und unten, aber ich würde sagen, dass Emily Montgomery während oder nach dem Tod von Richter Montgomery in seinem Arbeitszimmer war. Für mich sieht das sehr nach einem Mord mit nachfolgendem Suizid aus, nur dass der Suizid fehlschlug.«

»Oder sie wurde von Santos’ Leuten bedroht«, bot Will als Alternative an.

»Warum sollten sie dann ihre Zeugin am Leben lassen?«

3

Julia Chandler spielte mit dem Feuer, doch das war ihr egal. Emily steckte in Schwierigkeiten, und Julia würde alles tun, um ihre Nichte zu beschützen.

Sie musste nicht erst ihren Ausweis zücken, um an den Tatort gelassen zu werden, obgleich es selten vorkam, dass eine stellvertretende Bezirksstaatsanwältin gleich zu Beginn einer Mordermittlung aufkreuzte. Und in Anbetracht ihres Rufs als gnadenlose Kämpferin für das Gesetz ging man ihr lieber aus dem Weg, das galt sowohl für die Polizisten als auch für die Kriminellen.

Es mochte daran liegen, dass sie eine der Chandlers war, die schon in der Vorschule lernten, welcher Name zu welchem Gesicht gehörte, an ihrem ausgezeichneten Gedächtnis oder schlicht daran, dass sie für die Strafverfolgung arbeitete, jedenfalls achtete Julia stets darauf, die Namen aller Uniformierten im Kopf zu haben. Officer Diaz stand an der Tür. Eine Kollegin Julias bearbeitete die Klage gegen das Gangmitglied, das ihn letzten Monat niedergeschossen hatte. Dessen Pflichtverteidiger plädierten auf eine Bewährungsstrafe, die der Staatsanwalt ablehnte. Andrew Stanton ließ sich nicht von der tragischen Kindheit des Jugendlichen erweichen. Julia auch nicht, nicht, wenn Unschuldige verletzt wurden.

»Wie geht es Ihnen, Officer Diaz?«, fragte sie. »Sie sehen aus, als hätten Sie einige Pfunde eingebüßt?«

»Das Krankenhausessen. Und ich konnte erst letzte Woche mit dem richtigen Training anfangen. Das wird schon wieder.«

»Freut mich, dass Sie wieder auf dem Damm sind.«

Sie ging an ihm vorbei und hoffte, dass sie ihn hinreichend davon abgelenkt hatte, nach dem Zweck ihres Besuchs zu fragen.

»Ähm, Miss Chandler?«

Sie ging hinter Dr. Gages Assistentin her, die vermutlich zum Tatort wollte, blieb dann aber stehen.

»Ich muss Detective Hooper sagen, dass Sie da sind, ehe Sie reingehen dürfen«, sagte Diaz unsicher. »Das verstehen Sie doch.«

Sie legte ein sehr überzeugendes Lächeln auf. »Aber natürlich.«

»Nicht nötig.« Will Hooper kam gerade die Treppe herunter. Er sah entspannt und lässig aus, aber Julia wusste es besser. Der Mann war ein Hai, und sie liebte es, wenn er in den Zeugenstand trat. Gerade weil er so lässig und charmant war, eroberte er alle Geschworenen im Sturm. Ihn brauchte sie nie groß auf seine Aussage vorzubereiten, was ihren Job um einiges leichter machte. Und nur aufgrund seiner Aussage konnte sie unlängst vor dem Berufungsgericht durchsetzen, dass ein verurteilter Mörder in der Todeszelle blieb. Der Mann hielt noch dem schärfsten Beschuss stand.

»Hi, Will. Wo ist deine Partnerin?«

»Urlaub.« Er betrachtete sie mit neugierigen blauen Augen und nickte zum Esszimmer gleich neben der Diele. Mist!

Sie schloss die Türen hinter sich, damit sie ungestört waren, und sah den Detective an. »Ich weiß, was du denkst.«

»Ach ja?« Er neigte den Kopf zur Seite.

»Sie ist meine Nichte! Ich habe über Polizeifunk gehört, dass Richter Montgomery umgebracht wurde. Was hättest du an meiner Stelle getan? Erwartest du ernsthaft, dass ich ruhig zu Hause hocke, bis mir jemand erzählt, ob meine Nichte tot ist oder nicht? Suizid? Das glaube ich nie im Leben!«

»Verdammt, Chandler, misch dich nicht in meinen Fall ein! Weiß Stanton, dass du hier bist?«

Die Frage brauchte sie nicht zu beantworten.

»Nur weil du Stantons leuchtender Stern am Horizont bist, kannst du nicht einfach tun und lassen, was du willst.«

Sie rieb sich die Augen, dachte an Emily. »Ich werde deinen Fall nicht gefährden, Will. Das weißt du. Wenn irgendjemand immer und ewig regeltreu ist, dann ja wohl ich.«

Er starrte sie an, doch sie hielt seinem Blick stand. Lass ihn nicht sehen, dass du Angst hast. Lass ihn nicht sehen, dass du gar nichts tun kannst!

»Was willst du wissen?«

»Alles. Aber vor allem, wie geht es Emily?«

»Wieso fragst du nicht Crystal Montgomery? Sie ist im Wohnzimmer.«

Julia biss sich auf die Unterlippe. »Crystal und ich sind nicht ganz auf einer Linie.« Uns trennen Welten!

»Wie nahe stehst du deiner Nichte?«

»Nicht so nahe, wie ich es gern hätte.«

»Das ist eine ausweichende Antwort, Frau Anwältin.« Er sah ihr weiter in die Augen, als ginge es um einen Wettstreit, wer am längsten durchhielt.

Will Hooper ist einer von den Guten, sagte Julia sich im Stillen. »Als mein Bruder Matt starb, verbot Crystal mir, Emily zu sehen. Ich klagte auf ein Besuchsrecht und gewann. Seitdem treffe ich Emily jeden Sonntag.« Und nach der Schule, wann immer Julia sich freinehmen konnte, aber das musste Will ja nicht wissen. Falls Crystal erfuhr, dass Julia gegen die gerichtliche Vereinbarung verstieß, würde ihre Schwägerin sie wieder vor den Richter zerren und versuchen, ihr auch noch die Sonntage wegzunehmen. Aus reiner Böswilligkeit.

Es hatte Julia bereits die Hälfte des Familienvermögens gekostet – Matts Erbe –, Emily zu sehen. Julia hatte auf eine Testamentsanfechtung verzichtet, als Crystal dem Besuch einmal die Woche zustimmte. Wenigstens hatte Emily den sicheren Treuhandfonds, auf den Crystal nicht zugreifen konnte.

»Emily ist bei uns aktenkundig«, sagte Will, der kein bisschen mehr von dem netten Kerl hatte, sondern ganz auf harter Cop umschaltete. »Ausreißen, Vandalismus ...«

»Du musst mir ihre Akte nicht aufsagen, Detective«, fuhr sie ihm über den Mund und war wütend auf sich, weil sie die Beherrschung verlor. »Ich weiß, dass Emily ihre Probleme hat. Aber sie hat auch hart daran gearbeitet, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Du kennst ihre Mutter ja nicht!«

»Nein, die kenne ich nicht. Aber ich will sie gerade befragen.«

»Ich möchte dir nur eine Frage stellen, Will«, sagte sie und versuchte vergeblich, nicht die Staatsanwältin durchklingen zu lassen. »Warum verging so viel Zeit zwischen dem Notruf und dem Ruf nach einem Krankenwagen?«

Hoopers Augen verengten sich. »Das wollte ich gerade Crystal Montgomery fragen.«

»Warum?«

»Weil sie niemandem gesagt hat, dass ihre Tochter im Hause ist.«

Julias Brustkorb fühlte sich wie zugeschnürt an, und sie konnte einen Moment lang nicht richtig atmen. Dann drehte sie sich um, stieß die Türen auf und ging quer durch die Diele zum Wohnzimmer. Will folgte ihr, versuchte jedoch nicht, sie aufzuhalten. Derweil überschlugen sich Julias Gedanken. Wieso setzte er sie absichtlich als Köder ein? War das ein Spiel, damit er sah, wie Crystal reagierte? Steckte Emily in tieferen Schwierigkeiten, als sie ahnte? Julia war fast blind vor Wut, als sie die Wohnzimmertür öffnete.

In ihrer klassischen Eleganz strahlte Crystal Montgomery nichts als altes Vermögen aus, obwohl es Chandlers altes Vermögen war, das ihr diesen Stil ermöglichte. Sie war ein ehemaliges Model in den Vierzigern, eine Miniversion von Barbie und vor allem eine Viper in hübscher Verkleidung.

Crystal öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder, als sie Julia erblickte. Sie funkelte ihre Schwägerin wütend an. »Was tust du hier?«

»Du hast Victor tot aufgefunden und nicht nach Emily gesehen? Was ist mit dir los?«

»Halt den Mund!«

»Beantworte meine Frage!«

»Ich stehe nicht vor Gericht. Ich muss deine Fragen nicht beantworten, Julia!«

Julia hatte ihre liebe Mühe, an sich zu halten. Denk an Emily! Ihre Nichte zu beschützen war das Allerwichtigste. Sie sah zu Hooper, der immer noch in der Tür stand. Sein Gesicht verriet nichts von seinen Gedanken.

Crystal entdeckte Will zur selben Zeit, und prompt veränderte sich ihre Stimmlage. Sie klang besorgter, fast zittrig. »Detective! Sie ... sie hat Victor umgebracht, nicht wahr?«

»Was?«, Julia wandte sich langsam wieder ihrer Schwägerin zu. »Wie kannst du das auch nur denken?«

»Die Kriminaltechnik sichert gerade alle Spuren. Ich muss den Bericht abwarten«, sagte Will förmlich und schloss die Doppeltür hinter sich. »Falls es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«

»Ich verwahre mich dagegen, dass Julia in die Ermittlung mit einbezogen wird«, erwiderte Crystal. »Spricht man in solchen Fällen nicht von einem Interessenkonflikt? Schließlich ist sie eine Verwandte.«

»Auf die Interna der Staatsanwaltschaft habe ich keinen Einfluss«, erklärte Will ausweichend, aber Julia sah ihm seine Bedenken an.

»Dann rufe ich Andrew Stanton an.«

Will sagte nichts, und Julia empfand eine klammheimliche Freude, weil Crystal sich gleich zu Beginn der Ermittlungen beim leitenden Detective unbeliebt machte. Kein Mordermittler schätzte es, wenn man ihm mit einem Anruf bei seinem Vorgesetzten drohte.

Julia wollte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen, zumal sie ihn auf ihrer Seite brauchte, und so mischte sie sich ein: »Ich gehe. Aber das ist noch nicht vorbei, Crystal. Ich lasse nicht zu, dass du Emilys Leben ruinierst.«

»Du bist so blind, Julia. Das warst du schon immer.«

Julia schloss die Tür hinter sich und atmete tief durch. Warum war sie so fest von Emilys Unschuld überzeugt?

Weil die schöne, kluge Emily, der ein wunderbares Leben bevorstand, niemanden umbringen würde. Sie war erst sechzehn, verdammt, und trotz all ihrer Probleme eine Glanzschülerin.

Was genau waren eigentlich Emilys Probleme? Es war ein Schock gewesen, als sie vor drei Jahren von zu Hause weglief. Wobei das Schlimmste war, dass Julia erst am darauffolgenden Sonntagmorgen erfuhr, dass Emily am Dienstag nach der Schule nicht nach Hause gekommen war. Fünf Tage war sie bereits fort gewesen! Emily könnte entführt, vergewaltigt oder ermordet worden sein. Die Staatsanwältin in Julia malte sich sofort die entsetzlichsten Szenarien aus. Sie hatte schreckliche Angst um Emily gehabt.

Crystal hatte ihre Tochter damals nach achtundvierzig Stunden als vermisst gemeldet. Es gab keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen oder eine Entführung – keine Lösegeldforderung, nichts.

Julia hatte die Sache in die Hand genommen und einen Privatdetektiv engagiert.

Und nun war ihr klar, dass sie es wieder tun musste. Connor Kincaid. Sie musste sich aus den Ermittlungen heraushalten, das stand außer Frage. Der Bezirksstaatsanwalt würde einen Herzinfarkt bekommen, wenn sie sich einschaltete, denn immerhin war dieser Fall politisch hochbrisant. Deshalb brauchte sie Connor, der wie ein Pitbull sein konnte, wenn ihm an jemandem lag. Und ihm lag an Emily, seit er sie seinerzeit nach drei qualvollen Monaten aufgespürt und nach Hause gebracht hatte.

Hinterher hatte er geschworen, nie wieder ein Wort mit Julia zu wechseln. Emily indes würde er nicht im Stich lassen.

Und sie brauchte ihn jetzt mehr denn je. Auf keinen Fall würde Julia tatenlos zusehen und Emilys Wohlergehen einzig Crystal anvertrauen. Nicht, dass sie an der Kompetenz der Polizei zweifelte, nur war die hoffnungslos überlastet und hatte viel zu viele Fälle zu bearbeiten. Und die Presse ... Julia mochte gar nicht daran denken, was in den nächsten Tagen im Fernsehen und in den Zeitungen zu sehen wäre. Bisher hatte sie es geschafft, so wenig wie möglich aufzufallen, erst recht nach Matts Tod, doch die Geier kreisten unerbittlich über dem Geld und den Dramen, die den Namen Chandler umgaben.

Sie holte ihr Handy hervor und suchte Connors Nummer in ihrem elektronischen Adressverzeichnis. Schon vor drei Jahren hatte sie ihren Stolz überwinden müssen, um ihn anzurufen und zu bitten, nach Emily zu suchen. Dennoch bewahrte sie seine Telefonnummer bis heute auf.

Seine Mailbox sprang an. »Kincaid hier. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.« Piep.

Wieso hatte sie solches Herzklopfen? Julia räusperte sich. »Connor, hier ist Julia Chandler. Ich habe einen Auftrag für dich. Es geht um Emily.« Sie nannte ihre Telefonnummer und legte auf. Ems Namen zu erwähnen war nötig gewesen, weil er Julia nie zurückrufen würde, wenn er glaubte, ihr damit zu helfen.

»Frau Staatsanwältin?« Jim Gage kam die Treppe hinunter und neigte den Kopf zur Seite. »Was tun Sie denn hier?«

»Ich bin gekommen, um nach meiner Nichte zu sehen. Emily.«

Gage schien nicht überrascht. »Sie ist im Krankenhaus. Wo steckt Hooper?«

»Er spricht mit der Frau des Opfers.«

»Die Ihre Schwägerin ist?«

»Leider ja.«

»Sie sollten nicht hier sein.«

»Ich habe nichts angefasst. Erzählen Sie mir, was passiert ist?« Als Gage nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Ich erfahre es sowieso, wenn ich wieder im Büro bin.«

Detective Hooper trat aus dem Wohnzimmer, schloss die Türen hinter sich und sah erst Julia, dann Gage an. »Tja, das lief nicht besonders gut. Mrs. Montgomery ruft gerade ihren Anwalt an.«

»Wieso?«, fragte Julia. »Ist sie eine Verdächtige?«

»Nein, sie hat ein Alibi.« Er sah aus, als ginge ihm etwas durch den Kopf.

»Will, ich habe Gage gerade schon gesagt, dass ich ohnehin alle Einzelheiten erfahren werde, und das weißt du auch. Also, raus damit.«

»Ich verstehe nicht, dass eine Mutter sich keine Sorgen um ihre Tochter macht, nachdem sie ihren Ehemann tot aufgefunden hat«, sagte er nachdenklich. »Das kommt mir einfach merkwürdig vor.«

»Du kennst Crystal Montgomery nicht. Die Frau ist eine Soziopathin.«

»Was?«

»Sie ist narzisstisch und eine pathologische Lügnerin. Mein Bruder war zehn Jahre mit ihr verheiratet, und nach seinem Tod musste ich mir das Besuchsrecht bei meiner Nichte vor Gericht einklagen. Sie denkt überhaupt nie an Emily, weder in dieser noch in anderen Situationen. Für Crystal dreht sich alles ausschließlich um Crystal. Wenn es einen Menschen gibt, der sich in jedem Sinne des Wortes als Nabel der Welt begreift, dann sie.«

Julia räusperte sich. »Hör zu, ich muss wissen, was mit Victor passiert ist. Emily kann ihn unmöglich ermordet haben. Ich kenne meine Nichte.«

Gage hob beide Hände. »Halt, stopp! Wir befinden uns an einem Tatort und am Beginn unserer Ermittlungen, nicht bei einer Anhörung.«

»Bist du oben fertig?«, fragte Will.

»Fast.« Er sah Will über Julias Schulter hinweg an.

»Schon verstanden«, sagte Julia gereizt. »Ihr wollt, dass ich verschwinde, und das werde ich auch, sobald ihr mir erzählt habt, was mit Victor geschehen ist.«

»Er wurde in seinem Arbeitszimmer umgebracht. Man hat ihm den, ähm, Penis abgetrennt«, klärte Will sie auf.

Sie war sprachlos.

»Genau genommen ist er erstickt«, führte Gage weiter aus. »An seinem Penis.«

Julia wurde kreidebleich. »Und Sie denken, dass eine Sechzehnjährige dazu fähig ist?«

»Wenn, dann kann sie es nicht allein getan haben«, antwortete Gage. »Es müssen mindestens zwei Leute dabei geholfen haben.«

»Dann glauben Sie also, dass ein so junges Mädchen zwei andere überreden kann, einen fünfzigjährigen Richter mit seinem eigenen Schwanz zu ersticken? Was haben die Täter benutzt? Ein Messer?« Julia ging im Geiste alle möglichen Tathergänge durch. »Er muss unter Drogen gesetzt oder gefesselt worden sein. Haben Sie Seile, Klebeband oder ...«

»Miss Chandler, wir stehen am Anfang unserer Ermittlungen. Sowie wir alle Spuren gesichert haben, geht unser Bericht an die Staatsanwaltschaft.« Gage sah auf einmal müde und verärgert aus.

»Wussten Sie, dass Richter Montgomery gerade Herman Santos zum Tode verurteilt hat?«, fragte Julia. »Santos hat genug Leute, die so etwas für ihn machen würden, und ...«

Sie hätte sich am liebsten geohrfeigt.

»Natürlich wissen Sie das«, lenkte sie hastig ein und atmete dann betont langsam aus, um sich zu beruhigen. »Okay, ich verstehe. Aber finden Sie es nicht seltsam, dass die Frau des Opfers beim Notruf nichts von einem möglichen zweiten Opfer im Haus erwähnte? Was würde ein normaler Mensch tun, wenn er seinen Ehepartner ermordet auffindet?«

Will sagte: »Ich würde im ganzen Haus nach dem Täter suchen.«

»Denk nicht wie ein Cop.«

Gage nickte. »Ich an ihrer Stelle hätte wohl auch aus Angst das Haus verlassen und die Polizei gerufen.«

»Und ihnen gesagt, dass ihre Tochter noch im Haus sein könnte.«

»Vielleicht war sie zu verstört, stand unter Schock. Es war kein schöner Anblick.«

»Das ist Mord nie, Dr. Gage.«

Will mischte sich wieder ein: »Selbst wenn sie unter Schock stand, hätte sie doch wenigstens den Polizisten, die kamen, sagen können, dass noch jemand im Haus sein muss. Aber es fiel ihr erst ein, als die Officer sie gezielt danach fragten, bevor sie das Haus durchsuchten.«

»Genau.« Julia nickte.

»Vielleicht dachte die Mutter, dass sie gar nicht zu Hause ist«, gab Gage zu bedenken.

»Emily ist auf Bewährung«, entgegnete Julia. »Ohne Erziehungsberechtigten oder Betreuer darf sie das Haus zwischen sechs Uhr abends und sechs Uhr morgens nicht verlassen.«

»Was hat sie getan, womit sie sich eine Bewährungsstrafe einhandelte?«

Julia holte tief Luft. »Sachbeschädigung im Gerichtsgebäude.«

»Ach ja, ich erinnere mich«, sagte Gage. »Graffiti.«

»Sie hat überall im Gebäude ›Heuchler‹ an die Wände gesprüht«, entsann Will sich. »War das eine Art politisches Statement?«, fragte er Julia, die jedoch keine Antwort wusste.

»Emily hat nie etwas dazu gesagt. Deshalb war Teil der gerichtlichen Auflagen, dass sie zum Psychiater geht.«

Will notierte es sich. »Zu Dr. Garrett Bowen.«

»Stimmt.«

»Er hat ihr ganz schön viele Medikamente verschrieben, wenn man bedenkt, dass sie noch ein Teenager ist.«

Julia sollte dringend gehen, denn sie wusste zu viel über die Medikamente und was Emily mit ihnen tat, beziehungsweise nicht tat.

Auch wenn sie ihre Nichte um keinen Preis gefährden wollte, konnte sie die Polizei nicht belügen. Gage und Hooper waren auf ihrer Seite, das durfte sie nicht vergessen.

»Emily hat Victor Montgomery nicht ermordet«, sagte sie. »Das weiß ich genau.«

»Aber vielleicht weiß sie, wer es getan hat«, erwiderte Will.

»Ich fahre jetzt ins Krankenhaus.« Sie musste nach ihrer Nichte sehen.

»Du darfst Emily nicht befragen«, warnte Will sie.

»Mache ich auch nicht«, konterte sie spitz. »Sie braucht im Moment jemanden, der ihr nahesteht, und ich habe das Gefühl, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, auf den das zutrifft.«

Will brachte Julia hinaus zu ihrem Wagen. »Julia.«

Sie drehte sich zu ihm und schluckte die Angst herunter, die ihr fast die Kehle zuschnürte. »Ja?«

»Ich habe großen Respekt vor dir. Du bist die beste Staatsanwältin, die wir haben, aber ich möchte dir einen freundschaftlichen Rat geben. Das Einzige, was du im Moment für Emily tun kannst, ist, ihr einen Anwalt zu besorgen. Und du hast die Mittel, ihr den kompetentesten zu engagieren.«

Unwillkürlich legte sie eine Hand auf ihren Bauch, weil sie sich fühlte, als wäre ihr eben eine Faust hineingerammt worden. »Sind die Indizien so erdrückend?«

Will seufzte. »Es sieht jedenfalls nicht gut aus.«

Julia stieg in ihren Wagen und machte noch einen Anruf, den sie lieber nicht gemacht hätte. Diesmal meldete sich die betreffende Person sofort.

»Iris Jones.«

»Iris, hier ist Julia Chandler.«

Iris lachte, tief und hämisch, wie es Julia vorkam. »Ich habe schon von Montgomery gehört.«

»Manche Sachen sprechen sich besonders schnell herum.«

»Es hilft, wenn man aufmerksam zuhört. Ich wusste, dass du mich anrufst.«

Julia wollte am liebsten auflegen. Sie mochte Iris Jones nicht, weder die Anwältin noch die Frau. Aber Iris war in ihrem Job ebenso gut wie Julia in ihrem, und wenngleich sie keinerlei Zuneigung für Iris hegte, hatte sie doch großen Respekt vor ihr.

»Emily wurde ins Scripps Memorial gebracht. Können wir uns da treffen?«

»Gib mir eine Stunde.«

Will beobachtete, wie Julia wegfuhr, und fragte sich, mit wem sie wohl telefoniert hatte. Dann winkte er Diaz zu sich. »Folge der Staatsanwältin. Ich glaube, sie fährt ins Krankenhaus, um ihre Nichte zu besuchen. Lös den Wachhabenden vor Miss Montgomerys Zimmer ab, und erzähl mir hinterher, worüber sie gesprochen haben, okay?«

»Geht klar.« Diaz ging.

Gleichzeitig kam Gage aus dem Haus. »Chandler wird sauer sein, wenn sie das rauskriegt.«

»Sie würde dasselbe tun, wenn sie in meiner Lage wäre«, erwiderte Will. »Es ist ziemlich offensichtlich, was hier los ist. Julia Chandler und Crystal Montgomery hassen sich. Crystal war mit Julias Bruder verheiratet, und nachdem er gestorben war, wollte Crystal zwar das Chandler-Vermögen, aber nichts mit der Familie zu schaffen haben. Ich erinnere mich noch, wie Emily von zu Hause ausriss.«

»Das weiß ich gar nicht mehr«, sagte Gage.

»Connor Kincaid war der Privatdetektiv, der sie fand.« Als Carina Kincaids Partner war Will quasi ein Ehrenmitglied der Kincaid-Familie. Er wusste mehr als die meisten anderen über Connors Leben, seit dieser aus dem Polizeidienst entlassen worden war.

»Ich habe die Computer-Forensiker herbestellt, damit sie sich die Rechner und das Sicherheitssystem vornehmen«, sagte Gage. »Sie sind in einer Stunde hier.«

»Tja, das wäre wohl vorerst alles, was wir tun können.«

Einer der Kriminaltechniker kam zu ihnen.

»Dr. Gage?«

»Ja?«

»Wir haben eine Baumschere mit Blutspuren gefunden.«

»Eine Baumschere?«

Der Assistent hielt die große Schere in einer versiegelten Klarsichttasche hoch. Die Baumschere war mehr als dreißig Zentimeter lang und bestand zur Hälfte aus gebogenen Klingen. Bis auf das getrocknete Blut daran wirkte sie neu und unbenutzt.

»Wo habt ihr die gefunden?«

»Im Gartenschuppen. Da sind auch ein paar Fußabdrücke und andere Spuren. Wir machen gerade Abdrücke.«

»Gut. Haltet mich auf dem Laufenden.«

Will sagte: »Wenn der Mörder die Schere nach hinten in den Schuppen brachte, kann es nicht die Stieftochter gewesen sein. Sie war gar nicht in der Verfassung dazu.«

»Ich bin auch nicht davon ausgegangen, dass sie es allein getan hat.«

4

Gerechtigkeit? Rache? Vergeltung? Wie immer es die Polizei auch betrachtete, sein Plan funktionierte noch besser, als er gehofft hatte. Lächelnd stellt er fest, dass er alles unter Kontrolle hatte.

Er schenkte sich einen großzügigen Schluck Scotch ein, einen zwanzig Jahre alten Chivas, nahm das Glas mit auf den Balkon und atmete die nächtlich kühle Meeresluft ein. Der Blick auf die hell erleuchtete Küste und den dunklen, endlosen Ozean dahinter war faszinierend. Aufmerksam betrachtete er die außergewöhnliche Schönheit und prägte sich die genaue Zeit sowie seine Empfindung ein.

So muss Gott sich gefühlt haben.

Victor Montgomery war tot. Auf eine Weise ermordet, die zu seinem Leben passte. Und nicht bloß die Ironie des Montgomery-Mordes war herrlich, sondern auch die, mit welcher er sein Exekutionsteam zusammengestellt und alles geplant hatte. Alle Beteiligten bewunderten seine Brillanz.

Seine Teamleiterin hatte ihn selbstverständlich umgehend über den erfolgreichen Mord informiert, damit er nicht abwarten musste, bis die Zeitungen und das Fernsehen von Montgomerys Tod berichteten. Aber erst jetzt, mitten in der Nacht, fand er die Zeit, allein in seinem wunderschönen Haus zu sitzen, bei seinem Lieblingsdrink, und seinen Triumph zu genießen.

Nach dem abschließenden Mord wäre der Kreis geschlossen. Die Polizei würde alle möglichen Theorien entwickeln und doch nie etwas beweisen können. Derweil erfuhren die Medien von den Geheimnissen der Ermordeten, deren Ruf öffentlicher Erniedrigung und Scham preisgegeben wurde. Und er saß in seinem Haus, genoss die Resultate seiner Arbeit und hatte keinen einzigen Tropfen Blut an den Händen.

In letzter Zeit hatte er viel darüber nachgedacht, wie alles angefangen hatte. Nicht an den ersten Mord, sondern wie es überhaupt anfing. Bevor er sein Team rekrutierte und bevor er seinen Plan im Namen der »Gerechtigkeit« entwarf.

Der wahre Anfang war der Tag seiner Geburt gewesen. Von jenem Tag an hatte seine Mutter ihm gesagt, dass er zu Großem bestimmt war. Dann jedoch wurde er wieder und wieder seiner Entscheidungsgewalt beraubt. Das Leben hatte sich gegen ihn verschworen, um ihn zu dominieren und zu kontrollieren.

Das war nun vorbei. Er war in die Schlacht gezogen und im Begriff, sie zu gewinnen.

Verzückt blickte er auf seine Hände, seine Finger mit der Midas-Gabe. Er war ein starker, muskulöser Mann, der kein Gramm Fett zu viel hatte und keinen Spiegel brauchte, um zu wissen, dass er gut aussah. Er brauchte nicht einmal eine Frau, die es ihm bestätigte.

Jeder Schritt seines ausgefeilten Plans war mit größter Sorgfalt vollzogen worden. Die Probe. Der Unfall. Die Hinrichtung. Jetzt fehlte nur noch eine, die das Gleichgewicht auf der Welt wiederherstellte, und das war die wirklich wichtige.

Seufzend fuhr er sich übers Gesicht und wandte sich von der Aussicht ab. Dann schenkte er sich noch einen Chivas ein, den er trank, während er alles im Geiste durchspielte. Obwohl alles nach Plan verlief und unter Kontrolle war, gab es doch eine Figur im Spiel, die ihm Sorge bereitete. Sie drängelte dauernd auf den letzten Mord. Immerzu drängelte sie. Natürlich verstand sie die Inszenierung nicht. Das würden die wenigsten Menschen können. Zwar erklärte er es ihr ein ums andere Mal, doch sie nahm immer nur den Schluss wahr.

Ungeduld könnte ihn seine Freiheit kosten.

Er stellte sein Glas drinnen ab. Über die Kids brauchte er sich keine Gedanken zu machen. Die funktionierten wie am Schnürchen, und sie zu dirigieren war ziemlich einfach. Cami gab den Jungen, was sie brauchten, und Faye ...

Wieder seufzte er. Faye. Sie war tatsächlich die Einzige, die ihn verstand, die seine unerreichte Brillanz ebenso zu schätzen wusste wie seine Schönheit. Im Grunde ihres Herzens wusste sie genau, wer er war. Sie würde alles tun, was er wollte, nur weil er sie darum bat. Sie fragte nie nach dem Warum, stellte sein Tun nie infrage, denn sie liebte ihn bedingungslos.

Solch eine Liebe hatte er nie zuvor erfahren, und er stellte fest, dass er gar nicht genug von ihr bekommen konnte. Er verzehrte sich danach, mit Faye zusammen zu sein und sich an ihrem zügellosen Verlangen nach ihm zu weiden. Heute Nacht konnte er sie nicht sehen, aber bald.

Die heikle Figur im Spiel war die andere. Sie war es, die vor anderthalb Jahren fast alles ruiniert hätte.

Er wollte schon zu ihr, um sich zu vergewissern, dass sie sich ans Drehbuch hielt, als es an seiner Tür läutete.

Stirnrunzelnd stellte er die Sicherheitskamera an und sah nach, wer an seiner Vordertür war.

Sie war es.

Er öffnete die Tür. »Was ...«

»Du hast es versaut!«, schrie sie ihn an.

Er zog sie in die Diele und schloss die Tür. »Lass ...«

»Schalt die Nachrichten ein. Sofort!«

Als er den Fernseher eingeschaltet hatte, war er genauso überrascht wie sie, aber nicht wütend. »Es sind alle Eventualitäten eingeplant. Mach dir keine Gedanken.«

»Wie soll ich mir keine Gedanken machen! Wenn sie Emily Montgomery verhaften, ist es bloß eine Frage der Zeit, bis ...«

»Sie haben keine Beweise.«

»Seit wann interessiert sich die Polizei für Beweise? Wenn sie welche haben, unternehmen sie nichts, und wenn sie keine haben, fälschen sie welche.«

»Du übertreibst. Beruhige dich erst mal und ...«

»Sag du mir nicht, dass ich mich beruhigen soll!« Sie begann, auf und ab zu laufen. Früher war sie mal hübsch gewesen, das sah man ihrer Haut und ihrem üppigen Haar noch an, aber Wut und Kummer hatten das Leuchten in ihren Augen vernichtet. Er war ein geübter Beobachter. Dennoch wunderte ihn, dass niemand sonst an ihrem Gesicht ablesen konnte, was er sah.

Er schenkte ihr einen Chivas ein und schaute ihr zu, wie sie ihn in einem großen Schluck herunterstürzte. »Ich verspreche dir, dass keine Fehler gemacht wurden. Alles ist unter Kontrolle.«

»Wie kannst du das behaupten?«

»Vertraust du mir nicht?«

»Vertraust du mir?«, konterte sie.

Er lachte. »Nein, meine Liebe, du bist der letzte Mensch, dem ich vertraue. Aber du hörst mir zu und tust, was ich dir sage. Nur so erreichen wir, was wir uns schon so lange wünschen. Du darfst keine Angst haben. Verhalte dich still, und folge dem Weg, den ich vorgezeichnet habe.«

»Hätten wir es doch bloß von Anfang an so gemacht, wie ich es wollte.« Immerhin war sie ruhiger, goss sich Scotch nach und setzte sich auf die Couch. Sie starrte in die bernsteinfarbene Flüssigkeit, als sähe sie die zum ersten Mal.

Er setzte sich neben sie. »Hätten wir es so gemacht, wie du wolltest, wärst du jetzt tot oder im Gefängnis.«

»Tot zu sein hört sich gar nicht so übel an«, flüsterte sie und trank ihren Scotch aus. »Das ist immer noch besser, als diese Hölle zu erleben.«

Der Tod gab ihr das Gefühl, lebendig zu sein.

Etwas so Zerbrechliches in Händen zu halten, etwas, das die Menschen über alles schätzten – ihre eigene Existenz –, und die Macht zu haben, sie ihnen zu lassen oder wegzunehmen, war ein erhebendes Gefühl.

Sie hatte die Wahl. Sie entschied.

Einige Leute hatten keine Wahl. Einige Leute konnten ihre Entscheidungen nicht selbst treffen.

Cami schloss die Augen und erinnerte sich genau, wie es gewesen war. Der Plan war perfekt ausgeführt worden. Victor Montgomery war ein Schwein gewesen, durch und durch, und sie hatte gewusst, wie sie ihn nehmen musste. Genau wie sie es bei so vielen Männern in ihrem Leben wusste. Könnte sie doch nur ihren Freundinnen alles erzählen. Sie wären begeistert davon, wie genial sie war.

Aber manche Dinge blieben besser geheim. Vor allem jetzt, wo das Ende so nah war.

Das Bett neben ihr wackelte, und Skip setzte sich auf.

»Wo willst du hin?«, fragte sie. Sie wurde panisch.

»Ist schon spät. Ich muss nach Hause.«

»Nein! Nein, noch nicht.«

Sie griff nach ihm und zog ihn zu sich. Für einen kurzen Moment sträubte er sich. Ihre Panik wurde zu Wut. Was fiel ihm ein, sie jetzt allein lassen zu wollen? Sie! Kein Mann ging einfach von ihr weg. Jeder wollte sie – hatte sie das nicht erst heute bewiesen? Sie konnte einen Mann zu seinem eigenen Tod verführen.

»Schlaf mit mir.«

»Ich weiß nicht, ob ich kann.«

»Doch. Du kannst.«