Seelentrost - Diana Hübner - E-Book

Seelentrost E-Book

Diana Hübner

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Beschreibung

Im Alter von nur 3 Jahren verloren die Zwillinge Vince und Lindsay ihre Eltern bei einem Unfall. Die Kinder saßen damals ebenfalls im Wagen, überlebten aber leicht verletzt. Sie wurden in einem Heim untergebracht, in dem sie unbeschwert die ersten Jahre ihrer Kindheit verbrachten. Aber der Wunsch, gemeinsam in einer richtigen Familie aufzuwachsen, blieb. Umso größer schien das Glück, als sie nun im Alter von zehn Jahren gemeinsam von einem kinderlosen Paar mit Zweitwohnsitz in der Schweiz adoptiert wurden. Sie lebten mit diesem in einer wunderschönen Villa mit großem Garten und es mangelte den Kindern scheinbar an nichts. Dennoch war die Haushälterin Emma die Einzige, die den Kindern etwas Zuneigung und Liebe entgegenbrachte, denn dazu waren die Pflegeeltern offensichtlich nicht in der Lage. Vielmehr sah es so aus, als dass sie gar nichts mit den Kindern anfangen konnten. Mehr und mehr hatte Vince das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Auch Emma reagierte verschlossen, wenn Vince sie auf Mike und Nancy Brunners Vergangenheit ansprach. Als er die Ferien mit seiner Schwester und dem Ehepaar Brunner in einer abgelegenen Berghütte in den Schweizer Bergen verbrachte, bestätigte sich auf grausame Weise seine Vorahnung. Ein Alptraum begann, der für den damals noch kleinen Jungen niemals wirklich enden sollte. Denn er schafft es bis heute nicht, sich von den Dämonen seines schrecklichen Schicksals zu befreien, die ihm erst seine Eltern und dann auch seine geliebte Schwester nahmen...

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Exposé

Im Alter von nur drei Jahren verloren die Zwillinge Vince und Lindsay ihre Eltern bei einem Unfall.

Die Kinder saßen damals ebenfalls im Wagen, überlebten aber nur leicht verletzt. Sie wurden in einem Heim untergebracht, in dem sie unbeschwert die ersten Jahre ihrer Kindheit verbrachten. Aber der Wunsch, gemeinsam in einer richtigen Familie aufzuwachsen, blieb. Umso größer schien das Glück, als sie nun im Alter von zehn Jahren gemeinsam von einem kinderlosen Paar mit Zweitwohnsitz in der Schweiz adoptiert wurden. Sie lebten mit diesem in einer wunderschönen Villa mit großem Garten und es mangelte den Kindern scheinbar an nichts. Dennoch war die Haushälterin Emma die Einzige, die den Kindern etwas Zuneigung und Liebe entgegenbrachte, denn dazu waren die Eltern offensichtlich nicht in der Lage. Vielmehr sah es so aus, als dass sie nichts mit den Kindern anfangen konnten. Mehr und mehr hatte Vince das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Der Junge fand Hinweise darauf, dass im Haus bereits Kinder gelebt haben mussten, obwohl die Adoptiveltern das vehement verneinten. Auch Emma reagierte verschlossen, wenn Vince sie auf Mike und Nancy Brunners Vergangenheit ansprach.

Als er die Ferien mit seiner Schwester und dem Ehepaar Brunner in einer abgelegenen Berghütte in den Schweizer Bergen verbrachte, bestätigte sich auf grausame Weise seine Vorahnung. Ein Alptraum begann, der für den damals noch kleinen Jungen niemals wirklich enden sollte. Denn er schafft es bis heute nicht, sich von den Dämonen seines schrecklichen Schicksals zu befreien, die ihm erst seine Eltern und dann auch seine geliebte Schwester nahmen...

Die Autorin

Diana Hübner wurde 1974 geboren und lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf in Südthüringen.

Hauptberuflich ist sie Polizeibeamtin, Ehefrau und Mutter dreier wunderbarer Kinder. Seit ihrer Kindheit schreibt sie kleine Geschichten und Gedichte.

Im Juli 2014 wurde ihr Debütroman

„Traumleuchten“ veröffentlicht, womit sich ein lang gehegter Wunsch erfüllte.

„Seelentrost“ ist nun der zweite Roman der Autorin.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Epilog

Prolog

Es war der schönste Tag in seinem Leben bisher. An seinem 10. Geburtstag hatte sich Vince nichts sehnlicher gewünscht, als endlich mit seiner Schwester Lindsay zusammen adoptiert zu werden. Es war jetzt schon sieben Jahre her, dass Lindsay und er in das Kinderheim gebracht worden waren. Nur schemenhaft konnte er sich noch an den Unfall erinnern. Sie waren gerade drei Jahre alt. Sie saßen zusammen mit ihren Eltern im Wagen und waren auf dem Weg in den Urlaub. Das zumindest wurde ihnen später erzählt.

Bruchstückhaft sah Vince immer wieder einzelne Szenen des Unfalls vor sich:

Feuer, unendliche Hitze und Schreie. Die Schreie seiner Mutter. Die Schreie verstummten irgendwann und das Nächste, an das sich Vince erinnern konnte, war, dass er mit seiner Schwester und diesen anderen Kindern in einem großen Saal saß.

Die Erinnerung an seine Eltern war nie ganz verblasst, das wunderschöne Gesicht seiner Mutter würde er nicht vergessen können. Sie hatte weiche, dunkle und unendlich lange Haare, riesige dunkle Augen, so wie seine eigenen. Und ihre süße Stimme, die Vince noch immer so präsent war, tröstete ihn Nacht für Nacht und ließ ihn trotz des Schmerzes über den Verlust seiner Familie ruhig einschlafen.

Lindsay war bei ihm, sie waren sicher in diesem Haus und sie würden alles gemeinsam schaffen. Und jetzt würde erst recht alles gut werden. Ein Ehepaar, mit Zweitwohnsitz in der Schweiz, hatte sich gemeldet und sich bereit erklärt, die Zwillinge aufzunehmen. Es sollte zunächst für drei Monate sein, um sich kennen zu lernen. Das Paar sollte sich danach entscheiden, ob die Kinder bei ihnen bleiben und aufwachsen konnten.

Das hieß für Vince und seine Schwester, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Er hatte das mit Lindsay schon besprochen. Es sollte nicht schwer sein, Mike und Nancy Brunner davon zu überzeugen, dass sie ausgesprochen liebe und nette Kinder waren. Das war ihre Chance auf eine glückliche Zukunft in einer Familie, das musste einfach gut gehen....

1

30 Jahre später…

Schweißgebadet wachte Vince am Morgen auf. Debbie, seine Frau, lag friedlich schlafend neben ihm. Wie er sie manchmal darum beneidete! Seit damals hatte er selten eine ruhige und traumlose Nacht gehabt, wäre fast an dem zerbrochen, was er als Kind hatte erleben müssen. Seine Geschichte war gerade jetzt wieder so präsent, als wäre sie eben erst geschehen. Es war immer so in den letzten Tagen und Wochen vor seinem Geburtstag. Denn genau an diesem Tag wurde er immer wieder schmerzlich daran erinnert, dass er seine Zwillingsschwester Lindsay verloren hatte, auf eine Art und Weise, die er nie würde verwinden können. Das Band zwischen ihnen war so stark gewesen, dass er seither glaubte, ein Teil seines Selbst wäre gestorben. Die Liebe zu seiner Frau und den Kindern hatte Vince geholfen, mit seinem Leben fertig zu werden und Debbie war auch die Einzige, die seine Lebensgeschichte in ihrem ganzen Ausmaß kannte…

Mike und Nancy Brunner hatten ihn und Lindsay in einem schicken Wagen abgeholt. All ihre wenigen Sachen waren in zwei Koffern verpackt und zum Abschied winkte Frau Welker, die Leiterin des Kinderheimes, ihnen noch einmal aufmunternd zu. Obwohl sich Vince freute, endlich die Gelegenheit zu bekommen, mit Lindsay in einer Familie zu leben, wie sie es sich immer gewünscht hatten, dachte er etwas melancholisch an die Zeit im Kinderheim zurück. Sie hatten es nicht schlecht dort gehabt, sie waren ausreichend und gut versorgt worden und auch in der Schule hatten die Zwillinge keine Probleme gehabt. Die beiden wurden liebevoll ViLi genannt, weil sie nie getrennt waren und es auch nicht sein wollten. Es gab den einen nicht ohne den anderen. Lindsay und Vince waren nicht nur aufgrund der Tatsache so eng miteinander verbunden, dass sie Zwillinge waren, sondern auch ihr gemeinsames Schicksal, der Verlust ihrer Familie, hatte sie zusammengeschweißt. Die wenigen Erinnerungen an ihre Eltern hielten sie in ihren Gedanken am Leben.

Die Fahrt dauerte ungefähr zwei Stunden. Lindsay war aufgeregter als Vince, zeigte ihm, auf der Rückbank des geräumigen Geländewagens sitzend, jeden einzelnen Baum, jeden Vogel, jedes Stück Wiese. Vince teilte die Euphorie nur zum Teil. Ein etwas mulmiges Gefühl hatte sich in seinem Magen breit gemacht. Es war sicher deshalb, weil ihnen etwas Neues bevorstand, etwas, das er noch nicht kannte. Vince konnte nur hoffen, dass sie beide auf dem richtigen Weg waren.

Das Ehepaar Brunner hatte sich während der Fahrt kaum mit den Kindern unterhalten. Auch darüber machte sich Vince Gedanken. Wollten sie sie nicht kennen lernen? Nicht wissen, wer und wie sie waren? Vince hatte zwar keine Vorstellung davon, wie so etwas ablaufen würde, aber ein wenig seltsam kam es ihm schon vor. Na ja, vielleicht würde es sich ändern, wenn sie da wären.

Das Haus, vor dem der Wagen schließlich hielt, war eine prachtvolle Villa.

„Willkommen in eurem neuen Zuhause!“, sagte Nancy Brunner, als sie die Wagentür für die Kinder öffnete. Fasziniert stiegen Vince und Lindsay aus, alles in Augenschein nehmend, was sich ihnen bot. Die Villa war umgeben von einem großen Garten, der einer Parkanlage glich. Wunderschöne alte Eichen säumten das riesige Gelände und in der Ferne konnte Vince einen Teich ausmachen. Hier konnte man sich wirklich wohl fühlen, es war ein traumhafter Ort der Ruhe und gleichzeitig ein Ort, an dem sich Kinder austoben konnten.

Ehrfürchtig betraten die Kinder das große Haus. Im Eingangsbereich kam ihnen eine ältere Dame entgegen.

„Hallo, ihr zwei, ich bin Emma, ich habe schon so viel von euch gehört. Ich bin die Hausdame und werde mich um alles kümmern. Frau Brunner, Herr Brunner, willkommen zurück.“

Mit einem kurzen Nicken begrüßte Emma ihre Arbeitgeber.

Ein Dienstmädchen! Das war ja vollkommen absurd. Mich daran zu gewöhnen, wird mir sicher schwer fallen, dachte Vince. Er war es seit jeher gewohnt, sich selbst um seine und die Belange seiner Schwester zu kümmern.

Emma trug ihre Koffer nach oben und zeigte den Kindern ihre Zimmer. Vince kam sich noch immer deplatziert vor, wollte Emma die Sachen abnehmen, aber mit einem energischen Kopfschütteln wies sie ihn in die Schranken.

Es war wohl nicht üblich in diesem Haus, dass man sich gegenseitig half. Vince bemühte sich, diese Gepflogenheit zu akzeptieren.

Es dauerte nur ein paar Minuten, als Lindsay schon zu ihm gerannt kam und freudestrahlend an ihm zerrte.

„Schau dir mein Zimmer an, Vince, es ist ein Traum!“

Vince ließ sich hinüber in Lindsays Zimmer ziehen und fand sich in einer rosa Prinzessinnen-Suite wieder. Lindsay hatte ein Himmelbett, das mit mindestens zehn Kissen bestückt war. Eine herrlich große Glastür führte auf eine kleine Terrasse, die zum großen Garten hin ausgerichtet war. Ein Schreibtisch mit Computer, eine Musikanlage und ein Fernseher an der Wand ließen keine Wünsche offen. In einem kleinen Nebenzimmer befand sich der begehbare Kleiderschrank. Vince war überwältigt. Das war wirklich alles zu viel des Guten. Er konnte und wollte mit solchem Luxus gar nicht umgehen. Er schaute sich etwas genauer um, während Lindsay aufgeregt alles in ihrem Zimmer ausprobierte und begutachtete.

Es hatte den Anschein, als sei das Zimmer erst kürzlich neu gestaltet worden. An manchen Stellen war die Farbe sogar noch feucht und auch die Möbel hinterließen noch einen sanften Geruch von frisch aufbereitetem Holz.

Ausgelassen schwenkte er Lindsay im Zimmer herum.

„Es ist herrlich hier, nicht wahr, Vince? So habe ich es mir immer erträumt, jetzt werden all unsere Wünsche wahr.“

Lindsay ist glücklich, dachte Vince, also würde er seine Bedenken beiseiteschieben und sich an die neue Situation gewöhnen. Aber er würde versuchen, mit dem Ehepaar Brunner zu reden. Sie waren nicht in einem solchen Überfluss aufgewachsen und wollten auch nicht den Eindruck erwecken, dass dies nötig war.

Endlich machte er sich lachend von seiner Schwester los und ging in das Zimmer, welches ihm zugedacht war. Es lag Lindsays Zimmer direkt gegenüber. Als er die Tür öffnete, überraschte er Emma dabei, wie sie etwas vom Boden aufhob, es aber wieder fallen ließ. Sofort kam sie auf ihn zu und zeigte ihm mit einer auffallend ausladenden Geste sein Reich. Tief beeindruckt schaute es sich im Raum um. Auch sein Zimmer war mit allem ausgestattet, was sich ein Junge in seinem Alter nur wünschte. Das große Fenster führte auf eine Terrasse, die über den Haupteingang hinaus ging.

„Die Brunners erwarten euch in einer halben Stunde im Salon zum Essen.“, sagte Emma im Gehen.

Vince drehte sich zu ihr um und bedankte sich. Ein liebevolles Lächeln trat auf Emmas Lippen, und bevor sie die Tür schloss, schaute sie nochmals zu Vince. Ihr trauriger Blick war kaum spürbar, aber Vince war er nicht entgangen. Was war nur mit Emma los? Irgendetwas schien ihr auf der Seele zu liegen, aber Vince konnte sich nicht erklären, was es sein könnte.

Staunend ging er im Raum auf und ab. Lindsay kam pfeifend hereingelaufen und blieb unvermittelt stehen.

„Wow!“, brachte sie heraus und Vince lächelte sie an.

„Es ist einfach toll, oder?“ Lindsay fiel ihm in die Arme. Sie musste die Unsicherheit in Vince´ Gesichtsausdruck bemerkt haben.

„Mach dir keine Sorgen. Es wird alles gut und wir werden bestimmt keine verwöhnten Kinder werden, dafür sorgen wir schon. Hauptsache, wir sind füreinander da und passen aufeinander auf, Vince.“

Sie hatte Recht, das war das Wichtigste, sonst zählte nichts.

Den Zettel, den Emma bei Vince´ Erscheinen im Zimmer erschrocken hatte fallen lassen, bemerkte er vorerst nicht. Vielmehr hatte er den Vorfall längst wieder vergessen, als er mit seiner Schwester hinunter in den Salon ging.

2

Vince versuchte, seine Erinnerungen zu verdrängen. Es war jetzt sieben Uhr morgens, es war Zeit aufzustehen. Der Alltag würde ihn ablenken, dachte er. Leise, um Debbie nicht zu wecken, ging er ins Badezimmer. Er stellte die Dusche an und ließ sich durch den heißen Wasserstrahl den Traum der vergangenen Nacht abspülen. Er hatte immer wieder das letzte Bild seiner Schwester vor Augen, welches er wohl niemals vergessen würde. Immer wieder aufs Neue erlebte er in seinen Träumen die letzten gemeinsamen Augenblicke mit Lindsay.

Entschlossen, sich nicht wieder in eine tiefe Depression stürzen zu lassen, stieg er aus der Dusche, zog seinen Morgenmantel über und ging leise ins Kinderzimmer. Seine hübschen Töchter Ellen und Dana schliefen noch tief und fest. Vince schaute ihnen so gerne dabei zu. Wenn er sie ansah, war er glücklich. Manchmal wagte er es kaum zu glauben, ein solches Glück noch einmal erleben zu dürfen. Vince konnte sich nicht von seinen Schuldgefühlen befreien, die er nach all den Jahren noch immer mit sich herumtrug. Er hätte auf Lindsay achten sollen, sie beschützen müssen, aber er hatte versagt!

Seine Töchter und seine Frau hatten ihn ins Leben zurückgeholt, ihm die Liebe geschenkt, die er so gebraucht hatte, und er war mehr als dankbar für dieses Glück. Ellen, die ältere der beiden Kinder, regte langsam ihren müden kleinen Körper. Sie war jetzt zehn Jahre alt, so alt wie Vince und Lindsay damals, als sie zu Mike und Nancy gekommen waren. Vorsichtig öffnete sie die Augen und blickte ihrem Vater ins Gesicht. Sein fürsorglicher Blick brachte sie zum Lächeln. Sie streckte ihm die Arme entgegen, um sich von ihm halten zu lassen. Doch die innige Umarmung währte nicht lange. Ein 6 - jähriges Energiebündel namens Dana sprang Vince auf den Rücken und die drei begannen ausgelassen miteinander zu raufen.

Das Gekicher der Kinder weckte schließlich auch Debbie. Sie setzte sich auf und wusste, dass Vince wieder eine schlimme Nacht hinter sich haben musste. Er ging dann immer zuerst zu den Kindern, um die Träume zu vertreiben. Debbie war froh darüber, dass Vince so zumindest zeitweise seine Schuldgefühle los wurde. Leise ging sie ins Kinderzimmer und sah ihren Lieben beim Raufen zu. Spitzbübisch lächelte sie, bevor auch sie sich mit ins Getümmel stürzte.

3

Es wird heute ein langer Tag werden, dachte Vince, als er auf dem Weg ins Büro war. Er war Teilhaber einer Anwaltskanzlei und wirklich sehr gut in seinem Job. Es standen wichtige Gerichtstermine an und Vince musste noch einige Dinge vorbereiten.

Seine wichtigste Mandantin derzeit war Juliette Brown. Juliette hatte ihren Mann niedergeschlagen, weil er sie zum wiederholten Mal vergewaltigen wollte und dabei schon oft schwer verletzt hatte. Es galt nun, den Geschworenen aufzuzeigen, warum es zu dieser Verzweiflungstat durch Juliette gekommen war, bei der ihr Mann leider so schwer verletzt wurde, dass er heute ein Pflegefall war.

Anfangs war es für Vince nicht leicht gewesen, sich an die Gesetzmäßigkeiten und die Arbeit der Gerichte in New York zu gewöhnen, hatte er doch sein Handwerk damals in der Schweiz gelernt. Er hatte großes Glück gehabt, als Anwalt auch in Amerika zugelassen worden zu sein, hatte jedoch noch viel dazulernen müssen. Aber er hatte es zu einem der besten Anwälte der Stadt gebracht und darauf konnte er mit Recht stolz sein.

Besonders dankbar für die Verwirklichung seines Lebenstraumes war Vince seiner Granny, wie er sie immer genannt hatte.

Emilie Garmel war die Frau, die Vince als gerade mal 11- Jährigen bei sich aufgenommen und groß gezogen hatte. Ihr hatte Vince alles zu verdanken, ohne sie wäre er an seinem Schicksal zerbrochen. Aber Granny hatte ihn ermutigt, ja stellenweise dazu gedrängt, sein Leben in die Hand zu nehmen, es zu dem zu machen, was es heute war, was er heute war.

Vince hatte sehr darunter gelitten, als sie starb. Granny hatte ihm noch auf dem Sterbebett das Versprechen abgenommen, in die Welt hinauszugehen und für Gerechtigkeit zu kämpfen. Obwohl er Granny nie erzählt hatte, was genau geschehen war, bevor er zu ihr kam, hatte sie wohl doch einen Verdacht, dass dem Jungen weit Schlimmeres zugestoßen sein musste, als offiziell bekannt war.

Sein Taxi hatte Mühe, sich durch den Verkehr zu kämpfen. Vince hatte es vorgezogen, seinen Wagen zu Hause zu lassen, da es ausgenommen schwierig war, in dieser Stadt einen Parkplatz zu finden. Außerdem würde Debbie den Wagen später brauchen, wenn sie zum Verlag fuhr. Sie arbeitete stundenweise in der Redaktion der Times.

Bevor die Kinder geboren wurden, war sie Chefredakteurin im Verlag gewesen und wollte auch später, wenn die Kinder älter waren, wieder Vollzeit arbeiten. Vince bewunderte ihre Energie, auch damals schon, als er sie in der Redaktion kennen gelernt hatte. Vince war zu einem Interview bezüglich eines seiner Fälle bestellt worden und hatte plötzlich Debbie gegenüber gestanden.

Noch heute konnte er nicht genau sagen, was er in dem Interview gesagt oder geantwortet hatte. Er war vom ersten Augenblick an von Debbie fasziniert gewesen.

Er war gefangen in ihren Augen, die groß und von einem so intensiven Grün auf ihn herabblickten, dass es augenblicklich um ihn geschehen war. Ihre Haare waren ein wildes Durcheinander aus roten Locken, die sich wie ein Wasserfall über Debbies Schultern ergossen.

Vince war so in das Betrachten ihrer vielen kleinen Sommersprossen vertieft, dass er nicht einmal mitbekam, wie Debbie ihn amüsiert betrachtete. Sie musste bereits eine Weile nichts gesagt haben, aber Vince hatte es nicht einmal bemerkt. Debbie lächelte ihn an und Vince konnte nicht anders, als sie sofort zum Essen einzuladen. Sie sagte zu und so begann ihre Liebesgeschichte.

4

Das erste Abendessen in ihrem neuen Zuhause verlief seltsam ruhig. Irgendwann begann Vince seine Pflegemutter zu fragen, wie lange sie schon hier wohnten. Nancy Brunner antwortete knapp, dass sie erst vor kurzem eingezogen wären, allerdings nicht vorhatten, das gesamte Jahr hier zu verbringen. In den Wintermonaten seien sie oft in ihrem Haus in den Schweizer Bergen. Mike Brunner musterte die Kinder während des Essens mit einer nicht erklärbaren, finsteren Mine. Lindsay sah immer wieder verstohlen zu Vince hinüber. Sie schien ebenfalls etwas verwirrt über das Verhalten der Brunners zu sein. Scheinbar hatten sie kein großes Interesse daran, mehr über die Kinder zu erfahren, die sie zur Pflege aufgenommen hatten. Lediglich Emma lächelte den Kindern ab und an aufmunternd zu.

Nach einiger Zeit traute sich Lindsay zu fragen, in welche Schule sie nach den Ferien gehen würden.

Mike lachte kurz auf und sagte mit seiner einschüchternd tiefen Stimme, dass sie gar keine Schule besuchen würden. Nancy ergriff gleich das Wort und meinte, sie würden in einer Woche eine Privatlehrerin bekommen. Es wäre ohnehin nicht nötig, sie in einer Schule anzumelden, wenn sie doch in weniger als acht Wochen in die Schweiz gingen.

„Ja kommt denn die Lehrerin dann auch mit in die Schweiz?“, fragte Vince nach.

„Mach dir darüber mal keine Sorgen, mein Junge“, gab Nancy zurück.

Vince und Lindsay schauten sich kurz an, vermieden es aber, weitere Fragen zu dem Thema zu stellen.

„Wie gefallen euch die Zimmer?“, fragte Emma plötzlich in die Stille hinein. Vince bemerkte einen tadelnden Blick von Mike.

„Sie sind ganz wunderbar, nicht wahr, Vince? So traumhaft schön und die vielen Sachen, mit denen wir spielen können!“ Begeistert schaute sie abwechselnd von Vince zu Emma.

„Danke, Frau Brunner, Herr Brunner!“, sagte Lindsay etwas leiser.

„Gern geschehen, Kinder“, antwortete Nancy.

„Hat uns auch genug gekostet!“, knurrte Mike und wurde dafür sofort von seiner Frau mit einem bösen Blick bedacht.

Vince fühlte sich in dieser Gesellschaft immer unwohler. Er wurde das Gefühl nicht los, dass die Brunners gar nicht so glücklich darüber waren, sie beide jetzt im Haus zu haben.

Aber sie hatten sie doch in Pflege nehmen wollen, sie sogar adoptieren wollen, oder etwa nicht? Irgendwie verstand Vince das Verhalten der beiden nicht ganz. Aber vielleicht brauchten sie alle zusammen auch noch etwas Zeit, um sich einander anzunähern.

Nach dem Abendessen wurden die Kinder in ihre Zimmer entlassen.

„Wir erwarten euch morgen früh um 8 Uhr zum Frühstück. Wenn ihr Fragen habt, wendet euch an Emma, sie bewohnt in der oberen Etage das Zimmer am Ende des Ganges.“

Nancys Aufforderung klang kühl und bestimmt. Emma nickte nur und begleitete die Kinder in ihre Zimmer.

„Ich werde noch ungefähr eine Stunde brauchen, dann bin ich für euch da, ihr beiden.“ Emma lächelte die Kinder an und schob sie in Lindsays Zimmer.

Betreten ließen sich die Kinder auf Lindsays großem Bett nieder und schauten sich im Zimmer um.

„Vince, es ist wirklich wunderbar hier, aber irgendwie fühle ich mich komisch.“ Vince wusste nur zu gut, was seine Schwester meinte.

„Ich weiß, Kleine, die Brunners verhalten sich ein bisschen seltsam. Vielleicht liegt es daran, dass sie keine eigenen Kinder haben und uns beide erst näher kennen lernen müssen. Dann wird es bestimmt besser." Vince nahm seine Schwester in den Arm, um ihr ein wenig Sicherheit zu geben.

„Du hast bestimmt Recht. Außerdem haben wir Emma. Sie ist ganz nett und sie hilft uns bestimmt auch dabei, uns hier einzuleben.“ Das hoffe ich, dachte Vince.

5

Vince war endlich an der Kanzlei angekommen. Schnellen Schrittes durchquerte er die Lobby. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er weniger als eine Stunde Zeit hatte, sich auf den Juliette-Brown-Fall vorzubereiten. Er hatte nachher einen Termin mit Juliette und wollte ihr unbedingt gute Neuigkeiten überbringen können. Es wurde davon abgesehen, sie weiter in Untersuchungshaft zu lassen, da sie sich trotz aller Geschehnisse bereit erklärt hatte, sich um John, ihren Mann, zu kümmern. Vince konnte sich noch sehr gut an die Vorverhandlung im Gericht erinnern. Bisher hatte er keine Frau wie Juliette kennen gelernt. Sie hatte ihn darum gebeten, ihr Statement vor Gericht selbst halten zu können.

Sie stand auf, die Augen auf die Anwesenden im Saal gerichtet, und begann zu schildern, wie es zu der Tat gekommen war. John Brown, seit über 30 Jahren ihr Ehemann, hatte sie im Laufe der letzten Jahre immer wieder vergewaltigt und geschlagen. Sie erklärte, dass sie Verständnis für seine Situation gehabt habe, da er seinen langjährigen Job bei einer renommierten Computerfirma verloren hatte. Er begann zu trinken und jedes Mal, wenn er betrunken war, ließ er seine Wut an ihr aus. In den Jahren, in denen die Kinder noch zu Hause wohnten, hatte sie seine Wutausbrüche meist irgendwie verheimlichen können

Oft musste sich Juliette auf Arbeit krank melden, da sie vor Schmerzen kaum laufen konnte, und riskierte damit auch ihren Job. Als die Kinder aus dem Haus waren, wurden die Angriffe immer häufiger. John hatte sich seit seiner Entlassung nie wieder um einen anderen Job gekümmert. Wenn er also nicht gerade in der Kneipe war und Juliettes hart erarbeitetes Geld versoff, war er zu Hause. Eine unerträgliche Situation für Juliette. Immer wieder versuchte sie, vernünftig mit John zu reden, doch er hörte ihr gar nicht zu. Das Verständnis, das sie ihm zu Beginn ihrer Krise noch entgegengebracht hatte, verwandelte sich langsam ihn Wut und das Bedürfnis nach Selbstschutz.

Der verhängnisvolle Abend fing zunächst eher harmlos an. Juliette kam von der Arbeit aus dem Krankenhaus. Sie hatte sich vorgenommen, noch einmal mit John zu sprechen. Sie wollte ihm sagen, dass, wenn er nicht aufhören würde, sie zu quälen, sie ihn verlassen würde.

Juliette war sich dessen bewusst, dass John darauf nicht sonderlich freudig reagieren würde, aber sie war gewappnet. Eine Tasche war gepackt, ihre Schwester informiert. Sie würde einfach gehen, wenn John versuchen würde, sie wieder anzugreifen.

Aber es kam anders.

Juliette schilderte die dann folgende Situation ruhig und fast emotionslos. Doch man spürte die Schmerzen, die ihr zugefügt worden waren und die, die sie verursacht hatte. Und man sah ihr die Ohnmacht an, das Geschehene nicht rückgängig machen zu können.

Als sie ins Haus kam, war zunächst alles ruhig. Das Wohnzimmer war abgedunkelt. Nur der Fernseher lief lautlos vor sich hin. John war jedoch nicht im Raum. Juliette ging in die Küche. Hier brannte das Licht und die Kühlschranktür stand auf.

„John?“, rief Juliette verhalten. Es kam keine Antwort. Vielleicht schläft er, aber eigentlich wäre das für ihr Vorhaben nicht sonderlich gut. Etwas entspannter und doch froh darüber, der möglichen Auseinandersetzung aus dem Weg gehen zu können, ging sie um den großen Esstisch herum und schloss die Kühlschranktür. Es knirschte unter ihrem Schuh und Juliette bemerkte eine zerschlagene Bierflasche am Boden. Tief durchatmend hob sie sie auf, aber als sie dabei unter den Tisch sah, stockte ihr der Atem!

John lag da, blutverschmiert, unter und neben sich Scherben weiterer Flaschen. Juliette schrie auf. Sie versuchte John aufzurichten, doch er war zu schwer. Er kam langsam zu sich. Als er Juliette erkannte, begann er sie anzuschreien und zu beschimpfen. Juliettes beruhigende Worte schienen ihn nur noch mehr in Rage zu versetzen.

„John, ich werde jetzt einen Krankenwagen rufen.“

Sie stand langsam auf, um nach dem Telefon zu suchen. Es ist das Beste, ihn ins Krankenhaus bringen zu lassen. Er ist betrunken und hat sich wahrscheinlich bei seinem Sturz verletzt, dachte Juliette. Es ist das Beste so. Sie hätte dann ein paar Tage Ruhe, um über alles nachdenken zu können.

„Leg das beschissene Telefon weg! Ich brauche keinen verdammten Arzt!“, lallte John. Ruckartig drehte sich Juliette um. John stand genau vor ihr, schwankend zwar, aber mit hasserfülltem, starren Blick.

„John, was soll das, du bist verletzt, du musst dich behandeln lassen!“

Juliette wich ihrem Mann aus und stieß dabei mit dem Rücken gegen die Arbeitsplatte.

„Du rufst niemanden an, du Schlampe!“

Erst jetzt bemerkte Juliette, dass John am linken Arm stark blutete. In der Rechten hielt er eine Scherbe!

Oh Gott, nein, dachte Juliette, er wird mich doch nicht wieder angreifen? Dessen sicher, dass er es doch tun würde, tastete sie vorsichtshalber nach dem Messerblock, der auf der Arbeitsplatte stand.

„Ha, du wirst doch wohl deinen Mann nicht verletzen wollen, du mieses Stück?“

John warf laut lachend seinen Kopf in den Nacken, als er bemerkte, dass Juliette versuchte, nach einem Messer zu greifen. Ein starker Alkoholgeruch kam Juliette entgegen, so dass ihr augenblicklich schlecht wurde.

So entsetzlich wütend hatte sie John noch nie erlebt. Er musste so viel getrunken haben, dass sein Verstand völlig aussetzte.

„John, beruhige dich doch…“, brachte sie gerade noch heraus, als John einen Schritt auf sie zukam und die Glasscherbe vor Juliettes Gesicht hielt.

„Ich werde dir deine Visage zerfetzen!“

Panisch und instinktiv reagierte Juliette.

Sie umfasste das Messer fest und stieß es John mit aller Kraft in die linke Schulter.

Mit einem lauten Aufschrei, der Juliette durch Mark und Bein ging, taumelte John zurück und stürzte zu Boden.

„Nein! Das wirst du nicht tun…“, flüsterte Juliette leise, bevor sie in sich zusammensackte und das Bewusstsein verlor.

Wie lange sie so neben John am Boden gelegen hatte, vermochte Juliette nicht mehr zu sagen. Als sie erwachte, richtete sie sich langsam auf und ging stoisch zum Telefon, um die Polizei zu rufen.

„Ich glaube, ich habe meinen Mann niedergestochen, bitte kommen Sie schnell, er braucht einen Arzt. Er ist bei Bewusstsein, aber bitte beeilen Sie sich!“

Die Arme eng um sich geschlungen, zitternd und mit den Füßen hin und her wippend, stand Juliette in der Ecke der Küche. Ohne den Blick von John abzuwenden, der sich vor Schmerzen auf dem Boden wand, wartete sie auf das Eintreffen der Polizei. Das Messer stak noch immer in seiner Schulter. Als sich ihre Blicke trafen, sah Juliette Bedauern in seinen Augen, aber es war zu spät. Es war geschehen!

Später wurde festgestellt, dass die Verletzung der Schulter durch das Messer nicht die Ursache für die linksseitige Lähmung des Oberkörpers gewesen war. Durch eine Scherbe, die in Johns Arm steckte, war eine Sehne irreparabel verletzt worden.

Diese Tatsache änderte allerdings nichts daran, dass Juliette ihren Mann angegriffen hatte und dafür angezeigt wurde.

Immer wieder dachte Vince an die Stunden im Gerichtssaal zurück. Er konnte sich nicht vorstellen, welches Gericht der Welt Juliette je verurteilen würde, aber Johns Anwalt war ein harter Gegner. Vince hatte vor, auf Notwehr zu plädieren und Sozialarbeit anzubieten. Juliette bestand darauf, ihren Ehemann zu pflegen, auch wenn er jahrelang ihr Peiniger gewesen war. Doch es war ihre Art der Wiedergutmachung, nicht nur der Schuld, die sie an der Situation hatte, sondern auch der der letzten Jahre der Ehe mit John.

Vince bewunderte Juliette für ihr Auftreten. Sie hätte genauso gut auch einfach gehen können, nach dem Urteil ein neues Leben beginnen und alles hinter sich lassen können. Aber sie tat es nicht, sie wollte trotz allem oder gerade deshalb bei John bleiben. Juliette hatte Vince anvertraut, dass sie froh war, endlich ihren Mann wiederzuhaben. Sie hatte einige Gespräche mit ihm geführt und auch bei der Verhandlung im Gericht war er anwesend. John schien ehrlich zu bereuen, was geschehen war, und vor allem, warum es dazu gekommen war.

Das Urteil am Nachmittag würde es zeigen. Vince war gut vorbereitet, er würde alles daran setzen, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. So wie er es damals auch hätte tun sollen, aber als Junge noch nicht in der Lage dazu gewesen war...

6

Ein lautes Summen riss Vince aus seinen Träumen. Enttäuscht, die wenigen Erinnerungen an seine Eltern wieder seiner Traumwelt überlassen zu müssen, schaute er sich im Raum um. Er begriff langsam, wo er war. Es war nicht mehr der Schlafraum im Kinderheim, den er sich mit drei anderen Jungen und meist mit seiner Schwester teilte, nein, es war dieses neue, große Zimmer. Sein neues Zimmer. In einem neuen Haus, einer neuen Familie. Ein Lächeln breitete sich auf seinem spitzbübischen Gesicht aus, als er sich zum lärmenden Wecker umdrehte. Seine Schwester lag noch zusammengerollt wie eine kleine Kugel neben ihm, an seinen Rücken gekuschelt, so wie sie es schon unzählige Male zuvor getan hatte. Vince drückte auf den Wecker, beugte sich vorsichtig über seine Schwester und blies ihr sanft ins Ohr. Er wusste, wie sehr sie das hasste, konnte es aber dennoch nicht lassen. Er musste schnell sein, wenn Lindsay aufwachte, denn sie schlug sofort zurück. Und genau so kam es auch. Seine Schwester fuhr hoch, noch völlig verschlafen und desorientiert.

Irritiert schaute sie sich um, aber als sie Vince grinsend am anderen Ende des Bettes sitzen sah, war Lindsay hellwach. Blitzschnell griff sie nach den Kissen und warf sie nach Vince.

Das Lachen der Kinder hallte durch den oberen Flur. Emma kam gerade die Treppe herauf und ihr Herz machte einen kleinen Sprung, als sie die Kinder toben hörte. Sie hatte die beiden schon ins Herz geschlossen und doch wurde sie traurig, wenn sie dabei an Mike und Nancy dachte. Die beiden waren nicht fähig, mit Kindern umzugehen, das wusste sie. Sie hatte es bereits erlebt, und bis heute wusste sie nicht, was mit Simon wirklich geschehen war.

Emma wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, bevor sie an Lindsays Zimmertür klopfte. Sofort wurde es ruhig im Zimmer. Eine dünne Stimme antwortete:

„Herein?“

Langsam öffnete Emma die Tür und sah die Kinder vollkommen zerzaust auf dem Bett sitzen.

„Guten Morgen, ihr Lieben. Es ist Zeit aufzustehen. Die Brunners erwarten euch gleich zum Frühstück.“

Liebevoll wuschelte sie Lindsay durchs Haar.

„Habt ihr beide zusammen hier geschlafen?“

Etwas betreten schauten sich die Kinder an.

„Ja, wir schlafen immer zusammen. Ist das ein Problem? Dürfen wir das hier nicht?“

Im ersten Moment wusste Emma nichts zu antworten. Sie selbst fand es wunderbar. Sie spürte die enge Verbundenheit der Zwillinge, das Schicksal hatte sie wohl einander noch näher gebracht.

Doch sie ahnte, dass Mike und Nancy wenig begeistert wären. Aber sie mussten es ja nicht erfahren.

„Aber nein, es ist doch wunderbar! Doch wisst ihr, vielleicht sollte es unser Geheimnis bleiben, ja?“

Emma setzte sich zu den Kindern aufs Bett, nahm sie beide in die Arme und drückte sie fest an sich.