Sei lieb und stirb - Diana Ramsay - E-Book

Sei lieb und stirb E-Book

Diana Ramsay

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Beschreibung

Warum sie den texanischen Playboy von der Party mitgeschleppt hat, ist der Ärztin Judith Walker ein Rätsel. Am nächsten Morgen hat er sich auf Französisch empfohlen, und Judith denkt nicht mehr an ihn. Erst als sie seinen riesigen Hut mit dem Flugticket im Band findet, kommt ihr die Sache nicht mehr geheuer vor. Doch die Freundin bittet Lieutenant Meredith, sich unauffällig umzusehen. Da passieren Judith plötzlich die seltsamsten Dinge. Ein Unbekannter scheint sie fertigmachen zu wollen … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Diana Ramsay

Sei lieb und stirb

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ute Tanner

FISCHER Digital

Inhalt

123

1

Kronleuchter in verschwenderischer Fülle funkelten in dem Saal. Die Gästeliste war gut und gern dreistellig. Alle Anwesenden schienen ihren Ehrgeiz dareinzusetzen, an Lautstärke die Band zu übertönen, trotzdem wirkte das Stimmengewirr nur wie gedämpftes Murmeln. Vielleicht war hinter der blauen Wandbespannung ein geheimnisvoller Schallschluckmechanismus versteckt, der die Phonstärke dämpfte? Judith, die sich mit ihrem Martiniglas an die Wand zurückgezogen hatte, zuckte es in den Fingern, den Stoff wegzuschieben.

Ein auffallend großer Mann mit gelichtetem Haar und üppigem Schnurrbart, der gerade Kurs auf Judith genommen hatte, blieb stehen, als er sah, wie die Wandbespannung hinter ihr sich immer heftiger bewegte.

»Die ist zu massiv«, urteilte eine Stimme in der Menge. »Ein wandelndes Erdbeben.«

Der Große blieb stehen und taxierte Judith. Auch sie war groß, das hochfrisierte kastanienbraune Haar machte sie noch größer, und der wallende Kaftan mit der üppigen bunten Stickerei ließ ihre Figur nicht gerade schmaler erscheinen. Eine Frau, die zeigte, was sie hatte.

»Respekt«, sagte der Große und schlug eine andere Richtung ein.

Judith hatte ihre Bemühungen aufgeben müssen, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Wenn man nicht gerade einen Säbel zur Hand hatte, schien es keine Möglichkeit zu geben, die Wandbespannung zu teilen. Das Zeug sah zart wie Spinnweben aus, fühlte sich aber hart an wie Beton. Warum schaffen sich Leute, die das Geld nur so scheffeln, solchen Schund an? Vielleicht mit Rücksicht auf das Personal? Pflegeleicht war diese Art von Wandbespannung bestimmt – man brauchte sie nur abzuwaschen. Wahrscheinlicher allerdings schien, daß mal wieder – ein beliebter Sport der Reichen – an Kleinigkeiten gespart worden war. Das galt auch für den Gin, den sie anderswo schon in besserer Qualität erlebt hatte. Sinngemäß ließ sich das auch von der Party selbst sagen, allerdings hätte sie da vielleicht ihren Eindruck revidiert, wenn es ihr gelungen wäre, Anschluß zu finden. Bisher hatte noch kein Mensch mit ihr gesprochen außer dem Gastgeber, von dem sie – erstaunlicherweise hatte er sich sogar noch an ihren Namen erinnert – begrüßt und gleich in Richtung Saalmitte weitergewinkt worden war, wo angeblich »schwer was los« sein sollte.

Sie spürte ein Gähnen in sich aufsteigen und hob die Hand, um sie vor den Mund zu halten. Aber der ausgewachsene Gähnkrampf war nicht zu tarnen.

»He, winkt uns der Bettzipfel?«

Ein unmöglicher Eröffnungszug – und eine unmögliche Erscheinung. Cowboyhut und Rindlederstiefel, Baumwollhemd und Jeans waren offenbar häufig getragen und wirkten echt, der Mann weniger. Stupsnasiges Milchgesicht, blaue, treuherzige Augen, gebräunte Haut, strahlendes Lächeln und blondes Haar. Bei seinem Anblick drängte sich unwillkürlich die Frage auf, für welche Shampoo- und Zahnpastafirma er Reklame lief. Er roch verdächtig nach Fernsehoder Filmstudio. Wahrscheinlicher war das letztere, denn alles an ihm wirkte etwas überlebensgroß. In seiner Hand nahm sich ein normales Whiskyglas aus wie ein Meßbecher.

»He, ich spreche mit Ihnen«, sagte die Erscheinung jetzt etwas vorwurfsvoll. Der Vorwurf war berechtigt. Sie benahm sich wirklich unhöflich. Ihr »Guten Abend!« fiel deshalb eine Spur herzlicher als beabsichtigt aus.

»Na also! Ich hatte schon Angst, Sie wären vielleicht taubstumm. Kann ich Ihnen einen Drink organisieren?«

Judith sah auf ihr zu zwei Dritteln gefülltes Glas. »Für meine andere Hand?«

Sein gutmütiges Lachen schien nicht so recht zu dem Bild als Herzensbrecher der Prärie zu passen und wirkte um so sympathischer.

»War auch nur eine Ausrede. Ich bin Oz Krebs. Aus Houston, Texas.«

Ein glatter Schwindel. Der Südstaatenakzent war zu dick aufgetragen, das harmlos sonnige Lächeln eine Spur zu harmlos sonnig. Sie kicherte, und während sein Lächeln gespielter Verblüffung wich, wuchs sich ihr Kichern zu einem Lachen aus, das wie ein Glockenspiel durch den ganzen Saal schwang. Köpfe ruckten zu ihr herum, Unterhaltungen verstummten.

»Was gibt’s denn da zu lachen?« Der gekränkte Blick konnte nicht geheuchelt sein.

Judith nahm sich zusammen. Da hatte sie sich also offenbar doch vergaloppiert. »Entschuldigen Sie, ich dachte –« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung, die den Saal umfaßte. »Die meisten Gäste hier sind vom Fernsehen, und was Sie anhaben, sieht aus wie ein Kostüm. Ich habe Sie für einen Schauspieler gehalten.«

»Sehr schmeichelhaft, aber völlig falsch. Wissen Sie, wieso ich hier bin? Ich gehe ganz ahnungslos den Broadway entlang und denke an nichts Böses, da läuft mir eine Bekannte über den Weg und schleppt mich hierher. Kaum waren wir drin, hat sie mich stehengelassen, um sich einem Produzenten an den Hals zu werfen, und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Na, soll sie machen, was sie will. Wir zwei werden uns schon vertragen.«

Etwas vorlaut, der Gute, dachte Judith und hob in schulmeisterlicher Mißbilligung die Brauen.

Er reagierte mit einem entwaffnenden Grinsen. »Was machen Sie eigentlich? Wetten, daß Sie nichts mit dem Fernsehen zu tun haben? Nicht, daß Sie da nicht ankämen, so wie Sie aussehen, aber ich tippe auf etwas, wozu man mehr Köpfchen braucht.«

Mit Feinheiten war dieses sonnige Gemüt offenbar nicht abzuwimmeln. »Ich bin Ärztin.«

»Nicht zu fassen! Stellen Sie sich vor, mein Großvater war auch Arzt. Ist das nicht ein komischer Zufall?«

»Ehrlich gestanden finde ich es nicht. Ärzte gibt es wie Sand am Meer! Wenn ich Tierärztin wäre und Sie zufällig einen Kollegen in der Familie hätten – das wäre schon bemerkenswerter.«

»Na, Sie nehmen es aber genau!«

»Da haben Sie recht. Ein schwacher Punkt bei mir.«

»Macht nichts. Sie haben sicherlich geglaubt, ich wollte Sie mit meiner Bemerkung bloß auftauen. Aber mein Großvater war wirklich der einzige Arzt, mit dem ich je zu tun hatte. Seit er tot ist, habe ich keinen Fuß mehr in eine Praxis gesetzt. Ob Sie’s glauben oder nicht.«

»Ich glaube Ihnen ja! Vermutlich sind Sie in Ihrem ganzen Leben noch nicht krank gewesen.«

»Ich mußte mir mal die Mandeln rausnehmen lassen. Von meinem Großvater natürlich. Und jetzt, wo ich älter werde, erwischt mich doch schon hier und da ein Virus.«

Judith mußte lächeln. Er konnte nicht älter als dreiundzwanzig, höchstens fünfundzwanzig sein.

»Alles in allem kann ich nicht klagen, das stimmt schon. Für den Notfall habe ich einen Schrank voller Medikamente, die hab’ ich mir in Mittelamerika zugelegt.«

Judith verging das Lächeln. »Was für Medikamente?«

»Penicillin, Aureomycin, Mittel, die so ziemlich alles umbringen.«

»Und Sie mit, wenn Sie nicht aufpassen. Sie sollten so etwas nie –«

»- ohne ärztliche Aufsicht nehmen, Madam!« Wieder das breite, entwaffnende Grinsen. »Das Doktor so ohne alles hört sich ein bißchen nackt an. Was hängt denn noch dran?«

»Walker. Judith Walker.«

Kaum war der Name heraus, als Judith eine plötzliche Spannung in der Luft spürte. Als sie sich umwandte, weil sie feststellen wollte, aus welcher Ecke die Spannung kam, begegnete sie dem feindseligen Blick aus den dunklen, tiefliegenden Augen einer Frau, die sie bestimmt noch nie gesehen hatte. Niemand, der einmal in dieses von inneren Kämpfen verwüstete Gesicht mit den hohen, vorstehenden Wangenknochen und dem energischen Kinn geblickt hatte, konnte es je vergessen, ebensowenig wie das glänzende silberblonde Haar, das bis auf die Schultern fiel und zu einer ganz anderen Frau zu gehören schien.

Es war eine sonderbare Erfahrung, plötzlich dem Zorn einer Unbekannten ausgesetzt zu sein. Judith beschlich ein deutliches Unbehagen. Schlimmer – ein Schuldbewußtsein, obgleich sie sich keiner Schuld bewußt war. Langsam erlosch die Erregung in den Augen der Frau. Sie wandte sich ab, und Judith blickte auf ihren gebeugten Rücken und die hängenden Schultern, Symptome tiefster Hoffnungslosigkeit.

»He, Judy, aufwachen!«

»Judith«, korrigierte sie automatisch. »Auf Judy höre ich nicht.«

Dankbar wandte sie sich der tröstlich strahlenden Texassonne zu.

»Sie sprachen von Mittelamerika. Aber dort waren Sie sicher nicht nur, um Ihre Hausapotheke aufzufüllen, nicht wahr?«

»Nein. Ich war auf der Suche nach einer spanischen Galeone, die dort mit einem Schatz an Bord gesunken ist.«

Daran hing natürlich eine Geschichte, und es war nur wenig Nachhilfe nötig, um ihn zum Reden zu bringen. So faszinierend der Bericht über die Heldentaten unter Wasser, die verzweifelten Kämpfe gegen die Behörden in Costa Rica und Nicaragua, über Hexen und Zauberer, das Scheingericht, die Verurteilung der Schatzsucher wegen Diebstahls und ihre Abschiebung auch sein mochte – Judiths Interesse war bestenfalls lauwarm. Als dann die Rede auf den Zweck seines Besuches in New York kam – er wollte hier Tauchgeräte an den Mann bringen -, schwand auch der letzte Rest von Anteilnahme dahin, und sie überlegte sich, wie sie ihn am besten wieder loswerden konnte.

Plötzlich erklärte er: »Schade, daß ich meinen Revolver nicht bei mir habe.«

Jetzt war sie wieder ganz da. »Um ein Zielschießen auf die Kronleuchter zu veranstalten?«

»Ach, nur so zur Belebung.« Wieder das jungenhafte Grinsen.

»Könnte dem Fest nicht schaden. Aber die verbieten einem hier ja das Tragen einer Waffe ohne Waffenschein. Deshalb hab’ ich meine Kanone lieber zu Hause gelassen.»

»Wie bedauerlich«, sagte Judith ironisch.

Ob er die Ironie herausgehört hatte, war ihm nicht anzumerken. Sehnsüchtig betrachtete er einen der Kronleuchter. »Ihre Idee ist großartig.« Er seufzte. »Das sind aber auch blöde Gesetze in dieser Stadt!«

»Viele Leute dürften da anderer Ansicht sein.«

»Klar. Bestimmt dieselben Typen, die Partys aufziehen, an denen nur der Sandmann seine Freude hat.« Noch immer mit dem Blick auf den Lüster hob er sein Glas und leerte es nach bester Kinomanier in einem Zug. »Los, Judy, trink aus! Wir ziehen weiter. Es gibt einen Haufen schöne Bars in New York.«

Das war zuviel. »Wie kommen Sie eigentlich darauf, daß ich mit Ihnen irgendwohin gehen möchte?«

»Nicht?« Das klang weder gekränkt noch bekümmert. In den treuherzigen blauen Augen stand unverhohlenes Erstaunen.

Judith lachte. Wieder war ihr Lachen im ganzen Saal zu hören. Wieder wandten sich Köpfe zu ihr um.

»Unglaublich, dieses Lachen, Judy!«

»Ich weiß.« Wie immer nach einem ihrer Ausbrüche fühlte sich Judith bemüßigt, ihre Stimme zu senken. »Manchmal ist es peinlich, daß ich die Lautstärke nicht in den Griff kriegen kann.«

»Peinlich? Red’ keinen Unsinn! Ich finde es großartig.« Er packte ihren Ärmel. »Wenn du nicht freiwillig mitkommst«, flüsterte er ihr ins Ohr, »schneid ich aus lauter Verzweiflung die Wandbespannung mit meinem Klappmesser kurz und klein. Jetzt trink aus!«

Judith gehorchte.

 

Cassandra Evans ging die Treppe hinauf. Da sie mit beiden Armen eine sperrige braune Papiertüte mit Lebensmitteln festhielt, kam sie nur langsam vorwärts. Auf dem dritten Treppenabsatz hörte sie das Adagio aus Mozarts Oboenquartett. Demnach war Mike Meredith, der im Morddezernat der New Yorker Polizei arbeitete und von einem normalen Feierabend nur träumen konnte, ausnahmsweise schon zu Hause. Die letzten beiden Treppenabsätze bewältigte sie im Laufschritt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.

»Hallo«, rief sie, noch ehe die Wohnungstür ganz offen war. Sie setzte die Tüte ab, wartete, bis Meredith, groß, hager und rothaarig, am anderen Ende der Diele erschien, und lief auf ihn zu. Sie trafen sich unter der Lampe. Und weil in ihrem Lichtkreis sein Haar Funken zu sprühen schien, machte Cassandra lieber gleich die Augen zu.

»So bin ich schon eine Ewigkeit nicht mehr geküßt worden«, stellte sie fest, als er sie losließ, damit sie nach Luft schnappen konnte.

»Heute früh.«

»Mir kam es vor wie eine Ewigkeit.«

»Du bist albern.« Er küßte sie wieder. Als sie sich losließen, legte er den Kopf zurück und sah die Tüte. »Du warst einkaufen? Ich denke, es gibt heute die Reste vom Eintopf?«

»Ich habe umdisponiert. Wir bekommen Besuch.«

Er machte ein finsteres Gesicht.

»Judith kommt. Du weißt doch, Judith Walker. Das ist –«

»- die Ärztin, die Leukämieforschung betreibt.«

»Noch nicht offiziell. Das Stipendium läuft erst vom nächsten Jahr an. Im Augenblick ist sie noch Assistenzärztin. Sie hat mich heute angerufen, weil sie das Gefühl hat, einer Sache auf der Spur zu sein, die vielleicht die Polizei angeht. Sie möchte mit dir darüber sprechen, und da habe ich sie einfach zum Abendessen eingeladen.«

»Patienten, die im Krankenhaus eines geheimnisvollen Todes sterben?«

»Du denkst zu einspurig. Es hat nichts mit dem Krankenhaus zu tun. Ein Bekannter von ihr scheint verschwunden zu sein.«

»Warum wendet sie sich dann nicht ans Vermißtendezernat? Dazu sind die Kollegen da.«

»Sie weiß anscheinend noch nicht recht, ob die überhaupt dafür zuständig sind. Sehr gut scheint sie den Mann nicht zu kennen. Am Telefon hat sie sich nicht näher darüber ausgelassen.«

Meredith gab Cassandra frei und trug die Tüte in die Küche. »Ich kann mir für einen freien Abend auch ein anregenderes Programm vorstellen«, rief er über die Schulter zurück.

Cassandra gab ihm insgeheim recht. Aber wenn Judith tatsächlich etwas Verdächtiges aufgespürt hatte - und davon durfte man getrost ausgehen, denn Judith neigte nicht zur Übertreibung -, mußte alles andere natürlich zurückstehen.

Als Cassandra in die Küche kam, hatte Meredith schon ausgepackt und die Einkäufe auf dem Kiefernholztisch ausgebreitet. Er stellte fest, daß sie ein interessanteres Menü als Eintopf versprachen. Nicht, fügte er hinzu, daß Eintopf schlecht gewesen wäre … Ein solches Kompliment - denn er war auch nicht gerade überragend gewesen - verdiente eine Belohnung. So führte eins zum anderen, und Cassandra war drauf und dran, ihren Besuch völlig zu vergessen, als Meredith sich erkundigte, wann sie Judith erwartete. Erschrocken machte sie sich los, um sich nun ernsthaft in die Vorbereitungen zu stürzen. Selbst wenn man für das Kochen keine übermäßige Begeisterung aufbringen konnte - in dieser großen weißgetünchten Küche mußte die Arbeit Spaß machen. Beim Einzug hatte sie durch die großen Schränke, die wie Wächter von Ordnung und Anstand in den Raum hineinragten, etwas einschüchternd gewirkt. Nachdem sie die Türen herausgenommen und das Innere rot gestrichen hatten – einen Ton heller als die Fliesen - war der Eindruck eher fröhlich und ziemlich provisorisch, was für eine Elevin der Kochkunst etwas sehr Beruhigendes hatte.

Jahrelang hatte Cassandra allein gelebt und ihre Mahlzeiten ziemlich lieblos zusammengerührt, da fehlte einfach die Erfahrung. Nachdem sie jetzt für zwei kochen mußte, war es zwar schon wesentlich besser geworden, aber sie hatte noch viel zu lernen. Ihr guter Geschmack und ihre ausgeprägte Lust am Experimentieren führten zwar oft zu vorzüglichen Ergebnissen, die aber durch ihre Vergeßlichkeit praktisch unwiederholbar waren. Der heutige Speisezettel war denkbar einfach: Kalbsmedaillons mit Champignons, neue Kartoffeln mit Butter und Petersilie, Salat, Käse und Äpfel. Die Vorbereitungen waren schnell erledigt.

Als Cassandra mit den ersten Tellern ins Wohnzimmer kam, sah Meredith, der es sich mit der New York Times in einem Sessel behaglich gemacht hatte, auf die Uhr, stellte fest, daß sie Zeit genug hatte, um allein fertig zu werden, und hielt sich weise zurück. Bald war der Tisch gedeckt, auf dem Tisch vor der Couch standen Nüsse, Oliven, Gurken, Salamischeiben, Butter und Crackers.

Die vereinbarte Zeit rückte näher. Judith ließ auf sich warten. Cassandra machte es sich auf der Couch hinter den Cocktailhappen bequem. Von der anderen Zimmerseite erreichten sie stumme, aber deutlich spürbare Unmutsäußerungen. Judith habe meist im Krankenhaus so viel zu tun, daß sie schon mal vergessen konnte, auf die Uhr zu sehen, meinte Cassandra. Meredith antwortete nicht, aber sein Ärger schien abzuebben.

Judith erschien, ohne Erklärung oder Entschuldigung, mit über einer Stunde Verspätung. Cassandra war an ihre unkonventionelle Art gewöhnt, im Gegensatz zu Meredith, den auch Judiths Vorliebe für grelle Farben unvorbereitet traf. Auf ihr bodenlanges Kleid im Afrikalook, in lebhaften Rot- und Orangetönen, reagierte er negativ.

Auch Judith schien von der neuen Bekanntschaft nicht begeistert zu sein. Ihre klaren grauen Augen verdunkelten sich, als sie das rote Haar, die harten Züge, den scharfen Blick registrierte. Sie warf Cassandra einen vorwurfsvollen Blick zu, was unfair war. Denn was hätte sie sagen sollen? Mein Freund sieht aus wie ein Kinderschreck? Das fing ja gut an.

Die Feindseligkeiten wurden kurz unterbrochen, als Meredith in die Küche ging, um Eis zu holen. Judith hatte Gelegenheit, von den Büchern in den Regalen Notiz zu nehmen, und vermerkte den ersten Pluspunkt. Leider kam Meredith gerade wieder herein, als Judith mit deutlicher Mißbilligung die zahlreichen Aschenbecher entdeckte, von denen nur wenige leer waren.

Lange Ausflüchte waren nicht Judiths Sache. Sie trank einen Schluck Martini, stopfte sich eine Handvoll Nüsse in den Mund und legte los. Bei dem Verschwundenen handele es sich um einen Mann, den sie auf einer Party kennengelernt hatte. »Es war die Abschiedsfeier eines unserer prominenten Fernsehbosse. Er ist inzwischen nach Tanganjika oder Timbuktu oder Gott weiß wohin geflogen, um ein Urwaldepos zu drehen. Vor ein paar Monaten hatte ich ihn zu Untersuchungen bei uns im Krankenhaus, und als ich sein ständiges Gejammer nicht mehr hören konnte, habe ich ihm ziemlich deutlich meine Meinung gesagt. Das hat offenbar Eindruck auf ihn gemacht. Seit zwanzig Jahren hätte niemand mehr den Mut gehabt, in diesem Ton mit ihm zu reden, hat er behauptet. So kam ich zu dieser Einladung. Ich kannte nicht eine Seele dort – eingeladen waren hauptsächlich Fernsehleute, Oz Krebs ging es genauso. Er –«

Hier unterbrach Cassandra sie mit der Bemerkung, Oz Krebs sei einfach kein Name. Doch, bestätigte Judith, so habe der Mann geheißen, und wenn Cassandra ihr schon seinen Namen nicht glaubte, würde sie ihr sein Aussehen erst recht nicht abnehmen – womit sie wieder einmal recht behielt.

»Seine Aufmachung war so übertrieben, daß ich ihn zuerst für einen Schauspieler hielt. Aber nein – angeblich war er Vertreter für eine Houstoner Fabrik für Tauchgeräte. Auf der Party war er gelandet, weil irgendeine Freundin ihn mitgeschleift und am Eingang prompt abgehängt hatte. Das Mädchen habe ich zwar nicht zu Gesicht bekommen, aber ich hatte keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Gerissen sah er nicht aus. Allerdings wirkte er etwas zu überzeugend. Er war wie ein Wirbelsturm!«

Judith trank wieder einen Schluck und holte sich eine zweite Handvoll Nüsse. »Ich habe die Party mit ihm zusammen verlassen. Wir waren dann noch in einer ganz netten Bar und sind anschließend zu mir gegangen. Er hat die Nacht bei mir verbracht, und wir verabredeten uns für den nächsten Abend zum Essen. Aber er kam nicht. Das ist jetzt eine Woche her, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Schön, ich hätte mir sagen können, daß er mich ganz einfach versetzt hat, nur - er hat seinen Cowboyhut bei mir vergessen. Es ist ein Prachtstück, nicht neu, aber tadellos erhalten und fleckenlos sauber. Er hat ihn abgenommen und auf den Schreibtisch gelegt, als sei er aus Glas. Ganz offenbar hängt er an dem albernen Ding. Er würde ihn bestimmt nie einfach im Stich lassen. Das hat mich auf den Gedanken gebracht, daß Krebs etwas zugestoßen ist.«

Sie suchte in Merediths Gesicht nach Bestätigung. Vergeblich.

»Vielleicht ist ihm nur entfallen, wo er ihn liegen ließ.«

»Aber dann hätte er sich überlegen können, wo er überall war, und wäre früher oder später auf mich gestoßen. Meine Adresse und Telefonnummer hat er sich ja in seinem kleinen blauen Notizbuch notiert.«

»Vielleicht hat er sein kleines blaues Notizbuch verloren. Oder vielleicht hat er sich, nachdem er Sie versetzt hatte, vor einer zweiten Begegnung mit Ihnen gedrückt, und in ein, zwei Wochen bekommen Sie einen Brief aus Houston mit der Bitte, ihm den Hut - Gebühr zahlt Empfänger - freundlichst nachzuschicken.«

»Möglich ist es natürlich. Ich lasse mich nicht gern versetzen - wer tut das schon? Nur liegt da eben immer noch dieser Hut bei mir herum! Und noch etwas. Es ist eine Art Tasche darin, ein an das Schweißband angenähter Lederstreifen. Ich habe sie entdeckt, als ich nach dem Firmenschild suchte. In der Tasche steckt das Rückflugticket eines TWA-Fluges Houston – New York. Ich habe gleich dort angerufen und gefragt, ob jemand den Verlust gemeldet hat. Aber das war nicht der Fall. Es war ein Ausflugstarif, der gestern ablief. Heute früh habe ich noch einmal bei TWA angerufen. Wieder Fehlanzeige. Deshalb habe ich eben das Gefühl, daß da etwas nicht stimmt.«

»Kann sein, kann auch nicht sein«, antwortete Meredith. »Wenn er durch irgendwelche unvorhergesehenen Ereignisse gezwungen war, das Ticket verfallen zu lassen, meldet er vielleicht den Verlust erst unmittelbar vor seinem Rückflug – oder überhaupt nicht. Haben Sie schon versucht, ihm auf die Spur zu kommen?«

»Ja. Bei den Hotels habe ich gar nicht erst angefangen, das ist sowieso hoffnungslos. Aber ich habe bei verschiedenen Sportartikelgeschäften angerufen, die auch Tauchgeräte verkaufen. Dort war er völlig unbekannt.«

»Sieht so aus, als hätte er Ihnen einen Bären aufgebunden, was den Zweck seines Besuches in New York betrifft.«

»Nicht unbedingt. Vielleicht hat er mit Leuten verhandelt, die eine Bergungsexpedition ausrüsten. Weshalb hätte er mir ein Märchen erzählen sollen? Das Ticket deutet darauf hin, daß er tatsächlich aus Houston stammt. Warum soll also nicht auch das andere stimmen?«

»Haben Sie im Telefonbuch von Houston nachgesehen?«

»Ja. Der Name Krebs taucht dort mehrfach auf, allerdings ist kein Oswald oder Oscar verzeichnet. Aber das muß nichts besagen. Vielleicht wohnt er bei seinen Eltern. Oder er hat eine Geheimnummer. Ich bilde mir einiges auf meine Menschenkenntnis ein, und ich könnte schwören, daß der Junge keiner Fliege was zuleide tun könnte. Er ist so leicht durchschaubar, klar wie eine Glasscheibe. So ein Typ, dem seine Mutter noch eingebleut hat, daß man zu Damen höflich sein muß. Eine Frau kaltschnäuzig abzuhängen, das käme für ihn nicht in Frage. Aber von ethischen Überlegungen mal ganz abgesehen – weshalb sollte er auf die Zugabe verzichten? Ich möchte wetten, daß er seinen Spaß gehabt hat …« Judith unterbrach sich, und ihre Augen wurden noch um eine Schattierung dunkler. »Sie nehmen das nicht ernst, stimmt’s?«

»Nein.«

Judith wurde blaß, und das leuchtende Rot von Lippenstift und Rouge, das kunstvolle Grünsilber des Augen-Make-up sahen plötzlich aus wie Farben auf Wachs. »Und das ist Ihr letztes Wort zu diesem Thema?«

»Es ist nur meine Meinung. Und ich dachte, darum ginge es Ihnen …«

»Allerdings. Besten Dank.«

»Offenbar kann nichts, was ich sage, Sie davon abbringen, sich Sorgen um diesen Krebs zu machen. Ich an Ihrer Stelle würde Vermißtenanzeige erstatten. Wenn Sie wollen, erledige ich das für Sie.«

»Ich habe ungern das Gefühl, irgendwelchen Leuten die Zeit zu stehlen«, sagte Judith kalt.

»Sie zahlen Ihre Steuern und es sind Beamte«, gab Meredith noch um eine Spur kälter zurück.

Cassandra erhob sich hastig. »Ich bin am Verhungern. Hilfst du mir ein bißchen, Judith?«

Das taktvolle Manöver wurde von zwei Seiten mit wütenden Blicken quittiert. Aber dann ließen die beiden Kampfhähne tatsächlich voneinander ab, Judith lächelte und sagte, sie würde ihr natürlich gern zur Hand gehen. Meredith erbot sich, ihnen als Stärkung für die Küchenarbeit noch zwei Martinis zu mixen, ein Angebot, das dankend angenommen wurde.

Beim Hantieren am Herd kehrte wieder etwas Farbe in Judiths Gesicht zurück, und Cassandra stellte erleichtert fest, daß sich auch ihre Laune wieder hob. Die üblichen Witzeleien über Cassandras Kochkünste waren ausnahmsweise einmal willkommen. Als alles zum Auftragen bereit war, herrschte in der Küche die beste Stimmung, und bei der erneuten Begegnung der beiden Widersacher gab es keinen Funkenflug. Nachdem das Essen gebührend gelobt worden war, fragte Meredith Judith nach ihrer Arbeit im Krankenhaus, und sie ging bereitwillig auf seine Fragen ein. Aus seiner höflichen Neugier wurde bald echtes Interesse, denn niemand konnte Judith über ihre Arbeit reden hören, ohne von ihrer Hingabe und Begeisterung beeindruckt zu sein. Gott sei Dank, jetzt ist das Kriegsbeil endgültig begraben, dachte Cassandra aufatmend.

Aber da hatte sie sich geirrt. Als sie beim Kaffee saßen, wandte Judith sich mit harmlosem Augenaufschlag an Meredith und fragte mit einer Freundlichkeit, die nicht einmal ein kleines Kind hinters Licht geführt hätte, warum er so sicher sei, daß der verschwundene Texaner nicht tatsächlich verschwunden war.

Weil es, gab er zurück, für diese Annahme in ihrer Geschichte auch nicht den geringsten Anhaltspunkt gab.

Und der Hut?

Krebs konnte sich einen neuen Hut kaufen. In seiner Gegend gab es genug Leute, die Geld wie Heu hatten. Wenn er nicht selber zu diesen Glücklichen zählte, würde es ihm gewiß nicht schwerfallen, eine reiche Puppe aufzureißen, die ihm mit Wonne einen neuen Hut kaufen würde – oder was sein Herz sonst begehrte. Auf Frauen schien er sich ja zu verstehen.

Cassandra hielt den Atem an. Einen Augenblick schien es, als sei Judith bereit, das zu schlucken, denn sie hob mit ruhiger Hand, ein Bild völliger Selbstbeherrschung, ihre Tasse und setzte sie an die Lippen. Klirr! Die leere Tasse schlug laut auf der Untertasse auf. »Offenbar sehen Sie in mir eine Frau, die es nicht überraschen dürfte, versetzt zu werden?«

»Es wäre jedenfalls vernünftiger, sich mit diesem Gedanken zu befreunden, als durch die Erfindung geheimnisvoller Kriminalfälle ein angeschlagenes Selbstbewußtsein aufpäppeln zu wollen.«

»Mike!«

»Du hältst dich da raus, Cassandra!«

»Sehr richtig.« Judiths Augen waren fast schwarz geworden, ihre Nasenflügel bebten. »Misch du dich nicht ein! Da haben wir ja mal wieder den patriarchalischen Standpunkt in Reinkultur.«

»Wenn Sie es unbedingt so auslegen wollen …«

»Wie sonst soll man es auslegen? Es ist doch sonnenklar, daß Sie der Meinung sind, eine Frau, die sich ohne die übliche Ziererei einem Mann hingibt, verdient nur einen Tritt in den Hintern.«

»Das habe ich nicht gesagt.« Meredith behielt die Ruhe. Allerdings kostete es ihn sichtliche Mühe.

»War auch nicht nötig. Im übrigen kenne ich die Gefahren ganz genau, daß Sie es nur wissen.«

»Mike –«

»Sei still, Cassandra.«

»Cassandra, red jetzt nicht dazwischen …«

»Warum haltet ihr nicht endlich den Mund?«

Das half. Einen Augenblick starrten sie beide Cassandra ziemlich fassungslos an, aber dann war sie schon wieder vergessen, und der Kampf ging weiter.

»Das ist doch witzlos, Judith«, sagte Meredith schließlich. »Im Grunde genommen kann es Ihnen völlig egal sein, was ich von Ihrem Cowboy denke. Wichtig ist, was Sie denken. Wenn Sie sich Sorgen um ihn machen, sollten Sie tatsächlich Vermißtenanzeige erstatten.«

»Ich werde es noch einmal über schlafen.«

Sie hörten auf, sich anzufeinden. Die Schlacht war vorüber. Der Abend auch. Nur Minuten später behauptete Judith, sie sei müde, und verabschiedete sich. Meredith erklärte, er würde sie noch bis zum Taxi begleiten. Nicht nötig, lehnte sie eisig ab, sie wolle seine Ritterlichkeit nicht über Gebühr strapazieren. Mit Ritterlichkeit habe das überhaupt nichts zu tun, antwortete er, es sei ihm nur darum zu tun, der ohnehin überlasteten Polizei einen weiteren Eintrag ins Wachbuch zu ersparen. Sie verließen die Wohnung. Die Tür klappte geräuschvoll hinter ihnen zu.

Cassandra begann, das Geschirr zu sortieren und aufeinanderzustellen. Die Teller und Schüsseln kamen ihr bleischwer vor. Es war sicher nicht ganz ungefährlich, in diesem Zustand mit zerbrechlichen Dingen zu hantieren, aber eine wie auch immer geartete Beschäftigung war tausendmal besser als Nachdenken. Zweimal ging sie den Weg in die Küche, aber dann war es aus. Hände und Füße zitterten, alles verschwamm ihr vor den Augen. Wieder einmal war eine Schlacht geschlagen worden. Die Armeen waren abgezogen, aber das Zimmer kam ihr vor wie verwüstet.

Sie stellte sich ans Fenster und sah über den Hudson auf die bunten Neonlichter an der Küste von New Jersey. Sie hörte ihn aufschließen, hörte, wie er das Zimmer betrag, einen Stapel Geschirr packte und hinausging.

Das einzig Richtige wäre jetzt, ihm in die Küche zu folgen und beim Abwaschen zu helfen. Als sei überhaupt nichts geschehen. Sie mußte sich einfach zusammennehmen … Aber sie war wie gelähmt.

Schritte. »Willst du die ganze Nacht dort stehen und Löcher in die Luft starren?«

Sie brachte es nicht fertig, etwas zu sagen. Gleich darauf hörte sie, wie er das Zimmer wieder verließ. Hörte Wasser laufen, Geschirr klappern. Es war gemein, ihm alles allein zu überlassen. Abwaschen war ihm so zuwider. Sie mußte sich einen Ruck geben. Eine Minute noch. Oder zwei. Sie lehnte die Stirn an die Scheibe und schauderte, als ihre Haut auf das kalte Glas traf.

Eine Minute verging. Zwei. Das Wasser in der Küche wurde abgestellt. Schritte näherten sich. Sie schloß fest die Augen.

»Cassandra –«

»Bitte, sprich nicht mit mir. Bitte …«

»Du bist kindisch.«

»Schön, dann bin ich eben kindisch.« Geh weg, fügte sie unhörbar hinzu. Bitte, bitte geh.

Er ging. Setzte sich. Riß ein Streichholz an.

Totenstille.

»Mußtest du Judith unbedingt gleich mit deinem ganzen Charme beglücken?«

»Sie wollte die Meinung eines Fachmanns hören. Damit sich der Kriminalpolizist in mir angesprochen fühlt, muß sie schon etwas mehr ins Feld führen als einen liegengelassenen Hut.«

»Und das Ticket. Vergiß das Ticket nicht.«

»Ich habe es nicht vergessen.«

»Du warst so dickköpfig. Wie kannst du so sicher sein, daß du recht hast? Du kennst den Mann doch überhaupt nicht! Und Judith hat wirklich sehr viel Menschenkenntnis.«

»Ja, darauf ist sie offenbar mächtig stolz. Ebenso wie auf gewisse andere Talente.«

»Das ist –« Cassandra blieb der Rest des Satzes im Hals stecken.

»Geschenkt, meine Liebe. Du kannst da nicht mitreden. Viele Frauen, die ohne Begleiter durch die Bars ziehen, halten sich für gute Menschenkenner, und manche landen am Ende der Nacht im Leichenschauhaus.«

»Sie hörten soeben einen typisch männlichen Chauvinisten.«

»Sehr bequem, so ein Etikett!«

»Zu bequem! Ich könnte da noch mit ganz anderen Bezeichnungen aufwarten.«

»Damit änderst du nichts an der Sachlage. Laß uns doch –«

»Beenden wir das Thema!«

»Soll mir nur recht sein.«

Stille. Cassandra spürte ein Brennen hinter den Lidern. Sie vernahm das unverkennbare Geräusch, mit dem eine Seite umgeblättert wurde. Tatsächlich, er las!

»Dann habe ich wohl noch einmal Glück gehabt. Als wir uns kennenlernten –«

»Mit uns beiden hat das überhaupt nichts zu tun.«

»Nein? Ich habe genau gewußt, worauf ich mich einließ. Aber du hast es wahrscheinlich anders in Erinnerung, mehr nach dem Motto: Ich kam, sah und siegte. Der typische –«

»Jetzt reicht’s!« Meredith schlug sein Buch zu. »Steig endlich runter von deinem lausigen Podest. Für heute abend habe ich genug!«

Cassandra hörte, wie er aufstand und auf sie zutrat. Sie hob den Kopf und sah in der Fensterscheibe sein verschwommenes Spiegelbild. Als erstes hob sich daraus sein rotes Haar hervor, dann erkannte sie seine dunklen, zornigen Augen. Dann das Oval ihres eigenen Gesichts, das sehr weiß wirkte gegen das Schwarz ihrer Haare und ihres Pullovers. Seine Hände hoben sich, sie glaubte seine Kraft in den langen, schmalen Fingern schon zu spüren. Als er ihre Schultern berührte, wurde sie steif wie ein Stück Holz.

Seine Hände sanken herab. Sekundenlang sah sie noch seine Augen, in denen blanke Wut stand, dann löste sich sein Bild in ihrem Tränenstrom auf.

Eine Ewigkeit verging. Plötzlich hörte sie draußen auf der Straße ein lautes, fröhliches Pfeifen. Das konnte nur ein Betrunkener sein. Wer würde sonst so leichtsinnig sein, um diese Zeit auf dem Riverside Drive spazierenzugehen?

Sie wandte sich vom Fenster ab. »Mike?«

Er war verschwunden.