Vier Schritte zum Tod - Diana Ramsay - E-Book

Vier Schritte zum Tod E-Book

Diana Ramsay

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Beschreibung

Tatwaffe, Tatort, Motiv – alles deutet darauf hin, daß die Ballettlehrerin Maggie die Mörderin ist. Als weitere Verbrechen geschehen, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn um ihre Unschuld zu beweisen, muß sie den wahren Mörder selbst überführen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Diana Ramsay

Vier Schritte zum Tod

Roman

Aus dem Amerikanischen von Edith Walter

FISCHER Digital

Inhalt

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1

»Na, also so was!« Ein sehr blasser Mann in einem bronzefarbenen Cordjackett begaffte zwei Füße. Auf den Spitzen stehend, in der fünften Position, schienen sie kurz davor munter über eine Bühne zu tanzen. Ein kreuzweise gebundenes rosa Band hob ein hohes Fußgewölbe und einen exquisiten Spann wie Kostbarkeiten hervor; wo die Bänder endeten, endeten auch die Füße.

Nein, kein Requisit für das Grand Guignol. Die Füße, aus Pâté geformt, waren das pièce de résistance – das Schaustück – auf einem Partybüffet. Die meisten Gäste kannten die Geschichte der russischen Ballettfanatiker, die sich ein Paar von Taglionis Ballettschuhen beschafften und sie, gekocht und garniert, bei einem Bankett servierten – und auch aßen.

»Muß ja unglaublich viel Arbeit gemacht haben«, sagte der Mann im bronzefarbenen Jackett. »Kommt mir wie ein Frevel vor, sie zu essen.« Energisch packte er seinen Teller fester und wollte der Pâté zu Leibe rücken.

Donnie Buell warf sich dazwischen, einen Arm erhoben wie Rothbart, der böse Geist aus Schwanensee, der Prinz Siegfried verbietet, sich Odette zu nähern. In dem taubengrauen Seidenhemd und der rauchfarbenen Wildlederkniebundhose wirkte er nicht sehr bedrohlich; seit sein Haar silbergrau ist, hat er sich ganz bewußt in allem dieser Farbe angepaßt, bis zur Tönung seiner randlosen Brille. Dennoch schwenkte das bronzefarbene Jackett zur Pilzpirogge, einer russischen Pastete, ab.

Donnie stolzierte zu mir herüber und faltete die Arme über der Brust. »Wer ist denn das?«

»Keine Ahnung. Vielleicht ein Spion von Gourmet, der hinter deinem Rezept her ist.« Donnies Pâté, die eine gewisse Berühmtheit erlangt hat, enthält Stilton, Sahnequark, Portwein und noch ein paar Zutaten, die er nicht verrät.

»Hoho, Maggie. Sehr komisch.« Er sah mich finster an. »Wo ist das Miststück überhaupt?«

Das »Miststück« war Nina Langlander; ihre Füße, die Modelle für die Pâté, waren oft genug fotografiert worden, um erkannt zu werden, vor allem in dem Fernsehspot, in dem sie um einen Haufen ungefaßter Diamanten herumtanzen – für den, der Nina kennt, ein absolut vollkommenes Nebeneinander.

»Sie kommt schon noch. Wahrscheinlich plant sie einen ihrer spektakulären Auftritte.«

»Dann sollte sie sich lieber beeilen. Ich kriege langsam die Ellenbogen einer Politesse, die sich bemüht, hungrige Horden zurückzuhalten.«

»Entspann dich. Noch ist niemand dem Hungertod nahe – eine ganze Weile noch nicht.«

Auf dem großen runden Tisch im Küchentrakt meines Wohnbereichs gab es noch immer massenhaft Zakouski, wenn auch keinen Kaviar mehr und tiefe Breschen in die Piroggen, die Salate und die mit diesem und jenem belegten schwarzen russischen Roggenbrotscheiben geschlagen worden waren. Größere Sorge bereiteten mir die Getränke. Die Zahl der Gäste war größer als erwartet, und Champagner und Chablis flossen in Strömen. Würde der Vorrat reichen?

Ich entfernte mich vom Tisch, distanzierte mich von den Pflichten der Gastgeberin. Die Räume gehörten zwar mir, aber die Party gab Angela Cottman, um das erste Solo ihrer Tochter Phyllis beim New Yorker City Ballet zu feiern. Als Angela dem Ballett verfallen war, war sie schon zu alt gewesen, um selbst noch Karriere zu machen, aber sie hatte Herz und Seele einer Ballettmutter und zum Glück genug Geschmack und Würde, um sich nicht wie eine solche zu benehmen.

Ein winziges, runzliges Gesicht und ein dünner weißer Haarschopf tauchten in meinem Blickfeld auf. Darya Akshanova, die Ballettlehrerin von Nina Langlander. Sie thronte in meinem Ledersessel aus Rosenholz, und um sie herum war ein freier Raum, so breit wie ein Burggraben. Ich ging zu ihr und kauerte mich zu ihren Füßen hin, wie Nina es getan hätte.

»Bon soir, Madame.«

»Bon soir, ma petite«, sagte sie unsicher. Sie erkannte mich nicht, und ich erinnerte mich, daß Nina mir erzählt hatte, man merke der Akshanova allmählich ihre fast neunzig Jahre an.

Ich lächelte ihr zu. »Darf ich Ihnen etwas bringen, Madame?« Rituelles Verhaltensmuster. Ihr Teller mit den Zakouski schien unberührt zu sein, und der Sektkelch auf der Armlehne des Sessels war noch fast voll.

Sie schüttelte den Kopf und zog einen Schmollmund. »Wo ist sie? Es wird nichts mehr da sein, wenn sie nicht bald erscheint.«

»Ich bin sicher, sie kommt, sobald sie kann, Madame.«

»Das hoffe ich. Du weißt, wie sehr Maria Ivanova Champagner liebt.«

Ich mußte mir große Mühe geben, weiterhin zu lächeln. Maria Ivanova Korovskaya, meine Ballettlehrerin, war seit den Petersburger Tagen die Rivalin der Akshanova gewesen, und die beiden hatten kaum einmal eine Gelegenheit ausgelassen, sich gegenseitig zu verleumden. Auf Partys herrschte jedoch Waffenstillstand mit unzähligen Umarmungen, Champagnerschlürfen und tränenreichen Erinnerungen.

Die Korovskaya war seit neun Jahren tot.

»Ich weiß, wie sehr sie Champagner liebt. Ich hebe eine Flasche für sie auf.«

»Dom Perignon?«

»Selbstverständlich.«

»Merci, ma petite.«

Es blieb mir erspart, noch weiter so zu tun als ob; die ehemalige Chefgarderobiere, die mit der Akshanova zusammenlebte und sie versorgte, erlöste mich. Ich entschuldigte mich und machte mich auf die Suche nach Phyllis Cottman, um ihr zu gratulieren. Ich entdeckte sie inmitten einer Gruppe junger Tänzer, die zwischen sich und die Köstlichkeiten, die Madame Arkadina (o ja, tatsächlich!) und ihre Nichte Olga angerichtet hatten, einen möglichst großen Abstand legten. In dem Knäuel entdeckte ich auch Nina Langlanders Tochter Shelley Russell, das engelhafte Blondhaar, das sie sonst in einem untadeligen Knoten trug, zerzaust, einen Ausdruck reiner Glückseligkeit in ihrem makellosen Gesicht. Dann sah ich die Marihuanazigarette, die von Hand zu Hand ging. Das machte mich zornig. Drogen sind in meinem Haus verpönt, denn der Geruch zieht die Treppe hinunter in mein Studio, und viele meiner Schüler sind noch Kinder. Aber was ist ein Tabu auf einer Party wert?

»Willst du dem Unfug ein Ende machen?« Anita Langlander, Ninas Schwester, tauchte an meiner Seite auf. Sie trug einen blauen Hänger, der sehr hübsch die überflüssigen Pfunde kaschierte, die sie mit sich herumschleppt. Eine goldene Flechtenkrone verlieh ihrem runden, selbstzufriedenen Gesicht eine Spur von Würde.

»Ja – nein. Zum Kuckuck, hier wird gefeiert. Lassen wir sie in Ruhe. Ich werde die Räume morgen früh aussprühen.«

»Ich behalte sie im Auge und sorge dafür, daß sie nicht über die Stränge schlagen.«

Supertüchtige Anita. Alles unter Kontrolle. Sie entfernte sich, um sich wie eine Schildwache in der Nähe der jungen Leute aufzupflanzen, bevor ich die Möglichkeit hatte, sie zu fragen, wo Nina blieb. Ich ging in entgegengesetzter Richtung weiter und sah den Mann in dem bronzefarbenen Jackett wieder, der Lydia O’Neill in die Hände gefallen war und völlig benommen aussah. Lydia, eine koboldhafte Frau, die früher mit Martha Graham aufgetreten war, unterrichtet jetzt modernen Tanz am Rutgers College; sie kennt nur zwei Gesprächsthemen: Makrobiotik und den Zölibat. Bronzejackett tat mir ein bißchen leid.

»Nun schön, alle miteinander!« rief Donnie. »Kommt und verspeist die Füße, die eine Million Diamanten verkauft haben!«

Eine zweite Aufforderung war überflüssig. Mat stürzte sich im wahrsten Sinn des Wortes auf die Pâté und säbelte große Stücke ab. Nichts merkte man von der Ehrerbietung, mit der russische Ballettfanatiker angeblich die geheiligten Reliquien ihres Idols verzehren. Mir kamen sie eher wie ausgehungerte Haie auf einem Raubzug vor. Die wunderschön geformten Füße fielen zu einem klebrigen Matsch zusammen.

»Jammerschade, daß Nina das versäumt«, flüsterte mir Thea Davidson ins Ohr. Thea flüstert immer. Sie hat als Kind für immer ihre Stimme verloren – durch Bronchitis oder ein seelisches Trauma, sagt man –, aber man hat nie das Gefühl, sie sei behindert. Wenn Thea spricht, hören die Leute zu.

»Ja, sie hätte bestimmt gern den ersten Bissen gekostet. Na ja, Pech gehabt. Sie kann froh sein, wenn Donnie sie nicht bei lebendigem Leib abhäutet.«

Thea zog die Brauen hoch, die sich pechschwarz von ihrer weißen Haut abhoben. Das Haar, ebenfalls schwarz und glänzend wie Lackleder, trug sie straff zurückgekämmt und tief im Nacken zu einem Knoten verschlungen. Fügt man lange Jadeohrringe hinzu, eine Zigarettenspitze aus Onyx und den unvermeidlichen Mandarinkragen (heute abend an einem elfenbeinfarbenen Abendpyjama aus Brokat), versteht man, wieso man ihr in der piekfeinen Mädchenschule in Greenwich Village, die sie leitet, den Spitznamen »Die Drachendame« verpaßt hat. Was liebevoll gemeint ist. Thea hat ein gutes Herz. Nur ihre Zunge ist gefährlich – sie ist ein unbarmherziges und unverbesserliches Klatschmaul.

»Bist du nicht einmal neugierig, wo sie sein könnte?« fragte Thea. »Es sieht ihr nicht ähnlich, sich so zu verspäten.«

»Du hast recht.« Nina liebt große Auftritte, hatte aber für die Typen, die »die Parade aufhielten«, nur Verachtung übrig.

»Ob wir uns wohl Sorgen machen müssen?« Thea zog gelassen an ihrer Onyxspitze. »Habe ich dir schon von der Hochzeit meiner Nichte erzählt? Der Bräutigam kam nicht rechtzeitig, und während wir auf ihn warteten, wurde sein Ruf in Fetzen gerissen. Später stellte sich heraus, daß von ihm selbst auch nicht mehr viel übrig war. Hatte auf der Fahrt zum Tempel eine Kollision mit einem Sattelschlepper.«

Noch bevor ich etwas dazu sagen konnte, stürzte Angela Cottman auf mich zu, umarmte mich und preßte ihre bebenden Brüste (Größe 7, Cup D) an mich. »Ich bin so glücklich, daß ich sterben könnte. Es übersteigt meine kühnsten Erwartungen, mein eigen Fleisch und Blut ganz oben zu sehen. Nun ja, vielleicht nicht ganz oben, aber auf einer ziemlich hohen Sprosse, nicht wahr? Nein, antworte erst gar nicht darauf. Ich will nicht hören, daß es erst ein Anfang ist. Ich will jubeln, ich will schwelgen. O mein Gott, ich bin so stolz auf sie! Weißt du, daß man, als sie bei SAB anfing, geglaubt hat, sie tauge nicht zur Solistin? Mr. B. hat gesagt …«

Und sie begann uns mit einem Wortschwall zu überschütten, wiederholte jedes Wort, das George Balanchine angeblich je über Phyllis geäußert hatte. Thea und ich lächelten und nickten und glucksten an den richtigen Stellen, wobei wir sehr darauf achten mußten, uns gegenseitig nicht anzusehen. Wir waren beide sehr gut auf die richtigen Stellen gedrillt.

»O mein Gott!« Angela unterbrach sich mitten in ihrer Tirade, und ihr Gesicht verdüsterte sich. »Ich glaube es nicht! Kann er mich nicht wenigstens heute schonen, an diesem Abend aller Abende? Schaut ihn euch an!«

Stu Cottman grapscht gern ein bißchen, wenn er ein paar intus hat – es passiert auf jeder Party und ist nie eine große Sache. Heute abend hatte er meine Pianistin Mary Ann Sanders in die Ecke gedrängt, den Arm um sie gelegt, und seine Lippen klebten praktisch an ihrem Ohr.

Ich sagte, ich wolle mich darum kümmern, und begann mich durch die Menge zu ihnen durchzukämpfen, wobei ich mich fragte, wieso er sich von allen anwesenden Frauen ausgerechnet Mary Ann ausgesucht hatte, die immer alle ihre Lichter unter den Scheffel stellte. Das graue Flanellkostüm, das sie trug, sah aus, als sei es für Großtante Sarah entworfen worden, diejenige, die glaubte, Kleidung sei nur dazu da, die Blößen des Menschen zu bedecken; ein weißes Maßhemd, derbe schwarze Straßenschuhe, eine randlose Brille und das helle Haar zu einem Knoten zusammengedreht, wie die Pionierfrauen ihn trugen, brachten ihre Weiblichkeit nicht besonders gut zur Geltung. Ihr Gesicht verriet reinstes Martyrium.

»Ach, komm schon, Baby«, hörte ich Stu sagen. »Du mußt lockerer sein. Viel lockerer. Ich hab diesen ganz bestimmten Ausdruck in deinem Gesicht gesehen. Ich weiß, was er bedeutet, ich kenn mich da aus. Du warst bereit, und versuch nicht, mir einzureden, ich hätte mich geirrt. Also, warum bist du plötzlich eingefroren?«

Ich setzte energisch meine Ellenbogen ein, um die Lücke zu schließen. »Hier bist du ja, Stu! Endlich habe ich dich gefunden.« In meiner Stimme bebte falsche Munterkeit, und ich wagte nicht, mir vorzustellen, wie mein Lächeln aussah, aber jemand, der in Mary Anns Augen ein amouröses Glitzern zu entdecken glaubte, konnte für Nuancen längst kein Gefühl mehr haben. Ich nahm seinen Arm von ihren Schultern und schob ihn fest unter meinen. »Ich möchte mit dir palavern.«

Total verwirrt blinzelte Stu mich an, und wer konnte ihm das übelnehmen? Aber er sagte »Sicher« und lächelte sein liebenswert schiefes Lächeln. Niemand sieht weniger typisch wie ein Lüstling aus als Stu mit seiner schlaksigen Figur, dem zerfurchten Patriziergesicht und der nichtssagenden Ausstrahlung eines Mannes, der sich einer allumfassenden Aufgabe widmet – Reagenzgläsern und Computerterminals, zum Beispiel.

Die befreite Gefangene entglitt. Jede andere hätte gelächelt oder mit den Lippen ein »Danke« geformt. Nicht so Mary Ann.

Ich entschuldigte mich bei Stu, weil ich so hereingeplatzt war, und schwindelte ihm vor, daß ich ein paar eine hohe Rendite abwerfende Investitionen tätigen wolle und seinen Rat brauche. Das machte ihn sofort nüchtern, und er gab mir eine so hervorragende Analyse der augenblicklichen Markttrends, daß so mancher Börsenmakler es für einen großen Vorzug gehalten hätte, hier die Ohren spitzen zu dürfen. An mich war sie natürlich verschwendet. Mein Kopf begann sich zu drehen, und mir blieb nur eins – aufmerksam zuzuhören. Als er langsamer wurde, bedankte ich mich bei ihm, küßte ihn auf die Wange, machte, daß ich wegkam, und ließ ihn in verhältnismäßig guter Verfassung zurück.

Ich machte eine Routinekontrolle in der Garderobe neben der Toilette und stellte zufrieden fest, daß alles in Ordnung war. Ich führte meine Runde fort und unterhielt mich mit vielen Leuten. Alle schienen sich zu amüsieren. Gläser wurden bis zum Rand gefüllt, und leere blieben nicht lange leer, meines inbegriffen. Als ich mir zum zweitenmal einschenkte, ermahnte ich mich, es langsamer anzugehen. Beim drittenmal hatte ich schon ein leises Summen im Kopf und beschloß, daß dies mein letztes Glas Chablis sein sollte. Ich kam mit dem Reportagenredakteur einer Vorstadtzeitung ins Gespräch und mußte mir einen flammenden Vortrag über die Unzulänglichkeiten anhören, die sich Tänzer zuschulden kommen ließen, sobald sie Direktoren von Ballettensembles wurden, wobei Mikhail Baryshnikov sehr schlecht wegkam. Ich gab vor, durstig zu sein, und schenkte mir noch einmal ein. Morgen früh würde ich dafür bezahlen müssen, aber zum Teufel damit.

Ich kann mich nicht erinnern, mein Glas noch einmal gefüllt zu haben, was nicht bedeutete, daß es nicht der Fall war. Das Summen in meinem Kopf hörte nicht mehr auf, aber es tat nicht weh. Irgendwann sah ich auf die Uhr und stellte überrascht fest, daß es schon nach zehn war. Der Abend war dahin, aber die Leute, die, unterwegs zu aufregenden Ereignissen, schnell noch eine Cocktailparty mitnahmen, waren noch da. Das bedeutete, daß die Party ein Riesenerfolg war. Es freute mich um Angelas willen. Ich hielt nach ihr Ausschau, um ihr das zu sagen, aber sie war von Gratulanten umringt. Dann sah ich mich nach Phyllis um, doch sie und ihr kleines Gefolge von Grasrauchern glänzten durch Abwesenheit.

Wen ich noch gesehen und gesprochen habe, was sonst noch passiert ist, ist in meinem Kopf völlig verschwommen. Die Dinge wurden erst wieder klar, sehr schnell sogar, als Lydia O’Neill auf den Tisch mit den Überresten des Festmahls kletterte und anfing, sich das Kleid auszuziehen – im Stil von Isadora Duncan. Egal, wie oft man schon eine Impression der Duncan gesehen hat, man hält immer inne mit dem, was man gerade tut, sieht gebannt zu und verliert nie die Hoffnung, von irgend jemandem eines Tages erklärt zu bekommen, was sie an sich hatte, daß sie eine ganze Generation in Raserei versetzte. Für meine Begriffe konnte ihr bisher niemand das Wasser reichen, und die arme Lydia war so weit von ihr entfernt, wie überhaupt möglich. Im weißen Baumwollschlüpfer und dem Mieder mit den grob gerippten Trägern, den dürren Armen, die eines meiner Leinengeschirrtücher flattern ließen, wirkte sie deprimierend. Nüchternheit senkte sich auf alle herab wie ein Leichentuch. Der Mann in der bronzefarbenen Cordjacke ging zum Tisch und bat sie, aufzuhören. Sie beachtete ihn nicht.

Thea Davidson scheuchte ihn fort und nahm die Sache in die Hand. Sie begann ohne Punkt und Komma auf Lydia einzuflüstern, und ihre Jadeohrringe schaukelten bei jeder Silbe. Was sie auch gesagt haben mochte, es wirkte. Lydia ließ das Geschirrtuch fallen, sprang vom Tisch, landete in einem guten Demi-Plié (einmal gelernt, nie vergessen) und brach in Tränen aus. Thea umarmte sie und half ihr ohne großes Getue in ihr Kleid. Die beiden gingen. Das Bronzejackett folgte ihnen auf den Fersen.

Das war’s so ziemlich gewesen. Die Leute fingen an, wie eine Herde zum Ausgang zu drängen. Nach und nach waren alle gegangen, bis auf die Hartnäckigen, die hinausgeworfen werden mußten. Ich fühlte mich plötzlich erschöpft, und mir war sehr, sehr warm. Ich ging in den Küchentrakt und lehnte mich an den Kühlschrank. Die Kühle des Metalls half ein bißchen. Nicht genug.

»Hast ein wenig zuviel des Guten, wie ich sehe.« Donnie Buell stand an der Spüle und wusch die georgianische Silberplatte ab, auf der er die Pâté gebracht hatte.

»Mein Problem.«

»Das wird es ganz bestimmt morgen früh sein«, sagte er hochmütig. Ein Besäufnis holt aus Donnie unweigerlich den Puritaner hervor.

»Aber, aber!« Angela Cottman fegte mit zwei hohen Tellerstapeln schwungvoll zur Spüle. Fachmännisch stellte sie sie auf dem Abtropfbrett ab – ihr Vater führt seit vierzig Jahren eine Trattoria. »Spiel nicht den Partymuffel.«

»Die Party ist zu Ende, und sie hat auch ohne meine Hilfe gemuffelt.«

»Es war eine phantastische Party, Angela.«

»Ja.« Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Ein Jammer, daß Nina sie verpaßt hat. Komisch. Als ich heute morgen mit ihr sprach, hat sie gesagt, daß sie kommt.«

»Vielleicht ist sie mit einem Grafen durchgebrannt«, bemerkte ich. »Oder mit Sean Connery.«

»Hoffentlich«, sagte Donnie giftig. »Dann könnte Robbie sie aufspüren und mir die Mühe ersparen, ihr den Hals umzudrehen. Wenn ich das nächstemal eine Skulptur nach lebendem Vorbild mache, dann suche ich mir jemanden aus, der auch erscheint, um sie gebührend zu bewundern. Wie wär’s mit dir, Angela? Ich könnte deine Brustwarzen machen.«

Angela lachte. »Damit würdest du die ganze Welt satt kriegen.«

Ich fing auch an zu lachen, wurde jedoch von einem Schwindel erfaßt wie von einer Welle, und aus dem Lachen wurde ein Stöhnen. Ich lehnte mich fester an den Kühlschrank, damit ich nicht umfiel.

Angela war voller Sorge. »Du solltest hinauf und ins Bett gehen, Maggie. Wir kümmern uns hier um alles.«

»Sei nicht lächerlich. Mir geht’s gleich wieder gut. Laß mich nur ein bißchen zu Atem kommen, und …«

Doch Angela war an meiner Seite, legte mir den Arm um die Taille und steuerte mich durch den Raum. Ich legte die Wange an ihren Kopf, schloß die Augen und atmete den schweren Duft von Shalimar ein.

»Hoffentlich schaffst du es«, sagte Donnie laut.

Ich hatte gerade noch genug Kraft, um mich zu fragen, wie viele Leute wohl noch hier waren, aber nicht mehr Kraft genug, um den Kopf zu heben und nachzusehen. Meine Füße überwanden die schmiedeeiserne Wendeltreppe zu meiner Schlafgalerie ohne Fehltritt. Dann lag ich auf meinem Bett, mein Kopf drehte sich, und mein Magen schlug Purzelbäume. »Nachtchen.« Angela packte mich fest in eine Decke. »Laß dich nicht von Flöhen beißen.«

Das letzte, was ich hörte, war Angelas volles, kehliges Lachen. Ich schickte ein kleines Gebet zum Himmel, damit es mir morgen früh nicht allzu schlecht ginge, und dann schlief ich ein.

2

Sonnenlicht strömte durch das Panoramafenster meines Studios, Myriaden regenbogenfarbener Konfettis in einem goldenen Schauer. Ein Anblick, der mich fast an jedem schönen Morgen begrüßt. Damit fängt der Tag gut an.

An diesem Tag ging alles schief. Und nichts konnte es je wieder in Ordnung bringen.

Auf dem Boden, direkt vor mir, lag Nina Langlander auf dem Rücken, die Beine angewinkelt, die Arme ausgestreckt. Aus ihrer Brust ragte ein stählerner Fleischspieß mit einem Kupferring am Ende, und drum herum war die graue Seide ihres Kleides blutdurchtränkt.

Als ich mich aus dem Bett geschleppt hatte, hatte mein Kopf gehämmert. Jetzt war das Hämmern stärker geworden. Ich wollte durch die Tür zurückgehen und noch einmal herauskommen. Vielleicht würde Nina beim zweiten Anlauf nicht mehr da sein.

Wie idiotisch kann ein Mensch sein?

Ich ging zum Steinway hinüber, stellte meinen Kaffeebecher auf den geschlossenen Deckel, auf dem schon zu viele Kaffeebecher viel zu oft abgestellt worden waren. Irgendwie hätte es diesmal anders sein müssen. Der Becher hätte überfließen, explodieren oder sonst etwas tun müssen. Aber er blieb ganz einfach stehen.

Ich schaute mich im Studio um. Bestimmt würde ich alles verzerrt sehen, verändert durch das Entsetzliche auf dem Boden. Doch alles war wie sonst, auch daß sich unwillkürlich ganz tief in mir Stolz regte. Es ist ein traumhaftes Studio, sehr groß – es erstreckt sich über die ganze Breite und fast über die ganze Länge des Gebäudes –, mit einer hohen Decke und einem Fußboden aus handverlesenen Kiefernhölzern. Zwei Wände bestehen praktisch nur aus Fenstern, die in Brusthöhe beginnen. Unter den Fenstern sind die Übungsstangen. Die dritte Wand trägt den Spiegel, der zweimal wöchentlich mit Essigwasser gereinigt wird, und davor steht der Steinway. In der vierten Wand ist die Tür. Die lange Bank ohne Rückenlehne ist für Besucher bestimmt. (Nicht für Mütter. Niemals!) Ich wollte es noch immer nicht wahrhaben, was ich eben gesehen hatte, wollte es leugnen. Meinen üblichen morgendlichen Inspektionsrundgang machen. Die Dielenbretter kontrollieren. An den Stangen rütteln, um zu sehen, ob die Gremlins sie in der Nacht nicht gelockert hatten.

Höchste Zeit, sich der Realität zu stellen. Nina lag mitten auf dem Fußboden. Tot. Sie mußte tot sein. Sie hätte nie so lange still liegen können; hätte sie mir doch nur einen hinterhältigen Streich gespielt, wenn sie in einer Minute aufspringen und, von Gelächter geschüttelt, sagen wollte: »Ketchup! Bist ganz schön drauf reingefallen, nicht wahr?«

War das möglich?

Bei Nina schon. Ich mußte mich überzeugen.

Ich stellte fest, daß meine Hand am Klavierdeckel klebte – ich hatte nicht einmal gemerkt, daß ich mich anlehnte. Es gab ein saugendes Geräusch, als ich die Hand wegzog.

Das erste, das mir auffiel, als ich in ihre Nähe kam, waren Ninas Augen. Sie standen weit offen, die Iris glichen kleinen Scheiben aus Lapislazuli, die mich starr ansahen. Nein, sie sahen mich nicht an, sie schauten durch mich hindurch. Ihre Oberlippe war leicht hochgezogen. Ich bückte mich, um ihre Wange zu berühren, doch ihr leerer Blick hielt mich zurück wie ein Laserstrahl. Ich richtete mich auf und wich zurück. Was ich nicht feststellen konnte, wenn ich sie ansah, würde ich nie erfahren.

Ich sah sie an. Das herrliche rostrote Haar, um ihren Kopf gebreitet, als sei es für eines jener hochklassigen erotischen Inserate für Damenunterwäsche arrangiert worden. Sah den offenen Karakulmantel, das Blut auf dem Hemdblusenkleid aus rauchgrauer Seide, die geschwungene Linie ihres bloßen Halses.

Nein, da war etwas falsch. Sie hätte eine Halskette tragen müssen. Perlen oder Amethyste oder eine ihrer antiken Silberketten. Ich schaute auf ihre Hände. Der barocke Perlring, den sie nie ablegte, war verschwunden. Ebenso ihre Uhr.

Ein Raubüberfall, ganz offensichtlich. Jemand hatte sich gestern abend während der Party hier eingeschlichen, hatte ihr aufgelauert, sie beraubt und getötet. Von solchen Fällen liest man jeden Tag, und irgendwo in einem Winkel seines Gehirns denkt man: aber um Gottes willen! und schiebt es so weit wie möglich von sich fort. Das konnte ich jedoch nicht wegschieben, davon konnte ich mich nicht distanzieren.

Ich konnte es auch nicht so recht glauben. Warum sollte ein Räuber sie töten? Nina liebte Schmuck zwar leidenschaftlich, doch noch mehr liebte sie das Leben. Sie hätte jedes Stück, daß sie besaß, ohne zu zögern geopfert. Die Leiche sah nicht einmal so aus, als habe es einen Kampf gegeben. Ein sadistischer Junkie vielleicht?

Das war noch immer nicht überzeugend. Warum?

Der Fleischspieß. Ich wußte, daß er eine abgewinkelte Spitze hatte, ebenso wie ich wußte, daß er alle paar Monate mit Stahlwolle abgerieben werden mußte, damit er nicht schwarz wurde. Als Bloomingdale’s seinerzeit einen Handelsvertrag mit China abgeschlossen hatte und chinesische Waren den Markt zu überfluten begannen, hatte ich ein Dutzend solcher Spieße gekauft. Sie standen oben auf meinem Küchentresen in einer leeren, fünfzig Jahre alten Chiantiflasche.

Nicht alle zwölf, dessen war ich mir plötzlich sicher.

Das Chaos in meinem Kopf breitete sich über meinen ganzen Körper aus. Ich wich noch ein Stück von Nina zurück und ging in die Hocke. Zu schnell – eine rotglühende Zange umklammerte mein linkes Knie. Ich massierte die Kniescheibe mit den Fingern. Als ob das helfen konnte. Als ob irgend etwas helfen könnte.

Vorausgesetzt, es war einer von meinen Fleischspießen. Buchstäblich jeder, der auf der Party gewesen war, hätte sich ihn unbemerkt aneignen und hinuntergehen können, um auf Nina zu warten. Wie viele Verdächtige? Sechzig? Siebzig?

Und warum sollte der Mörder den Fleischspieß nicht im vorhinein gestohlen, sich hier versteckt, seine blutige Arbeit verrichtet haben und dann nach Hause gegangen sein, ohne bei der Party in Erscheinung zu treten? Nicht die wahrscheinlichste aller Möglichkeiten, aber auch nicht ganz zu verwerfen. Jeder konnte das Gebäude betreten, während ich unterrichtete, und sich mit allem davonmachen, was er tragen konnte, wie ich nur allzugut wußte – ich war schon dreimal beraubt worden.

Es war keine Theorie, von der die Polizei begeistert sein würde. Zweifellos würden sie sich auf die Leute konzentrieren, die auf der Party gewesen waren.

Besonders auf mich.

Das Zurückweichen geschah diesmal auf geistiger Ebene. Ich sah mich wieder im Studio um. Entdeckte mein Spiegelbild in einem leeren Raum, groß wie ein Ozean, zusammengekauert wie ein in die Enge getriebenes Tier. Kein sehr erhebender Anblick. Ich zwang mich, die Augen abzuwenden, achtete jedoch auch darauf, daß sie nicht ausgerechnet zu Nina hinüberschweiften. Sie blieben auf einem handgestrickten Legwarmer haften, der unter der Besucherbank auf dem Boden lag, ein Potpourri aus Blau und Purpur in einem komplizierten Muster. Hier hatte eine liebende Mutter ganz offensichtlich hart gearbeitet. Würde sie einen Anfall kriegen, weil das liebe Kind das gute Stück verloren hatte? Was hatte das Ding überhaupt hier zu suchen? Ich ließ meine Schülerinnen und Schüler nie Legwarmers tragen, sie verbergen zuviel.

Mein Verstand spielte Trivial Pursuit. Kein Wunder. Sechzig oder siebzig Verdächtige, die Gelegenheit gehabt hatten, Nina zu töten, aber wer hätte eine bessere gehabt als ich? Genau das würde die Polizei denken. Und wenn sie anfing nach Motiven zu suchen, würde sie eine ganze Menge finden, da Nina nun einmal Nina war; doch in dem Moment, in dem die Herren Polizisten auf mein Motiv stießen, würde ich auf ihrer Liste der Verdächtigen an die oberste Stelle rücken, darauf konnte ich wetten. Unwichtig, daß Nina und ich das Kriegsbeil vor langer Zeit begraben hatten.

Das in die Ecke gedrängte Tier begann zu zittern. Ich umklammerte meine Oberarme ganz fest, bis der Anfall vorüber war. Ich konnte es mir nicht leisten, mich gehenzulassen. Ich mußte mich irgendwie die Treppe hinaufbefördern und die Polizei anrufen, wie alle unschuldigen Menschen es tun würden. Verdammt noch mal, ich war ein unschuldiger Mensch.

Meine Augen ließen den Legwarmer nicht los. Ein neutraler Gegenstand. Vielleicht würden die Trivialitäten des Alltags sich wieder einschleichen und mich beruhigen. Legwarmers. Beine. Füße. Ninas Füße, aus Pâté geformt. Donnie, der sie bewachte und vergeblich auf die eine – die einzige Reaktion wartete, die ihm etwas bedeutete, und dann die hölzernen Spachteln, die sich in das Kunstwerk hineingruben und aushöhlten, hineingruben und aushöhlten, hineingruben und aushöhlten. Tränen stiegen mir in die Augen, begannen zu fließen, und gleich darauf schluchzte ich unbeherrscht.

Die Flut versiegte. Ich stand auf, warf einen letzten Blick auf Nina und ging in die Garderobe, zog den Vorhang beiseite, der die Scham meiner Vorzeigeschüler schützt, und öffnete die Toilettentür. Der Himmel allein weiß, warum. Der Mörder würde die Nacht kaum hier verbracht haben. Ich nehme an, daß ich dachte, ich könnte irgendwelche Anzeichen dafür finden, daß sich hier jemand versteckt hatte. Ich sah keine.

Der Diensthabende bei der Polizei war tüchtig. Ich brauchte nichts zweimal zu sagen. Nachdem ich aufgelegt hatte, zählte ich die Kupferringe, die fächerförmig aus der Chiantiflasche ragten. Elf Fleischspieße. Einen wahnwitzigen Augenblick lang dachte ich daran, der Polizei weiszumachen, ich hätte den zwölften schon vor langer Zeit verloren. Doch wie, wenn es Tests gab, mit denen man beweisen konnte, daß die Mordwaffe bei den elf Fleischspießen in der Flasche gestanden hatte? Die Wahrheit war sicherer.

Du liebe Güte, ich dachte schon wie ein Krimineller. Was ist eigentlich aus dem Spruch »unschuldig, bis die Schuld bewiesen ist« geworden?

Ich rief Mary Ann Sanders an und sagte ihr, daß ich sie erst wieder am Montag brauchte. Totenstille herrschte in der Leitung, während sie darauf wartete, daß ich ihr die Erklärung gab, die die primitivste Höflichkeit erfordert hätte, aber ich konnte noch nicht darüber reden und sagte, ich würde mich wieder bei ihr melden. Dann rief ich Monique Goldman an, eine ehemalige Schülerin, die einen Auftragsdienst leitete, und bat sie, die Liste meiner Samstagsschüler herauszuholen und den Unterricht abzusagen. Auch ihr gab ich keine Erklärung, und obwohl sie bestimmt vor Neugier fast starb, fragte sie nicht danach.

Ich machte mich auf die Suche nach meinem Haustürschild HEUTE KEIN UNTERRICHT und holte es eben zwischen einem Stapel Tischsets aus Plastik hervor, als es an der Tür klingelte. Perfektes Timing. Die beiden Streifenpolizisten auf meiner Schwelle sahen aus wie Teenager (ein Beweis, daß ich tatsächlich die sogenannten mittleren Jahre erreicht hatte), aber sie verstanden ihren Kram. Sie nahmen mir das Schild aus der Hand und hängten es an die Tür, dann folgten sie mir ins Studio hinauf ohne zu trampeln oder die Füße nachzuziehen; Nina betrachteten sie wie ein Ausstellungsobjekt im Museum; faßten sie an, um sich zu überzeugen, daß sie es nicht war. Einer von ihnen ging hinauf, vermutlich, um per Funk einen Bericht durchzugeben. Der andere ließ sich von mir schildern, wie ich Nina gefunden hatte, und sagte dann, das müsse ein großer Schock für mich gewesen sein, und wäre es nicht besser, wenn ich oben wartete, bis der die Untersuchung leitende Beamte erscheine. Wahrscheinlich eine bedeutungslose Höflichkeitsfloskel, ich war ihm dennoch dankbar. Ich schaffte es, die Treppe nicht hinaufzurennen.

Oben schenkte ich mir meinen Vormittagskaffee ein. Während ich trank, drangen Geräusche gesteigerter Aktivität zu mir herauf. Ich stellte mir ganze Horden gedrungener blauer Gestalten vor, die durch mein Studio stapften, einen Ort, wo Leib und Seele Flügel bekommen und sich in die Lüfte schwingen sollten. Groll stieg in mir auf über dieses ungebetene Eindringen in meine Privatsphäre, und ich mußte gegen das Verlangen ankämpfen, hinunterzulaufen und zu schreien, sie sollten alle verschwinden.

Ich setzte mich an den Tisch, stellte den Becher ab, spreizte die Finger und preßte sie so fest gegen das Holz, bis ich die Maserung fühlte. Einen solideren Halt gab es kaum. Der Tisch hat eine runde Platte aus Nußbaumholz, dreißig Zentimeter dick und mit einem Radius von zweieinhalb Metern. Die Platte ruht auf einem ovalen Sockel aus Ebenholz – dem Werk eines Bildhauers aus Carmel, der ein kurzes Zwischenspiel in meinem Leben gewesen war. Um den Tisch herum steht ein halbes Dutzend Hickorystühle mit Speichenrücken, die ich aus einem Busfenster auf der Veranda eines Farmhauses in Maine entdeckt hatte. Sie sind mindestens hundert Jahre alt und sehr grob geschnitzt, aber irgendwie passen sie zum Tisch und in einen Wohnraum, so groß und weitläufig und fast so ohne Kinkerlitzchen wie das Studio eine Treppe tiefer. »Keine Nippes und kein Chichi«, hatte Nina gesagt, als sie mich zum erstenmal hier besucht hatte. »Erinnert mich an die West 111th Street.« Sie bezog sich auf die Wohnung, die wir während der letzten beiden Collegejahre geteilt hatten, eine nicht besonders große Zweieinhalbzimmerwohnung mit einem Wohnzimmer, in dem es nichts gab außer einer Ballettstange, einem großen Wandspiegel und riesigen Kissen (wie oft hatte ich mich selbst auf eines dieser Kissen ausquartiert, weil Nina einen Schlafgast hatte). Für mich war es kein Problem, die Wohnung mein Zuhause zu nennen. Für Nina war sie ein Lagerplatz. Sie häufte die Dinge auf. Kleider. Pelze. Schmuck. Antike Möbel. Männer. Im Lauf der Jahre immer mehr. Ersatzbefriedigung, wie der Amateurpsychologe es nennen würde.

Meine Augen umflorten sich. Wieder wußte ich nicht genau, warum ich weinte.

Ich hörte Schritte auf der Treppe und wischte mir hastig über die Augen. Es waren schwere Schritte, die Schritte eines Menschen, der sich gern wichtig machte. Ein flüchtiges Klopfen an der offenen Tür, dann trat ein Mann ein. Er sah wie ein Gewichtheber aus. Hochgewachsen, breit in den Schultern und vielleicht auch sonst, was man jedoch wegen des locker gegürteten olivfarbenen Trenchcoats nicht beurteilen konnte. Nüchternes Gesicht, fleischig, aber nicht schwammig, gebrochene Nase, vorstehende Wangenknochen und energisches Kinn, von spitz zulaufenden Brauen überwölbte Augen, die sich vermutlich oft schläfrig oder dumm stellten. Rötlich bronzebraune Haut und glattes schwarzes Haar gaben ihm eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Indianer.

Er blieb stehen, musterte mich übertrieben lange, wie mir schien, und stolzierte dann zum Tisch. »Detective-Sergeant Tagliaferro. Morddezernat.«

Ich stand auf, um den Ausweis zu kontrollieren, den er mir hinhielt. Falls er leicht verblüfft war, daß mein Kinn sich mit dem seinen fast auf gleicher Höhe befand (das sind Männer seiner Größe nicht gewohnt), zeigte er es nicht. Kein Zweifel, er war der Gottvater seines Stammes und der reinste Teufel auf dem Kriegspfad. Mit Vornamen hieß er Anthony. Natürlich. Wie denn sonst?

»Ich bin Maggie Tremayne.«

»Das habe ich vermutet.« Wieder maß er mich mit den Augen und sah sich so wachsam in meinem Wohnraum um, als erwarte er, aus Fußboden oder Täfelung etwas Widerwärtiges hervorkriechen zu sehen, betrachtete dann wieder mich mit einem nachdenklichen Blick, als überlege er, ob dieses Widerwärtige vielleicht ich selbst war.

Vielleicht verstand ich ihn falsch. Wenn man zur Ballettszene gehört, übertreiben die Leute entweder ihre Schmeicheleien, oder sie tun so, als seien sie einem Bewohner von Gomorrha begegnet.

»Ihr ›HEUTE KEIN UNTERRICHT‹-Schild sieht schon ziemlich strapaziert aus. Sie lassen den Unterricht wohl oft ausfallen?«

»Dreimal in vierzehn Jahren. Das Schild wurde während eines Gewitters naß.«

»Was Sie nicht sagen.« Seine Oberlippe kräuselte sich leicht. Vielleicht gehörte er zu den Leuten, die dachten, Tänzer seien aus Glas. Aber vielleicht war er auch nur ein Super-Macho-Typ.

Ich hoffte, er hatte eine Frau, die ihn ständig wegen seines Gewichts piesackte.

Der nachdenkliche Ausdruck trat wieder in seine Augen, und er wechselte die Gangart. Schlug vor, wir sollten uns setzen. Bat mich, beinahe höflich, ihm zu berichten, wie ich die Leiche gefunden hatte. Das tat ich. Er fragte mich, ob ich eine Ahnung hätte, wie es passiert war. Ich erzählte ihm von der Party, daß wir vergeblich auf Nina gewartet hatten und daß ich aus ihrer Kleidung schloß, sie sei überfallen worden, als sie ins Haus gekommen war. Natürlich wollte er alles über die Party wissen, sollte ich ihm erzählen, woran ich mich erinnerte. Keine Regung zeigte sich auf der hölzernen Indianermaske, während er mir zuhörte, nicht einmal als ich ihm sagte, wie groß die Gästeliste gewesen war – dafür mußte ich ihm ein paar Punkte geben.