Sein und Wohnen - Florian Rötzer - E-Book

Sein und Wohnen E-Book

Florian Rötzer

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Beschreibung

Mit der Coronavirus-Pandemie und den Lockdowns wurde noch einmal klar, dass die Wohnung ein entscheidender Lebens- und Rückzugsort, aber auch ein Gefängnis ist. Obgleich der Mensch ein wohnendes Wesen ist, haben sich nur wenige Philosophen damit beschäftigt. Florian Rötzer unternimmt einen erstaunlichen Streifzug durch die Kulturgeschichte des Wohnens und wirft einen Blick in die digitale Zukunft, die das Wohnen radikal verändert. Denn unsere Wohnung von morgen ist nicht länger ein privater Rückzugsraum, sondern kann von überall gesteuert, eingesehen und gehackt werden.

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Seitenzahl: 383

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ebook Edition

Florian Rötzer

Sein und Wohnen

Philosophische Streifzüge zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-811-2

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2020

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Titel
Einleitung
Anthropologie des Wohnens: Von der biologischen Zelle zum Wohngebäude
Der nackte Affe
Die ersten Wohnungen
Mit dem Bau der Wohnung geht ein Schnitt durch die Welt
Das Paradies, der Garten hinter der Mauer
Die Scham oder die Öffnung des Privaten
Erste Wohnung
Philosophen: Vom Wohnen und Gewohnten
Die neuen Nomaden und die Krise der Sesshaftigkeit
Wohnen – aus dem All gesehen
»Mensch sein heißt wohnen«
Die Erde als Wohnung
Die Erde als Raumschiff, das Raumschiff als neue Erde
Recht auf Wohnung, Wohnungslosigkeit und neuer Nomadismus
Vilém Flusser: Philosophie des Unbehaustseins
Heimat und Migration
Verwurzeltes Dasein
Sturz ins Bodenlose
Der Migrant als Pionier
»Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit«
Urbanes Nomadentum
Die neue Unbehaustheit im digitalen Zeitalter
Gäste und Hospitalität
Nach dem Schmutz: Aufklärung, Entlüftung und die große Reinigung
Angst vor dem Porösen
Der Gestank der Heiligkeit
Mit den Seuchen veränderte sich die Kultur
Der Schmutz auf den Körpern und in den Räumen
Die kulturellen Folgen der Epidemien
Exkurs: Lebenserwartung und Hygiene
Kampf gegen den Gestank und die Chemie als Wissenschaft
Die atmende Wohnung
Die Geburt der Wohnmaschine aus dem Geist der Hygiene
Der bewohnte Körper
Staub als Herausforderung
Der Rein- oder Reinstraum als Fluchtpunkt
Obdachlosigkeit und das Phänomen des Entwohnens
Alterungsgeschwindigkeit von Gebäuden
Luftkrieg: Terror und totale Zerstörung
Wohnen, wenn die Wohnung keinen Schutz mehr bietet
Wohnen in abgeschlossenen Gehäusen
Die neue »Un-Heim-lichkeit«
Anmerkungen

© Edward Beierle

Florian Rötzer, geboren 1953, hat nach dem Studium der Philosophie als freier Autor und Publizist mit dem Schwerpunkt Medientheorie und -ästhetik in München und als Organisator zahlreicher internationaler Symposien gearbeitet. Seit 1996 ist er Chefredakteur des Online-Magazins Telepolis und Herausgeber der Telepolis-Buch- und eBook-Reihe. Von ihm erschienen sind u.a. »Die Telepolis. Urbanität im digitalen Zeitalter« (1995) und »Vom Wildwerden der Städte« (Birkhäuser 2006). Bei Westend erschien zuletzt sein Buch »Smart Cities im Cyberwar« (2015).

Einleitung

Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen.

– Theodor W. Adorno: Minima Moralia, 1944

Menschen wohnen. Dieses Bedürfnis scheint ein Existenzial zu sein, angemessenes Wohnen wird denn auch als Menschenrecht gehandelt, Obdachlosigkeit hingegen gilt als Fall ins Bodenlose. Bis zur Coronakrise beherrschten die steigenden Kosten des Wohnens und die Angst vor der Wohnungslosigkeit den Diskurs, aber mit den Ausgangssperren und Kontaktverboten wurde plötzlich wieder klar, was Wohnen in aller Ambivalenz bedeutet: Schutz vor Gefahren, ein gesicherter Raum des Intimen und Persönlichen, aber eben auch ein Gefängnis und ein Raum der Vereinsamung. Quarantäne in der eigenen Wohnung heißt nichts anderes, als dass diese zum Gefängnis oder zur Monade wird, was vor allem Singles und Menschen beeinträchtigt, die eng zusammengepfercht wohnen und die Außenwelt als erweiterten Wohnraum benötigen.

Der Aspekt des Schutzes vor dem Außen und des Abstands zum Anderen macht einleuchtend, warum die Unverletzlichkeit der Wohnung von der Verfassung fast so hoch wie die Würde des Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz geschützt ist. Wenn die Wohnung oder das Haus wieder zur Burg wird, die vor Gefahren schützen und für Sicherheit sorgen soll, verwandelt der verordnete Rückzug in die eigenen oder gemieteten vier Wände diese trotz historisch einmaliger medialer Anbindung nicht nur an den Nahraum, sondern praktisch an die ganze Welt zugleich in eine Falle, sobald das freie Pendeln zwischen innen und außen eingeschränkt wird. Wer zudem in kleinen, überfüllten, dunklen Wohnungen leben muss oder dem Hype gefolgt ist und in sogenannten »Tiny Houses« oder Mikroappartements wohnt, erfährt in Zeiten von Quarantäne und Ausgangssperren, dass eine angemessene Größe und Beschaffenheit der Innenräume gewährleistet sein muss, um einen längeren Aufenthalt in diesen nicht zügig als bedrückend zu erleben.

Seltsam ist freilich, dass bislang in der Philosophie das Wohnen nach der radikalen Negation der Kyniker im antiken Griechenland, die sich dem Rückzug in den privaten Raum verweigerten und provokativ ihr Leben im öffentlichen Raum führten, kaum zum Gegenstand wurde. Es blieb ein Nebenthema, kaum erwähnt und durchdacht, obgleich jeder Philosoph wohnt und auch daraus seine Gedanken spinnt. Das Naheliegende und Alltägliche bleibt ausgespart, wird meist nur indirekt thematisiert, vermutlich weil das Wohnen kontextbedingt und zeitlich variabel erscheint, also nicht würdig ist, allgemeines Thema des Daseins zu werden.

Diesem allgemeinen Trend ungeachtet, machten nach dem Zweiten Weltkrieg zwei äußerst unterschiedliche Philosophen das Wohnen zum Thema: Martin Heidegger als Sympathisant der Nationalsozialisten und der Verankerung des menschlichen Daseins in der Heimat und der Jude Vilém Flusser, der vor den Nazis aus Prag flüchten musste und als Vertriebener eine neue Identität, eine Philosophie der Bodenlosigkeit, entwickelte. Für den Kosmopoliten Flusser hatte Wohnen, vor allem in Bezug auf Heimat, eine völlig andere Bedeutung als für den sesshaften Heidegger. Mit Flusser lassen sich Grundzüge einer modernen Philosophie des Wohnens entwerfen, die konsequent den Begriff der Heimat dekonstruiert: »Man kann die Heimat auswechseln oder keine haben, aber man muss immer, gleichgültig wo, wohnen.«

Mit der Reise aus dem Bannkreis der Erde heraus, mit den Flügen zum Mond, hat sich der Blick auch auf die Erde als Raumschiff und als singuläre Wohnung des Menschen noch einmal verstärkt. Der Blick von außen, aus dem Weltall, macht die Menschen zu Gästen und zu Mietern der Erde, die es seitdem nicht mehr zu kolonisieren, sondern zu erhalten gilt. Verwoben damit ist die Erzählung vom Paradies, einem Garten als Wohnstätte und der Abschiebung in die Welt. Das machte die Menschen zu heimatlosen Migranten auf der Suche nach einer Wohnung in der Natur, die wieder zu einem Garten umgebaut werden soll. Den Wurf aus dem Paradies muss man mit der Geburt in Verbindung setzen, die den Menschen aus dem Mutterleib als der ersten Wohnung in die Welt »wirft« oder aus deren schließlich beengendem Gehäuse er flieht. Die Suche und das Einrichten in einer Wohnung ist von der Ambivalenz bestimmt, wieder in das geschützte Reservat, in die Höhle oder das Paradies, zurückzukehren oder dies zu rekonstruieren und vom Drang nach dem Freien, der Suche nach Ausgängen. Das zeigt sich auch in philosophischen Entwürfen von Lebenswelten, beginnend mit Platons Höhlengleichnis.

Die Wohnung, das Haus, ist im digitalen Zeitalter alles andere als der Rückzugsort der Menschen, der Raum des Privaten, durch Mauern, Türen und Fenster getrennt vom Öffentlichen. Mit den sogenannten »Smart Homes« holen wir Maschinen als vermeintliche Diener in den privaten Raum, die uns überwachen und unser Verhalten kontrollieren oder steuern. Über Künstliche Intelligenz könnten sich »Smart Cities« und »Smart Homes« auch verselbstständigen, als Bewohner würden wir dann zu Gefangenen – und richten uns mit Theorien über die Simulation in den digitalen Gefängnissen nach dem Vorbild des platonischen Höhlengleichnisses auch ein.

Im Gegensatz zu früher ist das digitale Gefängnis nicht mehr Anlass, einen Weg hinaus zu finden, sondern um sich noch besser einzuschließen, was dem Verlangen nach »Gated Communities« und »Gated Nations«, also nach kontrollierten Grenzen, möglichst mit Mauern, entspricht – einem Leben in Festungen, die mit Hightech nach außen und nach innen gesichert sind. Hier kommt auch der Krieg ins Spiel, der Festungen, Bunker und Häuser zerstört und Vertriebene hervorbringt. Es ist eine besondere Weise des Entwohnens, die auch im Alltag permanent durch Abriss, Neubau und Gentrifizierung vonstattengeht und manchen in die Obdachlosigkeit stürzt.

Im Zweiten Weltkrieg kulminierte der Luftkrieg in der Vernichtung ganzer Städte. Nachdem man aus dem Ersten Weltkrieg gelernt hatte, richtete man in Deutschland ein System von genormten Schutzbauten in Häusern ein und veränderte Stadtbaubilder, die von der verdichteten Stadt – nach Le Corbusier »Wucherungen« – in die funktional aufgeteilte, »gegliederte und aufgelockerte« Stadt mit den neuen Wohnsiedlungen wechselten. Sie sollte bei den Nazis als Schutz vor Luftangriffen dienen, die nur noch einzelne Häuser zerstören konnten, aber nicht mehr ganze Stadtviertel. Ebenso wurde darauf geachtet, möglichst nur feuerfeste Materialien zu verwenden, die auch heute noch in unseren Gebäuden zur Anwendung kommen. Mit der Vorstellung, sich durch Schutzräume sichern zu können, räumten allerdings die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gründlich auf. In den 1960er Jahren stellte der deutsche Staat die letzten Programme zum Bau von Schutzräumen ein, der Regierungsbunker wurde hingegen erst in den 1990er Jahren stillgelegt. Jetzt bereiten sich sogenannte »Prepper«, die Kriege oder Katastrophen erwarten, privat durch Bunker und andere Schutzmaßnahmen vor, während das Heiligste der digitalen Gesellschaften, die Serverfarmen und Rechenzentren, zu den am besten geschützten Orten werden, zu den Festungen der digitalen Gesellschaften.

Der Blick nach vorne in die neue »Un-Heim-lichkeit« des Wohnens führt in Exkursionen, wie in der Geschichte des Menschen gewohnt wurde. Dabei findet häufig der Umstand Erwähnung, dass Wohnen mit frühen Erfahrungen des Lebens im geschützten Uterus und dem Sturz in die Welt verbunden ist – Erfahrungen, die vermutlich Erwartungen an das Wohnen geprägt haben. Wie haben frühe Menschen gewohnt, wann haben sie begonnen zu wohnen, wie hat sich das geschützte Wohnen, möglich geworden durch Werkzeuggebrauch und Feuermachen, auf die Entwicklung des Menschen ausgewirkt? Und was ist mit der letzten Wohnung eines Menschen, dem Grab?

Wohnen ist mit dem Verhalten zum Gast verwoben. Die Menschen sind Gast auf der Erde, aber sie haben ihre Wohnungen mit vehementen Mitteln, vor allem ab dem 19. Jahrhundert, gegen unerwünschte Gäste verteidigt. Die Hygienisierung der Wohnverhältnisse, das große Reinemachen, geht im Bürgertum auch einher mit dem Verschwinden der Dienerschaft. Man lebt autark, die Familien schrumpfen bis hin zu Single-Existenzen, die Untermietverhältnisse auch. Obgleich das Leben vermutlich mit einem zufälligen oder erzwungenen Zusammenleben angefangen hat – (endo)symbiotisch. Mittlerweile schlägt die Desinfizierung auch auf die Gärten und das Land jenseits des umbauten und geschützten Raums durch. Der realisierte Paradiesgarten wird entvölkert, die Häuser sind aseptisch, nähern sich den lebensabweisenden Rein- und »Reinsträumen« an, in denen man Halbleiter produziert und Serverfarmen unterbringt.

In den Smart Homes und Smart Cities ziehen sich die Menschen nicht mehr aus der Natur und von den Mitmenschen in Gebäude zurück, die ersten künstlichen Umwelten, die geschaffen worden sind. Hier sind sie im Prinzip direkt an die Welt angeschlossen, die Wohnung gerät zu einem globalisierten Element, das von überall aus gesteuert, eingesehen und gehackt werden kann. Gleichzeitig ist der Bewohner in die gesamte Welt, in die globale Datensphäre integriert und öffentlicher als im immer lokalen öffentlichen Raum, auch wenn er weiterhin von Mauern oder materiellen Abgrenzungen wie Fenstern umgeben ist. Die Menschen gehen nicht in den Cyberspace, sie werden mitsamt ihrer materiellen Lebenswelt von ihm eingesponnen. Ein paradoxes Dasein zwischen Transparenz und Privatheit, bislang vom umbauten Raum bestimmt und gesetzlich durch die Unverletzlichkeit der Wohnung gesichert.

Wohnungen und Häuser waren einst Bastionen des Privaten. Das ist längst vorbei, da sich das Wohnen gerade mit den Smart Homes grundlegend verändert. Mit dem Einzug in die intelligenten Behausungen ist endgültig Schluss mit der Illusion von Privatheit, nicht aber mit der Abwehr gegenüber der Nahumgebung. In Zeiten der Pandemie gewinnt die Kontrolle über den Eingang nochmals an Wichtigkeit. Das Leben findet zwar nicht notwendig in der Öffentlichkeit statt, aber das Heim wird mehr oder weniger zu einem Subjekt, das auf die Bewohner reagiert und deren Verhalten beeinflusst. Zuhause ist man seit dem Telefon, welches das erste Loch in die Gemäuer geschlagen hat, nicht mehr alleine. Der Bewohner wird selbst zum Gast, der neben den vielfältigen Interaktionen mit seinem häuslichen Internet der Dinge und dem Dialog mit dem »Homeserver«, dem neuen sprechenden und verstehenden Diener, direkt an der Weltöffentlichkeit teilnimmt und in der virtuellen Weltmetropole lebt. Heute sind nicht mehr alte Schlösser, Burgen oder zerfallende Gebäude unheimlich, sondern die kalten, sauberen, perfekten Gehäuse, die von Computern gesteuert werden – und die neue Gäste in Form von Viren oder Trojanern in die Wohnungen schleusen.

Anthropologie des Wohnens: Von der biologischen Zelle zum Wohngebäude

In der Regel versteht man unter einer Wohnung einen gebauten Raum, einen künstlichen Körper, eine zweite Haut. Wohnen eigentlich Tiere? Beispiele von Tieren, die sich Höhlen bauen oder einen festen Wohnsitz haben, legen dies nahe. Bauen sich Vögel ihre Wohnungen in Nestern, Bären in Höhlen, Mäuse oder Füchse in Erdhöhlen? Ist das Haus einer Schnecke nicht auch eine Wohnung? Und könnte man womöglich bereits den Chitinpanzer von Insekten als eine mobile Wohnung verstehen, die das weiche Innere schützt? Der Körper ist mit seiner Haut, seinem Panzer, seinem Gefieder selbst eine mobile Wohnung, mit der das Lebewesen verbunden ist. Diese Wohnung bleibt, aber sie ist wieder durch eine nach außen verlagerte Wohnung, die den Körper schützt, aufgespalten und verdoppelt.

Leben beginnt mit einer Hülle, mit dem Vorhandensein einer im Prinzip kugelförmigen, aber auch zylindrischen oder fadenförmigen selbstständigen Zelle, die sich von der Umwelt durch eine elastische Wand abgrenzt. Diese Membran regelt den Verkehr beziehungsweise den Stoffwechsel oder die Handelsbeziehung zwischen innen und außen und schützt den abgegrenzten inneren Raum des Zytoplasmas sowie der in diesem enthaltenen Teile, die Module oder Mitbewohner sein können. Auch Einzeller stellen kein atomares Leben dar, sind keine einsame Monade, sondern bereits ein »Wir«, eine Gemeinschaft aus einem Nucleotid, dem Zytoplasma, Organellen mit Membranen wie den Ribosomen, die Proteinfabriken, und den Chlorplasten bei Grünalgen und Pflanzen. Oft gibt es Plasmide, die sich unabhängig vom Genstrang der Bakterien reproduzieren und so eigenständig sind, dass sie auch in andere Zellen übertragen werden und dort eindringen können, was dem Einzeller durch die neuen Gene nützt, beispielsweise zum Immunschutz. Flagellen dienen schließlich der Fortbewegung.

In Eukaryoten kommen noch weitere Bewohner hinzu, beispielsweise die Mitochondrien, die neben eigener DNA wiederum Ribosome enthalten und die mit großer Wahrscheinlichkeit ursprünglich selbstständige Existenzen als Einzeller bildeten, die vielleicht als Parasiten in andere Zellen eingedrungen waren oder gefressen wurden. Sie gelten als Paradebeispiel für die vor allem von Lynn Margulis entwickelte Endosymbiontenhypothese.1 Weniger aggressiv gedacht, könnten Symbiosen natürlich auch durch Gäste oder Besucher entstanden sein, die nach einem ursprünglich kurzzeitigen Besuch länger dort verblieben waren. Möglicherweise handelt es sich auch bei prokaryotischen Zellen bereits um Wohngemeinschaften von Symbionten, die ihre Eigenständigkeiten noch weiter aufgegeben haben, weil manche Wirte und Zellen vom Zusammengehen profitieren. Nach der Endosymbiontenhypothese für Eukaryoten, die mittlerweile weitgehend akzeptiert wird, haben sich durch die Vergemeinschaftungen evolutionäre Sprünge ergeben. Wichtig festzuhalten wäre jedoch, dass die Voraussetzung für solche Endosymbiosen Fressvorgänge oder parasitäres Eindringen sind. Zudem scheint es einen ausgeprägten Drang auch schon bei den Prokaryoten zur Vergesellschaftung zu geben, also gewissermaßen mehr oder weniger stabile, feste, kollektive Ansiedlungen in unterschiedlichsten Formen zu bilden, die mitunter auch bereits gemeinsam handeln und dafür kommunizieren müssen. Leben, könnte man auch sagen, entsteht durch eine Selbstabgrenzung oder Einstülpung, die ein Zerfließen oder Auflösen einer Wohngemeinschaft verhindert und deren Identität und Singularität schafft.

Zum Leben gehört neben der Abgrenzung und dem Einschluss in eine Festung auch das Prinzip der Selbstreproduktion oder der Vermehrung durch Zellteilung, also durch eine Vervielfältigung des behausten Einzellers. Notwendig ist für Wachstum, Selbsterhaltung und Selbstvermehrung ein »Gedächtnis« in Form des Genoms, das die dreidimensionale Zelle in ihrer Identität erhält und mitunter auch repariert sowie eben durch Teilung reproduziert. Gleichzeitig sorgt das Gedächtnis, das bei Prokaryoten ein in sich geschlossenes Molekül (»Nucleotid«) und bei Eukaryoten selbst wieder als »Zellkern« durch eine Doppelmembran abgetrennt und geschützt ist, durch Fehler nicht nur für Katastrophen, sondern auch für Innovationen, durch die sich die Zellen an eine stets in Veränderung begriffene Umwelt »anpassen« können. Die Teilung wird vom genetischen Apparat der aus Tausenden von Nucleotiden bestehenden RNA oder DNA angetrieben, einem komplizierten Gedächtnis-Apparat, der über die Fähigkeit zur Selbstreplikation verfügt. Wahrscheinlich gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Aufrechterhaltung eines Lebewesens als Gated Community oder als Blase und der Möglichkeit der Selbstvermehrung, die sowohl durch Zellteilung als auch später durch sexuelle Reproduktion in der »Wohnung« der umhüllten Vielzeller geschieht. Bakterien tauschen überdies Gene aus, sodass sich die Bakteriengemeinschaft als eine riesige Tauschbörse verstehen lässt, um permanent die Wohnungen umzubauen, zu ergänzen, zu modernisieren und schlichtweg zu erkunden, was nach einem Tausch passiert. Zudem schleusen Viren ihre Gene in die Zellen ein, übernehmen die Genproduktion zur Reproduktion. Meist stirbt die Wirtszelle, es können aber auch Gene zurückbleiben und sich mit dem Genom fortpflanzen.

Zudem ist eine Zelle nicht nur von der Außenwelt abgegrenzt und reproduktionsfähig, sie ist als Einzeller auch mobil und bewegt sich nomadisch in einem flüssigen Medium. Ob schon prokaryotische Zellen der Bakterien und Archaeen durch Symbiosen entstanden sind, ist unbekannt. Sie enthalten zumindest keine Organellen, die ihre eigene genetische Information enthalten, eine Symbiose oder Aufnahme hätte hier zur gänzlichen Verschmelzung geführt. Metaphorisch könnte man selbst bei Prokaryoten bereits nicht nur vom Leben in einer »Wohnung«, sondern auch in einem Leib sprechen. Bakterien sind nicht nur ein Leib, das Nukleoid als »Kernbewohner« hat auch einen Körper. Mit dem Beginn der Eukaryoten beginnt spätestens die Phase des Zusammenwohnens, der Kommune.

Neben dem Leben, das mit der sich von der Umgebung abspaltenden und sich teilenden Zelle entsteht, kommt es nicht nur zum Fressen anderer, kleinerer Zellen, sondern vermutlich auch zur Entstehung von Parasiten, also nomadischen Eindringlingen, die ihr Genom in die Einzeller als Wirte einschleusen, um sich listig mit deren Hilfe und auf deren Kosten zu replizieren. Ohne Zellen können sich Viren nicht vermehren. Auch sie haben in der Regel eine Umwandung ihres Inneren, eine Proteinhülle, die ihre DNA oder RNA umschließt, aber keinen eigenen Stoffwechsel. Unbekannt ist, ob Viren aus Teilen von Zellen entstanden sind oder ob sie sich als Minimalleben schlicht aufgrund des Vorhandenseins von Zellen als möglichen Wirten entwickelt haben.

Die Abgrenzung nach außen durch eine elastische Membran erzeugt die kompakte Gestalt der Zelle, die aber innen in wiederum durch Membrane aufgeteilte Kompartimente differenziert ist. Man könnte bildlich von Zimmern sprechen, die unterschiedliche Funktionen eines Lebewesens beherbergen. So sind auch Wohnungen geschnitten oder in Zimmer aufgeteilt – in Bereiche des Schlafes und des Beischlafes, in Bereiche, in denen gekocht und gegessen wird, in denen sich Kinder aufhalten, man Gäste begrüßt, sich wäscht und seine Notdurft verrichtet, aber auch arbeitet oder sich erholt und unterhält, in denen schließlich die Dinge gesammelt und verwahrt werden, die man sein Eigen nennt.

Eine These wäre, dass Leben, beginnend mit den Einzellern, aus der Abgrenzung und räumlichen Verdichtung hervorgeht, dass der Einschluss des individualisierten Lebewesens aus der Entkopplung und damit der Aufteilung von innen und außen durch das Gehäuse hervorgeht. Diese Trennung, die den Raum aufspannt und Entfernungen erzeugt, scheint mit dem Leben verbunden zu sein. Leben entsteht, wo ein Wohnraum und damit eine Grenze geschaffen wird, die eine Außenwelt konstituiert. Eine Umgebung gibt es nur mit diesem Einschnitt, dieser Einfaltung, dieser Furchung im Raum. Beides entsteht gleichzeitig als »Unter-Scheidung«. Daraus leiten sich wahrscheinlich viele, wenn nicht alle Dichotomien ab, die noch die Existenz des Menschen als geistiges Wesen bestimmen.

Die Philosophen des Deutschen Idealismus haben die logischen Konsequenzen dieser Furche, aus der Leben als räumliche Unterscheidung und damit als Stoffwechsel und Replikation quillt, in Form der Unterscheidung zwischen »Ich« und »Nicht-Ich« nachvollzogen. Ein Einzeller hat zwar kein Selbstbewusstsein, aber ist selbstbezogen, auf Überleben und Reproduktion ausgerichtet, hat eine von anderen Einzellern differenzierte Identität und bewegt sich in einer Welt, von der er sich unterscheidet und auf welche er reagiert. Ganz entscheidend ist, dass die räumliche Grenzziehung, mit der das Innere eines Lebewesens sich vom Außen abtrennt, eben eine Membran ist, die ein Medium der Kommunikation und der wechselseitigen Einverleibung ist. Schon von Beginn des Lebens an haben sich nicht nur Jäger entwickelt, die sich anderes Leben einverleiben und auf dessen Kosten leben, sondern auch Parasiten oder Einbrecher, die in die Wohnungen eindringen und versuchen, sich dort breitzumachen, um mit geringeren Kosten als Untermieter oder Ausbeuter leben zu können.

Schon vor der Entstehung von vielzelligen Lebewesen waren die Einzeller nicht nur Wohngemeinschaften mit (teils unerwünschten) Gästen. Sie gruppierten sich auch gerne im Raum, bildeten Konglomerationen und kooperierten. Bakterienfilme lassen sich als erste mobile Städte verstehen, zudem als erste Tauschgemeinschaften, die sich auch mit artfremden Bakterien zusammenfanden und Gene austauschten. Auf der Oberfläche ihrer Zellwände befinden sich Filamente oder Pili, mit denen sich die Zellen an einem Untergrund, aber auch anderen Bakterien festhalten können. Der Molekularbiologe Thierry de Duve leitet daraus den sexuellen Kontakt ab. Pili dienen dem sogenannten horizontalen Gentransfer. Sie verbinden Zellen und bauen eine Plasmidbrücke auf, über die DNA in Form von ringförmigen Plasmiden ausgetauscht werden kann. So koppeln sich Lebewesen in ihren Gehäusen, Zellwand an Zellwand, aneinander, wobei die Zelle mit den Sexualpili, die einen molekularen Penis bilden, an eine »weibliche« Zelle andocken. Mit dieser Sexualität oder diesem Tausch beginnt letztlich das, was einmal Kultur werden wird: das »Lernen« oder Übernehmen gespeicherter Information jenseits des evolutionären Zufalls der Mutationen.

Leben ist Wohnen – zunächst in einem Körper mit einem Wall, einer Mauer, einem Bauwerk, in dem sich ein Innen geschützt und konzentriert aufspannen kann. Das heißt, ein Körper eines vielzelligen Lebewesens ist immer auch eine Wohnung für viele Mitbewohner, die eine ausdifferenzierte Gemeinschaft von Zellen bilden, die wiederum aus Räumen und Mitbewohnern besteht. Und ein Körper ist auch eine Wohnung für viele weitere Gäste und Eindringlinge. Die Wohnung bildet eine Abgrenzung, die weitere Abgrenzungen hervorbringt oder impliziert. Niemand wohnt alleine, es gibt keinen Single, selbst eine Festung muss mit der Außenwelt verbunden und damit gegenüber Mitbewohnern und Immunsystemen offen sein. Der vollkommene Einschluss, die absolute Sicherheit, bedeutet gleichzeitig den Tod und die Unfruchtbarkeit.

Der nackte Affe

Wohnen, das Bauen von Wohnungen und das (Sich-)Einrichten in diese, ist eine anthropologische Konstante. Diese Tätigkeit gehört zum Menschen, der möglicherweise erst durch das Wohnen überhaupt Mensch wird und sich in der Obdachlosigkeit oder Unbehaustheit verlieren kann. Spannt man den Bogen weit, so verläuft das Leben des Menschen anthropologisch betrachtet zwischen dem Aufwachsen in der ersten Höhle, dem Uterus, über die erste Vertreibung aus dem paradiesischen Garten und den Sturz in die Welt, das Bauen und Einrichten von Wohnungen in der Welt, wozu auch die Kleidung gehört, bis zur Rückkehr in die letzte Wohnung, in den Sarg, der wieder in die Unterwelt eingelassen wird und in welcher der tote Leib ein- und abgeschlossen liegt. Allerdings muss die letzte Wohnung, in welche die Menschen nicht wie nach der Empfängnis und der Geburt »geworfen« werden, kein Sarg sein. Die Menschen können sich auch entschließen, wenn sie keine Angst vor der Wiederkehr der Toten und keinen Glauben an die Auferstehung im Himmel haben, den Körper der Erde zurückzugeben, mit der er verschmilzt und eins mit dem Staub wird.

Der Mensch, der »nackte Affe«, wie der britische Zoologe Desmond Morris den Unterschied des Menschen gegenüber allen anderen Primaten in seinem gleichnamigen Buch The Naked Ape (1967) beschrieb, ist der Umwelt ausgesetzt, muss sich nicht nur mit einer zweiten, einer für ihn künstlichen Haut bekleiden, wenn er nicht in günstigen klimatischen Bedingungen wie in tropischen Regenwäldern lebt, sondern schafft sich auch zusätzlich mit seinen Werkzeugen einen Innen- und Rückzugsraum, um als Gruppe vor wilden Tieren, Insekten und dem Wetter geschützt zu sein. Das geschah vermutlich, nachdem er aufgrund von Klimaveränderungen vor drei Millionen Jahren den schrumpfenden Wald verlassen musste und ins Offene der Savannen trat, um dann weiter als Migrant von Afrika aus in mehreren Wellen neue Räume und Kontinente zu erobern oder zu domestizieren, wo wie in Asien und Europa der Bau von Wohnungen und der Aufenthalt in diesen umso wichtiger wurden. Aber schon das Leben in Grassavannen machte es notwendig, größere Entfernungen zurückzulegen, weil die Nahrung knapper und die Wasserstellen verstreuter und unsicherer als in den Wäldern waren. Dabei greift vieles ineinander: So geht die Wissenschaft davon aus, dass der Gang ins Offene zu einer Umstellung der Ernährung, zum Nacktwerden und einer veränderten Hautpigmentierung zum Schutz vor der Sonne, zum aufrechten Gang mit längeren Beinen und freigesetzten Händen sowie wachsenden Gehirnen führte, was wiederum den Werkzeuggebrauch begünstigte und damit das Herstellen von Kleidung und Unterkünften ermöglichte.

Als Antwort auf die Frage, warum der Mensch als einziger Primat sein Fell im Übergang von den schon aufrecht gehenden Australopithecinen zum Homo ergaster, Homo erectus oder Homo habilis weitgehend verlor, hat die Wissenschaft nur Vermutungen, unbekannt ist auch, wann dies genau erfolgt ist. Während man einerseits aus Skelettfunden erschließen kann, wann sich der Mensch aufrichtete und schließlich zum dauerhaften Zweibeiner wurde, wodurch er längere Strecken schneller und ausdauernder laufen und seine Arme und vor allem seine Hände mit den Fingern zur Manipulation seiner Umgebung wie auch zur Herstellung und Benutzung von Werkzeugen nutzen konnte, gibt es andererseits keine Haut- und Haarfunde aus der Zeit der frühen Menschen. Man kann aber davon ausgehen, dass der nackte Körper oder der Verlust des vor Regen, Kälte, der Sonne und Verwundungen schützenden Fells eine entscheidende Rolle bei der weiteren Menschwerdung gespielt haben muss.

Vermutlich ist der bis auf wenige Stellen nackte Körper nach dem aufrechten Gang und dem Leben außerhalb von dichten Wäldern entstanden und hatte den primären Vorteil, unter heißen Bedingungen ausdauernd laufen zu können, was den Körper aufheizt und Kühlung verlangt, aber auch den räumlichen Radius für das Sammeln und Jagen erweiterte. Mit der nackten Haut vermehrten sich vermutlich die sogenannten ekkrinen Schweißdrüsen, die einen wässrigen Schweiß absondern, der auf der weitgehend nackten Haut schnell trocknet und damit kühlt und zudem einen Säureschutzmantel bildet – wichtig nicht nur für die Organe, sondern vor allem auch für das bei den Menschen wachsende Gehirn, dem sonst ein Hitzschlag droht. Die Temperaturregulation ist lebenswichtig und muss bei etwa 37 Grad Celsius konstant gehalten werden. Menschen haben am ganzen Körper Millionen dieser Schweißdrüsen, Primaten deutlich weniger. Behaarte Säugetiere besitzen eher apokrine Drüsen, die an der Haarwurzel einen öligen, zähflüssigen Schweiß absondern, der auch für den individuellen Geruch verantwortlich ist. Tritt Schweiß aus, wird das Fell nass und verhindert dadurch möglicherweise sogar die Kühlung. Kein Fell haben auch sehr große Säugetiere wie Elefanten, Nashörner oder Flusspferde, die in warmen Gebieten leben. Mit ihrer großen Masse verfügen sie über weniger Oberfläche zum Kühlen als kleinere Tiere. Warum an manchen Körperstellen bei den Menschen eine Behaarung verblieben ist, lässt sich nur vermuten. Das Kopfhaar könnte dem Schutz vor der Sonne gedient, die Haare unter der Achsel und auf der Scham könnten vor Reibung durch Bewegung geschützt haben. Ebenfalls im Raum steht ihre mögliche Rolle für das Halten und Verbreiten von Pheromonen zur Übermittlung von Informationen und zur Beeinflussung anderer Menschen.

Auffällig sind auch genetische Veränderungen, die mit dem Fellverlust einhergingen und zumindest neben den Talgdrüsen einen etwas besseren Schutz der nackten Haut etwa vor Wasser und Schürfungen, aber auch vor Bakterien oder Viren boten. Entscheidend war hier die Ausbildung einer Art Schutzwand im äußersten Teil der Oberhaut (Epidermis), dem aus mehreren verhornten Schichten abgestorbener Zellen bestehenden Stratum corneum, dessen Stärke bei den Säugetieren mitunter stark variiert. Allgemein schwankt die Dicke der Epidermis mit der Behaarung: Je dichter das Fell, desto dünner die Haut. Beim Menschen liegen 10–20 Schichten übereinander: Mit etwa 0,3 Millimeter ist sie auf dem Kopf am dünnsten, mit bis zu einem Millimeter an der Fußsohle am dicksten. Es handelt sich mithin um eine Mauer aus toten Zellen, die aus mehreren Schichten von »Ziegeln« besteht, und Lipiden. Man spricht beim Stratum corneum auch von einer »Backsteinmauer«, wobei die aus Keratin bestehenden abgestorbenen Hornzellen vom »Mörtel« der Lipide verfugt werden. Diese halten die »Ziegel« zusammen und dichten die »Mauer« ab. Die Keratinschuppen lösen sich oder werden abgeschürft und müssen permanent nachgebildet werden. Alle zwei Wochen ist die gesamte Hornschicht völlig neu, pro Minute fallen etwa 40 000 Hautzellen ab, die in Wohnungen dann als Nahrung für etwaige »Gäste« dienen.

Die Haut lässt sich ganz allgemein als das größte Organ des Menschen mit bis zu zwei Quadratmetern Oberfläche und einem Gewicht von bis zu 20 Kilogramm bezeichnen, sie ist gewissermaßen auch die erste Wohnung des vielzelligen Körpers und stellt eine semipermeable Barriere dar, die ihn vor Austrocknung und dem Verlust von Nährstoffen und Flüssigkeiten sowie vor äußeren Einwirkungen schützt. Sie übt also die Grundfunktion aus, die auch Behausungen für den verkörperten Menschen zu eigen ist. Dazu speichert sie Energie in Form von Fett, scheidet neben Schweiß und Talg auch andere Stoffwechselprodukte ab und kann von außen Fett oder Wirkstoffe aufnehmen. Nicht zuletzt ist die Haut ein großes Sinnesorgan mit Millionen von Schmerz-, Tast-, Wärme- und Kälterezeptoren, um den Körper zu schützen und auf Betriebsgröße zu halten. Ähnlich sollen die Sensoren, mit denen die Smart Homes ausgestattet werden, den Betriebszustand der Häuser und ihrer Bewohner regulieren. Über die Haut werden aber etwa auch psychische oder emotionale Befindlichkeiten ausgedrückt, etwa durch Schwitzen, Erröten, Erblassen oder Gänsehaut. Wohnungen könnte man allein aufgrund der Thermo- und Feuchtigkeitsregulierung nach der Kleidung als zweite beziehungsweise dritte Haut oder die Haut eben als eine Vorform der Wohnung beschreiben.

Die Haut schützt nicht nur den »nackten Affen«, der sie bewohnt, und reguliert seinen Körper, sie dient auch selbst wiederum als Unterkunft und Lebensraum für Mitbewohner, ebenso wie Häuser und Wohnungen, in denen Menschen trotz größter Sauberkeit auch niemals alleine sind, sondern immer inmitten zahlreicher Gäste, Parasiten und Eindringlinge leben. Kolonien unterschiedlicher Bakterien nutzen die Oberfläche der Haut als permanente Wohnung, auch wenn sie nicht sehr tief in das Stratum corneum eindringen können, das sich ja immer wieder erneuert, wodurch auch die Besiedler abgestoßen werden. Viele der Mitbewohner leben in den Haarfollikeln, die eine Art Höhle bilden, in den feuchten, tropischen Gegenden (Achseln, Leistenbeugen, Analfalte, Finger- oder Zehenzwischenräume) oder in den Bereichen, in denen es viele Talgdrüsen gibt, während große Gebiete der trockenen Haut gleich Wüsten nur dünn besiedelt sind. Die Hautflora, bestehend aus den permanenten Mitbewohnern des Körpers, die ihrerseits wiederum Teil seines Mikrobioms oder Standortflora sind, ist letztlich auch eine zweite Schutzschicht vor unerwünschten Mikroorganismen. Diese müssen erst die Mitbewohner verdrängen, um an die Haut zu gelangen und sich dort anzusiedeln beziehungsweise diese als Kolonisatoren zu verdrängen. Deren Zahl ist jedenfalls auf den ersten Blick stattlich: Man geht von zehn Milliarden Bakterien aus. Vergleicht man die Zahl der gesamten Mitbewohner des Körpers, die auf 40 Billionen, mitunter auch auf mehr als 100 Billionen mit einer Vielfalt von mehreren Tausenden Bakterienarten geschätzt wird, dann tritt klar hervor, dass die Haut relativ wenig bewohnt ist, während es sich beim Darm um eine bakterielle Megacity handelt, in welcher der Großteil der Bakterien lebt. Im feuchten Stuhl sollen pro Gramm etwa so viele Bakterien leben wie auf der gesamten Haut.

Die ersten Wohnungen

Ob die frühen Menschen zuerst Kleidung oder Unterkünfte erfanden, lässt sich heute kaum feststellen. Es steht aber zu vermuten, dass Behausung der Kleidung voranging, da auch die nächsten Verwandten des Menschen Behausungen in Form von Nestern auf Bäumen oder – im Fall von Gorillas – auf dem Boden erbaut hatten. Das war noch ohne den Einsatz von Werkzeugen möglich, während die Herstellung von Kleidung, die vermutlich zuerst aus Tierfellen bestand, Werkzeuge zum Töten von Tieren, zur Auslösung des Fells und zum Zusammennähen voraussetzt. Es gibt außerdem einen konkreten Hinweis darauf, dass Kleidung erst relativ spät entstanden ist. Das kann man wiederum von einem Mitbewohner des menschlichen Körpers ableiten, nämlich von Läusen. Diese Parasiten mussten sich mit dem Nacktwerden des Körpers vornehmlich in die Kopfhaare zurückziehen. Aber dann kam eine Zeit, in der die »Kopfläuse« wieder auswandern konnten, nämlich als ihnen neues, künstliches Fell in Form von Kleidung Schutz bot. Genetisch trennte sich die menschliche Kopf- von der Kleider- oder Körperlaus (Pediculus humanus humanus respektive Pediculus humanus corporis), wie Wissenschaftler schätzen, frühestens vor 100 000 Jahren. Schon die Vorfahren der Schimpansen und der Menschen waren von Läusen besiedelt. Das Auftreten der Kleiderläuse könnte darauf hinweisen, dass die Menschen lange »nackt« lebten, bis sie in kältere Gefilde auswanderten, wo sie mit ihren Steinwerkzeugen, über die sie schon lange verfügten, Kleidung aus Fellen herstellten.

Vermutlich ging dem aber eine andere Revolution voran, die sich vor der Auswanderung der Hominiden aus Afrika ereignet haben dürfte und ein wesentliches, vielleicht sogar das entscheidende Movens für die Evolution des Menschen und seines Wohnens darstellt. Auffällig ist nämlich noch heute, dass sich die Primaten mit Ausnahme der wirklich mächtigen Gorillamännchen nicht trauen, ihr Nachtlager auf dem Boden einzurichten. Vermutlich war es auch für die Vorfahren des Menschen dort einfach zu gefährlich. Was könnte die frühen Menschen vor zwei Millionen Jahren verleitet haben, die Bäume zu verlassen und ihre Nächte auf dem Boden zu verbringen?

Der aufrechte Gang könnte zum Verlassen der Wälder geführt haben, um stattdessen auf den Savannen nährstoffreiches Aas auszuweiden oder auch Tiere zu jagen. Das könnte wiederum für den Verlust des Fells, zwecks schnellerer und weiter reichender Fortbewegung verantwortlich gewesen sein. Aber noch immer wäre Homo erectus, der gegenüber seinen Vorfahren deutlich allgemein an Muskelmasse und speziell Ausprägung der Kaumuskeln und Zähne zugunsten seines Gehirns eingebüßt hat, stark gefährdet. Homo erectus war offensichtlicher schwächer, wenn auch größer als seine Vorfahren, konnte aber aus Afrika auswandern und andere Gebiete besiedeln. Auffällig ist schon, dass Homo erectus spätestens mit seinem aufrechten Gang und den dafür geeigneten flachen Füßen die Fähigkeit verloren hat, so zu klettern, wie dies die Primaten vermochten. Nester auf Bäumen zu bauen, war damit kaum mehr möglich. Was könnte also den Erfolg des Migranten verursacht haben, der sich nicht nur im Leben außerhalb des Waldes, sondern auch in vielen Gebieten mit unterschiedlichen klimatischen Bedingungen bewähren sollte?

Plausibel ist die These, dass die Beherrschung des Feuers zusammen mit der Möglichkeit, Essen zu kochen oder zu garen, ein entscheidender Schritt war, der es womöglich schon vor zwei Millionen Jahren den frühen Menschen ermöglichte, sich vollends aufzurichten, aus den Wäldern zu gehen und sich durch die neue Kultur des Kochens als Jäger und Aasfresser mehr Energie zuzuführen. Kochen lässt Gifte zerfallen, tötet gefährliche Bakterien und andere Lebewesen, macht Fleisch und pflanzliche Nahrung leichter kau- und verdaubar, aber auch haltbarer, wodurch länger bewohnte Lager möglich wurden, die sich in der Regel zunächst an Wasserstellen befanden, wo sich ungestört Wild jagen, zerlegen und kochen ließ. Nach der Kochhypothese veränderte sich mit dem stationären Feuer und der vermehrten Energiezufuhr durch gekochte Nahrung auch der Körper des Menschen. Der Mund, die Zähne und der Kiefer schrumpften, was die Sprechfähigkeit befördert haben könnte. Auch der Magen wurde gegenüber dem von Primaten deutlich kleiner, ebenso der Dickdarm, die Körpergröße nahm hingegen ebenso wie das Gehirnvolumen zu.2 Die Jäger erbeuteten mehr Fell, das für Bekleidung und zur Abdeckung von Hütten aus einem Gerüst von Ästen oder großen Knochen diente. Das könnte schon während der Acheuléen, also vor mehr als 1,5 Millionen Jahre, der Fall gewesen sein, als die vormodernen Menschen wie Homo habilis oder Homo erectus Faustkeile herstellten und in der Lage waren, Tierfelle auszuschneiden, zu trocknen und zu verbinden. Die Erfindung der Wohnung, die vermutlich mit der der Bekleidung des »nackten Affen« parallel lief, liegt jedenfalls im Dunklen der Geschichte. Die Beherrschung des Feuers ließ die Menschen nicht nur sesshafter werden und ermöglichte die Migration in kältere Gebiete, sondern machte das Leben auf dem Boden in den Lagern auch sicherer, wehrte Insekten und Raubtiere ab und förderte die Geselligkeit beim Kochen, Essen und Aufenthalt um das Feuer am Abend. Außerdem stellte es einen Antrieb dar, zusammen zu wohnen, Kleingruppen und Familien zu bilden, in Nachbarschaft zu anderen.3

Das Kind als »nackter Affe« benötigt Schutz vor Sonne, Hitze, Kälte, Feuchtigkeit, Ungeziefer und Raubtieren und damit Wohnungen als Nachfolge-Uterus und Kleidung als eine zweite Haut. Aber auch die frühen Menschen bauten sich bereits wie ihre Verwandten, die Menschenaffen, noch bevor sie die Wälder verließen und die Haare verloren hatten, zum Schlafen erste Wohnungen. Wie die anderen Hominiden, die Schimpansen, Gorillas und Orang-­Utans, waren die frühen Menschen auch vorwiegend Waldbewohner, obschon Schimpansen sich auch in Savannengebieten aufhalten. Nebenbei ist zu bemerken, dass das Nesterbauen der Primaten als Werkzeuggebrauch betrachtet wird: Sie benutzen Hände und Beine, um die Äste zurechtzubiegen und die Plattform zu stabilisieren.

Normalerweise bauen sich alle Menschenaffen Nester aus Zweigen und Blättern auf bestimmten Bäumen, deren Äste ihrem Gewicht standhalten. Gorillas, auch Schimpansen richten sich ihre Schlafgelegenheit auch am Boden ein, wenn keine ausreichend stabilen Bäume vorhanden sind. Es wird dann das Gras auf der Liegefläche niedergetreten, Zweige von Büschen niedergedrückt und ineinander verhakt, um weicher zu liegen, und schließlich mit anderen Zweigen eine Umrandung gebildet. Während sie die komplizierteren Nester eher in den Bäumen zur Nachtruhe bauen, ziehen sich Menschenaffen auch am Tag gelegentlich dorthin zurück. Offenbar werden Nester aber nicht wiederholt benutzt, was neben der nomadischen Nahrungssuche auch mit deren mangelnder Sicherheit zusammenhängen kann.

Menschenaffen sind – wie lange Zeit die Menschen selbst – Nomaden, die ihren Wohnort täglich wechseln und in einem Gebiet als Jäger und Sammler umherziehen. Gebaut werden eher Betten oder Nester, die es erlauben, sich, ohne Angst herabzufallen, bequem und entspannt einrollen oder ausgestreckt liegen zu können. Die Nester gewähren Schutz vor Raubtieren, aber auch vor Regen und Blutsaugern – und sie ermöglichen es vor allem, länger und tiefer zu schlafen, sich also von der Beobachtung der Umwelt abzukoppeln und in einen postuterinen, träumenden Zustand zu gelangen, was manche Wissenschaftler für eine der Voraussetzungen zur Ausbildung von hohen kognitiven Leistungen bei den Menschenaffen und dann vor allem dem Menschen halten. Die Hominiden, zumindest ab Homo erectus, sind vollständig, einschließlich der Frauen und Kinder, zu Bodenschläfern geworden. Ob dabei die Beherrschung des Feuers bereits eine Rolle spielte, ist umstritten. Es geht aber hier nicht darum, Hypothesen aufzustellen, welche Faktoren primär und zu welcher Zeit in der Menschheitsevolution für welche Entwicklungen verantwortlich sein könnten, sondern es soll nur gezeigt werden, wie entscheidend auch die Bedingungen des Wohnens für die menschliche Kultur waren und auch weiterhin sind.

Die Abspaltung der Gattung Homo dürfte etwa vor sieben Millionen Jahren geschehen sein, also zu einer Zeit, in der sich auch ein Klimawandel in Afrika, der Wiege der Menschheit, vollzog. Es wurde trockener, die Wälder wichen zurück, Savannenflächen breiteten sich aus. Vermutlich spielten viele Ursachen, Bedingungen und Zufälle zusammen, um den modernen Menschen entstehen zu lassen. Schon das Leben in Grassavannen oder der Gang ins Offene aus dem Wald heraus ließ es notwendig werden, größere Entfernungen zurückzulegen, weil die Nahrung knapper und die Wasserstellen verstreuter und unsicherer als in den Wäldern waren. Neben der Vergrößerung des Gehirns, der Veränderung des Gebisses und des Kehlkopfs bis hin zum späteren Eintritt der Sexualität sind für eine Philosophie des Wohnens vor allem der aufrechte Gang, die dadurch bedingte Freisetzung der Hände und der großen, kräftigen Daumen als Werkzeuge sowie der weitgehende Verlust der Körperbehaarung mit einer veränderten Pigmentierung der Haut ausschlaggebend. Frühestens vor 2,5 Millionen Jahren, also lange nach der evolutionären Abspaltung, produzierten die Hominiden die ersten Steinwerkzeuge, auch Oldowan-Werkzeu­ge genannt, die vor etwa 1,5 Millionen Jahren in einem nächsten Schritt von Faustkeilen und anderen Acheuléen-Produkten des Homo ergaster abgelöst wurden. Es dauerte aber noch lange, bis die ersten, heute belegbaren Bauwerke entstanden, weil diese, um die Zeit zu überdauern, aus Knochen oder vor allem Steinen gefertigt sein mussten. Das war erst vor etwa 60 000 Jahren im Paläolithikum, der Altsteinzeit, der Fall, als die Menschen die kälteren Gebiete in Europa besiedelten und auf dem Weg zur Landwirtschaft und Sesshaftigkeit auch rudimentäre Gebäude für längere Aufenthalte errichteten.

Aber wie sahen die ersten Wohnungen der frühen Menschen aus, die in den Savannen lebten und sich aus Afrika über die ganze Welt verbreiteten? Vermutlich waren sie den Nestern ähnlich, welche die Menschenaffen aus den in der Natur vorhandenen Materialien wie Ästen, Zweigen, Blättern und Gras bauten, später ergänzt durch Felle, die mit Steinwerkzeugen zugeschnitten und irgendwann zu Zeiten der Neandertaler mit Knochennadeln verbunden werden konnten. Es handelte sich dabei bis zum Bau der ersten wirklichen Wohnungen und Zelte um primitive Behausungen, die nicht zum längerfristigen Verbleib geeignet waren, aber Schutz und eine vertraute Umgebung sowie eine gewisse Thermoregulierung boten.

Ähnlich wie das Leben im Uterus ist das Wohnen in der frühen Geschichte der Menschheit jenseits der Erinnerung. Spuren blieben davon nicht zurück. Es geschah auch lange nicht viel in der Entwicklung der Hominiden, auch wenn sie die Wälder wie der vermutlich noch behaarte Australopithecus verließen und sich aufrichteten. Noch blieben sie in Afrika, und erst mit einer erneuten Trockenheit entstanden in Ostafrika vor zwei bis drei Millionen Jahren die ersten größeren und nackten Repräsentanten der Gattung Homo. Relativ bald nach der langen Phase der Menschwerdung begannen Vertreter von Homo erectus, vor etwa zwei Millionen Jahren aus Afrika auszuwandern, was zeigt, dass der Mensch wesentlich ein »Homo migrans« ist, ein Nomade, der es schafft, sich vielen unterschiedlichen Bedingungen anzupassen, und trotz aller Gewohnheiten flexibel bleibt. Ganz entscheidend ist dabei die Fähigkeit, sich nicht nur einer Umwelt anzupassen und etwa Höhlen zu beziehen, sondern sich eigene, künstliche Umwelten in Form von Wohnungen zu bauen, die Schutz und Rückzug gewähren, und Kleidung zu erfinden, mit denen sich heiße, feuchte, trockene oder kalte Bedingungen aushalten und Bedrohungen abwehren lassen, sowie eine Umgebung zu errichten, in der es sich zu unterschiedlichen Tag- und Nachtzeiten einigermaßen sicher schlafen lässt. Den Schlaf benötigt nicht nur das große Gehirn, um zur Ruhe zu kommen und im REM-Schlaf Erfahrungen abzuspeichern, sondern auch der Körper, um nicht von seinem ressourcenfressenden Gehirn ausgelaugt zu werden.

Mit Beginn der Beherrschung des Feuers vor ein bis zwei Millionen Jahren war der Schlaf nicht mehr notwendig mit dem Eintritt der Dunkelheit verbunden. Die Möglichkeit, aus dem Nest ein Zelt zu machen oder sich in eine Höhle zurückzuziehen, schuf eine vom Tag-Nacht-Zyklus entkoppelte Dunkelheit. Zugleich stieg mit dem Feuer die Sicherheit vor Räubern, was dazu beigetragen haben dürfte, die Schlafzeit zu verkürzen, den Schlaf zu vertiefen, Störungen zu minimieren und die REM-Phasen zu verlängern. Laut der Schlafintensitätshypothese war diese Effizienzsteigerung neben vielen anderen Faktoren ein wichtiger Beitrag zur kognitiven Entwicklung des Menschen.4 Unter den Primaten schläft Homo sapiens mit etwa acht Stunden zwar am kürzesten, hat aber die längsten REM-Phasen. Die Schlafbedingungen haben sich mit der weiteren kulturellen Entwicklung des Wohnens stetig verändert, wenn auch nicht in allen Hinsichten verbessert. Durch Gebäude in Dörfern wurde das Sicherheitsgefühl gestärkt und für akustische Ruhe, Abdunklung, Temperaturausgleich, weiche Unterlage und eine Bedeckung gesorgt, was intrauterine Gegebenheiten rekonstruiert. Es kamen aber auch neue Störungen hinzu, wie beispielsweise durch Lärm.

Mit dem Bau der Wohnung geht ein Schnitt durch die Welt

Der Gang, menschheitsgeschichtlich vielmehr der Wurf ins Offene war für die Vorfahren des Menschen wahrscheinlich nur durch den Bau erster »Festungen« möglich, die das Offene zumindest teilweise ausschlossen und unterbrachen. Einer der ersten »Bauten« wurde von Forschern in der Bruniquel-Höhle in Frankreich gefunden – und zwar mit mehr als 300 Metern vom Eingang relativ tief in dieser Halle und damit in absoluter Dunkelheit.5 Mit abgebrochenen, etwa gleich langen Stalagmiten errichteten hier vor mehr als 170 000 Jahren vermutlich Neandertaler zwei kreisförmige Gebilde in der Höhle. Bei allen fand man auch Spuren von Feuer auf den aufgeschichteten Stalagmiten und verbrannten Knochen. Die Stalagmiten-Mauern sind innen und außen durch Steine gestützt.

Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die ringförmigen Aufschichtungen eine Zusammenarbeit und Planung erforderlich machten und damit Zeichen einer sozialen Organisation sind. Seltsam ist, dass sich die Feuerstellen nicht auf dem Boden des umbauten Raumes befanden, sondern auf den Stalagmiten-Wällen. Das könnte darauf hindeuten, dass mit der Erfindung des Feuers nicht nur der Verzehr von Fleisch erleichtert und Fleisch durch Räuchern haltbar gemacht wurde, sondern auch, dass Feuer zumal in der Nacht oder in dunklen Räumen einen Schutzraum schuf. Es hielt Raubtiere und Insekten ab, erhellte kreisförmig die Umgebung und sorgte für Wärme.

Höhlen waren aber – das muss gegenüber dem verbreiteten Glauben festgehalten werden – keine Wohnungen für den frühen Menschen. Sie dienten vermutlich rituellen Handlungen. In geschützten Höhlen wie denen von Lascaux oder Altamira sind auch die frühen Bilder bewahrt, die Menschen womöglich auch auf anderen, aber vergänglicheren Oberflächen geritzt und gemalt hatten. Aus späteren Zeiten kennt man heute keine Bauten innerhalb von Höhlen mehr, egal wie häufig besucht letztere waren. Der Zweck der kreisförmigen Aufschichtungen in der Bruniquel-Höhle ist nicht offensichtlich, aber sie machen klar, dass auch die frühen Menschen innerhalb einer Höhle einen umbauten, geometrisch gestalteten, wenn auch nicht überdachten Raum schufen, der vermutlich Sicherheit versprach und als magischer Kreis gewirkt haben könnte, eine Vorform des umbauten Raums einer Wohnung.

Eine der ersten Behausungen fand man in einem 300 000 Jahre alten Jagdlager bei Schöningen an einem Seeufer von wahrscheinlich nomadisch lebenden Menschen (Homo heidelbergensis beziehungsweise Homo erectus, aus dem sich der Neandertaler entwickelte), die mit Speeren Jagd vornehmlich auf Wildpferde machten. Die Grundrisse der vermutlich temporären Hütten waren kreisförmig, markiert durch Steine und große Knochen. Über den Aufbau der Hütten ist nichts bekannt. Man geht davon aus, dass es sich um Holzgerüste handelte, die mit Zweigen, Schilf oder Fellen abgedeckt waren. Im Gegensatz zu den Höhlen, die auch wilde Tiere beherbergten, immer im Dunklen lagen und in die Unterwelt reichten, handelte es sich bei den von Menschen selbst errichteten Behausungen um wahrhaftige Wohnstätten – ein Mikrokosmos, ein erster mit gefundenen und bearbeiteten Materialien hergestellter künstlicher Raum von gewaltiger Wirkung. Mit der ersten Behausung, der ersten Wohnung, entstand Ordnung in der räumlichen Welt, eine Aufteilung zwischen innen und außen, die zwar die Struktur des Lebens als von der Umwelt durch eine Membran abgeschiedene Zelle oder Wohnung wiederholt und fortsetzt, aber doch etwas grundsätzlich Neues schafft: einen Raum im Raum, der vom Menschen als Bewohner kontrolliert wird – oder zumindest die Suggestion der Kontrolle über den Binnenraum suggeriert, aber auch teilweise einlöst.