SeinerZeit - Adelheid Müller-Lissner - E-Book

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Adelheid Müller-Lissner

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Beschreibung

Schüler im Kaiserreich, Soldat in zwei Weltkriegen, Reichstags-Abgeordneter der Zentrums-Fraktion in der Weimarer Republik, zuverlässiger »arischer« Sachwalter des jüdischen Kaufhaus-Königs Salman Schocken während der NS-Zeit und danach: Der Volkswirt, Politiker, Großkaufmann, Großfamilien-Gründer und Katholik Wilhelm Fonk hatte ein bewegtes Leben. Adelheid Müller-Lissner versucht ihren Großvater aus seiner Zeit zu verstehen.

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Für meine Großfamilie

Inhalt

Zuvor

1

Junger Mann

2

Volkswirt und Vater

3

Der Abgeordnete und seine Partei

4

Zwickau, Schocken, Großkaufmann

5

Wilhelms Wurzeln

6

Noch einmal Krieg

7

Tscherepowez

8

Das liebliche bayerische Bergdorf

9

Neuanfang in Nürnberg

10

Der verdiente Mann

Zum Schluss

Die Autorin

»Menschen sind in Geschichte gefangen, und Geschichte in ihnen.«

JAMES BALDWIN

Zuvor

Dr. Wilhelm Fonk, für mich der Opapa, war ein freundlicher Großvater, dessen Lächeln verschmitzt sein konnte. Mir will aber heute scheinen, dass er nicht »nahbar« war. Er blieb, für mich, immer ein wenig auf Distanz. Meine Großmutter Hedwig – die Omama – war es, die sich mit uns Kindern beschäftigte. Sie schien es zu sein, die den Tagesablauf festlegte, uns Beschäftigungen vorschlug, mit uns auch pädagogische Pläne verfolgte. (»Ein Spiel, das man angefangen hat, muss man auch zu Ende spielen.«) Die Rollen waren bei dem Paar klar verteilt. Schon deshalb war es schwer, dem männlichen Teil dieses Großeltern-Paares nahe zu kommen. Es schien gar nicht so recht vorgesehen zu sein, dass das passierte. Zumindest nicht für schüchterne Kinder. Auch weil man laut sprechen musste, da Opapa als älterer Herr etwas schwerhörig war. Wir wurden angehalten, uns deutlich zu äußern, wenn wir ihm etwas erzählen wollten. Opapa war außerdem oft gar nicht anwesend. Es war klar, dass er das auch nicht zu sein brauchte: Es gab ja Frauen, die auf uns aufpassten. Und er hatte wichtige Dinge zu tun. Wenn er zu seinen Pflichten aufbrach, war er gut angezogen, immer im Anzug und mit Krawatte. Und er hatte eine ernste Miene.

Dabei galt uns seine Fürsorge: Wir durften ja in seinem Haus sein, verbrachten dort immer wieder mehrere Wochen am Stück. Er unterstützte unsere Eltern finanziell. Als wir älter waren, saßen wir mit am Tisch, das Ferienhaus war zum großen Teil für uns Enkel gedacht. Die älteren Enkelinnen versuchte er durchaus ins Gespräch zu ziehen: Er fragte natürlich, wie es in der Schule gehe. Das machte uns allerdings nicht selten verlegen.

Mit meinem Bedauern darüber, dass ich versäumt habe, umgekehrt auch ihn etwas zu fragen, stehe ich nicht allein: Viele aus meiner Generation teilen dieses Bedauern. Die meisten von uns haben bei ihren Eltern, Großeltern, Tanten und Onkels eindeutig zu wenige persönliche Geschichten und Sichten erfragt. Allerdings können wir in unzähligen zeitgeschichtlichen Büchern und Lebensberichten von Zeitgenossen unserer Eltern und Großeltern etwas über deren Lebenszeit erfahren, von den erhellenden Lebensbildern in Romanen aus der Zeit ganz zu schweigen.

Mein Großvater ist zudem ein Mensch, eine Person, eine Persönlichkeit gewesen, die zumindest am Rande selbst in einigen dieser zeithistorischen Dokumente Erwähnung findet. Er hat auch öffentlich gewirkt. Und es hat mich gereizt, dem nachzuspüren.

Als familiäres Fundament dienten mir zudem Aufzeichnungen meiner Großmutter. Meine Patentante Hedi hat sich das unschätzbare Verdienst erworben, die handschriftlichen, zumeist in Sütterlinschrift verfassten Eintragungen für ihre Familie zu digitalisieren. Das ist ein Schatz – sie ist ein Schatz.

»Ist ein Krieg, in dem zwei Menschen einander mit gleicher Leidenschaft töten können, nicht widernatürlich und unsinnig?«

ROMAIN ROLLAND, FRANZÖSISCHER SCHRIFTSTELLER

1

Junger Mann

Zusammen ist man schwerer als allein

Fast ist es unter seiner Würde. Pennäler ist er, aber fast schon Abiturient! Da könnte man seriöser auftreten. Aber die Sonne scheint, die Schulfreunde warten, der Schnee lockt ihn. Schlittenfahren ist ein kindliches Vergnügen. Dem er nun nicht länger widerstehen möchte. Wilhelm ist ein ernsthafter junger Mann: Die graublauen Augen hinter der randlosen Brille schauen klar in eine Zukunft, die von seiner Gestaltung abhängt. Sie wird kommen. In die Zuversicht, mit der er die kalte, klare Winterluft einatmet, mischt sich plötzlich eine ebenso klare Freude: Jetzt erst einmal die Talfahrt genießen. Rodeln auf den Hügeln rund um die kleine Stadt Barmen, das ist natürlich unspektakulär, aber Spaß macht es doch. Da drüben steht Hedwig, Tochter von Lehrersleuten auch sie. Mit ihrer kleinen Schwester. Die liebliche Hedwig mit dem sanften Gesicht und den großen graublauen Augen. Ein ungewohnter Übermut erfasst Wilhelm. Er, der sonst so Bedächtige, spricht, bevor er denken kann. »Komm setz Dich her. Mein Schlitten kann Ballast gebrauchen.« Das zierliche Mädchen mag den Scherz, nimmt ihn allenfalls im besten Sinne persönlich.

So geht die Familienlegende darüber, wie die Geschichte mit Hedwig und Wilhelm begann, die später meine Großeltern mütterlicherseits werden sollten. Ob so oder anders: Es muss irgendwann eine neue Art der Bekanntschaft begonnen haben, eine zwischen jungem Mann und junger Frau. Denn »kennen«, das taten sie sich schon seit frühen Kindertagen. Ihre Väter waren schließlich nicht nur Kollegen, Rektor und Konrektor an derselben Volksschule, sondern auch befreundet.

Es gibt dieses offizielle Foto von der offiziellen Verlobung, das früheste Bild der beiden, das ich finden kann. Beide sehen noch so jung aus. Dabei war schon viel passiert, als die Aufnahme entstand.

Wilhelm ist am 25. Januar 1896 geboren. Als er 20 wurde, stand er, mitten im Weltkrieg, als Leutnant im Feld. Als er 30 wurde, hatte er längst seinen Doktor gemacht, seine Hedwig geheiratet und mit ihr zwei Töchter bekommen – eine davon wurde später meine Mutter. Als er 40 wurde, hatte er seine kurze politische Karriere bereits hinter sich: Die Deutsche Zentrumspartei, für die er als Abgeordneter im Reichstag gesessen hatte, war aufgelöst, nach einer kurzen Zeit der Arbeitslosigkeit war er nun in einer Führungsposition für einen Kaufhauskonzern tätig. Als er 50 wurde, war er in russischer Kriegsgefangenschaft. Als er 60 wurde, war mein Großvater Herr Generaldirektor, hatte einen Chauffeur und leitete die Kaufhauskette. Der 70. war sein letzter runder Geburtstag. Er pendelte nun zwischen Nürnberg und seinem Ferienhaus im Tessin.

Was er damals, auf dem Rodelhügel in Barmen, das wenig später mit Elberfeld zu einer neuen Stadt namens Wuppertal vereint wurde, wohl als sein Leben vor sich gesehen hat? Ein Leben mit Hedwig, ein Leben mit einer wachsenden Familie, ein Leben in einem anspruchsvollen Beruf und in wirtschaftlicher Prosperität – das alles hat er bekommen. Doch das meiste von dem, was kommen sollte, konnte er nicht planen. Er musste mit Umständen zurecht kommen, die nicht er geschaffen hatte.

Stimmt, so geht es uns allen. Doch in der Lebensspanne von Wilhelm, meinem Großvater mütterlicherseits, veränderte sich besonders viel, geschah besonders viel auf der großen »Bühne« der Welt. Und er hatte an einigen Schauplätzen dieser Veränderungen eine eigene Rolle, eine eigene Verantwortung, wie sie nicht jedem (und zu dieser Zeit schon gar nicht jeder) zuteil wird. Was konnte er, zusammen mit anderen, ein ganz klein wenig zum Besseren wenden? Was hätte er noch stärker zum Besseren wenden können? Müssen? Hinterher ist man schlauer. Dann steht es in den Geschichtsbüchern. Währenddessen muss man handeln. Wie hat Wilhelm sich dabei gefühlt?

Krieg

Wilhelm und seine Generationsgenossen waren wohl früher erwachsen geworden als unsereins. Alle waren geprägt durch ein Ereignis, aber nur die jungen Männer hatten es an vorderster Front erlebt. Bevor er studieren konnte, zog der 18-Jährige, der gerade erst sein Abitur gemacht hatte, zum Militärdienst und in den Krieg. Als Freiwilliger trat er in das Füsilier-Regiment Nummer 39 ein, so lese ich. Er wurde Gefreiter und Unteroffizier, machte einen Offiziers-»Kursus« mit und »rückte«, wie man damals sagte, im Mai 1915 »ins Feld«. Von Krakau aus machte er den Vormarsch nach Russland mit. Schon am 25. Juli 1915 erhielt der 19-Jährige »für einige gut gelungene Patrouillen« das Eiserne Kreuz 2. Klasse, wenig später wurde er Leutnant der Reserve.

Mir sind die militärischen Dienstgrade ziemlich fremd. Ich erkenne aber, dass Wilhelm schnell ausgezeichnet wurde. Ich habe keinen Vergleich, nehme aber an, dass er sich hervorgetan hat. Was war an den Patrouillen »gut gelungen«? Erfüllte Wilhelm hier seine Pflichten gut, weil er seine Pflichten immer gut erfüllte? Wie patriotisch war seine Einstellung? War er zu Beginn begeistert von der Aussicht auf diesen Krieg, wie so viele Deutsche?

»Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheurere Hoffnung«, schrieb ja zum Beispiel der junge Thomas Mann. Wilhelm hatte ein anderes Temperament als der Schriftsteller, und ich denke, dass er eine andere Sprache bevorzugte. Aber ich hörte, dass er stolz darauf war, so jung schon als Mann an diesem Krieg mitwirken zu dürfen – anders als sein jüngerer Bruder, der damit noch warten musste.

Und meine Patentante Hedi hütet eine schwarz gebundene Kladde. »Krieg« steht als Titel auf dem vergilbten Aufkleber, darunter: »WilhFonk 1915«

Innen trägt es den Titel »In schwerer Zeit«. Links daneben die Widmung: »Meinen lieben Eltern gewidmet. Düsseldorf, am Tag des Geburtstages seiner Majestät.« Der Geburtstag von Wilhelm II. ist der 27. Januar, in diesem Fall sein 56ster. »Wider Erwarten sollte mein sehnlichster Wunsch – bald von der Schule erlöst zu werden – in Erfüllung gehen – wenn auch auf eine überraschende, unerwartete Art und Weise.« So beginnt das Buch. Zum Glück für mich in gut leserlicher lateinischer Schreibschrift.

Die Kladde führt mich noch weiter zurück, in den Sommer 1914. Denn es liegt darin ein Din A 5-Schreibheft ohne Umschlag, mit einem Text des Abiturienten Wilhelm Fonk. Das Heftchen trägt den anspruchsvollen Titel »Wahrheit«. Darin beschreibt Wilhelm, wie es im Sommer 1914 zum Ersten Weltkrieg kam. Zeitungsverkäufer erwarten an einem sonnigen Sommersonntagnachmittag Ende Juni 1914 die Ausflügler, die in die Stadt zurückkehren, mit unerhörten Schlagzeilen: Der österreichische Thronfolger und seine Gemahlin wurden ermordet. »Der gute Erzherzog«, schreibt Wilhelm. Merkwürdig, dass er ihn so positiv beschreibt. Ich weiß, dass der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig schon am Todestag notierte, die Erschütterung im Volk sei nicht groß, wegen Franz Ferdinands »ungeheurer Unbeliebtheit«. Was wusste Wilhelm von Franz Ferdinand und seiner Gattin Sophie Chotek? Was vom Unmut serbischer Nationalisten gegen die »K-und-K«-Monarchie?

»Mit unverkennbarer Deutlichkeit zeigten die Spuren nach Serbien hin«, notiert der Schüler. »Großserbische Agitation hatte den Mord veranlasst: das stand außer Zweifel.« Die Großmacht Österreich-Ungarn könne sich das nicht bieten lassen. Ein »schroffes Ultimatum« sei unumgänglich. Wilhelm berichtet über die Schlagzeilen der Zeitungen, die es als »Hauptsache« betrachteten, dass der Krieg lokalisiert bleibe. Für den politisch interessierten Schüler ein frommer Wunsch, zumal auch Russland mobilisiere. Wilhelm macht Beobachtungen in seiner Stadt. »--- Hat man das jemals gesehen? Ist das jemals – wenn auch die Krisis sehr groß war – dagewesen, dass ein, nein drei Soldaten die Brücken bewachen? --- Ich sah es noch nie. Warum wird es gemacht? – Man hält es für militärische Spielerei --- Braucht man mehr um zu beweisen, dass Deutschland mobilisierte, im Geheimen mobilisierte? – Ich glaube nicht.«

Der Oberprimaner versteht das. »Der Kaiser hatte sich ganz dafür eingesetzt, dass der Frieden erhalten bleibe – aber was vermag er gegen die tückische Hinterlist eines dem Trunke ergebenen russischen Despoten, dem das Heft entwunden ist? – Nichts.« Wilhelm schließt sich der allgemeinen Erzählung an: Österreich ist zu einem Verteidigungskrieg gezwungen, der treue Bündnispartner Deutschland muss es dabei unterstützen.

Es ist ein ungewöhnlich heißer, schöner Sommer, die Ferien werden erst im August beginnen, auch die Abiturprüfungen liegen spät, am Schuljahresende. Die Oberrealschüler sind aufgewühlt. Sie freuen sich, dass Österreich Stärke demonstriert. »Etwas Erfreuliches aus Österreich, etwas Festes, Entschloßenes (sic!) hörte man selten, deshalb die Freude, der Stolz auf den Bundesgenossen.«

Nicht zuletzt gibt es da die persönliche Verflochtenheit der kurz vor dem Abitur stehenden jungen Männer in das Geschehen. Eine verrückte Lage. Man hat den Eindruck, dass die Schüler mit den Hufen scharren: Wilhelm beschreibt ihre »mürrischen Gesichter«, wenn eine Entspannung der Situation möglich erscheint, die heitere Atmosphäre, sobald sie umgekehrt von einer Verschärfung der »Krisis« hören. »Welch ein Gegensatz!« notiert er angesichts der Gefühlsverwirrung. Sollte es jetzt schnell zum Krieg kommen, winkt den Schülern ein »Kriegsabitur«: »Fünf leichte Fragen, das ist alles. Man bekommt’s geschenkt.« Schließlich aber müssen sie, Anfang August 1914, dann doch ein »ganz reguläres Examen« machen.

Das hat es in sich – diesmal in ganz besonderer Art. Französisch am ersten Tag. »Wie ist einem zu ›Mute‹? – Draußen kämpfen unsere Truppen mit unserem Erzfeinde, dem Franzosen, und wir schreiben und mühen uns ab mit einer französischen Übersetzung. Welch’ eine Ironie des Schicksals!« Englisch dann. »Morgens erklärt uns England nichtigerweise den Krieg und nachmittags schreiben wir einen englischen Aufsatz. Kommentar überflüssig, würden die Zeitungen schreiben.«

Der Gipfel ist vielleicht aber doch der Aufsatz in Deutsch. Ein Besinnungsaufsatz über eine Passage aus einem Gedicht von Friedrich Schiller: »Dass wir Menschen nur sind, / Der Gedanke beuge das Haupt dir. / Doch dass Menschen wir sind, / Richte dich freudig empor.« Wilhelm scheint vor allem dem ersten Teil des Schillerschen Gedankens Beachtung geschenkt zu haben, dem Wörtchen »Nur«, dem Beugen des Hauptes. Er schreibt nach dem Abi in sein Heftchen: »Welch ein Thema für die Kriegszeit. Jetzt sollen wir unser Haupt beugen, jetzt wo wir von allen Seiten angegriffen werden, nein jetzt halten wir ihn steif und fest und keck in die Höhe!«

Wie ist der Aufsatz von seinem Lehrer aufgenommen worden? Wann wurde die Aufgabe überhaupt ausgewählt, und von wem? Schon vor der Kriegserklärung? Welche Note hat Wilhelm dafür bekommen? Was haben die anderen jungen Männer geschrieben? Wir wissen es nicht.

Wir wissen aber, dass sich der »Ernst des Lebens« für diesen Jahrgang mit ganz speziellen Perspektiven bemerkbar machte. Und wir haben Wilhelms Bericht über die Verabschiedung nach dem Mündlichen, an einem Tag im August 1914, um Viertel vor zwei: »Alle gehen in die Klasse. Der Direktor macht einige sachliche Bemerkungen, dann will er eine Abschiedsrede halten. Nach drei Sätzen stockt er --- helle Tränen treten ihm aus den Augen --- er hält inne --- gibt jedem die Hand --- Welch Wunder, so ein menschliches Rühren hätte keiner dem knurrigen, schroffen Junggesellen zugetraut.«

Wie Wilhelm das schreibt! Hatte er den Gedanken, den Text zu veröffentlichen? Ich finde einen Hinweis darauf, dass ein Text mit dem Titel »Kriegsabitur«, wahrscheinlich ein Teil aus »Wahrheit«, für eine Zeitschrift namens »Leuchtturm« bestimmt war, aber wegen der Kriegszeit nicht aufgenommen werden konnte. »Der Leuchtturm« war eine »Illustrierte Zeitschrift für christliches Leben«, herausgegeben vom »Westdeutschen Jünglingsbund« in Wilhelms Heimatstadt Barmen. Welche Kontakte pflegte Wilhelm als Oberschüler, und später als Soldat, zu dieser Zeitschrift? Spielte Wilhelm mit dem Gedanken, später einmal Journalist zu werden? Immer wieder ist ja in seinem Text von den Zeitungen die Rede, er interessiert sich für Politik, er spielt ein wenig mit den Möglichkeiten der Sprache, Pathos zu erzeugen. Bis hin zum großzügigen Einsatz von Ausrufungszeichen. »Helle, wahre Begeisterung! Solch ein Volk muss siegen!« Wilhelm ist jung, es ist eine bewegte Zeit. Leben, Tod, Abschied, Vaterland.

Nun hat er allerdings erst einmal frei, die ungeliebte Schule hat er verlassen, er schreibt im zweiten Teil seines Heftchen mit dem Titel »Wahrheit« über Soldaten, die in Züge steigen, über feste Männerstimmen, die dabei ein Lied anstimmen, über Abschiede, bei denen Ehemänner ihre Frauen »umfangen« halten, über abgehärmte Frauengesichter, über Kinder, die sich an Schürzen festhalten und den Ernst der Lage nicht erfassen, über Jubel und »helle, wahre Begeisterung«. »Solch ein Volk muss siegen! Hier zeigt sich, dass der Krieg ein wahrhaftiger Volkskrieg ist.«

Inzwischen hat auch Belgien Deutschland den Krieg erklärt. »Als wir in sein Gebiet einschritten, trotzdem es neutrales Gebiet ist«, kommentiert Wilhelm. Wie meint er diesen Satz? Sieht er das Unrecht? Oder ist er der Meinung, dass man in neutrales Gebiet ruhig einmarschieren kann?

Der Zugang zu der Gedankenwelt dieses 18-Jährigen fällt mir schwer. Aber er war noch so jung, seine Umgebung dachte wie er, er wurde in einer anderen Zeit groß. Wie hat er später über den Beginn des Ersten Weltkriegs gedacht?

Erst einmal ist er frustriert, dass er nicht sofort Soldat werden darf. In Düsseldorf stellt er sich vor, wird erst einmal für untauglich erklärt. »Zu schwächlich, Kneifer auf der Nase. Welch eine Schmach!« Im September ein zweiter Anlauf. Wilhelm und sein Bruder Fritz hören das »erlösende Wort«: Tauglich.

Düsseldorf ist zu der Zeit die Hauptstadt des Regierungsbezirks, zu dem Barmen gehört, im Bundesstaat Preußen. Im Rekrutendepot kommt eine harte Zeit. »Schwer drückt der mit einem Sandsack beladene Tornister und das Gewehr gräbt sich in die Schulter ein.« An Weihnachten können die Brüder als Gefreite nach Barmen fahren. Wilhelm berichtet über langweilige Tätigkeiten. »Nein, Wache stehen ist durchaus nichts für halbwegs intelligente Leute, das verblödet direkt.« Man hat Selbstbewusstsein als junger Abiturient ...

Zu Kaisers Geburtstag bekommen die Brüder Litzen und Tressen auf die Waffenröcke. Es folgt ein Offizierskursus im brandenburgischen Döberitz. Da traf der Rheinländer Wilhelm in der Baracke »meistens Leute aus dem Osten – trockene, nüchterne Verstandesmenschen zum größten Teil.« Immerhin, am Sonntag erobern die jungen Männer Berlin, wo es wohl aussieht wie im Frieden. Später werden sie zurück verlegt ins Rheinische, nach Ratingen, wo die Brüder bei einem Lehrer wohnen können und, »als angenehme Abwechslung«, Reitunterricht nehmen. Der Berechtigungsschein zum »einjährig-freiwilligen Dienste« ist erhalten, er datiert vom 1. April 1915.