selbst bestimmt sterben - Gian Domenico Borasio - E-Book

selbst bestimmt sterben E-Book

Gian Domenico Borasio

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Beschreibung

selbst bestimmt sterben“ ist ein so einfühlsames wie nüchternes Buch, das zum Nachdenken über die eigene Einstellung zum Leben und zum Sterben anregt. Es bietet keine Patentrezepte – wohl aber konkrete Hinweise darauf, wie man sich auf die letzte Lebensphase so vorbereiten kann, dass sie den eigenen Wünschen entspricht. Was bedeutet „selbstbestimmtes Sterben“ in der modernen Gesellschaft? Und was hat es mit all diesen verwirrenden Begriffen auf sich, die häufig durcheinandergebracht werden: aktive, passive, indirekte Sterbehilfe, Behandlungsabbruch, Suizidhilfe und so weiter? Der Autor schöpft aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung im Betreuen und Begleiten von Schwerstkranken und Sterbenden, um mit vielen weit verbreiteten Missverständnissen aufzuräumen. Ausgehend von den neuesten wissenschaftlichen Studien wie vom gesunden Menschenverstand erläutert er in klar verständlicher Sprache, worauf es auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Lebensende wirklich ankommt, und plädiert für eine „hörende Medizin“, die sich nach den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen statt nach ökonomischen Gesichtspunkten richtet.

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Gian Domenico

Borasio

selbstbestimmt

sterben

Was es bedeutetWas uns daran hindertWie wir es erreichen können

 

 

 

 

 

 

 

 

Zum Buch

„selbst bestimmt sterben“ ist ein so einfühlsames wie nüchternes Buch, das zum Nachdenken über die eigene Einstellung zum Leben und zum Sterben anregt. Es bietet keine Patentrezepte – wohl aber konkrete Hinweise darauf, wie man sich auf die letzte Lebensphase so vorbereiten kann, dass sie den eigenen Wünschen entspricht.

Was bedeutet „selbstbestimmtes Sterben“ in der modernen Gesellschaft? Und was hat es mit all diesen verwirrenden Begriffen auf sich, die häufig durcheinandergebracht werden: aktive, passive, indirekte Sterbehilfe, Behandlungsabbruch, Suizidhilfe und so weiter? Der Autor schöpft aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung im Betreuen und Begleiten von Schwerstkranken und Sterbenden, um mit vielen weit verbreiteten Missverständnissen aufzuräumen. Ausgehend von den neuesten wissenschaftlichen Studien wie vom gesunden Menschenverstand erläutert er in klar verständlicher Sprache, worauf es auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Lebensende wirklich ankommt, und plädiert für eine „hörende Medizin“, die sich nach den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen statt nach ökonomischen Gesichtspunkten richtet.

Über den Autor

Gian Domenico Borasio ist Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Universität Lausanne und Lehrbeauftragter für Palliativmedizin an der Technischen Universität München. Er gilt als einer der führenden Palliativmediziner Europas. Ihm ist es maßgeblich zu verdanken, dass sich heute jeder Medizinstudent in Deutschland und der Schweiz in seiner Ausbildung mit der Begleitung Sterbender und ihrer Familien auseinandersetzen muss. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er durch sein Eintreten für ein Gesetz zur Patientenverfügung und durch seinen Bestseller „Über das Sterben“ bekannt.

Inhalt

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Teil 1: Was heißt hier «Sterbehilfe»?

  1  Was heißt hier «Sterbehilfe»?Eine merkwürdige Debatte

Irrationalität am Lebensende: Die Missachtung der demographischen Entwicklung

Politik: Fehlanzeige

Historischer Rückblick

Die Palliativmedizin als Gegenbewegung

Lagerdenken und reflexhafte Reaktionen

Voraussetzungen für eine vernünftige Diskussion

  2  «Passive Sterbehilfe» und medizinische Indikation

Fallbeispiel

Definition und Rechtslage

Medizinische Indikation

Patientenwille

Der Sonderfall: das Wachkoma

Bisherige Erfahrungen

Praktische Bedeutung

  3  «Indirekte Sterbehilfe» und palliative Sedierung

Fallbeispiel

Definition und Rechtslage

Bisherige Erfahrungen

Praktische Bedeutung

Palliative Sedierung

Sedierung in der Terminalphase

  4  «Aktive Sterbehilfe» und Tötung ohneVerlangen

Fallbeispiel

Definition und Rechtslage

Bisherige Erfahrungen: Holland und Belgien

Praktische Bedeutung

Tötung ohne Verlangen

Euthanasie bei Kindern?

  5  Neue Begriffe (und ihre Tücken)

Empfehlung für eine neue Begrifflichkeit

Entscheidung des Bundesgerichtshofs im «Fall Putz»

Was Worte mit uns machen

Internationale Begrifflichkeiten

Bitte nicht mehr von «Selbstmord» reden

  6  Assistierter Suizid und freiwilliger Verzichtauf Nahrung und Flüssigkeit

Fallbeispiel

Definition und Rechtslage

Abgrenzung zur Tötung auf Verlangen

Bisherige Erfahrungen: Schweiz und Oregon

Praktische Bedeutung

Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit

  7  Brauchen wir den ärztlich assistierten Suizid?Ein Vorschlag für eine gesetzliche Regelung einesmarginalen Phänomens

Die wichtigste Begründung: Den Blick frei machen

Was spricht für eine gesetzliche Regelung?

Was sagen die Zahlen?

Ziele des Gesetzesvorschlags

Zusammenfassung des Gesetzesvorschlags

Die Gegenargumente: Recht auf Leben, Angst vor Störung der Arzt-Patienten-Verhältnisses, Angst vor sozialem Druck auf gefähredete Menschen, vor Verschlechterung der Palliativversorgung und vor Suizidzunahme

Ausblick

Kommentar zum «Gesetz über dieStrafbarkeit der geschäftsmäßigenFörderung der Selbsttötung»

Ausgangslage

Gesetzentwürfe

Die öffentliche Diskussion

Faktencheck zur Sterbehilfe

Das neue Gesetz

Auswirkungen des Gesetzes auf Ärzte

Ethische Aspekte

Auswirkungen des Gesetzes auf Patienten und ihre Angehörigen

Fazit

Ausblick

Teil 2: Was heißt hier «Selbstbestimmung»?

  8  Was heißt hier «Selbstbestimmung»? Versuch einerAnnäherung

Jeder Mensch stirbt anders

Versuch einer Definition

Die juristische Bedeutung

Die Bedeutung für die Ärzte: Autonomie im Dialog

Die Bedeutung für die Patienten

Schlussbemerkung

  9  Keiner stirbt für sich allein –Psychosoziale, kulturelle und spirituelle Aspekteder Selbstbestimmung

Der Ausweg

Die Familie ist wichtiger

Ambivalenz: Ein großes Hindernis

Der Wunsch, eine Spur zu hinterlassen

Glaube versetzt Schmerzen – Ohne Kommunikation keine Selbstbestimmung

Schlussbemerkung

10  Vorsorge für das Lebensende –Jenseits der Patientenverfügung

Fallbeispiel

Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung

Bisherige Erfahrungen

Grenzen der Patientenverfügung

Warum es doch Sinn macht

Das Konzept des Advance Care Planning

11  Die Rolle der Gesundheitsindustrie – Cui bono?

Fallbeispiel

Der Grundfehler des Gesundheitssystems

Finanzielle Fehlanreize

Die echten Verstöße gegen die Menschenwürde

Zielgerichtete Arzt-Patienten-Kommunikation

Was wir brauchen: Eine hörende Medizin

12  Fürsorge und Selbstbestimmung:Ein Vermittlungsversuch

Fürsorge durch Aufklärung

Selbstbestimmung und Souveränität

Schlussbemerkung

Danksagung

Anmerkungen

Bildnachweis

Liste nützlicher Websites

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Warum ein neues Buch über das Sterben? Aus mehreren Gründen. Der wichtigste Auslöser war die sogenannte «Sterbehilfe-Debatte», die in den letzten Jahren in Deutschland wieder entflammt ist und ihr vorläufiges Ende im neuen, leider gründlich misslungenen Gesetz vom November 2015 gefunden hat. Die vielfach emotional geführten Diskussionen gleiten bedauerlicherweise nicht selten ins Plakative, wenn nicht gar ins Ideologische ab. Dann geht es nur noch darum, ob man «dafür» oder «dagegen» ist. Was dabei aus dem Blickfeld gerät, ist der Gegenstand der Diskussion selbst. Zwar wird, insbesondere von den sogenannten «Sterbehilfe-Befürwortern», immer wieder betont, es gehe um das unveräußerliche Gut der Selbstbestimmung am Lebensende – Stichwort etwa: «Mein Sterben gehört mir.» Aber es wird erstaunlich wenig darüber nachgedacht, was Selbstbestimmung am Lebensende überhaupt bedeuten kann.

Die Hauptthese dieses Buches ist, dass es zu kurz gegriffen und zudem realitätsfremd ist, wenn man die Debatte über die Autonomie am Lebensende auf die Selbstbestimmung des Todeszeitpunktes reduziert. In der Praxis ist dies nur für eine sehr kleine Anzahl von Menschen das ausschlaggebende Kriterium. Ausgehend von der unumstößlichen Tatsache, dass jeder von uns selbst bestimmt sterben wird, stellt sich die Frage, was selbstbestimmtes Sterben in der heutigen multikulturellen und pluralistischen Gesellschaft bedeuten kann. Geht es wirklich vorwiegend um die Frage, ob es erlaubt sein soll, unter bestimmten Umständen mit fremder Hilfe aus dem Leben zu scheiden? Oder verdeckt vielleicht die medial aufgeheizte Diskussion über die sogenannte «Sterbehilfe» den Blick auf wichtigere Realitäten, die für die allermeisten Menschen am Lebensende von größerer Bedeutung sind?

Wenn man als Arzt das Privileg geschenkt bekommt, Menschen auf dem letzten Stück ihres Weges begleiten zu dürfen, dann erschließt sich eine weit komplexere Wirklichkeit, als es die Vereinfachungen und Verallgemeinerungen in den Sterbehilfe-Talkshows vermuten lassen. So banal es klingt: Jeder Mensch stirbt anders, und die meisten Menschen sterben in etwa so, wie sie gelebt haben. Das Spektrum der Wünsche, Ängste und Nöte am Lebensende ist so unterschiedlich wie das Leben selbst. Es gibt zum Beispiel nicht wenige Menschen, die der Meinung sind, die Autonomie-Debatte gehe an ihnen gänzlich vorbei, weil sie gar nicht selbstbestimmt sterben wollen, sondern sich voll und ganz anderen Menschen anvertrauen möchten – was natürlich wiederum ein Akt der Selbstbestimmung ist.

Dieses Buch ist ein Versuch, zunächst ein wenig Klarheit in die Diskussion zu bringen, indem die verschiedenen Begriffe, die in der Diskussion immer wieder auftauchen und gelegentlich für Verwirrung sorgen (aktive, passive und indirekte Sterbehilfe, assistierter Suizid, Euthanasie usw.), anhand von Fallbeispielen aus der klinischen Praxis und der aktuellen Rechtslage in Deutschland erläutert werden. Dabei wird auch ein Gesetzesvorschlag vorgestellt, der dazu gedacht war, die leidige Diskussion um eine gesetzliche Regelung der «Sterbehilfe» zu einer vernünftigen Lösung zu führen, damit wir uns anschließend den wirklich wichtigen Problemen in der letzten Lebensphase widmen können. Am Ende des ersten Teils wird das neue «Gesetz über die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung» erläutert und kritisch bewertet.

Im zweiten Teil des Buches geht es genau um diejenigen Facetten der Autonomie am Lebensende, die für die meisten Menschen weit wichtiger sind als die Selbstbestimmung der Todesstunde, aber von der Debatte bislang weitgehend ausgeklammert werden. Dazu gehören unter anderem die Frage nach der tieferen Bedeutung von «Selbstbestimmung», die Vorsorgeplanung, die Rolle der Familie und weiterer psychosozialer, kultureller und spiritueller Faktoren sowie der weithin unterschätzte Einfluss der Gesundheitsindustrie auf unsere Optionen und auf unsere Entscheidungen für und in der letzten Lebensphase.

Das Buch ist (hoffentlich) so geschrieben, dass es auch aus sich selbst heraus verständlich ist. Allerdings basiert es weitgehend auf den Ausführungen zum Thema Lebensende, die ich in meinem ersten Buch Über das Sterben erläutert habe. Hierauf wird mehrfach Rekurs genommen, um Wiederholungen so weit möglich zu vermeiden. Dem Gegenstand geschuldet, geht der Text bei den einzelnen Punkten deutlich mehr ins Detail und ist sicher auch komplexer, wofür ich bei den Lesern sehr um Nachsicht bitten möchte. Wenn der geneigte Leser nun vermutet, das erste Buch sei so etwas wie «Sterben für Anfänger» und das vorliegende Buch, darauf aufbauend und vertiefend, eher «Sterben für Fortgeschrittene», so liegt er vielleicht nicht ganz falsch …

Möge dieses kleine Buch dazu beitragen, eine sachliche Diskussion über das Lebensende jenseits eines zu eng gefassten Autonomiebegriffes anzustoßen. Möge es aber vor allem den Menschen helfen, ihre eigene Endlichkeit bewusster anzuschauen, und damit die Angst vor dem Sterben ein klein wenig verringern.

München/Lausanne, im August 2016

Gian Domenico Borasio

Teil 1

Was heißt hier «Sterbehilfe»?

1Was heißt hier «Sterbehilfe»?Eine merkwürdige Debatte

Es ist erstaunlich: Über kaum ein Thema wird in Deutschland emotionaler, kontroverser und bisweilen ideologischer diskutiert als über die sogenannte «Sterbehilfe» – und dabei stellt sich immer wieder heraus, dass die Diskutanten sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben, um was es bei der Debatte überhaupt geht. Begriffe wie «aktive», «passive», «indirekte» Sterbehilfe, Euthanasie, assistierter Suizid und viele andere mehr werden munter durcheinandergewürfelt. Man redet häufig aneinander vorbei, weil man nicht über dieselben Sachverhalte spricht. In diesem einleitenden Kapitel möchte ich versuchen, die Gründe für diese Verwirrung zu beschreiben und die Voraussetzungen für eine vernünftige Diskussion zu skizzieren. In den nachfolgenden Kapiteln wird es darum gehen, was «selbstbestimmtes Sterben» eigentlich bedeutet, was uns daran hindert, es zu erreichen, und warum die sogenannte «Sterbehilfe-Debatte» viel zu kurz greift.

Irrationalität am Lebensende: Die Missachtung der demographischen Entwicklung

Eine im Laufe der Jahre immer wiederkehrende Beobachtung ist die, dass viele der Diskussionen, die etwas mit dem Lebensende zu tun haben, auf seltsame Weise ins Irrationale abgleiten. Da werden Fakten missachtet oder verdreht, wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert, selbst der gesunde Menschenverstand wird teilweise außer Kraft gesetzt. Auch hochintelligente Menschen sind davon betroffen. Der Grund für dieses Verhalten ist einfach zu beschreiben: es ist die Angst. Die Angst vor dem eigenen Tod ist – aus biologischer Sicht verständlich – eine der stärksten Ängste, die ein Mensch erfahren kann. Hinzu kommt, in den letzten Jahrzehnten zunehmend, die Angst vor dem Sterben. Damit ist die Angst vor einem qualvollen Verlauf der letzten Lebensphase gemeint. Für viele Menschen ist es auch die Angst davor, einer Apparatemedizin ausgeliefert zu sein, die der Lebenserhaltung um jeden Preis verpflichtet ist.

Diese Ängste sind in der Bevölkerung weit verbreitet. Wenn man die Menschen fragt, wie sie sterben möchten, antwortet eine große Mehrheit: «Schnell und schmerzlos.» Dieser Wunsch wird sich aber nur bei einer kleinen Minderheit (ca. 5 Prozent) realisieren lassen. Etwa ein Drittel der Menschen würde einen mittelschnellen Tod über 2–3 Jahre (zum Beispiel durch Krebs) vorziehen, eine optimale pflegerische und palliativmedizinische Versorgung vorausgesetzt. In der Tat wird der Anteil dieser Todesfälle sich mittelfristig bei ca. 40 Prozent einpendeln, wobei es natürlich nicht garantiert ist, dass dieses Schicksal genau diejenigen trifft, die es sich gewünscht haben. Dagegen ist das von fast niemandem erwünschte Sterben im Rahmen einer Demenzerkrankung eindeutig auf dem Vormarsch: Es wird in Zukunft für 40–50 Prozent der Todesfälle verantwortlich sein, Tendenz steigend.

Grund dafür ist die – hinlänglich bekannte, aber immer wieder erfolgreich verdrängte – demographische Entwicklung. Schauen wir zur Erinnerung auf die Vorhersage für die Altersverteilung in Deutschland im Jahr 2050 (Abb. 1.1).

Abbildung 1.1: Voraussichtliche Altersverteilung in Deutschland im Jahr 2050.

Bis zum Jahr 2050 wird sich die Zahl der Menschen über 80 in Deutschland auf über 10 Millionen erhöht haben, der Anteil der Hundertjährigen wird sich verzehnfachen. Die mittlere Lebenserwartung wird auf über 85 Jahre steigen, so dass die meisten Sterbenden 85 Jahre und älter sein werden.[1] Bis zu drei Viertel davon werden – wenn bis dahin kein Wundermittel entdeckt wird – an einer mehr oder weniger schweren Form der Demenz leiden und auf umfassende pflegerische Hilfe angewiesen sein. Die Anforderungen an die Pflege erhalten damit eine ganz neue Dimension. Die Herausforderung für die Gesellschaft wird noch größer dadurch, dass schon ab 2030 die ersten geburtenstarken Jahrgänge aus der Nachkriegszeit (die Babyboomer-Generation) das Lebensende erreichen, was die Zahl der Todesfälle in Deutschland von heute etwas mehr als 800.000 auf eine Million pro Jahr erhöhen wird (Abb. 1.2).

Abbildung 1.2: Sterbezahlen in Deutschland bis 2030, in Tausend.

Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen den Diskussionen zum Beispiel um die Folgen des Klimawandels und den Prognosen zur demographischen Entwicklung: Letztere sind unumstößlich, da die Menschen, um die es geht, schon alle da sind und täglich älter werden. Nur globale Katastrophen wie ein Nuklearkrieg könnten diese Vorhersagen wesentlich verändern. Ansonsten handelt es sich um die sicherste und wichtigste Aussage über die Zukunft unserer Gesellschaft, die wir heute treffen können – und um die am meisten unterschätzte.

Politik: Fehlanzeige

Angesichts der Unausweichlichkeit der beschriebenen Entwicklung müsste man eigentlich davon ausgehen, dass die Politik sie zu einem zentralen Thema macht und dass rechtzeitig Maßnahmen ergriffen werden, um den unaufhaltsam auf uns zurollenden demographischen Tsunami aufzufangen oder wenigstens abzumildern. Wenn man nach diesen Maßnahmen sucht, reibt man sich verwundert die Augen, denn man sieht sehr wenig.

Sicher, es gibt viele Foren, Talkshows, Kongresse und Symposien, die sich der alternden Bevölkerung widmen. Das ist inzwischen ein beliebtes Thema geworden. Auch auf den Internetseiten der Bundesregierung entdeckt man interessante Dokumente, zum Beispiel zur deutschen «Demografiestrategie». Unter anderem findet man eine Langfassung dieser Strategie auf 77 eng bedruckten Seiten, die eine bemerkenswerte Eigenschaft aufweisen: Die Worte «palliativ», «Hospiz», «Sterben», «Tod» oder «Lebensende» kommen darin nicht vor.[2]

Das ist ein gutes Beispiel für die Irrationalität in der Diskussion über das Lebensende: Hier wird praktischerweise die Diskussion über das Sterben gleich ganz ausgeklammert. Als ob die hochbetagten und pflegebedürftigen Menschen, um die es in der Regierungsstrategie geht, nicht auch alle – und zwar innerhalb relativ kurzer Zeit – sterben würden. Die durchschnittliche Überlebenszeit in einem deutschen Pflegeheim beträgt nur etwas mehr als ein Jahr. Schätzungen zufolge sind die Alters- und Pflegeheime dabei, in Kürze Sterbeort Nr. 1 in Deutschland zu werden, noch vor den Krankenhäusern und weit vor dem eigenen Zuhause. Wie kann in einer solchen Situation selbstbestimmtes Sterben aussehen? Darüber wird noch zu sprechen sein.

Historischer Rückblick

In den letzten Jahren wurde von den Medien zunehmend der Eindruck vermittelt, Selbstbestimmung sei das Wichtigste, was es am Lebensende überhaupt zu erreichen gibt. Das ist allerdings eine kulturhistorisch sehr junge Entwicklung. Von Anbeginn der Menschheit bis vor ganz kurzer Zeit war es selbstverständlich, sich in vorgegebene Schicksalsmuster zu fügen und anderen Menschen – in der Regel Vertreter bestimmter Berufe – die Deutungshoheit über das eigene Sterben zu überlassen. Im Mittelalter war es die ars moriendi (Kunst des Sterbens), deren Hüter die Vertreter der Geistlichkeit, also Priester und Mönche, waren. In neuerer Zeit waren es die Ärzte, welche diese Deutungshoheit übernahmen und vornehmlich deswegen als «Halbgötter in Weiß» tituliert wurden. Beiden Berufen gemeinsam ist die gegenüber dem Sterbenden ausgeübte Fürsorge – für sein ewiges Heil bei den Priestern, für seine Gesundheit bei den Ärzten. Und in beiden Fällen droht die Fürsorge ständig in wohlgemeinte Bevormundung (Paternalismus) umzuschlagen.

Bei den Priestern gehört es gewissermaßen zur Berufsbeschreibung, dass sie besser wissen als der Sterbende, was seinem ewigen Heil dient und was nicht. Daher erstaunt auch die Tatsache nicht, dass über Jahrhunderte der Prozess des Sterbens in genau festgelegten Bahnen und Ritualen abzulaufen hatte, wenn es denn ein «gutes Sterben» sein sollte. Die letzte Handlung am Sterbenden war eine sakramentale, nämlich die sogenannte «Letzte Ölung». Diese konnte nur einmal, und zwar kurz vor dem Tod (in articulo mortis), empfangen werden – womit dem spendenden Geistlichen auch die Fähigkeit zum Erkennen des nahenden Todes zuerkannt wurde. Heute redet man in der katholischen wie in der evangelischen Kirche übrigens nicht mehr von «Letzter Ölung», sondern von Krankensalbung. Diese darf auch mehrfach durchgeführt werden, was sicher ein Fortschritt und eine Erleichterung für die Seelsorger ist.

Bei den Ärzten leuchtet es ebenfalls ein, dass ihnen die Fachkenntnis im medizinischen Bereich zugesprochen wird. Weniger einleuchtend erscheint es allerdings aus heutiger Sicht, dass ihnen damit unausgesprochen auch die Definitionshoheit über den Begriff «Gesundheit» übertragen wurde. Bis vor ganz kurzer Zeit, und teilweise bis heute, konnte der Arzt gegenüber seinen Patienten unwidersprochen eine paternalistisch-fürsorgliche Haltung einnehmen: «Ich weiß genau – und viel besser als du –, was für dich Gesundheit zu bedeuten hat und welche Mittel nötig sind, um dich wieder in diesen Zustand zu versetzen.» Der Patient war damit (und ist es teilweise bis heute) passives Objekt der wohlgemeinten Fürsorgeabsicht der Ärzte. Das hat übrigens nicht nur Nachteile, wie wir sehen werden.

Es gibt allerdings ein grundsätzliches Problem mit dieser Haltung in Bezug auf das Lebensende: Wenn man den Tod als die ultimative Abwesenheit von Gesundheit definiert, wie es die Medizin im Grunde bis heute tut, dann ist die ärztliche Kunst letztlich immer zum Scheitern verurteilt, weil jeder Patient irgendwann sterben wird. Damit gibt es nur die Wahl zwischen einer Anpassung des Gesundheitsbegriffs, die womöglich (oh Schreck) auch nichtmedizinische Elemente integrieren müsste, oder einer massiven, kollektiven Verdrängung von Tod und Sterben im Medizinbetrieb. Wie wir alle wissen, ist das Gesundheitssystem im letzten Jahrhundert konsequent den zweiten Weg gegangen. Leider zum großen Nachteil der Patienten und ihrer Familien, also von uns allen, wie das folgende Fallbeispiel zeigt:

Frau W. war eine rüstige alte Dame, die seit dem Tod ihres Mannes vor 20 Jahren alleine zuhause lebte, leidenschaftlich gern malte und Gedichte schrieb. Ihr Freundeskreis wurde mit der Zeit aus biologischen Gründen immer kleiner, aber ansonsten ging es ihr so weit gut. Sie hatte auch eine Patientenverfügung verfasst, in der sie ihren Wunsch nach einem friedlichen Sterben ausdrückte und angesichts ihres Alters jede Krankenhauseinweisung strikt ablehnte. Die Patientenverfügung hatte sie ihrem Sohn übergeben, für den sie auch eine Vorsorgevollmacht erstellt hatte. Der Sohn wohnte allerdings in einer anderen Stadt, was sich als problematisch herausstellen sollte. Nachdem Frau W. einen leichten Schlaganfall erlitten hatte, wurde sie von ihrem Hausarzt dazu überredet, doch einen Notrufsender zu tragen, falls ihr in der Wohnung etwas zustoßen sollte. Der Sender tat auch brav seinen Dienst, als Frau W. einige Monate später einen deutlich schwereren Schlaganfall erlitt und bewusstlos in ihrer Wohnung zusammenbrach.

Die alarmierten Rettungssanitäter und der Notarzt setzten alle notwendigen Maßnahmen in Gang, um ihren Zustand zu stabilisieren, und brachten sie ins Krankenhaus. Dort wurde sie wegen einer beginnenden Lungenentzündung mit Antibiotika behandelt und zwei Wochen lang über eine Nasensonde künstlich ernährt. Ihr Zustand besserte sich so weit, dass sie wieder essen und trinken konnte. Inzwischen war auch ihr Sohn mit der Patientenverfügung angereist, aber die schien nicht mehr auf die aktuelle Situation zuzutreffen, denn der alten Dame ging es ja etwas besser. Sie konnte schließlich sogar nach Hause verlegt werden.

Einmal zuhause angekommen, kam sie in die Obhut ihres jungen und sehr engagierten Hausarztes. Dieser wies den Pflegedienst an, ja auf eine ausreichende Ernährung und Flüssigkeitszufuhr bei Frau W. zu achten. Er organisierte auch eine Krankengymnastin, die täglich eine Stunde kommen sollte, um Frau W. wieder «auf die Beine zu helfen». Aber Frau W. war für diese gut gemeinten Unterstützungsversuche nicht mehr richtig empfänglich. Sie redete kaum noch, verließ freiwillig nicht mehr ihr Bett, schlief fast die ganze Zeit, aß und trank fast nichts mehr und war offensichtlich dabei, wie eine verlöschende Kerze ihr Leben langsam auszuhauchen. Die Fütterungsversuche seitens der Pflegenden wie auch die Mobilisierungsversuche der Physiotherapeutin gereichten ihr zunehmend zur Qual, bis schließlich der Sohn – nach mehreren, zum Schluss heftigen Diskussionen mit dem Hausarzt – einen Rechtsanwalt einschalten musste, um zu erreichen, dass seine Mutter in Ruhe gelassen wurde und in Frieden sterben durfte. Der Hausarzt war fassungslos. Er konnte nicht verstehen, dass sein in der Tat weit überdurchschnittliches Engagement bei der Behandlung von Frau W. so wenig Wertschätzung fand. Aber er brachte es nicht übers Herz, den Sohn von Frau W. anzuzeigen, so dass dieser seine Mutter schließlich in Frieden zum Grab begleiten konnte. Frau W. war bei ihrem Tod 103 Jahre alt.[3]