Selbstwert und Kommunikation (Leben Lernen, Bd. 18) - Virginia Satir - E-Book

Selbstwert und Kommunikation (Leben Lernen, Bd. 18) E-Book

Virginia Satir

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Beschreibung

Die bekannte amerikanische Psychotherapeutin regt den Leser an, das Zusammenleben der eigenen Familie zu analysieren; sie zeigt, wie Gespräche, Experimente und Übungen die Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie verbessern. Ein Buch, das der Familie, in der die soziale Person geformt wird, Chancen einer gesunden Entwicklung zeigt, - das witzig, locker, aber nie platt geschrieben ist.

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Seitenzahl: 433

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Virginia Satir

Selbstwert und Kommunikation

Familientherapie für Berater und zur Selbsthilfe

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Maria Bosch und Elke Wisshak

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Peoplemaking«

© 1972 by Science and Behavior Books Inc., Palo Alto, Kalifornien

Für die deutsche Ausgabe

© 1975 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Roland SazingerUnter Verwendung eines Fotos von © kantver/fotolia.com

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89192-8

E-Book: ISBN 978-3-608-11512-3

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20401-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Vorwort der Übersetzer

Vorwort

Dank

1. KapitelEinleitung

2. KapitelWie sieht Ihre Familie aus?

3. KapitelSelbstwert: Der Pott, auf den niemand Acht gibt

4. KapitelKommunikation: Sprechen und Hören

5. KapitelKommunikationsmuster

6. KapitelKommunikationsspiele

7. KapitelIhre Lebensregeln

8. KapitelOffene oder geschlossene Systeme

9. KapitelDas Ehepaar

10. KapitelIhre Familien-Karte

11. KapitelDas Netz der Familienbeziehungen

12. KapitelBesondere Familienzusammensetzungen: unvollständige und gemischte Familien

13. KapitelDas Familienkonzept: Grundlage für Familienbildung und Erziehung der Kinder

14. KapitelDas Familienkonzept: einige wesentliche Bestandteile

15. KapitelDie Kunst der Familienorganisation

16. KapitelDie erweiterte Familie

17. KapitelDie Familie in der Gesellschaft

18. KapitelDie Familie der Zukunft

Vorwort der Übersetzer

Nur wenige therapeutische Fachbücher standen so kurz nach ihrem Erscheinen bereits auf der (amerikanischen) Bestsellerliste wie dieses. Die Autorin hat offensichtlich in diesem Werk ein zentrales Bedürfnis breiter Schichten aufgenommen, verstanden und in einer Art beantwortet, die weiterhilft.

Diese außerordentliche Fähigkeit ist tatsächlich das, was Menschen im Zusammensein mit Virginia Satir erlebten. Auf einmal erkannten und wussten sie, wie sie ihre Kräfte gebrauchen und Freude haben können, obwohl einige jahrelang ihre Hoffnungen auf ein befriedigendes Leben aufgegeben oder unterschiedlichste Anstrengungen erfolglos unternommen hatten, ihre Probleme zu lösen. Es war für viele, als ob sie das erste Mal wirklich lebten, als Menschen menschlich waren und mit anderen in echten Kontakt treten konnten. Und, was uns Übersetzern, die wir bei Virginia gelernt haben, sehr wichtig erscheint: Viele konnten selber weiterkommen und eine Menge ihrer Konflikte allein lösen.

Was ist Virginias Wirkkraft, und was gibt sie den vielen verschiedenen Personen wie ein Werkzeug in die Hand? Es ist ein Dreifaches: ihre Grundeinstellung, ihre Art, sich selbst zu handhaben und anderen Menschen zu begegnen, sowie ihr Wissen, das sie erfahrbar und umsetzbar vermittelt.

Virginia selbst war zutiefst vom »Leben« überzeugt und sah alle Menschen und alles Verhalten als Ausdrucksform dieses »Lebens« an sich. Sie zeigte fortlaufend, dass jeder sich und seine eigenen Kräfte anders handhabt, sobald er mit diesem »Leben« in sich selbst in Berührung tritt. Ohne inneren, sich selbst akzeptierenden Kontakt führt das Verhalten der Menschen oft zu Leid, Stagnation und anderen unerwünschten Ergebnissen. Virginia war überzeugt, dass der Umgang mit sich und anderen erlernt ist und umgelernt werden kann.

Aus dieser Grundeinstellung heraus brachte sie jeder Person maximales Vertrauen entgegen. Ihr Gegenüber erhielt ihre volle Aufmerksamkeit zum Zeitpunkt der Begegnung, was beide in ihrer eigenständigen Persönlichkeit bestätigte. Sie ermöglichte dadurch Vertrauen, Verstehen und die Bereitschaft, Risiken auf sich zu nehmen, um Neues auszuprobieren. Dann fragte sie, ob das, was sie anbieten kann, dem anderen etwas bedeutet und von ihm gewünscht wird. Sie achtete sorgsam darauf, ihm nur so nahe zu kommen, wie er selbst es gerne möchte.

Der dritte Teil ihrer Wirkkraft war ihr Wissen und ihre einmalige, lebendige, unkonventionelle Art, es zu vermitteln. Das zeigt sie in diesem Buch in gelungener Weise. Sie beschenkt damit jene Leser und ihre Familien, die bereit sind, sich zu öffnen und mit Neuem zu experimentieren, um sich weiterzuentwickeln. Virginia bietet ihnen hiermit – unter anderem in einer sorgfältig ausgearbeiteten Übungsfolge – ein Stück Selbsttherapie in abgerundeter Form an wie niemand bisher.

Virginia gab dem Ganzen den Titel »Peoplemaking«. Sie will Eltern befähigen, dass sie sich selbst und ihre Kinder zu Menschen heranreifen lassen, die ein tragendes Selbstwertgefühl haben, sich und andere achten und lieben, alle ihre unterschiedlichen Gefühle bewusst wahrnehmen können sowie mit den eigenen Kräften und Fähigkeiten und den Gegebenheiten der Umwelt kreativ und positiv umgehen. – Das sind keine neuen Ziele in der Psychotherapie, doch scheinen sie hier genial, umfassend, gültig, lebenswirklich und zugleich leicht praktikabel angegangen zu sein und mindestens ein Stück weit erreichbar. Dem Fachmann eröffnet sich dadurch in diesem Werk eine Fundgrube für sein persönliches und berufliches Weiterkommen.

Als Übersetzer sind wir traurig darüber, wie schwer – und an einigen Stellen fast unmöglich – es war, Virginias sprühende Vitalität, Direktheit, Wärme, ganzheitlich ansprechende und doch schonend zarte Art in der deutschen Sprache zu vermitteln. Ein Beispiel dafür ist das Wort »nurturing«, von uns häufig mit »nährend«, »entwicklungsfördernd« übersetzt. Es drückt im Englischen allgemein und in Virginias Gebrauch speziell das Ganzheitliche, Integrierende, gegenseitig Wirkende im Kontakt aus, worauf es ihr ankam. Trotz sprachlicher Hindernisse sind wir überzeugt, dem Leser mit diesem Buch eine Chance zur Weiterentwicklung in Richtung »Mensch-Sein« zu eröffnen.

Heidelberg, im August 1975

Maria Bosch/Elke Wisshak

Vorwort

Ein früheres Buch von mir befasst sich mit dem Thema »Familienbehandlung«, das sich in erster Linie an Professionelle wendet, die versuchen, Familien in ihrem Leiden zu helfen. Seitdem erhielt ich viele Bitten, ein weiteres Buch zu schreiben, das sich mit Familienprozessen auseinander setzt. Dieses Buch ist eine teilweise Antwort auf diese Anfragen.

Da ich nicht glaube, dass das letzte Wort über irgendeine Sache bisher oder in Zukunft jemals über irgendeine Sache gesprochen werden wird, experimentierte ich weiterhin mit neuen Aspekten des Selbstwertes, der Kommunikation, des Systems und der Regeln innerhalb der Familie. Ich brachte mehrere Familiengruppen in Seminaren zusammen, in denen sie jeweils für den Zeitraum einer Woche zusammenlebten, teilweise mit 24-Stunden-Kontakt am Stück. Was ich daraus lernte, machte bisherige Familienkonzepte nicht ungültig, erweiterte sie jedoch enorm.

Alle Faktoren, die in einer Familie Geltung haben, sind veränderbar und korrigierbar – der Selbstwert des Individuums, die Kommunikation, das System und die Regeln – und zwar zu jeder Zeit. In der Tat möchte ich so weit gehen zu sagen, dass jedes Teilchen eines Verhaltens in einem Moment das Ergebnis einer vierfachen Wechselwirkung ist, nämlich zwischen dem Zustand des Selbstwertgefühls der Person und dem Zustand ihres Körpers zu diesem Zeitpunkt sowie zwischen ihrer Interaktion mit einer anderen Person und der Interaktion mit ihrem System und Standort in Bezug auf Zeit, Raum und Situation. Wenn ich das Verhalten der Person erklären soll, muss ich etwas über all diese Tatsachen sagen, nicht nur über eine, und muss gleichzeitig darauf achten, wie diese Aspekte sich gegenseitig beeinflussen.

Ich glaube, dass das, was jeweils aktuell geschieht, die natürliche Konsequenz der eigenen Lebenserfahrung ist. Es kann dabei wenig oder gar keine Beziehung haben zur Bewusstheit oder zur Intention des Individuums. Alte Verletzungen werden durch gegenwärtig stattfindende Interaktionen »über« diese fortgepflanzt und verstärkt.

Somit besteht Hoffnung, dass alles sich ändern kann.

Dank

Als ich darüber nachdachte, welche Leute meine Kreativität aktiviert und inspiriert haben, fand ich, dass es so viele sind, dass ihre Namen ein Buch füllen würden.

Unter all diesen Menschen sind besonders die Familien und ihre Mitglieder zu nennen, die mir freien Zugang zu ihren Schmerzen und Kämpfen erlaubten und mich dadurch zu einem tieferen und genaueren Verständnis brachten, was menschliches Sein alles bedeutet. Damit haben sie die Voraussetzungen für mich bereitet, dieses Buch zu schreiben. Ich möchte auch all den Kollegen danken, die von mir lernen wollten und mir dabei die Möglichkeit gaben, von ihnen zu lernen. Besonders erwähnen möchte ich die unzähligen Denkanstöße von Pat Kollings und Peggy Granger sowie die Unterstützung durch die Mitarbeiter von Science and Behavior Books.

1. KapitelEinleitung

Als ich fünf Jahre alt war, entschloss ich mich, wenn ich einmal groß wäre, ein »Detektiv der Kinder gegenüber ihren Eltern« zu werden. Ich wusste nicht genau, nach was ich suchen würde, jedoch war damals für mich schon deutlich, dass in Familien vieles vor sich geht, das mit dem, was sichtbar ist, nicht übereinstimmt. Da schien es viele Rätsel zu geben.

Heute, fünfundvierzig Jahre später – nachdem ich mit etwa dreitausend Familien, zehntausend Menschen, gearbeitet habe –, finde ich, dass da tatsächlich eine Menge Rätsel bestehen. Man könnte die Familien mit einem Eisberg vergleichen. Die meisten Menschen sind sich nur etwa eines Zehntels des tatsächlich Vor-sich-Gehenden bewusst – dem Zehntel, das sie sehen und hören können – und sie denken oft, dass das alles ist. Einige vermuten, dass da noch mehr sein könnte, aber sie wissen nicht, was es ist, und haben keine Idee, wie sie es herausfinden könnten. Es jedoch nicht zu wissen, kann die Familie in eine gefährliche Richtung treiben. Genau wie das Schicksal eines Seemanns davon abhängt, dass er etwas über den Eisberg unter Wasser weiß, so hängt das Schicksal einer Familie davon ab, ob die Gefühle, Bedürfnisse und Verhaltensmuster verstanden werden, die hinter den täglichen familiären Geschehnissen liegen.

Glücklicherweise fand ich über die Jahre auch Lösungen für viele Rätsel und ich möchte sie in diesem Buch mitteilen. In den folgenden Kapiteln werden wir die Unterwasserseite des Eisbergs anschauen.

In diesem Zeitalter des sich ausweitenden Wissens über Atome, Weltraum, Genetik des Menschen und andere Wunder unseres Universums lernen wir auch Neues über die Beziehungen der Menschen mit Menschen. Ich glaube, dass die Geschichtsschreiber in tausend Jahren unsere Zeit deuten werden als den Beginn einer neuen Epoche der menschlichen Entwicklung, als die Zeit nämlich, in der die Menschheit begann, mit ihrer Menschlichkeit besser zurechtzukommen.

Über die Jahre hin entwickelte ich ein Bild davon, wie es aussehen könnte, wenn ein menschliches Wesen menschlicher lebt: Es ist eine Person, die ihren Körper versteht, wertschätzt und entwickelt, ihn schön und nützlich findet; eine Person, die real und ehrlich zu sich selbst, über sich und andere ist; eine Person, die bereit ist, Risiken auf sich zu nehmen, kreativ zu sein, kompetent zu sein, sich zu ändern, wenn es die Situation erfordert, und Wege zu finden, um Neues und Verschiedenartiges aufzunehmen, den Teil des Alten, der noch nützlich ist, zu behalten und den Teil, der es nicht ist, abzulegen.

All dies zusammengenommen macht ein körperlich gesundes, geistig waches, fühlendes, liebendes, spielerisches, authentisches, kreatives und produktives menschliches Wesen aus. Es kann auf den eigenen beiden Füßen stehen, es kann tief lieben sowie fair und effektiv kämpfen. Es steht in gleicher Weise zu seinen zarten Seiten wie zu seinen zähen und kennt die Unterschiede zwischen beiden. Es kann sich deswegen wirksam bemühen, seine Ziele zu erreichen.

Die Familie ist die »Fabrik«, in der diese Art Person entsteht. Die Erwachsenen sind die »Menschenmacher«.

In meinen Jahren als Familientherapeutin fand ich heraus, dass in den leidenden Familien, die mich um Hilfe baten, stets vier Aspekte des Familienlebens auftauchten. Es sind:

die Gefühle und Vorstellungen, die man über sich selbst hat; ich nenne sie

Selbstwert;

die Techniken, die die Menschen entwickeln, um einander zu verstehen und gegenseitige Bedeutsamkeit zu erfahren; ich nenne sie

Kommunikation;

die

Regeln,

die die Menschen dafür aufstellen, wie sie sich verhalten oder fühlen sollen; sie entwickeln sich schließlich zu dem, was ich Familien

system

nenne;

die Art, wie die Menschen zu anderen Menschen und Institutionen außerhalb der Familie in Beziehung treten, was ich die

Verbindung zur Gesellschaft

nenne.

Gleichgültig, was für eine Art Problem eine Familie zuerst in meine Praxis führte – ob es eine nörgelnde Ehefrau oder einen untreuen Ehemann, einen straffälligen Sohn oder eine schizophrene Tochter betraf –, ich fand bald, dass das Rezept gleich lautete. Um ihren Schmerz zu verringern, musste irgendein Weg gefunden werden, diese vier Schlüsselfaktoren zu verändern. In all den geplagten Familien entdeckte ich:

Der Selbstwert war niedrig,

Kommunikation fand indirekt, vage und nicht wirklich ehrlich statt,

Regeln waren starr, unmenschlich, durften nicht hinterfragt werden und galten für die Ewigkeit und die Verbindung zur Gesellschaft war angstbesetzt, anklagend oder schuldzuweisend im Grundton.

Glücklicherweise lernte ich zu meiner Freude auch nichtgestörte und fördernde Familien kennen –, insbesondere in Seminaren, in denen ich Familienmitgliedern helfe, ihr eigenes Potenzial als menschliche Wesen voller zu entwickeln. In diesen vitalen und fördernden Familien sehe ich durchweg ein anderes Muster:

Der Selbstwert ist hoch;

die Kommunikation ist direkt, klar, spezifisch und ehrlich;

die Regeln sind flexibel, menschlich, entsprechend den gegenwärtigen Bedürfnissen und Situationen – also eine veränderbare Angelegenheit;

die Verbindung zur Gesellschaft ist offen und voll Hoffnung.

Es ist gleichgültig, wo ein Chirurg Medizin studiert hat, er ist fähig, Menschen überall in der Welt zu operieren, weil die inneren Organe und die Glieder gleich sind. Durch meine Arbeit mit Familien, gestörten und fördernden, lernte ich in den USA, Mexiko und Europa, dass auch Familien überall bestimmte Funktionen gemeinsam haben. In allen Familien:

hat jedes Mitglied ein Gefühl seines Wertes – positiv oder negativ

(die Frage ist: Welches?);

steht jede Person in Kommunikation

(die Frage ist: Wie und mit welchem Ergebnis?);

folgt jede Person bestimmten Regeln

(die Frage ist: Was für einer Art von Regeln, und welchen Erfolg ermöglichen sie ihr?);

steht jede Person in Verbindung zur Gesellschaft

(die Frage ist: Wie und mit welchem Resultat?).

Dies alles gilt, gleichgültig, ob es sich um eine natürliche Familie handelt, wo die natürlichen Eltern fortgesetzt für ihr Kind sorgen, bis es erwachsen ist, ob es sich um eine Familie mit einem Elternteil handelt, in der der andere die Familie allein ließ, indem er starb, sich scheiden ließ oder wegging, und wo alle elterlichen Aufgaben vom zurückbleibenden Elternteil übernommen werden, ob es eine gemischte Familie ist, wo die Kinder von Stief-, Pflege- oder Adoptiveltern versorgt werden, oder ob es Institutionen sind, wo Erwachsenengruppen Kindergruppen erziehen, wie etwa in Heimen oder in modernen Tagesstätten.

Jede dieser Familienformen hat ihre eigene Art spezieller Probleme im Zusammenleben, und wir werden darauf später zurückkommen. Grundsätzlich sind jedoch die gleichen Kräfte in jeder von ihnen am Werk: Selbstwert, Kommunikation, Regeln und die Verbindung zur Gesellschaft.

Der Leser wird in diesem Buch mehr über jeden dieser entscheidenden Faktoren erfahren, was ihm zu entdecken hilft, wie seine Familie funktioniert und wie sie verändert werden kann, um Probleme zu verringern und die Vitalität und Freude zu vergrößern, die alle untereinander finden können. Ich spreche hier nicht als Expertin, sondern als jemand, der Glück und Leid, Verletzung, Ärger und Liebe in vielen Familien teilte und dadurch viel erfahren hat.

Ich werde in diesem Buch niemanden kritisieren oder beschuldigen. In der Tat sollte ich vermutlich viele Medaillen dafür verteilen, dass Sie das Beste, was Sie wussten, in einer schwierigen Situation getan haben. Die Tatsache allein, dass Sie ein Buch wie dieses lesen, sagt mir, dass Ihnen das Wohl Ihrer Familie wirklich am Herzen liegt. Ich hoffe jedoch, dass ich Ihnen etwas Wertvolleres als Medaillen geben kann, nämlich ein paar neue Wege, die der Familie ein besseres Zusammenleben ermöglichen.

Die Beziehungen sind in einer Familie extrem komplex. Um sie etwas besser verständlich zu machen, werde ich viele »als wenn« gebrauchen. Sie werden sich zu keinem intellektuellen Modell zusammenfügen, wie es Wissenschaftler konstruieren, sondern sie werden Ihnen eine Vielzahl von Möglichkeiten bieten, Ihr Familiensystem anzuschauen, in der Hoffnung, dass Sie darunter einige finden werden, die wirkliche Bedeutung für Sie gewinnen.

Beim Lesen werden Sie vorgeschlagene Experimente und Übungen vorfinden. Ich hoffe, dass Sie alle nacheinander ausführen werden, selbst wenn sie zunächst einfach oder albern erscheinen. Etwas über das Familiensystem zu wissen, verändert nichts. Sie müssen selbst lernen, wie Sie dieses System dazu bringen, lebensfördernd zu arbeiten. Diese Experimente bieten positive, konkrete Schritte an, die Ihre Familie gehen kann, um weniger gestört und mehr fördernd zu werden. Je mehr von den Familienmitgliedern daran teilnehmen, desto effektiver werden sie sein. Sie werden beginnen zu fühlen wie Ihr System funktioniert und erspüren, ob es zu Schwierigkeiten oder Wachstum führt.

Vielleicht fragen Sie sich, wie Sie es anstellen könnten, dass Sie die anderen Mitglieder Ihrer Familie dazu bringen, an diesen Übungen teilzunehmen. Das dürfte speziell dann der Fall sein, wenn in Ihrer Familie bereits Spaltungen bestehen.

Ich schlage vor, dass Sie sich gründlich darauf einstellen, worum Sie bitten möchten, damit Sie Ihre Frage klar vorbringen können. Wenn Sie sich begeistert und hoffnungsvoll fühlen im Hinblick darauf, was Ihrer Vorstellung nach geschehen könnte, werden Sie vermutlich ein Gefühl freudiger Spannung übermitteln, das die Einladung anziehend machen wird und Ihre Familienmitglieder bereiter, mit Ihnen etwas zu versuchen. Indem Sie Ihre Bitte einfach und geradeheraus stellen – zum Beispiel: Bist du bereit, mit mir zusammen ein Experiment zu machen, von dem ich glaube, dass es für uns beide hilfreich ist? –, werden Sie die Möglichkeit einer positiven Antwort vergrößern.

Die meisten Leute machen es sich schwer, indem sie versuchen, ihre Familienmitglieder zu drängen, zu kritisieren oder etwas von ihnen zu fordern, um sie zum Mitmachen zu bewegen. Ihr Versuch wird dann zu einem Machtkampf, der gewöhnlich nicht zum gewünschten Erfolg führt. Es ist möglich, dass zu diesem Zeitpunkt die Verhältnisse so zerrissen sind, dass nichts auszurichten ist. Die Chancen stehen jedoch gut, dass Ihre Familienmitglieder bereit sind, wenigstens einen Versuch zu machen, wenn sie unter dem gleichen Dach wohnen.

Ich habe viel Leid in Familien gesehen. Jedes einzelne hat mich tief bewegt. Durch dieses Buch hoffe ich, auch Leid in Familien zu lindern, denen ich kaum je persönlich begegnen kann. Indem ich das tue, hoffe ich ebenfalls, Leid zu verhindern, das in den Familien ihrer Kinder entstehen würde. Einiges an menschlichem Leid ist selbstverständlich unvermeidbar. Aber wir setzen unsere Kräfte nicht immer richtig ein, um zu ändern, was wir ändern können, und um kreative Wege auszuarbeiten, mit dem zu leben, was wir nicht ändern können.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass allein das Lesen dieses Buches in Ihnen etwas Schmerz auslöst. Schließlich ist es oft schmerzlich, wenn wir uns selbst anschauen. Aber wenn Sie meinen, dass es bessere Arten geben könnte, als die, wie Sie in Ihrer Familie jetzt zusammenleben, denke ich, dass Sie dieses Buch lohnend finden werden.

2. KapitelWie sieht Ihre Familie aus?

Leben Sie im Augenblick gern in Ihrer Familie?

Diese Frage wäre bei den meisten Familien, mit denen ich gearbeitet habe, nie aufgekommen. Ehe sie zu mir kamen, war das Zusammenleben für sie eine Selbstverständlichkeit. Gab es keine sichtbare Familienkrise, nahm jeder an, dass alle anderen mit ihrer Situation zufrieden wären. Ich vermute, dass viele der einzelnen Familienmitglieder es nicht gewagt haben, solch eine Frage aufkommen zu lassen. Sie gehörten unentrinnbar in die Familie, zum Guten oder auch zum Schlechten, und haben nicht gewusst, wie sie etwas ändern können.

Glauben Sie, dass Sie in Ihrer Familie unter Freunden leben, die Sie mögen und denen Sie vertrauen und die wiederum Sie mögen und Ihnen vertrauen?

Diese Frage hat mir gewöhnlich die gleichen verdutzten Antworten eingebracht. »Ach Gott, darüber habe ich nie nachgedacht, es ist eben meine Familie« – als ob Familienmitglieder sich von Menschen irgendwie unterscheiden würden!

Macht es Spaß und ist es anregend, ein Mitglied Ihrer Familie zu sein?

Ja, es gibt wirklich Familien, deren Mitglieder ihr Zuhause für einen der interessantesten und anregendsten Orte halten. Aber viele Menschen leben Jahr für Jahr in einer Familie, die sie bedroht, belastet oder langweilt.

Wenn Sie diese drei Fragen mit »ja« beantworten können, bin ich sicher, dass Sie in einer, wie ich sagen würde, »fördernden« Familie leben. Wenn Sie mit »nein« oder »nicht oft« antworten, sind Sie wahrscheinlich Mitglied einer Familie, die mehr oder weniger gestört ist.

Nachdem ich hunderte von Familien kennen gelernt habe, glaube ich, dass jede irgendwo auf einer Skala von ›sehr fördernd‹ bis ›sehr gestört‹ eingeordnet werden kann. Obwohl die fördernden Familien individuell recht unterschiedlich sind, sehe ich viele Ähnlichkeiten in der Art und Weise, wie diese Familien funktionieren. Belastete Familien scheinen auch vieles gemeinsam zu haben, ganz gleich, welcher Art ihre sichtbaren Probleme sind. Ich möchte Ihnen nun mit Worten ein Bild von jedem Familientyp zeichnen, den ich beobachtet habe. Natürlich wird kein Bild irgendeiner speziellen Familie genau entsprechen, aber vielleicht können Sie in der einen oder anderen etwas erkennen, das in Ihrem Familienleben ebenso vorkommt.

Die Atmosphäre in einer gestörten Familie ist leicht zu spüren. Jedes Mal, wenn ich in einer solchen Familie bin, merke ich bald, dass ich mich nicht wohl fühle. Manchmal fühlt es sich kalt an, als ob alle erfroren wären. Man ist äußerst höflich miteinander und alle sind offensichtlich gelangweilt. Manchmal ist es so, als würde sich alles dauernd drehen, wie ein Kreisel; man fühlt sich schwindelig und kann sein Gleichgewicht nicht mehr finden. Oder es ist, als läge eine Ahnung in der Luft, wie die Ruhe vor dem Sturm, wenn es jeden Augenblick losdonnern und -blitzen kann. Manchmal ist die Luft voller Heimlichkeit, wie in einer Zentrale von Spionen.

Sobald ich in einer dieser belasteten Atmosphären bin, reagiert mein Körper heftig. Mein Magen ist überempfindlich, mein Rücken und meine Schultern sowie mein Kopf beginnen bald zu schmerzen. Ich habe mich oft gefragt, ob die Körper der Menschen, die in dieser Familie lebten, wie meiner reagiert haben. Später, als ich sie besser kannte und sie gelöst genug waren, mir zu berichten, wie es sich in ihrer Familie leben lässt, erfuhr ich, dass sie tatsächlich genauso empfinden. Nachdem ich diese Erfahrung immer wieder gemacht hatte, begann ich zu verstehen, warum so viele Mitglieder von gestörten Familien mit physischen Leiden behaftet waren. Ihre Körper reagierten einfach menschlich auf eine sehr unmenschliche Atmosphäre1.

In gestörten Familien erzählen die Körper und Gesichter von ihrer Not. Die Körper sind entweder steif, gespannt oder schlaff. Die Gesichter sehen mürrisch oder traurig aus oder einfach leer wie Masken. Die Augen blicken zu Boden und an den Leuten vorbei. Die Stimmen sind entweder rau und scharf oder kaum hörbar.

Es gibt kaum Anzeichen von Freundschaft unter den einzelnen Familienmitgliedern und wenig Freude aneinander. Die Familie scheint nur aus Pflichtgefühl zusammenzubleiben; die Menschen versuchen nur, einander zu tolerieren. Hin und wieder sah ich jemanden, der in einer gequälten Familie um Leichtigkeit bemüht war, aber seine Worte fielen wie dumpfe Schläge. Des Öfteren ist ihr Humor ätzend, sarkastisch, ja sogar grausam. Die Erwachsenen sind so damit beschäftigt, ihrem Kind zu sagen, was es tun oder lassen soll, dass sie es nie kennen lernen und sich nie an seiner Person erfreuen können. Folglich wird es sich ebenfalls nie seiner Eltern als Personen erfreuen können. Es ist für Mitglieder einer gestörten Familie oft eine große Überraschung, dass sie sich tatsächlich aneinander freuen können.

Wenn ich ganze Familien in meiner Praxis sah, die versuchten, in einer solchen Atmosphäre zusammenzuleben, habe ich mich oft gewundert, wie sie es fertig brachten zu überleben. Bei einigen Leuten habe ich beobachtet, dass sie sich einfach mieden. Sie waren so mit Arbeit und anderen äußeren Aktivitäten beschäftigt, dass sie kaum je echten Kontakt mit ihrer Familie hatten.

Mit solchen Familien zusammen zu sein, erlebe ich als sehr traurig. Ich sehe die Hoffnungslosigkeit, die Hilflosigkeit, die Einsamkeit. Ich sehe den Mut von Leuten, die zuzudecken versuchen; eine Tapferkeit, die sie am Ende umbringen kann. Es gibt jene, die sich noch an ein bisschen Hoffnung hängen, die sich noch anschnauzen, nörgeln oder anjammern können. Andere kümmern sich um nichts mehr. Diese Menschen leben Jahr für Jahr so weiter und erdulden das Elend selbst oder zwingen es in ihrer Verzweiflung anderen auf.

Gewöhnlich betrachten wir die Familie als den Ort, an dem wir Liebe, Verständnis und Unterstützung finden können, selbst wenn alles andere versagt. Sie ist der Platz, an dem wir auftanken, um mit der Welt draußen besser fertig zu werden. Aber für Millionen belasteter Familien ist das ein Mythos.

In unserer großen, städtisch-industriellen Gesellschaft wurden die Institutionen, mit denen wir leben müssen, so eingerichtet, dass sie praktisch, leistungsfähig, ökonomisch und Gewinn bringend sind – aber kaum so, dass sie die menschlichen Belange schützen und den Menschen dienen könnten. Fast jeder erfährt entweder Armut oder Diskriminierung, unerbittlichen äußeren Druck oder andere Konsequenzen unserer inhumanen sozialen Institutionen. Für Leute aus gestörten Familien, die unmenschliche Bedingungen auch zu Hause vorfinden, sind diese Schwierigkeiten noch schwerer zu ertragen.

Niemand würde sich absichtlich diesen belasteten Lebensweg aussuchen. Familien akzeptieren ihn nur deshalb, weil sie keinen anderen Weg kennen.

Hören Sie ein paar Minuten auf zu lesen und denken Sie über einige Familien nach, von denen Sie denken, dass sie der Beschreibung »gestört und belastet« entsprechen. Hatte die Familie, in der Sie aufgewachsen sind, einige dieser Charakteristika? Hat die Familie, in der Sie jetzt leben, solche? Können Sie irgendein Zeichen von Belastung entdecken, dessen Sie sich vorher nicht bewusst waren?

Wie anders ist es, in einer ›fördernden‹ Familie zu leben! Sofort kann ich die Lebendigkeit, die Ehrlichkeit, die Echtheit und Liebe spüren. Ich erlebe Herz und Seele als genauso voll da wie den Kopf.

Ich fühle, dass ich, wenn ich in einer solchen Familie leben würde, angehört würde und interessiert wäre, anderen zuzuhören. Auf mich würde Rücksicht genommen, deshalb wäre es auch mein Wunsch, auf andere Rücksicht zu nehmen. Ich könnte meine Zuneigung sowie meinen Kummer und meine Missbilligung offen zeigen. Ich hätte keine Angst, etwas zu riskieren, weil jeder in meiner Familie erkennen würde, dass ich Fehler mache – dass meine Fehler aber ein Zeichen dafür sind, dass ich reife. Ich würde mich als unabhängiger Mensch fühlen – beachtet, geschätzt, geliebt und klar dazu aufgefordert, andere zu beachten, zu schätzen und zu lieben.

Man kann die Vitalität in solch einer Familie tatsächlich sehen und hören. Die Körper sind anmutig, der Ausdruck der Gesichter ist entspannt. Die Menschen sehen sich gegenseitig an, sie sehen nicht durch den anderen hindurch auf den Boden. Sie sprechen mit voller, klarer Stimme. In ihren Beziehungen zueinander geht es lebendig zu und auch harmonisch. Die Kinder erscheinen – selbst wenn sie noch ganz klein sind – offen und freundlich, und der Rest der Familie behandelt sie als vollwertige Personen.

Das Haus, in dem diese Leute leben, hat gewöhnlich viel Licht und Farbe. Es ist offensichtlich ein Ort, an dem Menschen leben, ein Ort, der für ihre Behaglichkeit und Freude geplant ist und nicht als Vorzeigeobjekt für die Nachbarn.

Wenn es hier ruhig ist, so ist es eine friedvolle Ruhe, nicht die Stille von Furcht und Vorsicht. Wenn es laut ist, so ist es der Lärm bedeutungsvoller Aktivität, nicht der Donner, der versucht, alles andere zu übertönen. Jede Person scheint zu wissen, dass sie ihre Chance, angehört zu werden, bekommen wird. Wenn sie jetzt nicht drankommt, dann nur deshalb, weil gerade keine Zeit dazu ist – nicht, weil sie nicht geliebt wird.

Den Menschen scheint es angenehm zu sein, einander zu berühren und sich ihre Zuneigung zu zeigen, gleichgültig, wie alt sie sind. Der Beweis der Liebe und der Zugewandtheit ist nicht darauf beschränkt, den Müll hinauszutragen, Mahlzeiten zu kochen oder die Lohnabrechnung nach Hause zu bringen. Die Leute zeigen es auch, indem sie offen miteinander reden und interessiert zuhören, indem sie geradeheraus und echt miteinander umgehen und indem sie einfach zusammen sind.

Mitglieder einer ›fördernden‹ Familie fühlen sich frei, einander zu sagen, wie sie empfinden. Über alles kann geredet werden – über Enttäuschungen, Ängste, Verletzungen und Kritik genauso wie über die Freuden und Leistungen. Wenn der Vater einmal aus irgendeinem Grund schlechte Laune hat, kann sein Sohn frei heraus sagen: »Mensch, Papa, du bist heute Abend aber brummig!« Er hat keine Angst, dass der Vater zurückschimpfen wird: »Wie kannst du es wagen, so mit deinem Vater zu reden!« Stattdessen kann der Vater auch offen sein: »Ich bin wirklich brummig, ich hatte einen verdammt schlechten Tag heute.« Worauf der Sohn erwidern könnte: »Danke, dass du mir das gesagt hast. Ich dachte schon, du hättest dich über mich geärgert.«

›Fördernde‹ Familien zeigen, dass sie planen, aber wenn etwas dazwischenkommt, können sie sich leicht umstellen. Auf diese Weise sind sie in der Lage, mit den Problemen des Lebens fertig zu werden, ohne in Panik zu geraten. Nehmen wir zum Beispiel an, dass ein Kind sein Glas fallen lässt und es zerbricht. In einer gestörten Familie könnte dieser Vorfall zu einer halbstündigen Predigt führen, zu einer Prügelstrafe und vielleicht dazu, das Kind mit seinen Tränen in sein Zimmer zu schicken. In einer ›fördernden‹ Familie dürfte eher jemand bemerken: »Jonny, jetzt hast du dein Glas zerbrochen; hast du dich geschnitten? Wenn du willst, bringe ich dir ein Pflaster.«

Dann holt Jonny vermutlich einen Besen und fegt die Scherben zusammen. Wenn der Erwachsene bemerkt hat, dass Jonny das Glas ungeschickt gehalten hat, kann er hinzufügen: »Ich glaube, das Glas ist heruntergefallen, weil du es nicht mit beiden Händen angefasst hast.« So würde das Geschehene als Gelegenheit zum Lernen benutzt, das den Eigenwert (das Selbstwertgefühl) des Kindes fördert; es wird nicht als Grund zur Strafe gesehen, die das Selbstwertgefühl in Frage stellt. In einer ›fördernden‹ Familie kann die Botschaft leicht aufgenommen werden, dass das menschliche Leben und menschliche Gefühle wichtiger sind als alles andere.

Diese Eltern sehen sich selbst als Anleitende, nicht als Chefs; sie sehen ihre Aufgabe in erster Linie darin, ihrem Kind beizubringen, wie man in allen Situationen wahrhaft menschlich ist. Sie gestehen ihrem Kind bereitwillig ihre fraglichen wie auch ihre guten Ansichten; sie gestehen ihm auch ihren Kummer, ihren Ärger, ihre Enttäuschungen und ihre Freude. Ihr Verhalten ihm gegenüber entspricht dem, was sie sagen. (Wie anders ist das bei belasteten Familien, die von ihren Kindern fordern, anderen nicht wehzutun, sie aber selbst schlagen, wenn sie ihnen missfallen.)

Vitale, ›fördernde‹ Eltern wissen, dass sie erst lernen müssen, entsprechend zu führen. Es ist ihnen nicht automatisch in den Schoß gefallen, als ihr erstes Kind geboren wurde. Wie alle guten Führer achten sie auf den Faktor Zeit. Sie warten auf eine Gelegenheit, um mit ihrem Kind zu sprechen, wenn es sie wirklich hören und verstehen kann. Wenn ein Kind sich ungebührlich verhalten hat, bieten Vater oder Mutter ihm durch körperliche Nähe Unterstützung an. Das wird dem kleinen Missetäter helfen, seine Angst und seine Schuldgefühle zu überwinden und den besten Nutzen aus der Belehrung zu ziehen, die ihm seine Eltern anbieten.

Neulich sah ich, wie eine Mutter in einer ›fördernden‹ Familie mit einer schwierigen Situation sehr geschickt und menschlich umging. Als sie bemerkte, dass sich ihre beiden Söhne, fünf und sechs Jahre alt, stritten, trennte sie die beiden Jungen ruhig, nahm jeden bei der Hand und setzte sich mit ihnen hin. Sie hielt weiter ihre Hände und bat jeden, ihr zu sagen, was geschehen sei. Sie hörte dem einen und dann dem anderen zu und, indem sie Fragen stellte, klärte sie allmählich den Ablauf des Geschehenen: Der Fünfjährige hatte einen Groschen aus der Kommode des Sechsjährigen genommen. Während die beiden Jungen ihre Verletztheit und ihre Gefühle von Ungerechtigkeit ausdrückten, konnte sie ihnen helfen, neuen Kontakt miteinander aufzunehmen, den Groschen seinem Besitzer zurückzugeben und den Weg für ein besseres Miteinanderumgehen zu ebnen. Außerdem erlebten die Jungen, wie man Streit konstruktiv löst.

Eltern in solchen Familien wissen, dass ihre Kinder nicht absichtlich böse sind. Wenn sich jemand destruktiv verhält, erkennen sie, dass es zu einem Missverständnis gekommen ist oder dass das Selbstwertgefühl des Betreffenden gefährlich niedrig ist. Sie wissen, dass ein Kind nur lernen kann, wenn es sich selbst schätzt und sich von anderen anerkannt fühlt. Deshalb reagieren sie auf seine Handlungen nicht so, dass es sich entwertet fühlt. Sie wissen, dass Verhalten zwar durch Beschimpfen und Strafen zu ändern ist, dass aber die dadurch entstehende Wunde nur schwer und langsam heilt.

Wenn ein Kind korrigiert werden muss – wie alle Kinder hin und wieder –, verlassen sich entwicklungsfördernde Eltern auf das Zuhören, Berühren, Verstehen und auf vorsichtiges Abstimmen des Zeitpunktes. Sie beachten bewusst die Gefühle des Kindes und seinen natürlichen Wunsch zu lernen und zufrieden zu stellen. All diese Dinge helfen ihnen beim wirksamen Anleiten.

Eine Familie zu bilden ist sicher die schwierigste Aufgabe der Welt. Es erinnert an die Verschmelzung von zwei Geschäftsfirmen. Sie werfen ihre Mittel zusammen, um ein einziges Produkt herzustellen. Alle bei solch einem Unternehmen möglichen Probleme entstehen, wenn ein Mann und eine Frau zusammen ein Kind begleiten, bis es erwachsen ist. Die Eltern in einer fördernden Familie erkennen, dass es Probleme geben wird, weil das Leben sie einfach stellt; aber sie werden wachsam kreative Lösungen für jedes einzelne Problem suchen, das auftaucht. Gestörte Familien dagegen verlegen ihre ganze Energie auf den hoffnungslosen Versuch, Probleme fern zu halten. Tauchen sie doch auf – was mit Sicherheit geschieht –, haben diese Leute keine Energie zur Lösung mehr übrig.

Vielleicht ist es eines der entscheidendsten Merkmale fördernder Eltern, dass sie erkennen, dass Veränderungen unausweichlich sind: Kinder wachsen schnell von einem Stadium ins andere, und auch reifende Erwachsene hören nie auf zu lernen und sich zu verändern. Die Welt um uns herum steht nie still. Sie akzeptieren Veränderungen als einen unvermeidbaren Teil des Lebens und versuchen, sie kreativ zu nutzen, um ihre Familie noch fördernder zu machen.

Können Sie sich an eine Familie erinnern, die Sie zumindest zeitweise als fördernd bezeichnen könnten? Fällt Ihnen ein Beispiel aus jüngster Vergangenheit ein, in dem Sie Ihre Familie als fördernd beschreiben könnten? Versuchen Sie sich zu erinnern, wie Sie sich zu diesem Zeitpunkt in Ihrer Familie gefühlt haben. Kommen solche Zeiten häufig vor?

Einige Menschen lachen vielleicht über mein Bild von der fördernden Familie und sagen, dass es keiner Familie möglich sei, so zu leben. Ihnen würde ich sagen, dass ich das Glück hatte, eine Anzahl solcher Familien gut zu kennen – dass es also möglich ist. Jedoch nur vier von vielleicht hundert wissen, wie man das macht.

Andere Leute mögen erwidern, dass die meisten Menschen unter dem Druck des täglichen Lebens einfach nicht genug Zeit haben, ihr Familienleben zu überprüfen. Ihnen würde ich sagen, dass sie sich lieber die Zeit nehmen sollten; es ist eine Frage des Überlebens. Ich halte es für das Allerwichtigste. Aus leidenden Familien kommen gestörte Menschen; sie tragen möglicherweise zur Kriminalität bei, zu seelischen Störungen, zu Geisteskrankheiten, Alkoholismus, Drogenmissbrauch, Armut, Jugendproblemen, politischem Extremismus und vielen anderen sozialen Problemen. Wenn wir uns nicht die größte Mühe geben, die Familie zu entwickeln und Menschen heranzubilden, die wirklich menschlich sind, sehe ich unsere gegenwärtigen sozialen Probleme immer schlimmer werden und vielleicht in der Vernichtung von uns allen enden. Der Preis für das Versagen wäre hoch, die Belohnung für den Erfolg ist aber höher. Jeder, der eine Machtposition innehat oder einflussreich ist, war einmal ein Kind. Wie er seine Macht oder seinen Einfluss nutzt, hängt zu einem großen Teil davon ab, was er in der Familie gelernt hat, in der er aufwuchs. Wenn wir gestörten, leidenden Familien helfen könnten, fördernd zu werden – und fördernden noch fördernder zu werden –, würde ihre höhere Humanität auf alle Gebiete einwirken, die die Qualität unseres Lebens bestimmen, beispielsweise auf Politik, Erziehungswesen, Geschäftsleben und Religion.

Ich bin davon überzeugt, dass jede gestörte Familie eine fördernde werden kann. Das meiste von dem, was in einer Familie zu Störungen führt, wird nach der Geburt erlernt. Da es erlernt ist, kann es auch verlernt werden, durch neues Lernen ersetzt werden. Die Frage ist: Wie?

Erstens:

Sie müssen erkennen, dass Ihre Familie leidet und gestört ist.

Zweitens:

Sie benötigen etwas Hoffnung, dass es anders sein kann.

Drittens:

Sie müssen etwas unternehmen, um mit dem Veränderungsprozess zu beginnen.

Wenn Sie anfangen, die Schwierigkeiten in Ihrer Familie klarer zu sehen, werden Sie verstehen, dass alles, was in der Vergangenheit passiert ist, aus Ihrem besten Wissen und Gewissen heraus geschah. Niemand in einer Familie hat einen Grund, sich schuldig zu fühlen oder andere zu beschuldigen. Es ist wahrscheinlich, dass die Ursachen des Leidens in Ihrer Familie für alle unsichtbar waren – nicht, weil kein Familienmitglied sie sehen wollte, sondern weil sie entweder nicht wussten, wo sie zu suchen sind, oder weil sie gelernt haben, das Leben durch eine innere Brille zu betrachten, die verhindert, bestimmte Dinge wahrzunehmen.

Beim Durcharbeiten dieses Buches werden Sie beginnen, diese Brille abzunehmen und direkt anzuschauen, was Freude oder Leid im Familienleben verursachen. Das Erste ist das Selbstwertgefühl.

3. KapitelSelbstwert: Der Pott, auf den niemand Acht gibt

Als kleines Mädchen lebte ich auf einer Farm in Wisconsin. Vor unserem Hintereingang stand ein großer, schwarzer Eisentopf. Er war rund und schön und stand auf drei Beinen. Meine Mutter machte unsere Seife selbst und so war einige Zeit im Jahr der Topf voller Seife. Wenn es im Herbst Dreschzeit wurde, füllten wir den Topf mit Eintopf. Und zu anderen Zeiten benutzte ihn mein Vater, um Dünger für die Blumenbeete meiner Mutter darin aufzubewahren. Im Laufe der Zeit nannten wir den Topf »SED-Topf«. Immer wenn irgendjemand den Topf benutzen wollte, musste er sich folgende zwei Fragen stellen:

Was

ist gerade im Topf?

Wie

voll ist er?

Wenn mir viele Jahre später Menschen über ihre Selbstwertgefühle berichteten – ob sie sich davon voll fühlten oder leer, schmutzig oder vielleicht sogar »zerbrochen« –, musste ich an jenen alten Pott denken.

Vor ein paar Jahren saß eines Tages eine Familie in meiner Praxis. Die einzelnen Mitglieder versuchten sich gegenseitig zu erklären, wie sie sich fühlten. Ich dachte wieder an den schwarzen Pott und erzählte ihnen seine Geschichte. Bald begann jedes Familienmitglied über seinen eigenen individuellen Pott zu sprechen und darüber, was er enthielt: Gefühle des Selbstwerts oder der Schuld, Scham oder Wertlosigkeit.

Es dauerte nicht lange, bis dieses einfache Stenogrammwort vielen meiner Familien half, Gefühle auszudrücken, über die sie vorher nur mit Schwierigkeiten sprechen konnten. Wenn z. B. ein Vater sagte: »In meinem Pott ist heute viel«, wusste die übrige Familie, dass er sich Herr der Lage fühlte, voll guten Mutes und voll Energie und sicher im Wissen darum, dass er für seine Familie etwas bedeutete. Oder ein Sohn sagte: »In meinem Pott ist heute wenig.« Dann wussten die anderen, dass er sich nicht fühlte, als ob er für sie viel bedeutete, dass er sich müde oder gelangweilt oder vielleicht verletzt fühlte und sicher nicht besonders liebenswert. Es konnte sogar bedeuten, dass er sich im Allgemeinen nicht viel wert fand und dass er gewöhnt war zu nehmen, was kam, ohne dass er die Möglichkeit hatte, sich zu beklagen.

Pott ist ein einfaches Wort. Viele der Wörter, die Fachleute gebrauchen, um über Menschen und menschliches Verhalten zu sprechen, klingen steril und trocken und völlig unlebendig. Ich fand, dass es Familien viel leichter fällt, sich mit dem Wort Pott verständlich zu machen und andere zu verstehen. Sie scheinen sich damit plötzlich viel wohler zu fühlen, irgendwie befreit von dem Tabu, mit dem in unserem Kulturkreis das Sprechen über Gefühle belegt ist. Eine Ehefrau, die sich normalerweise scheuen würde, ihrem Mann zu sagen, dass sie sich unzulänglich und deprimiert und wertlos fühlt, kann ohne Umschweife zu ihm sagen: »Lass mich in Ruhe, mein Pott ist fast leer!«

Wenn ich also von jetzt ab hier im Buch das Wort »Pott« gebrauche, meine ich immer »Selbstwert« oder »Selbstachtung«; und über diesen Pott werden wir in diesem Kapitel sprechen.

In den vielen Jahren, in denen ich Kinder unterrichtet habe, in denen ich Familien aller sozialen Schichten behandelt und Menschen der verschiedensten Lebensrichtungen ausgebildet habe – in all den alltäglichen Erfahrungen meines beruflichen und privaten Lebens gelangte ich zu der Überzeugung, dass der entscheidende Faktor für das, was sich in einem Menschen abspielt, die Vorstellung vom eigenen Wert ist, die jeder mit sich herumträgt – also sein Pott.

Integrität, Ehrlichkeit, Verantwortlichkeit, Leidenschaft, Liebe – alles strömt frei aus dem Menschen, dessen Pott voll ist. Er weiß, dass er etwas bedeutet und dass die Welt ein kleines Stückchen reicher ist, weil er da ist. Er glaubt an seine eigenen Fähigkeiten. Er ist fähig, andere um Hilfe zu bitten, aber er glaubt an seine eigene Entscheidungsfähigkeit und an die Kräfte in sich selbst. Weil er sich selber wertschätzt, kann er auch den Wert seiner Mitmenschen wahrnehmen und achten. Er strahlt Vertrauen und Hoffnung aus. Er hat seine Gefühle nicht mit Regeln belegt. Er akzeptiert alles an sich selbst als menschlich.

Sehr viele Menschen sind die meiste Zeit »oben« (high-pot). Natürlich gibt es für jeden Zeiten, wo er am liebsten alles hinwerfen möchte, wo er erschöpft und müde ist und wo das Leben ihm zu viele Enttäuschungen zu schnell nacheinander beschert, wo die Probleme plötzlich zu viele sind oder zu groß aussehen, als dass sie bewältigt werden könnten. Aber der vitale Mensch geht mit diesen momentanen Tiefpunkten (low-pot-feelings) so um, wie sie es verdienen, nämlich als mit Krisen des Augenblicks, aus denen er heil wieder auftauchen kann, als mit etwas, was im Augenblick sehr mühsam und unangenehm ist und dessen man sich nicht zu schämen braucht.

Andere Menschen dagegen verbringen die meiste Zeit ihres Lebens im Zustand des fast leeren Potts (low-pot). Weil sie sich selber wenig wert finden, erwarten sie von ihren Mitmenschen, dass sie sie hintergehen, mit Füßen treten und verachten. Da sie immer das Schlimmste erwarten, beschwören sie es selbst herauf und bekommen es auch häufig. Um sich zu schützen und zu verteidigen, verstecken sie sich hinter einer Wand von Misstrauen und versinken in den grausamen Zustand, der Einsamkeit und Isolation heißt. Auf diese Weise von anderen Menschen entfernt, werden sie gleichgültig gegen sich selbst und andere. Sie haben es schwer, noch wirklich klar zu sehen, zu hören oder zu denken, und deshalb kommen sie mehr in Gefahr, andere zu übergehen oder zu verletzen.

Als natürliche Folge von Einsamkeit und Misstrauen stellt sich Angst ein. Angst beengt und trübt den Blick. Sie lässt nicht zu, dass man etwas Neues versucht, um Schwierigkeiten zu meistern, und deshalb entsteht immer mehr unbefriedigendes Verhalten. (Im Übrigen: Angst ist immer auf die Zukunft gerichtet. Ich habe beobachtet, dass der Mensch immer dann, wenn er das, was er fürchtet, wirklich ins Auge fasst und anpackt, seine Angst verliert.)

Wenn ein Mensch mit einem ständig schlecht gefüllten Pott noch irgendeine Niederlage erlebt – eine Niederlage, die auch einem Menschen, der sich normal stabil fühlt, für eine Weile einen wenig gefüllten Pott bringt –, verzweifelt er. Er fragt sich, wie ein so wertloser Mensch mit solchen Sorgen fertig werden soll. Es überrascht nicht, dass ein Mensch mit solch schlecht gefülltem Pott unter Umständen eben Drogen oder Selbstmord oder Mord als einzigen Ausweg sieht, wenn er unter starken Druck gerät. Ich bin ganz überzeugt, dass der größte Teil der Probleme, Schmerzen und Scheußlichkeiten im Leben – auch Kriege – das Ergebnis von notorisch schlecht gefüllten Pötten ist, über die die Betreffenden nicht offen reden können.

Können Sie sich an einen Moment in letzter Zeit erinnern, an dem Sie sich richtig gut gefühlt haben? Vielleicht hat Ihnen Ihr Chef gerade gesagt, dass Sie befördert werden, oder ein hübsches neues Kleid veranlasste die Leute zu Komplimenten. Oder Sie konnten eine Schwierigkeit mit Ihren Kindern so lösen, dass alle froh waren. Versetzen Sie sich nochmal in dieses Gefühl: So ist es, wenn der Pott »randvoll« ist.

Können Sie sich jetzt eine Situation vorstellen, in der Ihnen etwas Peinliches passiert ist oder in der Sie ein Irrtum viel Geld kostete oder in der Sie Ihr Vorgesetzter oder Ehepartner tadelte oder in der Sie sich der Kindererziehung nicht gewachsen fühlten? Versuchen Sie, auch dieses Gefühl nochmal zu spüren, auch wenn es sehr unangenehm ist. So fühlt sich »schlecht gefüllter« Pott an.

Sich »unten« fühlen ist nicht ganz dasselbe wie leerer Pott. Leerer Pott bedeutet ganz genau ausgedrückt: Du hast im Moment unangenehme Gefühle und versuchst aber, dich so zu verhalten, als ob sie nicht da wären, du versuchst, sie zu überspielen. Es braucht eine Menge Vertrauen, um ein niedriges Selbstwertgefühl auszudrücken. Leerer Pott heißt, du willst etwas vor dir und vor den anderen nicht wahrhaben.

Jetzt entspannen Sie sich einen Moment und fühlen: Wie ist Ihr Pott jetzt gerade? Voll oder wenig gefüllt? Hat es einen besonderen Grund, dass Sie sich so fühlen, oder fühlen Sie sich meistens so?

Ich hoffe, dass mehrere Mitglieder Ihrer Familie gemeinsam dieses Gefühl ausprobieren. Teilen Sie einander Ihre Gefühle mit. Vergleichen Sie: Was verursacht vollen Pott und was leeren Pott? Sie werden übereinander neue Dinge erfahren und Sie werden sich einander näher fühlen.

Ich bin überzeugt, dass das Gefühl des Wertes nicht angeboren ist, es ist erlernt. Und es ist in der Familie erlernt. Du hast dein Gefühl von Wert oder Unwert in der Familie gelernt, die deine Eltern gegründet hatten, und deine eigenen Kinder lernen es in ihrer Familie jetzt gerade.

Ein neugeborenes Kind hat keine Vergangenheit, keine Erfahrungen im Umgang mit sich selbst und keinen Maßstab, an dem es seinen eigenen Wert messen könnte. Es muss sich verlassen auf die Erfahrungen mit seiner Umwelt und die Botschaften, die es von dort hinsichtlich seines Wertes als Mensch bekommt. In den ersten fünf oder sechs Lebensjahren wird das Selbstwertgefühl des Kindes ausschließlich von seiner Familie bestimmt. Wenn es in die Schule kommt, erweitert sich der Einflussbereich, aber bis hin zur Pubertät bleibt die Familie sehr wichtig. Die Einflüsse außerhalb der Familie unterstützen im Allgemeinen nur, was das Kind zu Hause gelernt hat. Das Kind mit vollem Pott kann Fehlschläge in der Schule und mit Gleichaltrigen gut aushalten, während das Kind mit wenig gefülltem Pott viel Erfolg erleben kann und trotzdem nie den Zweifel über seinen eigenen Wert los wird. Jedes Wort, jeder Ausdruck im Gesicht oder in der Haltung und jede Handlung der Eltern gibt dem Kind einen Hinweis auf seinen Wert. Es ist traurig, wie viele Eltern nicht ahnen, was ihre Botschaften für das Kind bedeuten: Oft wissen sie nicht mal, was sie an Botschaft aussenden. Eine Mutter kann den Fäustchen ihres 3-Jährigen einen Strauß entnehmen und sagen: »Wo hast du den gepflückt?«, während in ihrer Stimme mitschwingt: »Wie lieb von dir, dass du ihn mir bringst; wo wachsen solche schönen Blumen?« Diese Botschaft gibt dem Kind ein Gefühl seines eigenen Wertes … Oder sie sagt: »Wie hübsch«, und fügt hinzu, »hast du ihn etwa in Frau Randalls Garten geholt?« Sie lässt mitschwingen, dass das Kind schlecht ist, weil es stiehlt. Diese Botschaft führt dazu, dass das Kind sich böse und unwert fühlt. Oder sie sagt: »Wie hübsch, wo hast du ihn gepflückt?« Gleichzeitig zeigt ihr Gesichtsausdruck, dass sie glaubt, der Strauß sei gestohlen. In diesem Fall wird das Kind einen schlecht gefüllten Pott empfinden, aber die Mutter merkt nicht, dass sie dies verursacht hat.

Was für ein Selbstwertgefühl kann in Ihrer Familie aufgebaut werden? Versuchen Sie mit folgendem kleinen Experiment eine Antwort auf diese Frage zu finden.

Wenn Sie sich heute Abend alle zum Abendessen zusammenfinden, versuchen Sie herauszubekommen, was mit Ihrem Pott passiert, jedesmal wenn irgendjemand etwas zu Ihnen sagt. Es gibt sicher manche Bemerkungen, die gar nichts mit dem Pott zu tun haben. Aber vielleicht werden Sie überrascht sein, dass sogar ein Satz wie »Gib mir mal bitte die Kartoffeln« Sie entweder sich gut und geschätzt fühlen lassen kann oder aber getadelt; es hängt ab vom Klang der Stimme, vom Gesichtsausdruck und vom Zeitpunkt, zu dem er gesagt wurde (vielleicht hat es Sie unterbrochen oder war sogar dazu bestimmt, über etwas, das Sie gerade sagten, hinwegzugehen).

Wenn das Abendessen halb vorüber ist, ändern Sie das Experiment. Achten Sie jetzt darauf, was Sie zu den anderen sagen. Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Bemerkungen so sind, dass der andere sich dabei gut fühlen kann? Zeigen sein Gesichtsausdruck oder seine Antwort an, dass es so ist? Wenn nicht, geben Ihr Gesicht, Ihr Ton und Ihre Bewegungen vielleicht ein Signal, das Ihnen gar nicht bewusst ist? Versuchen Sie dabei spontan zu sein und reden Sie so, wie Sie auch ohne dieses Experiment reden würden, auch wenn das nicht leicht ist. Wahrscheinlich werden Sie dadurch, dass Sie plötzlich so aufpassen, zu allen so sprechen, dass Sie Selbstwert aufbauen. Aber dann ist das für sich schon ein gutes Resultat des Experiments.

Am nächsten Abend können Sie dieses neue Spiel den anderen Familienmitgliedern weitersagen. Lassen Sie sie dieses Kapitel vor dem Essen lesen, wenn sie alt genug sind. Dann experimentieren Sie alle gleichzeitig und tauschen sich später darüber aus.

Gefühle von positivem Selbstwert können nur in einer Atmosphäre gedeihen, in welcher individuelle Verschiedenheiten geschätzt sind, in welcher Fehler toleriert werden, wo man offen miteinander spricht und wo es bewegliche Regeln gibt – kurz in einer Atmosphäre, die eine »nährende«, wachstumsfördernde Familie ausmacht. Nicht zufällig fühlen sich Kinder aus solchen Familien im Allgemeinen gut. Kinder aus Familien mit vielen Problemen dagegen fühlen sich oft weniger wert. Sie sind aufgewachsen mit verschleierter Kommunikation, mit starren Regeln, harter Kritik an den verschiedenen Eigenheiten und mit viel Strafen.

Die gleichen Unterschiede findet man auch zwischen Erwachsenen aus fördernden und aus schwierigen Familien. Allerdings glaube ich, dass die Familien nicht in erster Linie den Pott der Erwachsenen bestimmen (zum Teil sicher auch), sondern dass eher Erwachsene mit vollem Pott fördernde Familien bilden und Erwachsene mit niedrig gefülltem Pott schwierige Familien.

Nachdem ich viele Jahre mit Familien gearbeitet hatte, merkte ich, dass mir nicht mehr danach zumute war, Eltern zu beschuldigen, auch wenn sie noch so dumm oder zerstörerisch in ihrem Verhalten waren. Ich suche dagegen jetzt Möglichkeiten, ihr Selbstwertgefühl zu erhöhen. Damit ist ein guter erster Schritt getan in Richtung auf Besserung für die ganze Familie.

Glücklicherweise kann man jedem – ganz gleich wie alt er ist – dazu verhelfen, den Pott zu füllen. Da das Gefühl des Wert- oder Nichtwertseins erlernt ist, kann es auch verlernt und neu gelernt werden. Und diese Möglichkeit besteht von der Geburt bis zum Tod, sodass es nie zu spät ist. Ein Mensch kann an jedem Punkt in seinem Leben beginnen, sich besser zu fühlen.

Folgendes ist für mich die wichtigste Aussage in diesem ganzen Buch:

Es ist immer Hoffnung da, dass dein Leben anders werden kann, denn du kannst jederzeit neue Erfahrungen machen und so Neues lernen.

Menschen können reifen und ihr Leben ganz verändern. Es wird mit zunehmendem Alter etwas schwerer und dauert ein wenig länger. Doch zu wissen, dass Veränderung möglich ist, und der Wunsch, Veränderungen vorzunehmen – dies sind zwei große erste Schritte. Wir sind möglicherweise langsame Lerner, aber wir sind alle lernfähig.

Ich möchte dieses Kapitel mit einem Stückchen Prosa abschließen, welches meine Gedanken und Gefühle in Bezug auf den Selbstwert wiedergibt:

MEINBEKENNTNISZURSELBSTACHTUNG

Ich bin ich selbst.

Es gibt auf der ganzen Welt keinen, der mir vollkommen gleicht. Es gibt Menschen, die in manchem sind wie ich, aber niemand ist in allem wie ich. Deshalb ist alles, was von mir kommt, original mein; ich habe es gewählt. Alles, was Teil meines Selbst ist, gehört mir – mein Körper und alles, was er tut, mein Geist und meine Seele mit allen dazugehörigen Gedanken und Ideen, meine Augen und alle Bilder, die sie aufnehmen, meine Gefühle, gleich welcher Art: Ärger, Freude, Frustration, Liebe, Enttäuschung, Erregung; mein Mund und alle Worte, die aus ihm kommen, höflich, liebevoll oder barsch, richtig oder falsch; meine Stimme, laut oder sanft; und alles, was ich tue in Beziehung zu anderen und zu mir selbst. Mir gehören meine Fantasien, meine Träume, meine Hoffnungen und meine Ängste. Mir gehören alle meine Siege und Erfolge, all mein Versagen und meine Fehler.

Weil alles, was zu mir gehört, mein Besitz ist, kann ich mit allem zutiefst vertraut werden. Wenn ich das werde, kann ich mich liebhaben und kann mit allem, was zu mir gehört, freundlich umgehen. Und dann kann ich möglich machen, dass alle Teile meiner selbst zu meinem Besten zusammenarbeiten.

Ich weiß, dass es manches an mir gibt, was mich verwirrt, und manches, was mir gar nicht bewusst ist. Aber solange ich liebevoll und freundlich mit mir selbst umgehe, kann ich mutig und voll Hoffnung darangehen, Wege durch die Wirrnis zu finden und Neues an mir selbst zu entdecken …

Wie auch immer ich in einem Augenblick aussehe und mich anhöre, was ich sage und tue, das bin ich. Es ist authentisch und zeigt, wo ich in diesem einen Augenblick stehe.

Wenn ich später überdenke, wie ich aussah und mich anhörte, was ich sagte und tat und wie ich gedacht und gefühlt habe, werde ich vielleicht bei manchem feststellen, dass es nicht ganz gepasst hat. Ich kann dann das aufgeben, was nicht passend ist, und behalten, was sich als passend erwiesen hat, und ich erfinde etwas Neues für das, was ich aufgegeben habe.