Semantik für Lehrkräfte - Christian Efing - E-Book

Semantik für Lehrkräfte E-Book

Christian Efing

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Beschreibung

Semantik stellt ein zentrales Teilfach der allgemeinen und der germanistischen Sprachwissenschaft dar und ist gleichzeitig ein wichtiges Feld der Sprachdidaktik – sowohl im Hinblick auf Lernende der Erst- als auch auf Lernende der Fremd- oder Zweitsprache. Die schulische Relevanz betrifft verschiedene Bereiche des Deutschunterrichts, besonders wichtig ist die Semantik aber für die Wortschatzarbeit an allen Schulformen und in allen Klassenstufen. Diese findet in der Einführung daher besondere Berücksichtigung. Der Band hat das Ziel, angehende oder bereits berufstätige Lehrerinnen und Lehrer in die linguistische Semantik einzuführen und sie unter einer didaktischen Perspektive mit zentralen Theorien, Modellen, Methoden und Ergebnissen vertraut zu machen. Dabei wird vor allem die migrationsbedingte Heterogenität unter Schülerinnen und Schülern in Deutschland mit berücksichtigt.

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Christian Efing / Thorsten Roelcke

Semantik für Lehrkräfte

Linguistische Grundlagen und didaktische Impulse

Prof. Dr. Christian Efing lehrt germanistische Linguistik und Sprachdidaktik an der RWTH Aachen.

 

Prof. Dr. Thorsten Roelcke lehrt Deutsch als Fremd- und Fachsprache am Institut für Sprache und Kommunikation der Technischen Universität Berlin.

 

 

 

© 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.narr.de

eMail: [email protected]

 

ISBN 978-3-8233-8379-6 (Print)

ISBN 978-3-8233-0272-8 (ePub)

Inhalt

Einleitung1 Semantik – Systematischer Aufriss1.1 Linguistische Verortung1.1.1 Semantik, Syntax und Pragmatik1.1.2 Lexikologie und Lexikographie1.2 Didaktische Relevanz1.2.1 Semantik, sprachliche Kompetenzen und Wortschatz(arbeit)1.2.2 Semantik und Wortschatzarbeit in der Schule1.2.3 Empirische Untersuchungen und nachgewiesene Förderbedarfe1.2.4 Zusammenhänge von Wortschatzfähigkeiten und anderen sprachlichen Teilfertigkeiten1.2.5 Fazit und Konsequenzen2 Linguistische Grundlagen2.1 Theorien und Modelle2.1.1 Bedeutung als eigenständige Einheit2.1.2 Bedeutung als Gebrauch von Zeichen2.1.3 Weitere semantische Grundbegriffe2.2 Beschreibung von Bedeutungen2.2.1 Definitionen2.2.2 Wortfelder und Merkmalsemantik2.2.3 Prototypen- und Stereotypensemantik2.2.4 Frame- und Skriptsemantik2.3 Bedeutung und Grammatik2.4 Bedeutungsrelationen2.4.1 Mehrdeutigkeit und Gleichnamigkeit2.4.2 Bedeutungsüber- und -unterordnung2.4.3 Bedeutungsgegenordnung2.5 Bedeutungsvariation2.5.1 Bedeutungswandel2.5.2 Fachbedeutungen2.5.3 Jugendsprache2.5.4 Geheimsprachen2.6 Komposition von Bedeutung2.6.1 Form- und Wortbildung2.6.2 Phrasen und Sätze2.6.3 Verbale und nonverbale Texte2.6.4 Bedeutungskomposition und Idiomatizität2.7 Uneigentlicher Wortgebrauch2.7.1 (Primäre) Tropen2.7.2 Weitere (sekundäre) Tropen2.8 Bedeutung im sprachlich-kulturellen Vergleich3 Erwerb und Vermittlung3.1 Wortschatzkompetenz und mentales Lexikon3.2 Wortschatz- und Bedeutungserwerb3.2.1 Alter, Wortschatzumfang und Wortschatztiefe3.2.2 Wortschatz- und Bedeutungserwerb in der Zweitsprache3.3 Didaktische Ziele3.4 Wortschatzarbeit in Curricula3.4.1 Nationale Curricula: KMK-Bildungsstandards und länderspezifische Lehrpläne3.4.2 Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen3.5 Gegenstände der Wortschatzarbeit3.6 Ansätze und Methoden der Wortschatzarbeit3.6.1 Explizite vs. implizite Wortschatzarbeit3.6.2 Textorientierte Wortschatzarbeit3.6.3 Semantikorientierte Wortschatzarbeit3.6.4 Kritische Wortschatzarbeit3.6.5 Weitere Ansätze und Methoden der Wortschatzarbeit3.6.6 Methodische Ansätze der kultursensiblen Wortschatzarbeit für Schülerinnen und Schüler mit DaZ3.6.7 Analysekriterien für Lehrmaterial zur semantikorientierten WortschatzarbeitLösungshinweiseLiteratur

Einleitung

Semantik oder Bedeutungslehre stellt einen ganz zentralen Teil der linguistischen Forschung dar und hat im Laufe der Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende, zahlreiche verschiedene Theorien, Modelle und Methoden entwickelt. Die Frage nach der Bedeutung sprachlicher Zeichen oder etwas moderner: die Frage, wie diese mit Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit verwendet werden, ist jedoch nicht alleine von wissenschaftlichem Interesse, sondern auch und gerade von zentraler Bedeutung für die Kommunikation im Alltag, im Beruf und in der Öffentlichkeit. Daher gehört sie darüber hinaus zu den wesentlichen Bereichen der Sprachdidaktik im Allgemeinen sowie der Didaktik des Deutschen als Erst-, Zweit- und Fremdsprache im Besonderen.

Dieser Band der Reihe „narr Studienbücher“ verfolgt daher das Ziel, angehende oder bereits berufstätige Lehrkräfte in die linguistische Semantik einzuführen und sie unter einer didaktischen Perspektive mit zentralen Theorien, Modellen, Methoden und Ergebnissen vertraut zu machen. Aus der Überzeugung heraus, dass jede sprachliche Didaktik einer linguistischen Fundierung bedarf, werden dabei zunächst die sprachwissenschaftlichen Grundlagen und im Anschluss die sprachdidaktischen Grundsätze der Semantik vorgestellt. Den einzelnen Kapiteln und Abschnitten sind jeweils zahlreiche Übungsaufgaben beigegeben. Diese haben sehr oft vertiefenden oder weiterführenden Charakter: Daher sei deren Bearbeitung allen Leserinnen und Lesern ans Herz gelegt!

Dieses Buch ist das Ergebnis einer sehr erfreulichen gemeinsamen Arbeit. Auch wenn die sprachdidaktischen Teile mehr auf Christian Efing und die sprachwissenschaftlichen Teile mehr auf Thorsten Roelcke zurückgehen, zeichnen beide Autoren daher gemeinsam verantwortlich und danken allen, die sie mit Rat und Tat bei dessen Entstehung unterstützt haben.

 

Aachen & Berlin, im Winter 2020    Christian Efing & Thorsten Roelcke

1Semantik – Systematischer Aufriss

1.1Linguistische Verortung

Das sprachwissenschaftliche Fachwort bzw. der linguistische Terminus Semantik leitet sich aus altgriechisch σημαίνειν, sēmaínein ‚bezeichnen‘ ab und bezieht sich auf die Lehre von der Bedeutung sprachlicher Zeichen – sei es nun die Bedeutung einzelner Wörter oder auch diejenige von Sätzen oder ganzen Texten. Im Folgenden soll die Disziplin Semantik linguistisch und didaktisch verortet werden.

Im Rahmen der linguistischen Verortung wird die Semantik zunächst von anderen zentralen Disziplinen der Sprachwissenschaft abgegrenzt. Im Anschluss daran wird geklärt, auf welchen Ebenen der Beschreibung von Sprache Semantik eine Rolle spielt, um abschließend einige Hinweise auf das Verhältnis zwischen Lexikologie (Wortforschung) und Lexikographie (Wörterbuchschreibung) zu geben.

1.1.1Semantik, Syntax und Pragmatik

Zeichen und insbesondere sprachliche Zeichen können in ganz verschiedener Hinsicht beschrieben werden. Zu den bekanntesten Gliederungen solcher Dimensionen der Semiotik (Lehre sprachlicher und nichtsprachlicher Zeichen – aus altgriechisch σημεῖον sēmeĩon ‚Zeichen‘; vgl. Eco 92002; Nöth 22000; 2017; Posner/Robering/Sebeok 1996ff.) im Allgemeinen und der Linguistik (Lehre sprachlicher Zeichen – aus lateinisch lingua ‚Sprache, Zunge‘; vgl. Auer 2013; Kessel/Reimann 52017) im Besonderen gehört diejenige des amerikanischen Semiotikers Charles William Morris (1901–1979).

Morris bezeichnet den Vorgang, in welchem etwas als ein Zeichen fungiert, als Semiose. Im Zentrum seines semiotischen Modells (vgl. Abb. 111a) steht dabei der Zeichenträger, der wiederum in drei Dimensionen erscheint (die im Folgenden jeweils am Beispiel des Wortzeichens Köter kurz erläutert werden):

die syntaktische Dimension im Hinblick auf andere Zeichenträger, mit denen dieser gemeinsam verwendet wird – etwa im Rahmen eines Satzes wie Dieser Köter ist bissig, in dem Köter zusammen mit anderen Wörtern verwendet wird;

die pragmatische Dimension hinsichtlich der Personen, die den Zeichenträger verwenden (Interpretant, Interpret) – zum Beispiel in bestimmten Verwendungssituationen, wenn sich die Personen mit Köter abfällig über einen bestimmten Hund äußern möchten; und

die semantische Dimension in Bezug auf die Wirklichkeit, auf die sich der Zeichenträger bezieht (Designat, Denotat) – in diesem Falle die sachliche und die wertende Bedeutung des Wortes Köter, die ‚Hund‘ und eine negative Einstellung in sich vereinigt.

Jeder dieser drei Dimensionen werden nun eigene semiotische Unterdisziplinen zugeordnet: So beschäftigt sich die Syntax (bei Morris: Syntaktik) mit der syntaktischen Dimension, also mit der Kombination einzelner Zeichen, während sich die Pragmatik mit der pragmatischen Dimension, das heißt mit der Art und Weise, wie Zeichen von ihren Verwendern gebraucht werden, auseinandersetzt. Die Semantik ist hiernach diejenige Disziplin, welche die semantische Dimension in Augenschein nimmt, sich also mit der Beziehung zwischen den Zeichen einerseits und der Wirklichkeit, auf die sich diese beziehen, andererseits beschäftigt.

Abb. 111a:

Zeichenmodell nach Morris (engl. 1939: 417; dt.: 1972: 94)

An dieser Dreiteilung in Semantik, Syntax und Pragmatik wird innerhalb von Semiotik und Linguistik bis heute festgehalten (zu einer theoretisch orientierten Übersicht vgl. etwa Hagemann/Staffeldt 2014; Staffeldt/Hagemann 2014; 2017), auch wenn deren innere Systematik wiederholt infrage gestellt wurde. So gibt es semiotische bzw. linguistische Ansätze, die syntaktische Erscheinungen allein in Abhängigkeit von semantischen oder funktionalen Gesichtspunkten diskutieren, oder auch solche, die semantische Phänomene ausschließlich aus pragmatischer Perspektive betrachten und somit die Grenzen zwischen den einzelnen Dimensionen und ihren Disziplinen aufbrechen. Als Ausgangspunkt für solche Überlegungen sowie zur systematischen Einordnung dessen, worum es in dem vorliegenden Bändchen geht, erscheint Morris’ Modell indessen nach wie vor als eine gute Basis.

1.1.2Lexikologie und Lexikographie

Die sprachwissenschaftliche Untersuchung von Bedeutungen wird in der Öffentlichkeit nur allzu oft mit der semantischen Beschreibung von Wörtern in Wörterbüchern oder Lexika gleichgesetzt. Hier gilt es zu differenzieren: Zum einen stellen Wörter nicht die einzigen sprachlichen Einheiten dar, die Bedeutungen tragen. Zum anderen sind Wörterbücher nicht das zentrale Medium der Beschreibung von Bedeutungen – einmal ganz abgesehen davon, dass es neben Bedeutungswörterbüchern auch andere Typen von Wörterbüchern gibt.

In einem vorwissenschaftlichen Verständnis stellen Wörter die kleinsten sprachlichen Zeichen dar, aus denen sich einzelne Sätze und aus diesen wiederum ganze Texte zusammensetzen. Diese Auffassung wird (mit der Differenzierung, dass Wörter die kleinsten selbständigen sprachlichen Zeichen darstellen) von der Sprachwissenschaft geteilt; hinzu kommen hier die Bereiche Laut und Schrift sowie Morphologie mit Wort- und Formbildung (vgl. Abb. 112a). Vor diesem Hintergrund sind nun mindestens drei Ebenen der semantischen Beschreibung von Sprache zu unterscheiden:

die Ebene der Wortsemantik (die sog. lexikalische Semantik)

die Ebene der Satzsemantik

die Ebene der Textsemantik

Abb. 112a:

Sprachliche Variation nach sprachlichen Beschreibungsebenen und kommunikativen Bedingungen (Roelcke 2011: 17)

In diesem Band wird ein besonderer Schwerpunkt auf Wortsemantik gelegt; Satz- und Textsemantik finden in einem eigenen Kapitel Berücksichtigung (vgl. Kap. 2.6).

Der vorliegende Band behandelt im Wesentlichen die Semantik am Beispiel der deutschen Sprache. Doch welche Sprache ist damit genau gemeint? Denn so etwas wie die deutsche Sprache gibt es nicht: Zum einen unterliegt das Deutsche seit seiner Entstehung vor etwa zwölfhundert Jahren zahlreichen historischen Veränderungen und befindet sich auch derzeit im ständigen Wandel. Zum anderen zeigt auch die deutsche Sprache der Gegenwart zahlreiche Varianten – sei es mit regionalen Besonderheiten in verschiedenen Dialekten wie dem Bairischen, Sächsischen oder Moselfränkischen, oder sei es in funktionaler bzw. in sozialer Hinsicht mit der Sprache in Wissenschaft, Technik und Institutionen oder der Presse-, der Jugend- und der sog. Kiezsprache; hinzu kommen hier verschiedene mediale Ausprägungen wie gesprochene und geschriebene Sprache einschließlich deren Gebrauch in den sog. neuen, elektronischen Medien. Sofern nicht anders angegeben wird hier die deutsche Standardsprache der Gegenwart zum Ausgangspunkt semantischer Betrachtungen gemacht; die Variation von Bedeutung ist jedoch ebenfalls Gegenstand eines eigenen Kapitels (vgl. Kap. 2.5).

Die wissenschaftliche Analyse und Interpretation von Wörtern ist Gegenstand der Lexikologie; die Aufgabe der Lexikographie ist das Erstellen von Wörterverzeichnissen, in denen einzelne Wörter (unter welchen Gesichtspunkten auch immer) beschrieben werden (vgl. Cruse et al. 2002–2005; Elsen 2013; Lutzeier 1995; Schlaefer 22009). Dabei sind je nach Auswahl der Wörter und Art der Angaben, die über diese Wörter jeweils gemacht werden, zahlreiche verschiedene Typen von Wörterbüchern denkbar (vgl. Abb. 112b): Zahl der Sprachen, Wortschatzausschnitt (Art der Wortschatzabgrenzung), Beschreibungsaspekt (beschriebene Zeichenebene oder Zeichenbeziehung), Gruppe der Benutzenden (bzw. vorrangiges Benutzungsziel), Analysebasis (Bezugswissenschaft oder Beschreibungsverfahren) und institutionelle Verankerung (Träger des Wörterbuchprojekts). Von solchen Wörterbüchern, die auf sprachliche Phänomene bezogen sind, werden in der Wörterbuchforschung, der sog. Metalexikographie (Hausmann et al. 1989ff.), Lexika und Enzyklopädien unterschieden: Diese enthalten im Wesentlichen Informationen, die sich auf Personen, Sachen oder Ereignisse beziehen.

Leitmerkmal

Wörterbuchtypus

Anzahl der Sprachen

Einsprachiges, mehrsprachiges Wörterbuch, Polyglottenwörterbuch

Art der Wortschatzabgrenzung

Gegenwartssprachliches, neuhochdeutsches, mittelhochdeutsches, althochdeutsches Wörterbuch; Mundartwörterbuch, umgangssprachliches, standardsprachliches, fachsprachliches Wörterbuch; Individualwörterbuch, Grundwortschatz-Wörterbuch, Fremdwörterbuch, Thesauruswörterbuch, Sprachstadienwörterbuch

Beschriebene Zeichenebene

Orthographisches, orthoepisches, morphologisches, phraseologisches Wörterbuch, Bedeutungswörterbuch, Valenzwörterbuch

Beschriebene Zeichenbeziehung

Begriffswörterbuch, Synonymenwörterbuch, Antonymenwörterbuch, Kollokationswörterbuch, Wortfamilienwörterbuch, Homographenwörterbuch

Vorrangiges Benutzungsziel, Zielgruppe

Übersetzungswörterbuch, Produktionswörterbuch, Hand-, Taschenwörterbuch, Lernerwörterbuch, Schülerwörterbuch, Expertenwörterbuch, Laienwörterbuch

Methodische Grundlage, Bezugswissenschaft

Semasiologisches, onomasiologisches, synchronisches, diachronisches, etymologisches Wörterbuch

Lexikographische Grundlagen und Beschreibungsverfahren

Korpuswörterbuch, Belegwörterbuch, Definitionswörterbuch, Allgemeinwörterbuch, Spezialwörterbuch

Träger des Wörterbuchprojekts

Verlagswörterbuch, Akademienwörterbuch

Abb. 112b:

Wörterbuchtypen (nach Schlaefer 22009: 108)

Da in diesem Band die lexikalische Semantik im Vordergrund steht, wird neben deren lexikologischer Betrachtung örtlich auch deren lexikographische Erfassung berücksichtigt.

Übung 112a

Welcher Wörterbuchtyp kommt dem lexikologischen Schwerpunkt des vorliegenden Bändchens am nächsten? Suchen Sie nach Beispielen.

Literatur

Auer 2013; Cruse et al. 2002–2005; Eco 92002; Elsen 2013; Haß-Zumkehr 2001; Hausmann et al. 1989ff.; Kessel/Reimann 52017; Lutzeier 1995; Nöth 22000, 2017; Schlaefer 22009.

Allgemeine Lehr- und Studienbücher zur Semantik: Busse 2009; Cruse 1986; Hurford/Heasley/Smith 22007; Löbner 22015; Maienborn/von Heusinger/Portner 2011f.; Pafel/Reich 2016; Schwarz/Chur 62014; Staffeldt/Hagemann 2017; Stechow/Wunderlich 2008; Zimmermann 2014.

1.2Didaktische Relevanz

1.2.1Semantik, sprachliche Kompetenzen und Wortschatz(arbeit)

Sprachliche Kompetenz beruht nicht nur auf dem Umfang des Wortschatzes, den eine Person oder ein Schüler oder eine Schülerin beherrscht, sondern auch auf der so genannten Wortschatztiefe, d.h. auf der Einsicht von Sprecherinnen und Sprechern, verschiedene Bedeutungen eines Wortes zu kennen und differenzieren zu können – oder Bezüge zwischen den Bedeutungen verschiedener Wörter zu kennen und gezielt einzusetzen, zum Beispiel zwischen Synonymen oder Ober- und Unterbegriffen (Hypo- und Hyperonymen) zu wechseln. Wortschatzerwerb ist weit mehr als nur das Lernen neuer Wörter, es ist der Erwerb einer zunehmenden Einsicht in die (zum Teil metaphorische) Bedeutungsbreite bereits bekannter Wörter. Nur solch ein Wissen um die semantische Tiefenstruktur der eigenen Sprache, um die Vernetzung der Wörter und ihrer Bedeutungen, ermöglicht es einem Schreiber/einer Schreiberin etwa, variantenreiche, stilistisch ansprechende Texte zu verfassen – oder einem Leser/einer Leserin, eine bestimmte Lesart eines Wortes im Zusammenhang zu erkennen. Insbesondere bei Schülern und Schülerinnen, für die Deutsch die Zweitsprache ist, kommt es nicht selten vor, dass sie zwar ein bestimmtes Wort kennen, hiervon aber nur die prototypische Bedeutung. Mit Schule wird so das ‚Schulgebäude‘ oder eine ‚Lehrinstitution‘ verbunden, aber die biologische Verwendung im Kompositum Baumschule oder bei der Bezeichnung für einen ‚Fischschwarm‘ wird nicht verstanden. Und auch bei den grammatischen Funktionswörtern ist eine Kenntnis der Bedeutungsbreite von Wörtern elementar, um bildungs- und fachsprachliche Texte zu verstehen. Zu wissen, dass etwa die Konjunktion während nicht nur eine temporale (zeitliche), sondern auch eine adversative (entgegenstellende) Bedeutung hat, ist Voraussetzung für das korrekte Verstehen von Sätzen wie: Während Annika Vegetarierin ist, isst Nicolas sehr gerne Fleisch. Sowohl für die Sprachrezeption, das präzise Lese- und Hörverstehen, wie für die Sprachproduktion, die stilistische Ausdrucksfähigkeit, ist ein profundes Semantikwissen auf lexikalischer Ebene also unerlässlich. Hierzu zählt insbesondere auch ein generelles Verständnis für die Prozesse der metaphorischen Bedeutungserweiterung, das es ermöglicht, neue Bedeutungsnuancen und unbekannte Anwendungsbereiche und Verwendungen eines Wortes nachvollziehen und sich kontextuelle Bedeutungen selber erschließen zu können. Zweitsprachlerinnen und -sprachler stehen darüber hinaus vor der Herausforderung, die wertenden Nebenbedeutungen eines Wortes (Konnotationen), die Erstsprachler im Laufe der Sprachsozialisation leichter oder früher erwerben, zu erkennen – also zum Beispiel, dass Köter kein neutraler, sondern ein abfälliger Ausdruck für ‚Hund‘ ist (vgl. Kapitel 2.1.3).

1.2.2Semantik und Wortschatzarbeit in der Schule

Das Thema „Semantik“ taucht unter diesem Begriff in der Schule bzw. in Curricula wie den KMK-Bildungsstandards oder länderspezifischen Kernlehrplänen sowie im Deutschunterricht oder in Deutschbüchern kaum auf – und wenn, dann implizit und immer verengt auf lexikalische Semantik. Jedoch darf man dieses Fehlen des Begriffs nicht als mangelnde Relevanz des Themas für Schülerinnen und Schüler und für das sprachliche Lernen und die sprachliche Bildung begreifen. Die Semantik als Thema ist didaktisch und schulisch relevant und betrifft verschiedenste Bereiche des schulischen Deutschunterrichts. Insbesondere sind semantische Themen im Rahmen von Wortschatzarbeit zu finden. Diese jedoch ist ebenfalls in den Curricula (vgl. auch Kap. 3.4) – und bis vor gut zehn Jahren auch in der deutschdidaktischen Diskussion – wenig präsent und findet schulisch, wenn überhaupt, dann fast nur in der Primarstufe (Grundwortschatz, Wortfelder) statt (Steinhoff 2013: 12). Diese Beschränkung auf die Grundschule ist insofern problematisch, als mit dem Übergang zur weiterführenden Schule im Unterricht ein Übergang zur stärkeren Verwendung von Schriftlichkeit und zum Lernen aus Texten einhergeht, was bedeutet, dass Wortschätze zunehmend schriftlich geprägt und auf bestimmte Texthandlungen bezogen (Feilke 2009: 5), also bildungssprachlicher geprägt sind und neu gelernt werden müssen; dies sollte schulische Wortschatzarbeit unterstützen.

Die Semantik von Wörtern oder Sätzen wie auch die Wortschatzarbeit, die neben der Wortform zentral vor allem die Wortbedeutung(en) thematisiert, liegen dabei quer zu den vier großen curricularen Bereichen des Deutschunterrichts, die je nach Curriculum etwas unterschiedlich heißen, aber grob unter folgenden Titeln zusammenzufassen sind:

Sprechen und Zuhören

Schreiben

Lesen/Umgang mit Texten und Medien

Sprachreflexion/Sprachbewusstheit/Sprache und Sprachgebrauch untersuchen

Die Semantik betreffende sprachliche Phänomene kann und sollte man idealerweise reflexiv im Bereich „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ untersuchen, allerdings liegt auf der Hand, dass Semantik grundsätzlich elementar für alle produktiven und rezeptiven Sprachhandlungen ist: Wer spricht und schreibt, sollte sich ebenso Gedanken über die Semantik der verwendeten Wörter und Sätze machen wie derjenige, der sprachliche Äußerungen zuhörend oder lesend aufnimmt und interpretieren muss. Denn eine durch semantische Reflexion beförderte starke Vernetzung eines Wortes im mentalen Lexikon (Kap. 3.1) erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es auch produktiv beim Schreiben oder Sprechen genutzt werden kann (Mathiebe 2018: 54). Von großer didaktischer Relevanz ist daher die Frage, wie Schule – den außerschulischen Wortschatzerwerb flankierend – den Aufbau des mentalen Lexikons beeinflussen und semantische Verknüpfungen fördern und ggf. umstrukturieren kann. Denn noch gibt es angesichts mangelnder Beschäftigung der Deutschdidaktik mit diesem Thema „keine einheitliche Theorie zur Vermittlung von Wortwissen in der Schule“, und nach einer Umfrage halten 40 % der deutschen Lehrkräften Wortschatzarbeit als eigenen Lernbereich des Deutschunterrichts für eher unwichtig (ebd.: 87f.).

Es gibt verschiedene Gründe dafür, warum die systematische Wortschatz- und damit auch die semantische Arbeit in der Vergangenheit der Deutschdidaktik (jedenfalls mit Blick auf Deutsch als Mutter- bzw. Erstsprache) dennoch sehr wenig thematisiert wurde. Dies mag zum einen an der noch heute aktuellen traditionellen Gliederung der Curricula liegen, in denen Semantik/Wortschatzarbeit als quer liegende Themen und Kompetenzen kaum explizit und damit sichtbar vorkommen. Es liegt zum anderen aber auch daran, dass man lange geglaubt hat, Deutsch-Erstsprachlerinnen und -sprachler, auf die der Deutschunterricht immer noch schwerpunktmäßig ausgerichtet ist, würden Wörter – und die Bedeutung von Wörtern – mehr oder weniger automatisch und beiläufig beim Zuhören und Lesen aufnehmen und erlernen (sog. inzidentelles Lernen). Zudem gebe es ohnehin viel zu viele Wörter (mit Kern- und Nebenbedeutungen), um diese rein vom Umfang her auch nur ansatzweise im schulischen Deutschunterricht vermitteln zu können, weshalb Wortschatzarbeit ohnehin nur extrem exemplarisch möglich sei. Die These vom inzidentellen Wörterlernen bei der Textrezeption, also ohne bewussten Aneignungsprozess, entspricht natürlich der Realität. Jedoch bleibt diese unsystematische Art des rein impliziten Wörterlernens (sog. fast mapping ohne wirkliche Vernetzung der Begriffe), etwa beim flüchtigen Lesen, sehr vorläufig und unvollständig, ist nicht so effektiv wie die explizite Vermittlung, was Metaanalysen zeigen (Mathiebe 2018: 88), und führt zu großen individuellen Unterschieden von bis zu 6000 Wörtern Wortschatzdifferenz zwischen zwei Schulkindern, selbst wenn bei beiden die Wortschatzleistung unauffällig ist (Rothweiler/Meibauer 1999: 18). Wenn solch eine beiläufige Wortschatzerweiterung im Unterricht wirklich gelingen soll, dann müssen Schülerinnen und Schüler daher explizit darin gefördert und dafür sensibilisiert werden, denn:

Die Anreicherung und Erweiterung des impliziten Bedeutungswissens erfolgt eben nicht allein durch Folgebegegnungen mit einem neuen Wort in anderen Kontexten und Verwendungssituationen, sondern auch durch Untersuchung der semantisch-lexikalischen Vernetzung im mentalen Lexikon, also durch den Erwerb expliziten Bedeutungswissens. Wer die semantischen Strukturen, die inhaltliche Ordnung und Vernetzung seines inneren Lexikons durchschaut, sie sich bewusst gemacht hat, ist viel besser in der Lage, neue Lexeme an der passenden Stelle im Netzwerk einzuordnen und dort bei Bedarf schnell und sicher abzurufen (Zugriff auf den Wortschatz). (Ulrich 2011a: 182)

Übung 122a

Untersuchen Sie die KMK-Bildungsstandards des Faches Deutsch und die für Sie relevanten länderspezifischen Kernlehrpläne, insbesondere den Bereich „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“, in Hinblick auf explizites und implizites Vorkommen der Themen „Semantik“ und „Wortschatz(arbeit)“ und stellen Sie die Kontexte und die curricularen Bereiche (Lesen, Schreiben, Sprechen/Zuhören, Sprachgebrauch untersuchen) zusammen, in denen sie erwähnt, sowie die Kompetenzerwartungen, die formuliert werden.

1.2.3Empirische Untersuchungen und nachgewiesene Förderbedarfe

Doch die didaktische Relevanz von semantischen Fragen lässt sich nicht an ihrer (fehlenden) expliziten Präsenz in Curricula oder einschlägigen Handbüchern zur Sprachdidaktik ablesen. Dass sich die Deutschdidaktik seit einigen Jahren endlich vermehrt mit (semantischen Aspekten) der Wortschatzarbeit auseinandersetzt, hat viel zu tun

mit empirischen Ergebnissen zu Wortschatzwissen und semantischen Leistungen bzw. zu „erschreckenden“ Wortschatzdefiziten (Merten/Kuhs 2012b: 7) von Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Erst- und Zweitsprache im Bereich des Grund- wie des bildungssprachlichen Wortschatzes;

mit neueren Erkenntnissen zur Relevanz des Wortschatzes erstens für Lernprozesse und das Lernen generell („Schlüsselfunktion [des Wortschatzes] für sämtliche Lernprozesse“, McElvany et al. 2016: 53, vgl. auch Ekinci-Kocks 2013: 1) sowie zweitens für speziell sprachlich das Lesen und Schreiben und auch seinen Zusammenhang mit der Grammatik (Siepmann 2007).

Während es hier für englischsprachige Schülerinnen und Schüler zahlreiche Untersuchungen gibt, fehlt es jedoch nach wie vor an Grundlagenforschung, d.h. an umfangreicheren empirischen Studien oder gar large scale assessments, zu deutschsprachigen Schülerinnen und Schülern und ihrem Wortschatzwissen und -können; insbesondere oberhalb der Primarstufe, für ältere Schülerinnen und Schüler, gibt es kaum Untersuchungen zur Differenzierung und zum Reichtum des Wortschatzes (Mathiebe 2018: 75). Daher wird bis heute auf die so genannte DESI-Studie (Deutsch Englisch Schülerleistungen International; Klieme/Beck 2007; DESI-Konsortium 2008) und ihr Modul „Wortschatz Deutsch“ und damit Daten von über 10000 Neuntklässlern aus den Jahren 2003/04 verwiesen (vgl. etwa Kilian 2010; Balsliemke/Peschel/Runschke 2015; Mathiebe 2018), um den Bedarf deutschsprachiger Schülerinnen und Schüler an Wortschatzförderung aufzuzeigen. Dabei wird die Operationalisierung von (semantischem) Wortschatzwissen in der DESI-Studie durchaus kritisch gesehen, da die Testaufgaben nicht tiefgehend genug seien, um den Handlungscharakter des Wortwissens in ausreichendem Maße abzubilden (vgl. hierzu wie zur Zusammenfassung der DESI-Ergebnisse zum Wortschatz Mathiebe 2018: 75ff.). Für die Wortschatz-Testung in DESI wurden zwei Varianten der Wortverwendung in drei Aufgabentypen benutzt: in Variante 1 mussten die Zielitems frei produziert werden, indem vorgegebene Wortfelder auszufüllen waren (Typ 1), darüber hinaus waren bildlich dargestellte Begriffe zu benennen (Typ 2). Beide Aufgabentypen überprüfen den Umfang des produktiven Wortschatzes der Schülerinnen und Schüler. Bei Aufgabentyp 3 sollten Schülerinnen und Schüler Vorgaben in Text- und Satzzusammenhängen rezeptiv in Bezug auf bestimmte Nuancierungen überprüfen; hierdurch wurde das Wortverständnis und die Qualität der lexikalischen Einträge im mentalen Lexikon der Schülerinnen und Schüler getestet. Bei der Auswertung setzte DESI drei verschiedene Kompetenzniveaus an:

hochfrequente Wörter, die zu den ersten 2000 registrierten Wörtern im Langenscheidt-Grundwortschatz gehören (z.B. Ofen, meinen)

frequente Konkreta und Abstrakta, die nicht mehr zum Grundwortschatz zählen (Standuhr, defensiv)

seltenere Fach- oder Fremdwörter sowie Redensarten (Stellwerk, trojanisches Pferd).

Die Auswertung ergab, dass fast 40 % der Schülerinnen und Schüler in ihren Wortschatzfähigkeiten noch unter Niveau A lagen, wobei starke Schulformunterschiede festgestellt werden: Während an der Hauptschule 71,4 % das Niveau verfehlten, waren dies am Gymnasium lediglich 7,6 % der Schülerinnen und Schüler. Insgesamt erreichten knapp 30 % das Niveau A, 14,5 % das Niveau B und 17,9 % das Niveau C (aber immerhin 44,2 % der Schülerinnen und Schüler am Gymnasium das Niveau C). Neben der Schulform kann die Familiensprache als deutlicher Hinweis auf die Wortschatzleistung gelten, denn monolingual Deutsch sprechende Schülerinnen und Schüler erzielten in allen Schularten bessere Leistungen als diejenigen, die im Elternhaus neben Deutsch eine weitere Sprache oder gar kein Deutsch sprechen. Gleichzeitig war aber zu beobachten, dass mehrsprachige Schülerinnen und Schüler am Gymnasium durchschnittlich besser abschnitten als monolingual Deutsch sprechende Schülerinnen und Schüler in den anderen Bildungsgängen. Insgesamt schnitten die Schülerinnen und Schüler im Vergleich zu den anderen Deutschmodulen im Bereich Wortschatz am schlechtesten ab, was als deutliches Indiz für den Bedarf an Semantik- und Wortschatzarbeit im Deutschunterricht gewertet werden muss – und zwar umso mehr, als die Wortschatzleistungen in DESI mit den anderen Deutschmodulen, also den weiteren sprachlichen Teilfertigkeiten (außer Schreiben!), korrelieren. Semantisches Wissen und angemessenes Können in diesem Bereich spielen demnach eine zentrale Rolle für sprachliche Bildung und Fähigkeiten ganz generell.

Nachdem der Schülerwortschatz über lange Jahre weder in der fachdidaktischen Forschung und Theorie noch in der Unterrichtspraxis prominent thematisiert wurde, mehren sich angesichts solch alarmierender Ergebnisse in den letzten Jahren die Stimmen in verschiedensten Disziplinen (etwa Psychologie, Pädagogik, Psycholinguistik, Sprachdidaktik), die fordern, dass Wortschatzarbeit ein größeres Gewicht in der fachdidaktischen Diskussion und im Unterricht zukommen muss. Es sei die genuine Aufgabe der Schule,

Bedeutungen und Konzepte, die die Wörter bezeichnen, zu vermitteln und zu erklären;

unbekannte Bedeutungen unbekannter Wörter zu vermitteln;

zu ermöglichen, ungewöhnliche Verwendungsweisen vertrauter Wörter kennenzulernen und damit Möglichkeiten zu schaffen, Mehrdeutigkeiten von Wörtern wahrzunehmen und die Rolle des Kontexts bei der Desambiguierung zu erkennen und den Kontext dementsprechend zu nutzen (Ulrich 2011a: 180f. mit Verweis auf den Pädagogen und Psycholinguisten John B. Carrol);

die Beziehungen der zu einem Netzwerk verknüpften Wörter und Wendungen zu erhellen und bewusst zu machen;

im Rahmen der präzisen Bedeutungsbestimmung Bedeutungsabgrenzungen zu ermöglichen und dadurch

für Ausdrucksangemessenheit und Ausdrucksnuancen zu sensibilisieren, indem etwa beim Lesen und Zuhören die Aufmerksamkeit über die Inhalte hinaus auch auf die Wortwahl im Text gelenkt werde. (Pohl/Ulrich 2016b: XIII)

Der Ort, an dem diese auf die Semantik ausgerichtete Wortschatzarbeit stattfinden solle, sei vor allem der Bereich der Sprachreflexion (Pohl/Ulrich 2016b: XIII), für den Ulrich fordert: „Weniger satz- und syntaxzentrierten Grammatikunterricht und mehr wortschatzorientierte Sprachreflexion im Deutschunterricht!“ (Ulrich 2011a: 181).

Wie aber bereits angedeutet und u.a. auch in DESI empirisch nachgewiesen, hängen die Wortschatzfähigkeiten eng mit den anderen sprachlichen Teilfertigkeiten und curricularen Bereichen zusammen, da ein quantitativ und qualitativ ausreichender Wortschatz „Voraussetzung für ein differenziertes Leseverständnis, für eine gelingende Gesprächsführung und für einen sach- und situationsangemessenen schriftlichen Ausdruck“ (Pohl/Ulrich 2016b: XIII) und damit Grundlage für schulischen Erfolg (McElvany et al. 2016: 45) wie gesellschaftlich angemessenes und erfolgreiches Handeln ist. Eine angemessene Wortschatzkompetenz wirkt sich auf alle anderen sprachlichen Kompetenzen positiv aus (vgl. Ulrich 2016a).

Übung 123a

Überlegen Sie, warum, in welcher Hinsicht und in welchen Bereichen Wortschatzförderung die Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern in den Bereichen Zuhören, Sprechen, Lesen und Schreiben fördern kann.

1.2.4Zusammenhänge von Wortschatzfähigkeiten und anderen sprachlichen Teilfertigkeiten

„Spracharmut“, so Ulrich (2014: 1), sei vor allem „Wortschatzarmut“, mangelnde Sprachfähigkeiten sind demnach in großen Teilen auf mangelnde Wortschatzkompetenz rückführbar. Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung deuten darüber hinaus darauf hin, dass eine zu geringe Wortschatzkenntnis ursächlich generell für Lernschwierigkeiten in unterschiedlichen Kompetenzbereichen ist (Kilian 2011: 161) – so, wie es spätestens seit der ersten PISA-Studie im Jahre 2000 als nachgewiesen gilt, dass mangelnde Lesefähigkeiten zu Defiziten beim Lernen auch in den Sachfächern führen. Nun wird aber die Lesefähigkeit ihrerseits partiell mitbestimmt durch die Wortschatzkenntnis. Eine „systematische Sprachförderung im Bereich ‚Wortschatz und Semantik‘ im Regelunterricht des Deutschen als Erstsprache“ mit dem Ziel der Förderung einer lexikalisch-semantischen Kompetenz (ebd.) ist also eine unabdingbare Basis für jegliche Sprachförderung. Wortschatzarbeit wirke, so Steinhoff (2013: 12) „per se integrativ“, da der Wortschatz „für das Sprechen, Zuhören, Lesen und Schreiben gleichermaßen relevant und folglich für die Förderung aller sprachlichen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen von großer Bedeutung“ (ebd.) und damit die „Schaltstelle für das Sprachwissen und den Spracherwerb“ und „Bindeglied der verschiedenen Teilgebiete des Deutschunterrichts“ sei (Steinhoff 2009: 3, 24). Kinder und Jugendliche, die über einen umfangreichen Wortschatz verfügen, sind eher dazu in der Lage, die sprachlich-fachlichen Erwartungen der einzelnen Unterrichtsfächer zu erfüllen als Kinder und Jugendliche, die einen schwächeren Wortschatz aufweisen (Steinhoff 2013: 16).

Schon wenn 3 % der Wörter eines Textes nicht verstanden werden, kann das Textverständnis insgesamt blockiert werden (Apeltauer 2008). Der enge Zusammenhang zwischen Wortschatzfähigkeiten und Leseverständnis ist schon länger recht gut untersucht und nachweisbar (Philipp 2012; Bangel 2015; Polz 2016a). Die Rolle des Wortschatzes für das Lesen wird dabei deswegen so hoch angesetzt, weil das Wissen über Wortbedeutungen die Grundlage für das Verstehen von (Sach-)Texten bildet und eine gute Lesefähigkeit assoziiert wird mit einem sicheren, schnellen und kontextunabhängigen Zugriff auf Wortbedeutungen (Ulrich 2014: 1). Philipp/Efing (2018: 200) führen diverse querschnittlich als auch längsschnittlich angelegte Studien aus dem englischsprachigen Raum an, die – insbesondere für das Alter des Übergangs in die Sekundarstufe I – die hohe Bedeutsamkeit des (produktiven wie rezeptiven) Wortschatzes für das Textverstehen nachweisen. Umgekehrt ist jedoch auch das Leseverstehen ein Prädiktor des Wortschatzes, sodass (kompetente) Leser ihren Wortschatz lesend erweitern können, indem sie Lexeme aus Texten aktiv erwerben (ebd.). Interventionsstudien zur Förderung der Leseflüssigkeit weisen nach, dass sich leseschwache Schülerinnen und Schüler durch Wortschatzerweiterung „von der Wortebene lösen, die Lesegeschwindigkeit erhöhen und die Leseanstrengungen minimieren, um sich schließlich hierarchiehöheren Leseprozessen zuzuwenden und ihr Textverstehen deutlich zu verbessern“ (vgl. Steinhoff 2013: 20; vgl. auch Mathiebe 2018: 186). Es lässt sich für den Zusammenhang von Wortschatz- und Lesekompetenz also resümieren: Wer über einen großen produktiven wie rezeptiven Wortschatz verfügt, hat größere Chancen, Texte zu entschlüsseln und diese zu verstehen; auch die Schnelligkeit beim Lesen von Texten erhöht sich, wenn Wörter sicher phonologisch, morphologisch und semantisch im mentalen Lexikon gespeichert sind (Vasylyeva/Kurtz 2015: 239). Umgekehrt gilt: Ist der Wortschatz gering, beeinträchtigt das die kontextfreie Worterkennung, die Lesegeschwindigkeit und das Leseverstehen, da die Rekodierung, also das „Erkennen von Buchstaben-, Wörter- und Phrasenkombinationen und ihre semantische Zuordnung“, mehr Zeit benötigt und nicht automatisiert abläuft (Meireles 2006: 308).

Im Vergleich zum Lesen ist das Schreiben weniger gut untersucht. Eine Studie mit englischsprachigen Schülerinnen und Schülern (Olinghouse/Wilson 2013, zitiert nach Philipp/Efing 2018) ergab, dass die Verwendung von domänenspezifischen Fachwörtern textsortenunabhängig ein Prädiktor für die Qualität von Sachtexten ist. Andere Wortschatzvariablen differierten in ihrer Bedeutung je nach geschriebener Textsorte, aber generell war zu erkennen, dass der – insbesondere bildungssprachliche – Wortschatz im Sekundarschulalter wichtig für die Schreibkompetenz bei expositorischen Texten sowie zentral für die Wahrnehmung und Beurteilung der Textqualität durch die Lehrkräfte ist und deshalb auch gefördert werden sollte (ebd.: 201).

In einer Studie mit deutschen Schülerinnen und Schülern untersuchte Mathiebe (2018) den Zusammenhang von (bildungssprachlichem) Wortschatz und Schreibkompetenz in Schülertexten der Sekundarstufe I. Zentrale Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen (Mathiebe 2018: 184–188, 198, 206):

Je vielfältiger die Lexeme eines Textes, umso höher die Textqualität.

Je höher die Wortschatzleistung, umso höher die Textlänge – und umso adäquater der Einsatz bildungssprachlicher Mittel. Die Ergebnisse aus dem Wortschatztest können sowohl als Prädiktor für die in den Texten gezeigte Bildungssprachlichkeit als auch für die globale Textqualität angesehen werden.

Je mehr angemessene Verben (als Indikator für bildungssprachlichen Wortschatz), umso höher die Textqualität. Generell scheint die adäquate Auswahl an Verben mit den allgemeinen lexikalischen Fähigkeiten zusammenzuhängen.

Wer zügig und sicher liest, verfügt eher über eine höhere lexikalische Vielfalt und verfasst längere Texte.

Je besser die Leistungen im Wortschatztest, umso höher der Anteil an angemessenen Textbausteinen.

Die Anzahl verwendeter bildungssprachlicher Mittel sagt nichts über deren Angemessenheit aus.

Insgesamt gibt es aber wenige Studien und uneindeutige, wenig aussagekräftige Ergebnisse dazu, ob, und wenn ja: welche Art von Wortschatzförderung (eher domänenspezifischer, inhaltsbezogener Grundwortschatz oder bildungssprachlicher Wortschatz?) die Schreibkompetenz verbessern hilft. Die Vermittlung speziell von Verben scheint dabei als eine erfolgversprechende Möglichkeit, bildungssprachlichen Wortschatz und Textqualität gemeinsam zu fördern, wobei im Fokus der Förderung nicht allein die Vermittlung der Verben, sondern deren angemessener Einsatz stehen sollte (Mathiebe 2018: 213f.).

Für den Bereich der Mündlichkeit referiert Steinhoff (2013) weitere empirische Ergebnisse, die die Relevanz der Wortschatzkompetenz belegen. So zeigen Studien die bedeutende Rolle des Wortschatzes im Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören beim mündlichen Argumentieren (ebd.: 19). Untersucht wurden Jugendliche aus achten Klassen aller Schularten. Festgestellt wurden „enge Zusammenhänge zwischen der argumentativen Kompetenz einer/eines Lernenden und der Anzahl der von ihr/ihm geäußerten unterschiedlichen Autosemantika“ (ebd.). Schülerinnen und Schüler, die selbstständig ein großes Spektrum von Autosemantika gebrauchten, brachten eigeninitiativ komplexe Gesprächsbeiträge ein. Dagegen verhielten sich Schülerinnen und Schüler, die Autosemantika verwendeten, die durch die Aufgabenstellung bereits vorgegeben waren, viel passiver und partizipierten oft nur formal an der Konversation; es fiel ihnen schwerer eigeninitiativ Gesprächsbeiträge einzubringen. Dies änderte sich, wenn vor den Gesprächen eine intensive, auf der Lektüre thematisch relevanter Texte beruhende Wortschatzarbeit (Worterklärungen, Vernetzungen, Zusammenfassungen) betrieben wurde, an deren Ende die Erstellung eines Stichwortzettels stand, an dem sich die Schülerinnen und Schüler während des Gesprächs orientieren konnten. Unter diesen Voraussetzungen waren auch wortschatzschwache Schülerinnen und Schüler in der Lage, eigeninitiativ und gehaltvoll zu argumentieren (ebd.).

Und Wortschatzfähigkeiten hängen nicht nur kognitiv nachweisbar mit anderen sprachlichen Teilfertigkeiten zusammen, sondern es wird auch im Bereich der Unterrichtsmethoden ihr Vorhandensein, d.h. „die Existenz lexikalisch-semantischer Strukturen im mentalen Lexikon von Schülerinnen und Schülern[,] in zahlreichen modernen sprachdidaktischen Ansätzen vorausgesetzt“ (Kilian 2011: 156) – zumindest implizit. Beispiele hierfür im Bereich Schreiben sind etwa die Cluster-Bildung zu Beginn eines Schreibprozesses oder jegliche Form des Schreibens, die mit Reiz- oder Schlüsselwort sowie Kontext operiert; im Bereich Lesen wird bei der gängigen Strategie der Voraktivierung vorhandenen Wissens regelmäßig auf lexikalisch-semantische Strukturen zurückgegriffen, die damit für Kilian eine „Schlüsselfunktion […] beim sprachlichen Lernen“ (ebd.) einnehmen.

Übung 124a

Laut Steinhoff (2013: 16) sind Kinder und Jugendliche, die über einen umfangreichen Wortschatz verfügen, eher dazu in der Lage, die sprachlich-fachlichen Erwartungen der einzelnen Unterrichtsfächer zu erfüllen. Überlegen Sie, inwiefern sprachliche Wortschatzkenntnisse und inhaltlich-fachliches Lernen zusammenhängen.

1.2.5Fazit und Konsequenzen

Die kontinuierliche Förderung des Wortschatzes nicht nur quantitativ mit Blick auf den Wortschatzumfang, sondern vor allem auch qualitativ bezüglich des Wissens um die semantische Tiefe von Wörtern mit ihren Beziehungen und Stellungen in Wortnetzen ist eine zentrale, wenn bislang auch vernachlässigte schulische Aufgabe insbesondere des Sprachunterrichts (Ulrich 2013: 33). Der durch semantisch orientierte Wortschatzarbeit erzielte Kompetenzzuwachs betrifft nicht nur das Wortwissen selbst, sondern auch generelle kognitive und Lernfähigkeiten in jedem Fachgebiet: „Die Beherrschung von vielen und richtigen Wörtern und der flexible Umgang mit einem situationsgerechten Wortschatz erscheinen daher als Schaltstelle für eine umfangreiche Wissensaneignung“ (Neumann 2013: 10). Dabei gilt natürlich eine Interdependenz in beide Richtungen, da sich enzyklopädisches Weltwissen und Sprachwissen gegenseitig bedingen: Wer viel weiß, kennt viele Wörter; wer einen großen Wortschatz besitzt, verfügt auch über ein umfangreiches Wissen (Ulrich 2013: 29, Ekinci-Kocks 2013: 22).

Zudem spart Wortschatzarbeit Zeit, denn „wer Wörter in ihrer Funktionalität beherrscht, gewinnt Zeit und kann seine Ressourcen […] für anderes Lernen nutzen“ (Neumann 2013: 9). Damit werden Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses für andere Aufgaben frei.

In einem engeren Sinne der Sprachbildung geht es darum, bei Schülerinnen und Schülern die Sinne für Wörter zu schärfen, für Bedeutungsnuancen zu sensibilisieren und Lexeme zielgenau zu speichern und demnach schnell und leicht wieder abrufen zu können (Ulrich 2013: 34).

Allgemein zielt Wortschatzarbeit demnach nicht auf das Erlernen einzelner Wörter, sondern auf den Erwerb einer allgemeineren Kompetenz, mit Wörtern und semantischen Fragen umzugehen und ein Sprachbewusstsein zu entwickeln und dabei auch die kognitiven Fähigkeiten zu erweitern.

Es wurde bisher einerseits die didaktische Relevanz von (semantikorientierter) Wortschatzarbeit, andererseits aber auch der Bedarf an einer solchen gezeigt, da diese bislang weitgehend fehlt, Wortschatzdefizite der Lerner eine solche aber als dringlich erscheinen lassen. Um es mit Plewnia (2006:13) zu sagen: Zum einen nimmt Wortschatzarbeit keinen sehr breiten Raum im Deutschunterricht ein; zum Zweiten wird dieser wenige Raum nur in relativ unspezifischer Weise gefüllt und zum Dritten dominiert an Stellen, an denen Wortschatz thematisiert wird, eine relativ konservative Betrachtungs- und Beschreibungsweise. Es liegt aber auf der Hand, dass die Förderung des Wortschatzerwerbs als eine zentrale Aufgabe des Deutschunterrichts verstanden werden sollte (Ulrich 2016b: 39). Im weiteren Verlaufe dieses Bandes werden daher sowohl Ziele als auch Konzepte einer modernen, semantikorientierten Wortschatzarbeit aufgezeigt.

An dieser Stelle lässt sich als Konsequenz des bisher Gesagten aus didaktischer Sicht aber schon zusammenfassen, dass semantikorientierte Wortschatzförderung nicht auf die Primarstufe begrenzt, sondern auf alle Schulstufen ausgeweitet werden sollte. Des Weiteren sollte Wortschatzförderung nicht auf den Deutschunterricht beschränkt bleiben, sondern, gerade, wo es um bildungs- und fachsprachlichen Wortschatz geht, auf den Fachunterricht ausgeweitet werden, da Wortschatzerwerb und fachliches Lernen und Wissen miteinander einhergehen (Steinhoff 2013: 14f.). Diesen Zusammenhang von Deutsch- und Fachunterricht sowie Sprachreflexion und Kommunikationsförderung verdeutlicht folgende Abbildung:

Abb. 125a:

Kommunikationsförderung und Sprachreflexion im Sprach- und Sachunterricht (Roelcke 2013: 337)

Am stärksten wird die semantische Seite des Wortschatzes dabei in einem reflexiven (Deutsch-)Unterricht zum Tragen kommen, der nicht allein Wortschatzarbeit als Förderung anderer sprachlicher Kompetenzen betreibt, sondern Einsichten in semantische Tiefenstrukturen, Polysemie und Ambiguitäten anstrebt. Traditionelle Themen, die hier im Deutschunterricht in Frage kommen, wären etwa:

Semantik in Definitionen und terminologischen System, z.B. bei Fachterminologien der Unterrichtsfächer

Semantik bei Anglizismen und anderen Fremdwörtern (in Relation etwa zu nahe stehenden deutschen Begriffen)

wörtliche vs. übertragene Bedeutung von Redensarten und Sprichwörtern; bei Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ) oder Deutsch als Fremdsprache (DaF) generell die Semantik von Phraseologismen usw.

Semantik und (Schein-)Synonyme – in Verbindung mit Schreibunterricht (Stilistik, Angemessenheit)

kritische Semantik/Semantik und Sprachkritik/Sprachmanipulation (bspw. zu Euphemismen, Unwörtern des Jahres, Metaphorik in politischen Reden)

Über den schulischen Unterricht hinaus sollte Wortschatzarbeit zudem – nicht nur für mehrsprachige Kinder, sondern auch für einsprachige – bereits vorschulisch im Kindergarten ansetzen, da sich die „bedeutendsten Entwicklungen im Bereich des [mentalen] Lexikons [im] Alter von ungefähr drei bis acht Jahren“ ereignen (Moser/Berweger/Stamm 2005: 61).

Übung 125a

Nennen Sie drei Argumente, die für eine gezielte Wortschatzarbeit im Deutschunterricht auch für Erstsprachler sprechen.

Literatur

Balsliemke/Peschel/Runschke 2015; Feilke 2009; Kilian 2011; Steinhoff 2009, 2013; Ulrich 2011a, 2011b, 2013, 2014.

2Linguistische Grundlagen

2.1Theorien und Modelle

Das Wort Bedeutung geht nach dem bedeutungsgeschichtlichen Wörterbuch von Hermann Paul (102002: 141f.) zurück auf das mittelhochdeutsche Wort bediutunge mit der Bedeutung ‚Auslegung, Interpretation‘; in dem etymologischen Wörterbuch von Friedrich Kluge (231995) findet es keine Berücksichtigung. Es trägt in der deutschen Standardsprache der Gegenwart laut des „Duden – Deutsches Universalwörterbuch“ (42001: 242) selbst zwei Bedeutungen: zum einen „Sinn, der in Handlungen, Gegebenheiten, Dingen, Erscheinungen liegt“ bzw. „begrifflicher Inhalt eines Zeichens; Beziehung zwischen Wortkörper u. begrifflichem Inhalt“ und zum anderen „Gewicht, Tragweite, Belang“ bzw. „Geltung, Ansehen, Wert“.

Neben diesen allgemeinsprachlichen Bedeutungen haben sich im Laufe der Geschichte von Philosophie, Semiotik und Linguistik (Auroux et al. 2008; Gardt 1999; Leiss 2009; Nöth 22000; 2017; Posselt/Flatscher 2016; Ricken 1990) zahlreiche weitere fachsprachliche Bedeutungen herausgebildet. Dabei lassen sich im Wesentlichen zwei Positionen unterscheiden: Die eine geht davon aus, dass Bedeutung eine eigenständige Einheit darstellt, die unmittelbar als Begriff oder Konzept, als Bewusstseinsgegenstand oder als kognitive bzw. mentale Entität zu fassen ist. Im Rahmen der anderen Position gilt dieser Status einer eigenständigen Einheit als nicht gesichert, sodass Bedeutung hier lediglich mittelbar als Gebrauchsweise eines Zeichens oder als kommunikative Funktion verstanden wird; in einem extremen Ansatz wird der wissenschaftliche Gebrauch von Bedeutung dann aufgrund von Undefinierbarkeit ganz zurückgewiesen. Unabhängig von diesen zwei bzw. drei grundsätzlichen Positionen werden innerhalb der philosophischen und linguistischen Semantik einige grundsätzliche Bestimmungen und Unterscheidungen vorgenommen.

2.1.1Bedeutung als eigenständige Einheit

Die philosophische Auffassung, dass Bedeutungen letztlich eigenständige Einheiten (kognitive oder mentale Entitäten) darstellen, geht mindestens zurück bis auf die klassische Antike und wird beispielsweise in Platons berühmtem Dialog „Kratylos“ diskutiert und hier bereits mit der Auffassung von Bedeutung als Gebrauch von Zeichen konfrontiert. In der neuzeitlichen Philosophie findet sie sich etwa wieder bei John Locke (1690), Immanuel Kant (21787) oder dem Begründer der (analytischen) Sprachphilosophie Gottlob Frege (vgl. Frege 51980) sowie bei Bertrand Russell und dem jüngeren Ludwig Wittgenstein (1921/82).

Innerhalb der modernen Sprachwissenschaft findet sich eine entsprechende Vorstellung von Bedeutung bei deren Begründer, dem Genfer Linguisten Ferdinand de Saussure (1916). De Saussure unterscheidet zwei Komponenten eines (sprachlichen) Zeichens (vgl. Abb. 211a):

das Bezeichnende (der Ausdruck, signifiant) und

das Bezeichnete (die Bedeutung, signifié).

Dabei entsprechen das Bezeichnende der (abstrakten) Ausdrucksseite des Zeichens (von de Saussure auch als image acoustique bezeichnet) und das Bezeichnete dessen (ebenfalls abstrakter) Inhaltsseite, der Bedeutung (auch: concept). Die Zuordnung zwischen Ausdruck und Bedeutung ist dabei durch Arbitrarität und Konventionalität gekennzeichnet: Von lautmalerischen Ausdrücken (sog. Onomatopoetika) wie Kuckuck oder Wauwau einmal abgesehen, bestehe zwischen der Ausdrucks- und der Bedeutungsseite eines Zeichens weder eine Ähnlichkeitsbeziehung noch ein Kausalzusammenhang; ihre kommunikative Verwendbarkeit wird alleine durch eine Übereinkunft innerhalb einer Sprachgemeinschaft gewährleistet.

Abb. 211a:

Zeichenmodell von de Saussure (1916: 231)

De Saussure siedelt das sprachliche Zeichen auf der Ebene des Sprachsystems (langue) an: Durch den engen Zusammenhang, der zwischen dem Ausdruck und der Bedeutung bestehe (de Saussure vergleicht diesen im Rahmen seiner berühmten Blattmetapher mit den zwei Seiten eines Papiers), werde deren reziproke Evokation ermöglicht, welche wiederum die Grundlage für konkrete sprachliche Äußerungen auf der Ebene des Sprachgebrauchs (parole) bildet: Verbindet etwa eine Person einen konkreten Gegenstand in der Natur mit dem Konzept eines Baumes, stellt sich bei ihr unweigerlich das entsprechende Lautbild /baum/ ein, das diese daraufhin in einer konkreten Lautkette wiedergeben kann. Diese Lautkette kann wiederum von einer anderen Person mit dem entsprechenden Lautbild in Verbindung gebracht werden, sodass dieser schließlich ihrerseits die Bedeutung bzw. das Konzept des Baums bewusst wird. Diese Fähigkeit zu bzw. Möglichkeit der sprachlichen Kommunikation fasst de Saussure als langage zusammen.

Während das Zeichenmodell von de Saussure mit Ausdruck und Bedeutung zwei Komponenten umfasst und daher auch als bilateral charakterisiert wird, werden innerhalb des Modells der Briten Charles Kay Ogden und Ivor Armstrong Richards (1923; dt. 1974) drei Komponenten angesetzt; es wird daher auch als semiotisches Dreieck oder als trilaterales Zeichenmodell charakterisiert (vgl. Abb. 211b). Das Modell erscheint graphisch als gleichschenkliges Dreieck, an dessen Ecken Faktoren und an dessen Kanten Relationen des Gebrauchs von (sprachlichen) Zeichen angegeben werden. Dabei werden nach gängiger Interpretation Symbol als der Ausdruck und Thought or Reference als die Bedeutung eines (sprachlichen) Zeichens angesehen; unter Referent werden schließlich die Gegenstände und Sachverhalte der (außersprachlichen) Wirklichkeit zusammengefasst (zu dieser und einer alternativen Interpretation des semiotischen Dreiecks vgl. Roelcke 2017: 25–29).

Abb. 211b:

Zeichenmodell von Ogden und Richards (1923: 11)

Zwischen Ausdruck, Bedeutung und Wirklichkeit bestehen nach Ogden und Richards drei verschiedene Beziehungen: Ausdruck (Symbol) und Bedeutung (Thought or Reference) stehen dabei in einem unmittelbaren Zusammenhang, da sie einander (durch Arbitrarität und Konventionalität) zugeordnet sind. Die beiden Autoren gehen hier von einer kausalen Beziehung (causal relation) aus, die entweder zutreffend (correct) oder nicht zutreffend ist (abhängig davon, ob der betreffende Ausdruck in Bezug auf die Bedeutung richtig gewählt ist). Ein unmittelbarer Zusammenhang besteht im Weiteren auch zwischen der Bedeutung und der Wirklichkeit (Referent); dieser Zusammenhang erweist sich in Bezug auf das Erfassen der Wirklichkeit durch das Denken als zulänglich (adequate) oder nicht. Anders verhält es sich mit der dritten Beziehung, also derjenigen zwischen Ausdruck und Wirklichkeit: Hier wird nur ein mittelbarer, indirekter Zusammenhang angenommen (imputed), da zwischen beiden weder ein Kausalzusammenhang noch eine Ähnlichkeitsbeziehung bestehe.

Übung 211a

Die Berücksichtigung des Referenten bzw. der außersprachlichen Wirklichkeit stellt eine wesentliche Erweiterung des semiotischen Dreiecks von Ogden und Richards gegenüber dem Zeichenmodell von de Saussure dar. Versuchen Sie, die beiden graphischen Darstellungen (Abb. 211a und Abb. 211b) in Deckung miteinander zu bringen.

Konzeptionen wie die hier vorgestellten, dass Bedeutungen eigenständige Einheiten darstellen, dürfen in der Regel nicht mit einem naiven Begriffsrealismus gleichgesetzt werden, der die Existenz von kognitiven oder mentalen Entitäten postuliert, die letztlich unabhängig von einzelnen Sprachen sind. Der philosophische oder linguistische Ansatz eigenständiger Bedeutungseinheiten lässt zumeist den epistemologischen Status von Bedeutung oder Begriff offen und nutzt diese Einheiten oder Termini insbesondere als hermeneutische Größen, die dazu beitragen sollen, Zeichen und Kommunikation zu modellieren. Dies gilt auch für einschlägige Modelle der kognitiven Semantik (Croft/Cruse 62010; Dabrowska/Divjak 2015; Rickheit/Weiss/Eikmeyer 2010; Schwarz 32008) – etwa der Prototypen- und Stereotypensemantik (vgl. Kap. 2.2.3) oder der Frame- und Skriptsemantik (vgl. Kap. 2.2.4), die sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie nicht Bedeutungen unmittelbar als mentale Phänomene erfassen und beschreiben, sondern vielmehr anhand von kommunikativen Erscheinungen mittelbar auf die Suche nach mentalen Spuren gehen.

Ein wichtiges Beispiel für einen eher methodisch als epistemologisch, jedoch durchaus begründeten Begriffsrealismus findet sich in der modernen Terminologielehre bzw. Terminologiearbeit. Um den Gebrauch von Fachwörtern national und international festlegen zu können, wird hier von kognitiven Einheiten ausgegangen, denen jeweils Ausdrücke verschiedener Sprachen zuordnet werden (vgl. Arntz/Picht/Schmitz 72014: 48–56; zu fachsprachlichen Definitionen vgl. Kap. 2.2.1). In DIN 2342, einer der terminologischen Grundsatznormen des Deutschen Instituts für Normung, wird dabei Begriff wie folgt bestimmt: „Denkeinheit, die aus einer Menge von Gegenständen unter Ermittlung der diesen Gegenständen gemeinsamen Eigenschaften mittels Abstraktion gebildet wird.“ Und weiter heißt es dort: „Begriffe sind nicht an einzelne Sprachen gebunden, sie sind jedoch von dem jeweiligen gesellschaftlichen und/oder kulturellen Hintergrund einer Sprachgemeinschaft beeinflusst.“