Sexualpolitik - Gabriele Dietze - E-Book

Sexualpolitik E-Book

Gabriele Dietze

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Beschreibung

Sexualpolitik ist eine Machttechnik. Sie reguliert Verhaltensweisen oder schließt Gruppen aus - das Feld Sexualität ist dabei besonders skandalisierbar. Angeblich problematische Sexualitäten werden nicht nur mit Geschlecht, sondern auch mit Ethnizität und Religion verflochten. Gabriele Dietze diskutiert diesen Zusammenhang in historischer, theoretischer und gegenwartsanalytischer Perspektive von feministischen Orientalismen der Ersten Frauenbewegung bis hin zu den Ereignissen von Köln in der Silvesternacht 2015.

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Gabriele Dietze

Sexualpolitik

Verflechtungen von Race und Gender

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Sexualpolitik ist eine Machttechnik. Sie reguliert Verhaltensweisen oder schließt Gruppen aus – das Feld Sexualität ist besonders skandalisierbar. Angeblich problematische Sexualitäten werden nicht nur mit Geschlecht, sondern auch mit Ethnizität und Religion verflochten. Gabriele Dietze diskutiert diesen Zusammenhang in historischer, theoretischer und gegenwartsanalytischer Perspektive von feministischen Orientalismen der Ersten Frauenbewegung bis hin zu den Ereignissen von Köln in der Silvesternacht 2015.

Vita

Gabriele Dietze, PD Dr., ist Fellow der VolkswagenStiftung im Projekt »Sexueller Exzeptionalismus« an der Humboldt-Universität zu Berlin und Gastdozentin an der Universität Basel.

Inhalt

Einleitung: Sexualpolitik – Archäologie einer Problematisierungsweise

Vorspiel

Sexualpolitik

Begriffsgeschichte

Sexual Politics

Problematisierungsweisen

Migrationsabwehrfigurationen

Der Säkularisierungskomplex

Gegenstimmen

Falsche Alternativen

Teil I Okzidentalismuskritik, Orientalismus, Postkolonialität

1.›Okzidentalismuskritik‹: Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung

Begriffsgeschichte

Ausländerfeindlichkeit und Neo-Rassismus

Okzidentalismus als Meta-Rassismus

Der okzidentalistische Geschlechterpakt

Die Neo-Muslima als Figuration der Kulturkritik

Drei Modi männlicher Herrschaft

Okzidentalistismus und ›Homonationalismus‹

Okzidentalismuskritik als ›korrektive Perspektivierung‹

2.Feministischer Orientalismus und Sexualpolitik

Einleitung

Amerikanische Zustände

Die ›Griechische Sklavin‹

Das ›Orientalische Patriarchat‹

Deutsche Zustände

Die Orientreise

Verhüllung – Entblößung

Feministischer Orientalismus

Schluss

3.Runter mit dem Schleier!

4.Postcolonial Theory und Gender Studies: Eine problematische Beziehung

Postkolonialität – Terminus und Gegenstandsbereich

Politische Genealogien von Postkolonialität und Gender

Theorien von Postkolonialität

Edward Said

Homi Bhabha

Gayatri Spivak

Postkoloniale Theorie und Feminismus

Kritik am eurozentrischen Feminismus

Race und Weiß-Sein

Interventionen I – Third-World- und Transnationaler Feminismus

Interventionen II – Dekolonialer Feminismus

Schlussbemerkung

Teil II Feminismus, Gender und Intersektionalität

1.Second Wave Boheme: Versuch einer Kartierung subkultureller Milieus in der Neuen Frauenbewegung

Einleitung

Sexpol Feminist Bohemia

Der Weiberrat

Nackte Tatsachen

Valie Export

Die Dada Baroness

Guerilla Girls

Femen

Schwarze Boheme

Ulrike Ottinger

Die Schwarze Botin

Erinnerungspolitiken

2.Schnittpunkte: Gender Studies und Hermaphroditismus

Vorrede

John Money und Intersexualität

Money und die Frauenbewegung

Der »Fall Agnes« – Gender als ›ethnomethodologische Kategorie‹

Barbin und die Entdeckung der Zweigeschlechtlichkeit

Zweigeschlechtlichkeit als epistemologische Herausforderung

Postscript

3.Gabriele Dietze, Elahe Haschemi Yekani und Beatrice Michaelis: 3. ›Checks and Balances‹: Zum Verhältnis von Intersektionalität und Queer Theory

Vorbemerkungen

Queer Theory und Intersektionalität: Gemeinsamkeiten, Unterschiede

Queere Epistemologie

Interdependente Epistemologie

Synergien

Queer Intersectionality

Queer of Color Critique

Queer Diaspora Critique

Queer Theory und Disability Studies

Transgender Studies

Queer Class

Queer Jewish Studies

Drei Beispiele queerer intersektionaler Analysen

Das Subjekt von Aids

Performative Disidentifikation

Marriage Trouble

›Checks and Balances‹: Queer Theory und Intersektionalität als Korrektive Methodologie

4.Anti-Genderismus intersektional lesen

Teil III Race – Construction of Otherness – Schwarz Weiß

1.Ödipus Schwarz/Weiß: Der ›Rape- Lynching- Komplex‹ als soziale Pathologie

Miscegenation und Inzest

Der Rape-Lynching Komplex

Vergewaltigung als Lynching

Schlussbemerkung

2.Die Bohemienne und ihr ›Imaginary Negro‹

Einleitung

Else Lasker-Schüler: Meine beiden Neger heulen wie Weiber

Claire Goll – ›Neurasthenie der Erniedrigung‹

Nancy Cunard – »I dreamed of a dark continent«

Hilda Doolittle – A Tall God Standing (Dream Justice)

Coda – Ethnic Drag im Männertheater

3.Melancholie, Schuld und Geschlecht im Kolonialepos: Genealogie eines Filmgenres

Vorspann

Drei Kolonialepen

Vom Winde verweht

Out of Africa

Australia

German TV

Abspann – Genre und Gender

Teil IV Fallgeschichten

1.Intersektionalität im nationalen Strafraum: Race, Gender und Sexualität und die deutsche Nationalmannschaft

Intersektionen von Lokalität, Race und Maskulinität

Neue Diversität in der Nationalmannschaft

Heteronormativität und Männlichkeit

2.Das ›Ereignis Köln‹

Vorbemerkung

Islamfeindlichkeit und Ethnisierung von Sexismus

Visual Politics und alltäglicher Sexismus

Geschlecht und ›Schutz‹

Sexualitätsdispositiv und Sicherheit

3.Ethnosexismus: Sex-Mob Narrative um die Kölner Silversternacht

Sexismus, New Sexism, Sexualisierung

Ethnosexismus

Ethnosexistische Trope – Der (hetero)sexuell übergriffige junge muslimische Flüchtling

Post-Heroische Männlichkeit

›Der Arabische Mann‹ als Wissensobjekt

Zusammenfassung

Anhang

Nachweise

Literaturverzeichnis

Verzeichnis von Filmen und Fernsehserien

Danksagung

Personenregister

Sachregister

Einleitung: Sexualpolitik – Archäologie einer Problematisierungsweise

Vorspiel

Sexismuskritik ist wieder en vogue. Ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat hätte die Wahl verlieren können, weil er mit sexuellen Übergriffen auf Frauen geprahlt hat und weil er sexistischen Gedankenaustausch unter Männern für ›normal‹ hält. Es ist anders gekommen. Eine machtvolle Gegenrede, warum Sexismus nicht ›normal‹ ist, wurde von Michelle Obama in einer Wahlkampfveranstaltung in New Hampshire gehalten. Denjenigen, die sagen, dass Frauen sich nicht so aufregen sollen, antwortet sie folgendermaßen: »Too many are treating this as just another day’s headline, as if our outrage is overblown or unwarranted, as if this is normal, just politics as usual. But […] to be clear: This is not normal. This is not politics as usual. This is disgraceful. It is intolerable. […] no woman deserves to be treated this way. None of us deserves this kind of abuse« (Obama 2016).

Michelle Obama ist nicht nur eine Frau, sondern die erste schwarze First Lady der amerikanischen Geschichte. Das ist ihr auch in dem Moment bewusst, als sie die inzwischen weltberühmte antisexistische Rede hält. Alle US-Amerikaner_innen wussten, dass sie über race1 sprach, als sie sagte: »[W]e can show our children that here in America, we reject hatred and fear and in difficult times, we don’t discard our highest ideals. No, we rise up to meet them. We rise up to perfect our union« (ebd.). Damit spielte sie auch auf Barack Obamas berühmte speech on race »For a more perfect Union« an (Obama 2008). Michelle Obama verkörperte auf diese Weise die Intersektionalität von race und Gender. Sie nutzte diese, um das Publikum auf race- und Gender-Solidarität zu verpflichten. Und sie tat das mittels der Kritik an der Sexualpolitik des Kandidaten.

Eines der ersten Manifeste der Neuen Frauenbewegung hieß Sexual Politics (1970). Die Autorin, Kate Millett, hatte damals die Erkenntnis, dass es Zeit für einen second wave feminism sei, mit einem Hinweis auf die amerikanischen race-Verhältnisse begründet. Sich aus der sexuellen Unterdrückung durch Männer zu befreien, sei politisch, weil man in der Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner_innen gelernt habe, dass Weißen kein Geburtsrecht zur Beherrschung schwarzer Menschen zustehe, sondern dass deren Unterdrückung eine politische sei. Die Frauen seien die letzte Gruppe, die quasi durch ein Geburtsprivileg, nämlich das männliche, beherrscht würden. Diesen Tatbestand gelte es politisch zu bekämpfen (Millett 2000 [1970]: 24). Eine race-sensible Kritik von Sexualpolitik kann also ein machtvoller Hebel sein, in Herrschaftsverhältnisse zu intervenieren.

Betrachtet man gegenwärtig die deutschen Kontroversen um Sexismus, die sich um die Ereignisse in der Silvesternacht 2015 von Köln und die sexistischen Verfehlungen von CDU-Politikern in Berlin 2016 entzündeten (Lau 2016), ist eine Verschärfung und Präzisierung der Kritik von Sexualpolitik ebenfalls geboten. Bei uns wird weniger selbstverständlich als in den USA von einer Verschränkung von Sexismus und Rassismus ausgegangen, obwohl sexualpolitische Diskriminierung von Muslimen und der ›Komplex Köln‹ allen Anlass dazu böten. Die hier unter dem Stichwort Sexualpolitik versammelten Aufsätze verstehe ich insofern als einen Beitrag zu diesem Unternehmen.2 Ich möchte die Einleitung dieses Buches zum Anlass nehmen, den Bedeutungsraum national und inhaltlich unterschiedlichster Vorstellungen von Sexualpolitik auszuloten,3 mein Verständnis davon zu verdeutlichen, um an die politische Potenz von Kritik an Sexualpolitiken zu erinnern. Im Titel dieser Einleitung habe ich diese Suchbewegung ›Archäologie‹ genannt. Die Metapher soll ein Wissen bezeichnen, das unter der Oberfläche liegt und ausgegraben werden muss, bevor es wieder politisch gemacht werden kann.

Meine Ausgrabung wird folgenden Weg nehmen: Zuerst wird dem Terminus Sexualpolitik in einer Begriffsgeschichte nachgegangen, um die Fluchtlinien sowohl für ein allgemeines Verständnis als auch für meinen eigenen Gebrauch zu erarbeiten. Dieses werde ich exemplarisch an Deutschen Zuständen rund um Migration überprüfen. Dabei werde ich mir klischierte Vorstellungen von Muslimen in Deutschland ansehen, die ich Abwehrfigurationen nenne, und die sexuell (sexualpolitisch) aufgeladen werden. Dabei konzentriere ich mich auf Verkopplungen von antimuslimischem Rassismus und westlichen Emanzipationsvorstellungen. Im Anschluss daran werden unterschiedliche queer-feministische und gendertheoretische Interventionen in dieses Feld diskutiert. Schließlich wird die These entwickelt, dass Sexualpolitik eine Problematisierungsweise ist, mit der neoliberale Abendländischkeit und Stigmatisierung von (muslimischer) Religion zu einem Überlegenheitsmuster verknüpft werden, das Freiheit sexualisiert und als (sexuell) unfrei angerufene Gruppen rassisiert.

Sexualpolitik

Begriffsgeschichte

Unstrittig ist, dass Sexualpolitik und Geschlecht nicht voneinander zu trennen sind. Weniger selbstverständlich wird, wie bereits erwähnt, eine Verbindung von race und Sexualpolitik angenommen, obwohl race in fast jede sexualpolitisch interpretierbare Situation eine Rolle spielt. Das war nicht nur im Kolonialismus der Fall, wo angeblich ›primitive‹ Sexualität von weißen Tugendregimen beherrscht wurde (Stoler 2002; Walgenbach 2005), sondern race reguliert auch Maßnahmen der Vereinten Nationen gegen die ›Überbevölkerung‹ des Globalen Südens (Wichterich 1985). Weiterhin sind race, Ethnizität und immer mehr Religion nicht nur dann im Spiel, wenn es ›Andere‹ betrifft. Auch Weißsein, Abendländischkeit und Säkularität sind Gruppenmitgliedschaften. Weiße Menschen sind sowohl Akteur_innen als auch Objekte von Sexualpolitik.4

Sexualpolitik hat nicht nur sachlich und historisch unterschiedliche Gegenstände, sondern auch unterschiedliche lokale Traditionen. Das angloamerikanische Verständnis ist auf sexualisierende Diskriminierung ausgerichtet, ein französisch/europäischer, hauptsächlich von Michel Foucault geprägter, Strang zielt auf staatliche Politiken, die die Regulierung von Bevölkerung durch Sexualität zum Ziel haben. Wenn aus einer deutschen Perspektive über Sexualpolitik gesprochen wird, muss noch ein dritter Strang berücksichtigt werden: eine frühe Verwendung des Begriffs in der kommunistischen Sexpol-Bewegung der Zwischenkriegszeit. Sie war im Reichsverband für proletarische Sexualpolitik organisiert (Rackelmann 1993) und hat bis in die Sexuelle Revolution der Studentenbewegung der Sechziger ausgestrahlt (Gente 1970). Die kommunistische Sexpol-Bewegung hatte eine sozialhygienische und eine sozialrevolutionäre Seite. Es ging einerseits darum, über Aufklärung die Arbeiterschaft von der Geisel des Kinderreichtums und der venerischen Krankheiten zu befreien. Andererseits wollte man das Proletariat aus der bürgerlichen Sexualunterdrückung erlösen. Der Dissident der Psychoanalyse und Sexrebell Wilhelm Reich hatte für seine Schriften den Verlag für Sexualpolitik gegründet. Der Begriff Sexualpolitik stand damit im Kontext einer ersehnten proletarischen Revolution und hat im Deutschen sowohl einen vertrauten Klang als auch einen utopischen Zauber. Hier bedeutet Sexualpolitik: durch (befreite) Sexualität (revolutionäre) Politik machen.

Sexual Politics

Wie bereits erwähnt, machte Kate Millet den Begriff sexual politics populär. Sie motiviert seine Einführung folgendermaßen: »In introducing the term ›sexual politics‹ one must first answer the inevitable question ›can the relation between the sexes be viewed in a political light at all?‹ The answer depends on how one defines politics […] The term politics shall refer to power-structured relationships, arrangements where one group of persons is controlled by the other« (Millett 2000 [1970]).

In der deutschen Übersetzung 1971 wurde der Titel hin zu Sexus und Herrschaft verändert, der Untertitel verdeutlicht, worum es geht: »Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft«. Jene werde – so demonstriert Millett mit Zitaten der Autoren D.H. Lawrence, Henry Miller und Norman Mailer – über dominierende männliche Sexualität ausgeübt. Insofern sei der Koitus ein Modellfall »für Sexualpolitik auf intimster Basis« (Millett 1974: 37).

In diesem Zusammenhang entstand auch der Slogan »the personal is the political«. In deutscher Sprache, aber auch im Englischen wurde das ›Persönliche‹ häufig durch das ›Private‹ ersetzt, was insbesondere in der feministischen Staatstheorie eine andere Dichotomie aufrief, nämlich die Entgegensetzung von privat und öffentlich. Carole Pateman und Anne Phillips schreiben 1983: »the separation between the public and private in liberal theory and practice […] is ultimately what feminism is about« (zitiert nach Ludwig 2016a: 194). Hier wird der Schwerpunkt auf die Nicht-Zulassung von Frauen in der Öffentlichkeit gelegt. Birgit Sauer nennt diese Diskursformation zugespitzt das »liberale Trennungsdispositiv« (Sauer 2001: 5) und meint damit eine Machttechnik, die über stetig ›modernisierte‹ flexible Sphärenzuweisungen eine geschlechtsdefinierte Machthierarchie aufrechterhält, die Männer privilegiert.

Zurück zur angloamerikanischen Geschichte von sexual politics: Wie viele weiße amerikanische Feministinnen betrachtete Kate Millett die race-Emanzipationsbewegung als Blaupause für die Entwicklung einer Frauenbefreiungsbewegung. Allerdings werden die kritischen Begriffe der Bürgerrechtsbewegung nicht nur als Anregung verstanden, sondern in gewisser Weise auch okkupiert. So erschien zum Beispiel im gleichen Jahr wie Kate Millets Buch das ebenfalls radikalfeministische Manifest The Dialectic of Sex. A Case for a Feminist Revolution von Shulamith Firestone. Mit ihrem Unterkapitel »Racism: the Sexism of the Family of Man« (Firestone 1993 [1970]: 103–139) kehrte sie die zeitliche Abfolge der Begriffe Rassismus, der zuerst geprägt wurde, und Sexismus, der dreißig Jahre später entstand, um, und degradierte damit den kritischen Terminus Rassismus nicht nur zu einem Derivat von Sexismus, sondern zu einer untergeordneten Größe: »[S]exism presents problems far worse than the black militant’s new awareness of racism. Feminists have to question not all of Western culture, but the organization of culture itself, and further, even the very organization of nature« (ebd.: 12).

So sehr sich die ersten Theoretikerinnen des second wave feminism auf die sexuelle Unterdrückung der Frau durch den Mann konzentrierten, so sehr waren sie auch Töchter der Sexuellen Revolution. Das Befreiungsversprechen, das mit dem Abschütteln der sexuell verklemmten 1950er Jahre verbunden war – das sich durchaus auch an Wilhelm Reich orientierte, der in die USA emigriert war und auch dort von der counter culture verehrt wurde –, wollte von mehreren Fraktionen des second wave feminism nicht so ohne Weiteres aufgegeben werden. Stattdessen sollten die Powers of Desire (Snitow/Stansell 1983) nutzbar gemacht werden. Konsequenz waren die berühmten sex wars Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre. Eine Fraktion hielt am Patriarchat, dem ›Mann‹ und Pornografie als Agenturen sexueller und damit weiblicher Unterdrückung fest – »man fucks women; subject verb object« (MacKinnon 1982: 541) bringt die Juristin Catharine MacKinnon ihr Verständnis von Sexualpolitik auf eine Kurzformel. Eine andere Fraktion sah in Sexualität weiterhin eine Produktivkraft und einen Hebel von Befreiung. Gayle Rubin hob mit ihrem berühmten sex-positive-Artikel »Thinking Sex. Notes for a Radical Theory of the Politics of Sexuality« (Rubin 1984) die Queer Theory aus der Taufe und bestritt damit der Frauenbewegung gleichzeitig, weiterhin als alleinige Autorität von sexual politics gelten zu können.

Auch die australische Soziolog_in R.W. Connell schreibt 1987 in der Studie Gender and Power. Society, the Person and Sexual Politics, dass die Fokussierung großer Faktionen des second wave feminism auf ein Unterdrückungsverhältnis zwischen Mann und Frau inzwischen als zu reduktionistisch beurteilt werden müsse. Connell erweitert den Geltungsbereich von Sexualpolitik. Danach müsse auch staatlicher Sexualpolitik Aufmerksamkeit geschenkt werden. Diese könne sowohl repressiv als auch reformerisch sein. Letzteres sei zum Beispiel der Fall, wenn Gesetze im Zuge von Emanzipationsbewegungen geändert wurden, wie Entkriminalisierung von Homosexualität, die Abtreibungsfreigabe oder die neue Strafwürdigkeit von häuslicher Gewalt. Ersteres sei etwa der Fall, wenn einmal vorhandene Frauenrechte im Zuge von religiös begründeten Re-Traditionalisierungen oder der Einführung von Theokratien wieder zurückgenommen wurden, wie etwa in Pakistan oder im Iran (Connell 1987: 260). Connell unterscheidet also eine privat-politische Dimension von Sexualpolitik von einem biopolitischen Bevölkerungsmanagement, das sowohl reformerische als auch reaktionäre Interventionen enthalten kann. Im Unterschied zu den US-amerikanischen Feminist_innen spielt bei frühen Überlegungen der Australier_in Connell zu Sexualpolitik race eine untergeordnete Rolle.

Eine weitaus integriertere Perspektive auf Rassismus und Sexismus wird von der afroamerikanischen Soziologin Patricia Hill Collins in Black Sexual Politics entwickelt: »[R]acism can never be solved without seeing and challenging sexism. African American men and women are affected by racism, but in a gender-specific way.« (Collins 2004: 5) Collins definiert:

»Sexual Politics can be defined as a set of ideas and social practices shaped by gender, race and sexuality that frame all men and women’s treatment of one another, as well as individual men and women are perceived and treated by others. Because African Americans have been so profoundly affected by racism, grappling with racism occupies a prominent place within Black sexual politics« (Collins 2004: 6).

Im Gegensatz zum second wave feminism ist der Terminus sexual politics für Collins auch eine Beschreibungskategorie für race. Das Bild von Afroamerikaner_innen findet sie überformt von negativen Phantasmen über ihre Sexualität von afroamerikanischen Männern und Frauen, die nicht nur vom rassistischen Außen zeugen, sondern auch innerhalb der eigenen community Platz gegriffen haben. Das Ziel ihrer Intervention ist deshalb eine »more progressive black sexual politics« (ebd.: 7).5

In der angloamerikanischen Diskussion ist sexual politics ein kritischer Begriff, der implizit, aber auch oft explizit race als zentrale Größe in einem sexualpolitischen Feld versteht. Das Kompositum sexual politics kommt sowohl dann zum Tragen, wenn interpersonelle Verhältnisse, wie die zwischen Mann und Frau, als politische angesprochen werden und/oder Verhältnisse zwischen oder innerhalb von races beschrieben oder kritisiert werden. Im Laufe der Zeit kommt der Terminus auch dann zum Einsatz, wenn von staatlicher Intervention via Sexualpolitik die Rede ist. Das beginnt erst, als sich erste Erfolge der Emanzipationsbewegungen abzeichnen und Reformanforderungen in Gesetze gegossen werden. Connell nimmt dann in die Definition von sexual politics Aspekte des im Folgenden zu erläuternden diskursanalytischen Verständnisses von Sexualpolitik auf, das sich auf bevölkerungspolitisch motivierte Machtstrategien und Staatseingriffe konzentriert und auf den Arbeiten von Michel Foucault basiert.

Der Begriff Sexualpolitik taucht bei Foucault zwar gelegentlich auf, zum Beispiel im ersten Band der deutschen Übersetzung von Sexualität und Wahrheit6 (Foucault 1983: 121 u. 147), aber politique sexuelle, wie es im Französischen heißt, ist keine tragende Begriffsverbindung. Was Connell als sexualpolitische staatliche Interventionen anspricht, rubriziert Foucault unter den Begriffen Biomacht oder Biopolitik. Darunter versteht er mit Diskursen über Sexualität gesättigte Machttechniken, die Fortpflanzung, Geburten- und Sterblichkeitsrate und das Gesundheitsniveau der Bevölkerung regulieren. »Bevölkerung ist eine Gruppe, die nicht einfach nur aus vielen Menschen besteht, sondern aus Menschen, die von biologischen Prozessen und Gesetzen durchdrungen, beherrscht und gelenkt sind. Eine Bevölkerung hat eine Geburtenrate, eine Alterskurve […], einen Gesundheitszustand« (Foucault 2005 [1981/1985]: 230f.). Foucaults Verständnis von Biopolitik ist nicht auf den Einzelnen, sondern zunächst auf die gesamte Bevölkerung gerichtet.

Wenn Foucault über Sexualität spricht, stehen nicht Triebstruktur oder Praktiken im Zentrum des Interesses, sondern ihre Funktion als Membran oder ›dichte Stelle‹, durch die Macht transportiert und exekutiert werden kann. Sexualität fungiert hier als »Gegenstand eines stets komplexen Spiels von Ablehnung und Akzeptanz, Aufwertung und Abwertung« (Foucault 2016: 31). Diese Überlegungen führen in den Herrschaftsbereich eines Mechanismus, den Foucault ›Sexualitätsdispositiv‹ nennt. Dieses beschreibt eine Machtstruktur, die sich im 18. und 19. Jahrhundert verfestigt hat, nach der – entgegen der von der Psychoanalyse genährten Hypothese von der umfassenden sexuellen Repression – Kontrolle über Menschen nicht primär durch Unterdrückung von Sexualität gewonnen, sondern (Bio-)Macht durch eine grundlegende Sexualisierung aller Lebensbereiche ausgeübt wird.

Konkretisiert man das Sexualitätsdispositiv in Bezug auf die Frau, so ging es um die Kontrolle weiblicher Fruchtbarkeit, um auf diese Weise das Arbeitskräftereservoir zu steuern. Zur Abwehr nicht-generativer Sexualität wurden Ausschlusscharaktere ›erfunden‹, wie der Samen verschwendende onanierende Knabe, der nicht-generative Homosexuelle und die gebärunwillige hysterische Frau. Solche Ausschlusscharaktere sind nötig, um die gewünschte biopolitische Regulierung einer generativen Bevölkerung zustande zu bringen. Foucault kleidet diesen Zusammenhang in Form einer Frage: »Durch welches Ausschließungssystem, durch wessen Ausmerzung, durch die Ziehung welcher Scheidelinie, durch welches Spiel der Negativität und Ausgrenzung kann eine Gesellschaft beginnen zu funktionieren?« (Foucault 1976b: 57)

Die postkoloniale Theroretikerin Ann Laura Stoler hat in Race and the Education of Desire. Foucault’s History of Sexuality and the Colonial Order of Things (Stoler 1995) darauf hingewiesen, dass Foucault eine Blindstelle bezüglich des Anti-Black-Kolonialrassismus hat und rät dazu, die kolonialistischen sexuellen Phantasmen von ›Wilden, Barbaren, Primitiven‹ zu den oben referierten sexualpolitisch relevanten Ausschlusscharakteren hinzuzufügen. So einleuchtend diese Intervention auf den ersten Blick erscheint, wirft sie aber auch Probleme auf. Die Foucault’schen Ausschlusscharaktere sind Repräsentant_innen nicht-generativer Sexualität. Fügt man die ›Wilden, Primitiven, Kolonisierten‹ hinzu, sieht es zunächst so aus, als zerstöre man diese Funktionslogik, denn es handelt sich hier keineswegs um Vertreter_innen nicht-generativer Sexualität. Das Bild stimmt allerdings wieder, wenn man sich klarmacht, dass die Generativität dieser ›Primitiven‹ unerwünscht ist.7

Die Fertilität von ›Anderen‹ war im Kolonialismus an zwei Fronten bedrohlich, nämlich im Hinblick auf die Frage, dass es zu viele sein könnten, um sie mit den vergleichsweise kleinen Kolonialarmeen, Expeditions-Korps und ›Schutz‹-Truppen in Schach halten zu können, und zweitens, dass es zwischen den Kolonisierer_innen und den Kolonisierten zu Vermischungen kommen könnte. Dieser befürchtete Umstand wurde mit Sondergesetzen gegen miscegenation in den Vereinigten Staaten oder eine sogenannte ›Bastardisierung‹ in Europa schon lange vor dem Faschismus (Grosse 2000) bekämpft. Race in die Dynamik des Sexualitätsdispositivs systematisch einzubeziehen, ist also eine wichtige und nötige Ergänzung, darf aber nicht rein additiv verstanden werden, sondern race (in Gestalt der Kolonisierten) kann nur dann in die Foucault’sche Machtmechanik eingebunden werden, wenn sie jenseits von Fertilität sexualisiert wird.

Problematisierungsweisen

Man trifft bei der Betrachtung der drei hier herauspräparierten Stränge der Befassung mit Sexualpolitik auf revolutionäre, patriarchatskritische, rassismuskritische und staatskritische Motive. Es werden Traditionen wie die Sexpol-Bewegung sowohl unterbrochen – sie fallen historischen Amnesien anheim – als auch wiederbelebt wie etwa in Rhetoriken der 68er. Gleichzeitig kam es im Sinne von travelling concepts zu einer Rück- bzw. Erstübersetzung der zunächst hauptsächlich patriarchatskritischen sexual politics in deutsche Sprache und Bewegungen. Man denke an die Kastrationsaufforderung der Keimzelle der deutschen Frauenbewegung, des Weiberrates (1968): »Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen« (Weiberrrat 1968).8 Unübersetzt – im sprachlichen und im inhaltlichen Sinn – blieben für lange Zeit die rassismuskritischen Dimensionen des angloamerikanischen Gebrauchs.

Die Foucault’sche sexualpolitische Intervention schloss zu Beginn der 1980er Jahre, als die deutsche Übersetzung von Sexualität und Wahrheit (Hardcover 1977, Taschenbuch 1983) populär wurde, mit einer gewissen Enttäuschung ab, die mit dem Scheitern der Sexuellen Revolution als Hebel einer umfassenden und auch ökonomischen Revolution einherging. Die ernüchternden Analysen über Manipulation durch Sexualität, wie sie von der Neuen Frauenbewegung als Anklage gegen den Machismo und Sexismus der Studentenführer formuliert wurde und die Foucaults biopolitische Entzauberung von Sexualität als Befreiungskraft bewirkt hatte, sogen Luft unter den Flügeln der Utopie weg. Wollte man die politische Dimension von Sexualität im Spiel halten, blieben drei Optionen. Entweder entschied man sich für die angloamerikanische Tradition der Analyse von Diskriminierung durch Sexualisierung9 oder für die französische Tradition der Kritik an Machtexekution durch Sexualisierung.10 Eine dritte Möglichkeit besteht in einem hybridisierenden Zugang, der versucht, die Kritik am Androzentrismus mit einer gendersensiblen diskursanalytischen Kritik an Machttechniken, die über Sexualisierung funktionieren, zu verbinden oder zumindest in produktive Koexistenz zu bringen. Ich selbst verfolge diese dritte Möglichkeit. Dabei ist mir die andere Seite der angloamerikanischen Tradition, nämlich Gender und race gleichwertig als Objekte einer Diskriminierung durch Sexualisierung zu verstehen, ein zentrales Anliegen. So gesehen verwende ich den Terminus Sexualpolitik als ein kritisches Analyseinstrument, die Verschränkung der Sexualisierung von Gender und race sowohl unter dem Aspekt der Diskriminierung als auch als hegemoniale Machttechnik zu betrachten.

Das geschieht dadurch, dass sexuelle Ausdrucksformen bestimmter Bevölkerungsgruppen für gefährlich oder problematisch erklärt werden. Sie werden durch so genannte Problematisierungsweisen als fassbare, bekämpfbare Einheiten dingfest gemacht. Ist erst einmal eine solche Homogenisierung gelungen, nehmen gesellschaftliche und individuelle Akteur_innen bereitliegende sexualpolitische Diskursfragmente auf und wenden sie gegen andere Menschen und Gruppen. Sie sehen sich meist nicht als Exekutor_innen von Machtapparaten, sondern als freie Agent_innen von Allgemeinwissen, Meinungen, Krisen und Problemen, auf die sie mit Besorgnis reagieren. Mit dem Terminus ›Problematisierungsweise‹ wird die Naturwüchsigkeit von Krisennarrativen und Problemstellungen herausgefordert und gefragt, »warum an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Zeit, etwas Besorgnis erregt« (Laufenberg 2014: 125). Eine Analyse von Problematisierungsweisen ergründet somit eher den Entstehungsherd, als dass sie Auskunft über die »wirkliche Beschaffenheit des Gegenstands der Sorge« (ebd.) bieten würde.

Foucault erklärt sein Verständnis von Problematisierungsweisen (problématisation): »Ich versuchte von Anfang an, den Prozess der Problematisierung zu analysieren – was heißt: Wie und warum bestimmte Dinge (Verhalten, Erscheinung, Prozesse) zum Problem wurden« (Foucault 1996: 178). Ulrike Klöppel hat herausgearbeitet, dass das Spezifische an einmal etablierten Problematisierungsweisen ist, dass sie zur Pflicht werden, d. h. die Zusammenhänge also in einer bestimmten Weise gedacht werden müssen (Klöppel 2010: 260). Hat sich ein Diskurs als ›Problem‹ etabliert, bekommt er einen imperativen Charakter, der darin besteht, dass er Lösungen erfordert. Als Lösung wird dann angesteuert, das ›Problem‹ zu liquidieren.

Einer solchen Problematisierungs- und Lösungsstrategie sind muslimische Migrant_innen und Geflüchtete vielfach unterworfen. Das Bedürfnis, weiter Teile der abstammungsdeutschen Bevölkerung, diese Migration zu begrenzen, Neueinwanderung zu verhindern und womöglich alte Migration rückgängig zu machen nimmt die Form von sexualpolitischen Stigmatisierungen an, die in zwei Richtungen weisen. Muslime seien in Deutschland einerseits unerwünscht, weil sie ein ›rückständiges‹ Sexualregime pflegen, unterdrückt sind und sich nicht autonom sexuell entfalten wollen und deshalb nicht in eine freie Gesellschaft ›passen‹. Andererseits seien sie unerwünscht, weil sie eine gefährlich aggressive Sexualität hätten, die sie zu Straßenbelästigungen motiviere, wie die Ereignisse in Köln in der Silvesternacht 2015/16 gezeigt hatten. Wenn ich hier von sexualpolitischer Stigmatisierung spreche, ist sowohl die Problematisierung des Geschlechterverhältnisses angesprochen (als ›rückständiges‹ Machtverhältnis) als auch die Problematisierung von race. Hier wird eine Art von Rassisierung von Religion vorgenommen und die angebliche sexuelle Gefährlichkeit des muslimischen Jungmannes als ein Ergebnis islamischer Erziehung gewertet.

Im Laufe der Zeit führt diese immer wiederholte Problematisierungsweise zu einem ›Wissen‹ über die ›Wahrheit‹ der Tatbestände und verdichtet sich zu einem Urteil. Inzwischen gibt es kaum mehr Uneinigkeit darüber, dass es sich bei diesen ›antimuslimischen Ressentiments‹ um Rassismus handelt.11 Im Gegenzug zur angeblichen ›Rückständigkeit‹ migrantischer Sexual- und Geschlechterregime wird dann ein damit verbundenes und abhängiges abendländisches Überlegenheitsnarrativ installiert, das ich ›Sexueller Exzeptionalismus‹ nenne,12 und das sich einerseits auf dramatisierte Gegenüberstellungen von muslimischer sexueller Unterdrückung versus abendländischer sexueller Selbstbestimmung stützt und andererseits eine rassifizierte Religionsvorstellung einer universalisierten Säkularität entgegenstellt.

Trotz oder genaugenommen wegen solcher Verabsolutierungen ist es wichtig, von unterschiedlichen Perioden spezifischer Rassismen auszugehen und diese in zeitliche Beziehung mit jeweiligen sexualpolitischen ›Problem‹-Lagen der nicht-muslimischen Gesellschaft zu setzen. Für deutsche Verhältnisse scheint es mir sinnvoll, im Sinne von Paul Mecheril von einem im Fluss befindlichen Feld der »natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitspraktiken« (Mecheril/HagenWulff 2016: 130) zu sprechen. Beginnend mit der Realisierung der Tatsache, dass die ›Gastarbeiter‹ bleiben werden, bis zum Flüchtlingszuzug 2015 wird in verschiedenen Konjunkturen der Migrationsabwehr in immer neuen hierarchisierenden und (Kultur-)Vergleichsoperationen am ›Anderen‹ entwickelt, was Deutschsein bedeutet.13

Diesen Zusammenhang möchte ich hier anhand von vier Phantasmen von Eingewanderten und Geflüchteten darstellen, die ich Migrationsabwehrfigurationen nenne. Die Abwehrfigurationen haben eine entfernte Verwandtschaft mit den Foucault’schen Ausschlusscharakteren, insbesondere dann, wenn man sie, wie Ann Laura Stoler vorschlägt, durch rassisierte Phantasmen ergänzt. Gemeinsam haben beide Muster sicherlich, dass sie über Zuschreibungen abjekter Sexualität wirksam gemacht werden und insofern den Anforderungen eines Sexualitätsdispositivs gerecht werden. Aber die Adresse der Machtströme ist unterschiedlich. Während Foucaults ›altes‹ Sexualitätsdispositiv der Regulierung der weißen Mittelklasse-Bevölkerung dient, sind die migrationsfeindlichen Ausschlussfigurationen hauptsächlich gegen Migrant_innen gerichtet. Sie haben zwar einen gewissen Anteil an der Konstruktion des okzidentalen Selbst,14 sind aber nicht disziplinierender Natur für die Mehrheitsbevölkerung. Man könnte allerdings darüber nachdenken, ob sie normierender Natur sind, und damit Bestandteile eines ›neuen‹ Sexualitätsdispositivs.15

Psychoanalytisch gesprochen, tritt Abwehr dann ein, wenn eine subjektiv »unerträgliche Vorstellung« bekämpft werden muss oder soll (Freud 1999 [1894]: 61). Das kann entweder dadurch geschehen, dass aus der starken Vorstellung eine schwache gemacht wird, also in etwas konvertiert wird, das die Ursprungsvorstellung verdeckt. Das wäre bei der sogenannten Konversionshysterie der Fall (Lähmungen, Taubheit, Blindheit etc.). Es kann aber auch sein, dass die psychische Energie zur Abwehr der Vorstellung nicht konvertiert werden kann. Dann würde sich die unbeheimatete Affektenergie mit etwas gänzlich anderem verknüpfen und in eine Obsession oder Zwangsvorstellung münden.

Wendy Brown hat kürzlich auf Freuds recht wenig beachtete frühe Schriften zu den Abwehr-Neuro-Psychosen Bezug genommen (Freud 1999 [1894]; 1999 [1896]), um die Insistenz spätmoderner Nationalstaaten zu erklären, sehr teure und offensichtlich ihren Abwehrzweck verfehlende Mauern und Zäune zu bauen, zum Beispiel zwischen den USA und Mexiko, zwischen Israel und der Westbank, zwischen Marokko und Ceuta (Brown 2014 [2010]). Brown politisiert Freuds Modell und interpretiert den ›hysterischen‹ Mauerbau als Versuch, in einem Zeitalter schwindender Staatssouveränität durch (Welt-)Marktradikalität, supranationale Governance und globalisierte Migration, den verängstigen – in Deutschland spricht man von ›besorgten‹ – Bürgern das Gefühl zu geben, man würde sie gegen gefährliche Fremde absichern (ebd.: 115ff.), ihnen ein sicheres Heim (ebd.: 117ff.) bieten und ihnen dabei das Gefühl der Unschuld und moralischen Überlegenheit vermitteln, da das Böse ja ›Außen‹ ist (ebd.: 121ff.).

Browns Verwendung des Abwehr-Komplexes als Symptom westlicher psychosozialer Befindlichkeit scheint mir auf das Untersuchungsfeld Abwehr von muslimischer Migration nach Deutschland übertragbar. Es liegt mir fern, die damit einhergehenden Rassismen zu pathologisieren, da es ja die Akteur_innen entlasten würde, jedoch scheinen mir Konversion und Obsession als Phänomene durchaus aufzutauchen. Wie soll die Hysterie um das Kopftuch anders erklärt werden, als als Konversion der ›unerträglichen Vorstellung‹ der permanenten Anwesenheit von angeblich ›fremden‹ Elementen in ein Projekt von messianischem Säkularismus (das Paradox ist gewollt) und die Feier einer sexuellen Autonomie, die für die Mehrheit der Bevölkerung wenig empirische Grundlage hat?16 Was ist mit der plötzlichen Obsession selektiv ethnisierter Sexismuskritik, die ich in einem der hier versammelten Aufsätze unter dem Begriff ›Ethnosexismus‹ fasse,17 nach den Ereignissen von Köln? Warum ist das schwulenfeindliche Vokabular muslimischer Jugendlicher gefährlicher als das ebenso schwulenfeindliche Vokabular abstammungsdeutscher Fußballultras? Warum ist das Arrangieren einer haltbaren Ehe frauenfeindlich und die Wegwerfscheidungen prominenter Männer, die periodisch ein älteres gegen ein jüngeres Modell austauschen, nicht?

Das Verdienst von Browns durch Freud inspirierten Zugang ist, den Grund für die neue Leidenschaft von Nationalstaaten für den Mauerbau nicht im fremden gefährlichen Außen zu suchen, sondern im prekären Innen, das eigene Unsicherheiten mit Abschottungs- und Abwehrnarrativen verbindet. Diesen Gedanken aufnehmend beschreibe ich im Folgenden vier Figurationen, die die deutsche Migrationsabwehr allegorisieren: die bedeckte Muslima und – meist mit ihr verbunden – die des ›orientalischen Patriarchen‹ –, dann die Figuration des ›homophoben‹ muslimischen Jugendlichen und zuletzt die Trope des sexuell übergriffigen Geflüchteten. In allen Fällen wird muslimische Erziehung für eine sexualpolitisch argumentierende Problematisierungsweise verantwortlich gemacht.

Migrationsabwehrfigurationen

Die Diskussion um die bedeckten Muslima nahm gegen Ende der 1990er Jahre mit den französischen und deutschen Kopftuchverboten Fahrt auf und zieht seitdem einen großen Korpus sowohl wissenschaftlicher als auch medialer Diskurse nach sich. Da ich mich mit den Verflechtungen von für muslimisch gehaltenen und nicht-muslimischer Sexualpolitik beschäftigen will, greife ich hier einen kleinen lebensweltlichen Aspekt heraus: Diversität und Koexistenz in der Schulklasse. Zur Hochkonjunktur des Kopftuchstreites bestand (und besteht) ein deutlicher Kontrast zwischen bedeckten Mädchen und dem textilarmen ›Schlampen-Schick‹ vieler ihrer säkularen Klassenkameradinnen.18 Die Abwehrfiguration ›Kopftuchschülerin‹ korrespondiert oder interagiert also mit einem nicht-muslimischen sexualpolitischen hotspot: Welche Bekleidung ist für Schülerinnen angemessen?

Da man sich in Deutschland nicht zur Einführung von egalisierenden Schuluniformen durchringen kann, ist dieses Terrain nicht einfach zu navigieren, vor allem da es machtempfindlich und freiheitsambivalent ist. Unter machtempfindlichen Phänomenen verstehe ich Zusammenhänge, die für nicht gut befunden werden, deren Veränderung aber fragile Gleichgewichte bedrohen würde. Viele abstammungsdeutsche und säkulare Eltern waren und sind von dem minimalistischen Kleidungsstil ihrer Töchter irritiert, und sie ließen sich meist nicht von der heftig vorgetragenen peer-group-pressure ›das tragen heute doch alle‹ beeindrucken. Komplizierter wurde die Verhandlung nach Sätzen wie ›Du willst doch nicht etwa, dass ich wie diese Kopftuchmädchen aussehe‹.19 Machtempfindlich ist/war dieses Eltern-Kind-Verhältnis deshalb, weil die Eltern den Einfluss auf ihre Töchter nicht verlieren wollten. Freiheitsambivalent waren und sind diese Relationen, weil nicht klar ersichtlich war, ob die Freiheit von (Kleidungsvorschriften) oder die Freiheit zu erotisierter Entblößung gemeint war.

Nun ist der Kampf zwischen Eltern und Töchtern um Kleidungsstile durchaus schon älter und begann spätestens mit Petticoats und Jeans und gewann mit der Einführung des Minirocks an Dramatik. Jedoch war das ›konstitutive Außen‹ dieses Konflikts im Inneren einer sich als monokulturell verstehenden Gesellschaft angesiedelt und bestand aus der Kirche oder den Nachbarn. Chantal Mouffe hat darauf hingewiesen, dass sich jeder Tatbestand ändert, wenn sich das ›konstitutive Außen‹ ändert, etwa wenn der Begriff Demokratie nicht mehr im Gegensatz zu Kommunismus steht (Mouffe 2000: 147), sondern etwa zum Gottestaat oder populistischer Volksherrschaft. Wenn, wie im obigen Beispiel, die bedeckte Muslimin zum konstitutiven Außen wird, geschieht zweierlei: Anders als bei der Kirche oder den Nachbarn trägt diese Positionierung zum Fremdmachen der Eingewanderten bei. Darüber hinaus wird die sexualpolitische Problematisierung von Muslimen in Deutschland als »Medium« oder »Proxy«20 für eine ›eigene‹ Konfliktlage eingesetzt.

Bei dem hier diskutierten Tatbestand handelt es sich zudem um einen performativen Selbstwiderspruch. Die Kopftuchdebatte stößt sich ja an der Sichtbarkeit von Differenz. Gleichzeitig verhandeln die entblößten Teenager mit diversen Machtinstanzen das Pro und Kontra von Sichtbarkeit von (zu) viel von ihrer Haut. Die Islamwissenschaftlerin Schirin Amir-Moazami merkt an, dass der »Fragerahmen« – man könnte hier auch von Problematisierungsweisen sprechen – einer »liberal säkularen Matrix« sich konstant an islamisch konnotierten Körperpraktiken wie Kopftuch, Beschneidung oder öffentlich verrichteten Gebeten stößt (Amir-Moazami 2016: 32).21

Muslime zeichne aus abendländischer Perspektive aus, dass sie anstößige Körperpraktiken verfolgen, ja, dass sie überhaupt einen Körper haben. Im Gegenzug stellt Amir-Moazami die Frage, ob es eigentlich einen säkularen Körper gebe. Obwohl im Allgemeinen das Säkulare als abstrakt und körperlos gedacht wird oder, wie Charles Hirschkind sagt, als das Wasser, in dem wir schwimmen (Hirschkind 2011: 637), neige ich dazu, den säkularen Körper als den entblößten weiblichen Körper des Globalen Nordens zu denken.22 Auf jeden Fall ist Amir-Moazami bei folgender Einschätzung zuzustimmen:

»[W]ir müssen die Diskursivierung über außergewöhnliche muslimische Körper selbst als Machttechniken begreifen. Denn sie tragen zur Verstetigung der Markierung des Anderen und damit auch zur Souveränität und Normalisierung der Fragenden, den sprechenden Subjekten, bei, deren einverleibte Körperpraktiken und -techniken dann nicht mehr befragt werden müssen.« (Amir-Moazami 2016: 36)

Ganz sicher allerdings scheint man sich der Fraglosigkeit westlicher Entblößung nicht mehr zu sein. An der französischen Côte d’Azur hatte man in den 1970er Jahren – im Übrigen gegen großen Widerstand und gelegentliche Polizeieinsätze – mit Hilfe von Brigitte Bardot das Baden ohne Bikinioberteil durchgesetzt. Nun sahen sich französische Polizisten im Sommer 2016 dazu genötigt, eine bedeckte Muslima anzuweisen, sich auszuziehen (N.N. 2016b). An diesem Beispiel kann man sehen, wie die westliche Entblößungsfreiheit zum Dispositiv und damit normativ geworden ist. Es ist inzwischen nicht nur erlaubt viel Haut zu zeigen, sondern geboten.23

Ein mindestens ebenso prekäres machtempfindliches Territorium betritt man mit dem Imaginationsfeld, in dem die muslimische Ehe pauschalisiert wird. Dabei entsteht neben dem Klischee der sexuell und anderweitig unterdrückten Ehefrau die Abwehrfiguration des gewalttätigen, kontrollierenden und sexuell unterdrückenden ›orientalischen‹ Patriarchen, dessen historische Fluchtlinien weit in orientalistische Haremsphantasien zurückreichen. Das machtempfindliche okzidentale Gegenstück besteht darin, dass auch in der abstammungsdeutschen Bevölkerung häusliche Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe weder ›gelöst‹ wurde noch thematisiert werden will.24 Das abstammungsdeutsche Patriarchat bleibt also strukturgewalttätig, verfolgt vorhandene Gesetze nur zögerlich, kehrt fast immer die Beweislast zuungunsten des Opfers um. Die Verfehlungen werden allerdings individualisiert, während die gleichen Verfehlungen bei muslimischen Bürgern als kulturell bedingte Gruppenzugehörigkeit verhandelt werden. So ist mit dem ›orientalischen Patriarchen‹ ein Sündenbock gefunden worden, mit dem sich die Angelegenheit mit dem strategischen Komparativ des ›rational‹ argumentierenden Neo-Rassismus – ›aber viel schlimmer ist …‹ – beiseiteschieben lässt. Der Hinweis auf kulturalisierte Verbrechensinterpretationen wie ›Ehrenmord‹ (Hauschild 2015) und Zwangsverheiratung tut dann ein Übriges, um die Debatte zu schließen.

Die beiden oben genannten Abwehrfigurationen beschreiben historische Problematisierungweisen, ob Deutschland sich als Einwanderungsland verstehen will. Sie beziehen sich auf die real existierende Beheimatung der Gastarbeitergeneration und ihrer Kinder am Beispiel der Deutschtürk_innen. Die hier entwickelte obsessive Beschäftigung mit den Themen Sexualunterdrückung und sexualisierter Gewalt im Zusammenhang mit den Eingewanderten ist der Fremdmachungsversuch einer unumkehrbaren Faktizität, weshalb die Kritische Migrationsforschung auch von einem neuen Paradigma spricht, das postmigrantisch genannt wird (Foroutan 2016). Es basiert darauf, dass die Tatsächlichkeit der vollendeten Migration nicht mehr in Frage gestellt werden kann. Viele ehemalige ›Gastarbeiter‹ sind verrentet, haben die Staatsbürgerschaft erworben und sind damit Gesellschaftsmitglieder mit vollen Rechten. Unter dieser Perspektive müssten Wörter wie Migrant_innen und insbesondere das Unwort ›Migrationshintergrund‹ aus dem deutschen Sprachgebrauch verdrängt werden, um ihre performative, immer wieder bestätigende Macht zu brechen.

Mit der sexualpolitischen Skandalisierung des Muslim-Seins wird versucht, diese faktische Zugehörigkeit wieder aufzulösen. Der muslimische Körper wird als unterdrückt und/oder gewalttätig an den Pranger gestellt. Beide Sichtweisen bedingen sich dabei gegenseitig, nämlich Frauen sind unterdrückt, weil ihnen ihre Religion das so vorschreibt und Männer über sie eine Gewaltherrschaft ausüben. Das macht sie zum Besitz von Vätern, Ehemännern und Brüdern und für alle anderen Muslime unerreichbar. Sexualisierte Gewalt gegen als ›Schlampen‹ angesehene abstammungsdeutsche Frauen ist dann als Ventil gegen diesen Druck zu begreifen. Gegen dieses abzulehnende, als muslimisch charakterisierte Gewaltgefüge wird die ›eigentliche‹ natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit über einen positiv sexualisierten Freiheitsimperativ definiert. Die anhaltende Ungleichheit der Geschlechter in der Gesamtnation wird damit überspielt und die Verwundbarkeit aller Frauen gegenüber sexualisierter Gewalt zu einem Fremdimport deklariert.

Der zweite große sexualpolitische Fremdmachungsversuch – die Besorgnis um angebliche Homophobie von männlichen Jugendlichen der Dritten Generation mit ›Migrationshintergrund‹25 – war wiederum mit ›eigenen‹ sexualpolitischen Verschiebungen verschränkt. Es ist im gesamten Globalen Norden – zumindest in den Metropolen – zu einer zumindest rhetorischen ›Normalisierung‹ von Homosexualität gekommen. In Deutschland standen dabei die Präsenz und der Erfolg geouteter Politiker wie etwa Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit im Vordergrund und die allmähliche Durchsetzung, wenn nicht des vollen Ehe-Privilegs, so doch der Möglichkeit der Verpartnerung. Diese Entwicklung wurde in der liberalen Öffentlichkeit mit einem geradezu euphorischen Selbstlob bezüglich der abendländischen ›Toleranz‹ bedacht, sodass sich Gundula Ludwig fragt: »Woher kommt eigentlich das Begehren westlicher Staaten nach dem Begehren ›ihrer‹ Lesben und Schwulen?« (Ludwig 2014: 99). Mit Berufung auf den Queer-Theoretiker Chandan Reddy (Reddy 2011) beantwortet sie die Frage damit, dass diese ostentative Toleranz gegenüber Homosexualität die Funktion hat, ›das Versprechen der Moderne‹ einzulösen und damit einen Exzeptionalimus gegenüber allen anderen nicht so toleranten Zivilisationen behaupten zu können.

Aus queerfeministischer Perspektive wird der neue Enthusiasmus gegenüber Homosexualität als Zeichen der Freiheit durchaus skeptisch gedeutet. So wird analysiert, dass ein neoliberaler »Toleranzpluralismus« (Engel 2008: 46) eine flexible Normalisierung betrieben habe, um sie als Vorbilder »zivilgesellschaftlicher Organisationsformen« und konsumkapitalistischer »Bürger_innenschaft« (Engel 2009: 21) zu inszenieren. Andere bezweifeln, dass es dabei zu einer echten Anerkennung gekommen sei und sehen eher eine Eingemeindung, eine »Heteronormalisierung nicht-heterosexueller Lebensverhältnisse« (Hark/Laufenberg 2013: 33) am Werk. Insbesondere stimme ich der folgenden Einschätzung von Sabine Hark und Mike Laufenberg zu: »Homosexualität mag zwar ein Teil von Heteronormativität sein, kann aber niemals jene unsichtbare, stillschweigende und Gesellschaft begründende Richtigkeit haben« (ebd.: 232, meine Kursivierung). Lauren Berlant und Michael Warner sprechen von der heterosexuellen Kultur als der »ordinary rightness of the world«, die eine »metacultural intelligibility« habe (Berlant/Warner 1998: 552f.). An diesem Punkt des unausgesprochenen ›nicht richtig‹ Findens positioniere ich die Abwehrfiguration des homophoben migrantisierten Jugendlichen.

Chandan Reddy schreibt in seinem radikalen Buch Freedom with Violence. Race, Sexuality and the US State, dass race das politische Unbewusste von Sexualität sei (Reddy 2011: 17). So gesehen würde es sich bei der Verschiebung von Homophobie auf migrantisierte Jugendliche um ein Unbehagen der Mehrheitsgesellschaft an der ›Richtigkeit‹ ihrer offiziellen Pro-Homo-Haltung zeigen. Wenn man den Begriff des politischen Unbewussten ernstnimmt, dann erledigt diese Stigmatisierung noch ein weiteres Problem. Damit werden gleichzeitig Staatsversagen in der Schulpolitik, die damit einhergehende Bildungsapartheid und Entsorgung ganzer Generationen im überforderten Hauptschulsystem und die Vernachlässigung ›aufgegebener‹ Stadtviertel auf die ›Schuld‹ muslimischer Erziehung verschoben und über eine sexualpolitische Skandalisierung erledigt.26

Mit der letzten hier zu entwickelnden Abwehrfiguration, der des ›sexuell übergriffigen muslimischen Flüchtlings‹, dramatisiert sich die sexualpolitische Rhetorik nach den Vorfällen von Köln zu einer kulturellen Panik. Es sind ja auch vergleichsweise ›dramatischere‹ Zusammenhänge zu verhandeln, nämlich der Flüchtlingszuzug im Herbst 2015. An dieser Stelle möchte ich zunächst nur auf zwei Aspekte dieses sehr dichten semantischen Feldes hinweisen. Erstens die historische Tradition der ›Krisen‹- oder Umbruch-Bewältigung über sexualpolitische Sündenbock-Konstruktionen. Zweitens spielt die offene Wunde des Sexismus eine große Rolle als sicht- und fühlbares Zeichen einer allen sexuell exzeptionalistischen Behauptungen zum Trotz weder gelungenen noch vollendeten Frauenemanzipation.

Die Figuration des ›schwarzen‹ Vergewaltigers und der daraus entstandene Terror der Lynchjustiz diente für fast ein ganzes Jahrhundert der Abwehr der weißen US-Bevölkerung, race-Gleichheit zu akzeptieren. Die angeblich massenhaft vergewaltigenden schwarzen Soldaten, genannt die »Schwarze Schmach« (Wigger 2007), der französischen Besatzungsarmee im Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg übertönten das Desaster des Verlustes eines selbst angezettelten Krieges mit Millionen verlorenen Menschenleben. Jetzt dient das Narrativ des Sex-Mobs von Köln dazu, die Akzeptanz von knapp einer Million muslimischen Geflüchteten zu verhindern, von denen angesichts der Weltlage viele wahrscheinlich in Deutschland bleiben werden.27

Für die hier verfolgte Fragestellung ist die ›offene Wunde Sexismus‹ mindestens gleichermaßen wichtig. Noch ist nicht abzuschätzen, ob die kleine Konjunktur der Sensibilisierung für Sexismus, in der Michelle Obamas Plädoyer für seine Entnormalisierung von 2016 einen Höhepunkt bildet, im Westen zu einer fundamentalen Restrukturierung des politischen Unbewussten führen wird. Die schwer greifbare Machttechnik Sexismus liegt im Habitus der männlichen Herrschaft, und ist eine möglicherweise nicht mittelfristig durch Überzeugungsarbeit zu beseitigende Doxa der Weltwahrnehmung (Bourdieu 1997a). Auch wenn im Globalen Norden rechtliche Gleichstellung erreicht ist und sogar Bildungs-und Einkommens-Asymmetrien für Frauen langsam beseitigt werden, bleibt die Persistenz von Sexismus ein periodisch schrill schmerzendes Symptom für die fehlende Akzeptanz von Frauen als gleichwertige Menschen.28

Die brutale Wahrheit, dass abendländische Sexismen nicht nur mit herablassenden Äußerungen und entwertenden Auffassungen, sondern auch mit gewaltsamen Übergriffen verbunden sind, bricht jedoch immer wieder durch. An sexistischen Ungeheuerlichkeiten von Dominique Strauss-Kahn (Dietze 2011) und Donald Trump kann man sehen, dass die maskulinistische rape- und Verachtungskultur nicht etwa ein Relikt ›bildungsferner Schichten‹ ist, sondern dass er nicht nur aus der Mitte, sondern auch aus der Elite westlicher Gesellschaften kommt. Man kann sogar sagen, dass ökonomische und politische Eliten besonders sexismusaffin sein können, weil sie Frauen als Beute und Gratifikation für eben diese Macht begreifen: Donald Trump hat diesen Zusammenhang klar erkannt und ausgenutzt: »Wenn du ein Star bist, dann lassen sie dich. Du kannst alles machen. Ihnen an die Muschi fassen. Alles« (Dreyer/Medick 2016).

Es muss nun kaum mehr ausgesprochen werden, wie ›gelegen‹ es kam, bei dem ›Ereignis Köln‹ muslimische Fremde als Importeure von unsagbarem Sexismus positionieren zu können. Derek Hook schreibt in dem erhellenden Aufsatz »Affecting Whiteness. Racism as a Technology of Affect« von einer »retroactive justification« (Hook 2007), wenn ein Ereignis auf eine vorgeprägte Affekt-Position trifft und dabei eine affektive Reaktion dramatisiert. Im ›Ereignis Köln‹ ist wahrscheinlich am hellsten ausgeleuchtet, wie Sexualpolitik Emanzipationswünsche und Ethnosexismus zu scheinbar untrennbaren Diskursverbindungen verkoppelt werden und die damit einhergehende Ignoranz ermöglicht, nur den Splitter im Auge des Anderen sehen zu wollen. Die Geflüchteten werden in Gänze ›ereignishaftbar‹ gemacht, und diese ›Ereignishaftbarmachung‹ funktioniert selektiv.29 Bei Elite-Sexisten wie Strauss-Kahn und Trump sieht man nur Individuen und kein System und keine Gruppe. Bei den übergriffigen Silvester-Tätern sieht man nur ›Kultur‹ und Gruppe und keine Individuen. Damit ist eine der klassischen Kriterien von Rassismus erfüllt, der verallgemeinernde ›Übergriff‹ vom Individuum zur Gruppe, oder von der Teilgruppe auf ›alle‹.

Alle Abwehrfigurationen personifizieren zwar ein xenophobes Projekt, aber in ihren Abwehrenergien und -richtungen ist ein bemerkenswerter Gestaltwandel zu beobachten. Die bedeckte Muslima stand für eine Verteidigung der kulturellen Suprematie, die sich als Angst vor dem Verlust einer – möglicherweise prekären – aber durchaus emphatisch vertretenen sexuellen Selbstbestimmung und/oder Freiheit ausgab. Dahinter stand die Idee einer erfolgreichen westlichen Frauenemanzipation, die sich angeblich gegen einen quantitativ überfremdenen Rollback zur Wehr setzt. Die Sex-Mob-Narrative dagegen lassen potenzielle Opfer aufscheinen, die schutzlos einer fremden sexualisierten Gewaltstruktur ausgeliefert sind.

Diese Opfererzählung mag für eine gesellschaftliche Mehrheit anschlussfähig sein, insbesondere für Männer, die darin Schutzbedürftigkeit und Abhängigkeit von Frauen bestätigt sehen. Sie war aber für einen Großteil selbstbewusster bzw. feministisch oder gendertheoretisch informierter Frauen unerträglich, weil sie sich von einem rassistischen Diskurs funktionalisiert fühlten und jegliche agency abgesprochen bekamen. Hier wurde ein vergrabenes Wissensarchiv aktiviert, das über solche exemplarische Ereignisse aufrufbar ist. Der Slogan ›Nicht in meinem Namen‹ war Konsens dieser aus der sexualpolitischen Problematisierungsweise ausscherenden Gruppen. Obwohl der Mainstreamfeminismus Schwarzer’scher Prägung die unerwartete sexismuskritische Konjunktur femonationalistisch (Farris 2011) genutzt hat, war es auffällig, dass die hörbarsten antirassistischen Gegenstimmen von politisch aktiven Frauen, von denen sich manche als Feministinnen verstanden, kamen – etwa in der Kampagne #ausnahmslos. Und es sind auch bedeutende queer-feministische Fraktionen und Theroriker_innen, die die (europäische) Fraglosigkeit eines säkularen Konsens’ angreifen.

Der Säkularisierungskomplex

Die sexualpolitisch argumentierende Migrationsabwehr ist mit einem Set von ›Grundwerten‹, die der europäischen Aufklärung beigemessen werden, unterlegt. Neben Individualität und Freiheit wird besonders in Europa Säkularität in einen unversöhnlichen Gegensatz zu religiöser (sprich muslimischer) Observanz gesetzt30 und als eine der wichtigen Voraussetzungen von Frauenemanzipation gewertet. Joan Scott rekonstruiert in ihrem Vortrag »Sexularism«, der auf erhellende Weise Säkularität und Sexualität zu einem Kunstwort verschmelzen lässt, die Emphase, in der nach der Französischen Revolution das Volk durch eine Serie von säkularen Festen der kirchlichen Feiertage und damit der Pfaffenherrschaft entwöhnt werden sollte (Scott 2009: 2). Obwohl von gegenwärtigen Theoretikern der Säkularität wie Charles Taylor ein natürlicher und zwangsläufiger Konnex von Frauenemanzipation und Säkularisierung behauptet wird,31 bestreitet Scott entschieden, dass ein zwingender Zusammenhang zwischen der allmählichen Durchsetzung von Säkularität und einer zunehmenden Gleichheit der Frauen existiert.

Scott beruft sich dabei auf ein großes Korpus von Gender-Forschung, in dem herausgearbeitet worden ist, dass mit der Gleichheit der Menschen, wie sie in der Französischen Revolution erkämpft wurde, die Unvergleichlichkeit von Mann und Frau auf den Plan trat. Pointiert formuliert sie: »secularists removed God as the ultimative intelligent designer, and put ›nature‹ in his place« (ebd.: 4). Die Berufung auf ›Natur‹ und die Entstehung von ›Natur‹-Wissenschaften betonte gleichzeitig den biologischen Geschlechtsunterschied und die damit angenommene natürliche Unterlegenheit von Frauen gegenüber dem Mann.32 So betrachtet kann Säkularität nicht als Quelle und Voraussetzung von Frauenemanzipation in Anspruch genommen werden. Historisch korrekt ist genau das Gegenteil der Fall. Ungeachtet dessen hat sich in Europa die Vorstellung durchgesetzt, dass eine fehlende Säkularisierungskompetenz des Islam – und damit seine Insistenz, unterschiedliche Grade von Geschlechterhierarchie, Geschlechtersegregation und Bedeckung als Embleme religiöser Identität zu verstehen – als eines der Haupthindernisse für geglückte ›Integration‹ zu sehen.

Joan Scotts Einsatz, Säkularität als epistemische Basis für Frauenemanzipation zu hinterfragen, wurde insbesondere von den Arbeiten des Religionsanthropologen Talal Asad wie Formations of the Secular (Asad 2003) angeregt. Das Fortschrittsnarrativ einer säkularen Öffentlichkeit sei kein Feld der im Habermas’schen Sinne angestrebten herrschaftsfreien Kommunikation. Sondern er sei ein machtgesättigter Ort, der säkulare Weltzugänge über religiöse stelle und eine kolonialistische Aufteilung in ›humanum‹ als westlicher Weltbürger und ›anthropos‹ als Nicht-Mensch einer früheren Zivilisationsstufe produziere (Sakai 2010). William Connolly hat im Anschluss an Asad darauf hingewiesen, dass insbesondere das europäische Säkularitätsverständnis muslimischen Migranten eine angeblich nicht integrierbare Sonderposition unter allen anderen Minderheiten zuschreibe (Connolly 2006).33

Asads Intervention erwies sich in den US-amerikanischen cultural studies als sehr einflussreich und war mit dafür verantwortlich, angesichts eines immer größeren Anteils der Weltbevölkerung, der religiös affiliiert ist, eine Vorstellung von post-säkularem Denken und Forschen zu eröffnen.34 Diese Herausforderung wurde insbesondere von selbstreflexiven feministischen Theoretikerinnen angenommen.35 In diesem Zusammenhang wurden auch klassische Emanzipationsnarrative überdacht. Die Anthropologin Saba Mahmood forderte vor diesem Hintergrund die Vorstellung heraus, dass Widerstand gegen und Emanzipation von patriarchaler Unterdrückung nur über den Bruch von Regeln und Normen vonstattengehen könne. In ihrem Buch The Politics of Piety (Mahmood 2005) untersucht sie die ägyptische Frauen-Moschee-Bewegung, die männliche Herrschaft, die sich über den Islam begründet, mit größerer Frömmigkeit unter Druck setzt und damit deren Verhalten reformiert.

Mit dieser sehr viel zitierten Studie war das Argument etabliert, dass Frömmigkeit und Emanzipation keine feindlichen Schwestern sein müssen und dass damit die paradigmatische ›Problematisierung‹ der bedeckten Muslima nicht mehr als Kollektivsymbol für Frauenunterdrückung tauge. Rosi Braidotti, sich auf Saba Mahmood beziehend, rief angesichts des zunehmenden anti-muslimischen Rassismus in Europa die Notwendigkeit eines »postsecular turn in feminism« (Braidotti 2008) aus: »[B]ecause it makes manifest the notion that agency, or political subjectivity, can actually be conveyed through and supported by religious piety […]. Subjectivity is rather a process ontology of auto-poiesis or self-styling, which involves complex and continuous negotiations with dominant norms and values« (ebd.: 2).

Das Projekt eines post-säkularen Feminismus zu etablieren war nicht unerheblich davon motiviert, dass nationale Mainstream-Feminismen, etwa in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland, mit dem öffentlichen Diskurs die säkulare sexualpolitische Stigmatisierung von Muslim_innen als ›natürlichen‹ Frauenfeind_innen teilen. Liz Fekete beispielsweise kritisierte die Indienstnahme von feministischen Argumenten mit Unterstützung von prominenten Feministinnen als »Enlightened Fundamentalism« (Fekete 2006) oder Sara Farris spricht, wie bereits erwähnt, von einem ›Femonationalismus‹ (Farris 2011).36

Gegenstimmen

Mit den post-säkularen Interventionen hochgeschätzter Theoretikerinnen wie Joan Wallach Scott, Rosi Braidotti und später Judith Butler schien eine fundamentale Wendung feministischen Denkens auf den Weg gebracht: die Abkehr vom Säkularitätsnarrativ als Fortschrittsnarrativ. Sie passte in die schon lang geäußerte Kritik am weißen Feminismus als »feminist imperialism« (Amos/Parmar 1984), der mit »Western Eyes« (Mohanty 1991 [1984]) nur Stereotypen von ›Drittweltfrauen‹ ausmachen kann und statt schwesterlicher Solidarität auf Augenhöhe eine Mission von ›white feminists saving brown women from brown men‹ verfolgen würde.37 Im Zuge der Nutzbarmachung der ›oppressed Muslim woman‹ im ›war on terror‹ erklärte zum Beispiel die britische Politologin Nicola Pratt, dass Feminismus immer mehr zu Waffe im Kampf gegen Muslime geschmiedet werde (weaponising feminism), und ob nicht eine »strategic silence« gegenüber angeblicher oder wirklicher patriarchalischer Unterdrückung muslimischer Frauen durch ›brown men‹ angesagt wäre. Andernfalls trage man dazu bei, »to normalize violence against Muslim men« (Pratt 2013: 327).38

Die Diskursformation von Säkularitätskritik und ›strategischem Schweigen‹ wird von vielen geteilt, stößt aber inzwischen auch auf vehemente Kritik. Zum Beispiel merkt Literaturwissenschaftlerin Sadia Abbas irritiert an, dass der Bezugspunkt westlicher feministischer Solidarität nun nicht mehr die patriarchalisch unterdrückte Muslimwoman sei – wie Miriam Cooke das Klischee zu einer polemisierenden Bezeichnungsballung zusammenfügt (Cooke 2008) –, sondern eine nach Saba Mahmoods theoretischen Überlegungen imaginierte Handlungsmacht frommer Musliminnen: »anti-imperialists can, […] cite Islamist women who loathe the burdens of modernity and wish for different times, whose consent to subordination is really a muscle-flex of ›agency‹« (Abbas 2011: 445). Noch kompromissloser äußert sich die pakistanische Theoretikerin und Aktivistin Afiya Shehrbano Zia, die feministische Solidarität im Kampf von Frauen gegen die fortschreitende Islamisierung bestimmter Gesellschaften – wie zum Beispiel dem Iran und Pakistan durch misogyne theokratische Staatseingriffe – vermisst. Die Spekulationen über mögliche »agentic subjectivity« frommer Muslimas »ends up as collusive with, converging with, and endorsing of a masculinized, and increasingly hegemonic agenda of a narrowly defined Islam« (Zia 2013: 325).

Ina Kerner, die mich mit dieser substanziellen Kritik an der ›appeasement‹-Politik avancierter westlicher feministischer Positionen bekannt gemacht hat, spricht von eben dieser Politik als Feministischem Provinzialismus als einer abschottenden, auf den Globalen Norden oder eine ›Politik der sauberen Hände‹ reduzierten Haltung. Damit meint sie eine Abwendung von besonders reflektierten kritischen westlichen Feministinnen von der Nord-Süd-Solidarität und einer Besorgnis um globale Geschlechtergerechtigkeit (Kerner 2016: 8). Der Titel ihres Aufsatzes heißt entsprechend »Religion, Culture, and the Complexities of Feminist Solidarity«.

Falsche Alternativen

Die unter anderem von pakistanischen Feministinnen und Ina Kerner geäußerten Einwände sind einzusehen. Die Sorge, Feminismus als dominante und vor allem auf der Zeitachse fortschrittliches Aufklärungsnarrativ39 zu betreiben, ist ebenfalls berechtigt. Allerdings führt jede Logik des Entweder-Oder zu unbehaglichen und reduktionistischen Entscheidungen oder resignierender Untätigkeit. Hier ist der Punkt erreicht, an dem wieder auf das Leitmotiv Sexualpolitik zurückzukommen ist. Es ist genau die sexualpolitische Problematisierungsweise, die zu diesem Deadlock führt. Sie fügt die sexuelle Unterdrückung, die man Muslimen nachsagt, und die sexuelle Freiheit, die als westliche Errungenschaft gefeiert wird, zusammen und setzt sie zugleich einander entgegen. Das eine wird über das andere ›artikuliert‹.40 Was Not tut, ist sich dem Imperativ falscher Alternativen zu verweigern. Damit ist gemeint, dass anscheinend unauflösbare, ja naturalisierte Verflechtungen, die über Sexualpolitik zusammengehalten werden, buchstäblich zerschlagen werden müssen, um wieder neue Politisierungen und Konstellationen zu ermöglichen.

Für solche Zwangsverbindungen und deren Reflexion hier zwei Beispiele: Die Autorin und Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2016, Carolin Emcke, berichtet in einer Kolumne in der Süddeutschen Zeitung, die sie mit »Entweder Oder« überschreibt: »Vor etwas mehr als einem Jahr fragte mich auf einer Veranstaltung in Sachsen jemand, wie es denn sein könne, dass ich ›nichts gegen Muslime‹ habe, ich sei doch schließlich homosexuell«. Verblüfft bleibt sie zuerst sprachlos und reflektiert danach:

»Wenn einzelne Überlegungen immer schon zu einem geschlossenen, ideologischen Klumpen geknetet werden, wenn individuelle Einschätzungen oder Handlungen immer schon zu kollektiven Dispositionen verallgemeinert werden, dann verkommt die öffentliche Auseinandersetzung zu antagonistischer Identitätspolitik, die nur noch in statischen Wir-gegen-sie-Kategorien agieren kann« (Emcke 2016).

Oder man denke an die lesbische Philosophin Judith Butler, die sich genötigt sieht, sich gegen einen niederländisches anti-mulismisches Einwanderungsvideo auszusprechen, das küssende Homosexuelle zeigt und angeblich auch sie davor schützen soll, durch muslimische Migranten homophob belästigt zu werden:

»Is it a liberal defense of my freedom for which I should be pleased, or is my freedom being used as an instrument of coercion, one that seeks to keep Europe white, pure and ›secular‹ in ways that do not interrogate violence that underwrites that very project? Certainly I want to able to kiss in public – don’t get me wrong. But do I want to require that everyone watch and approve before they acquire rights of citizenship? I think not« (Butler 2008: 5).

Sexualpolitisch konturierte Alternativen sind deshalb so suggestiv, weil die Opfer- (und Täter-)Positionen in hohem Grade affektiv aufgeladen sind. Denn auf dem Spiel steht in der Regel die Integrität oder die Verletzbarkeit von Körpern. Greift man die manipulative Ausnutzung von Verstößen von einzelnen ›Anderen‹ gegen den abendländischen Konsens von ›guter Sexualität‹ auf, wird das als Unterstützung oder Legitimation oder gar Verhöhnung der Opfer verstanden: Das virtuelle Totschlagargument hieße bezüglich des ›Ereignis Köln‹: ›Du bist doch nicht etwa für mob-förmige sexuelle Belästigung auf der Straße‹. Diese binäre Logik ist so lange nicht auflösbar, solange die Doxa der Überlegenheit einer abendländischen Sexualordnung als in sich selbst nicht begründungsbedürftig funktioniert.

Um zum Schluss zu den Ausführungen zu Problematisierungsweisen zurückzukommen. Will man diese auf Sexualpolitik zugespitzte Diskursverflechtung oder Artikulation entkoppeln, darf man nicht fragen: »Wie gehen ›wir‹ mit dem ›Problem‹ rückständiger sexueller Sozialisation von Migrant_innen um?« Die Frage selbst beruht auf mehreren Voraussetzungen, die mögliche Antworten vorstrukturiert. Zum einen: Wer ist ›wir‹? Mit dieser Wortwahl werden die längst selbst zum ›wir‹ gewordenen Eingewanderten aus der nationalen Diskussion wieder herausgeschrieben und nicht als Gesprächspartner angesehen. Ähnliches gilt für den nächsten Punkt: Es muss das Objekt der Frage hinterfragt werden. Die Benennung Migrant_innen bedeutet ein unendliches Fortschreiben des Dazugekommenseins. Stattdessen sollte eine postmigrantische »Realisierung der Migrationstatsache«41 angenommen werden – oder wie Braidotti empfiehlt: »I suggest that we adopt this multi-ethnic and complex notion of diversity as the standard description of what counts for Europe« (Braidotti 2008: 10). Der zentrale Punkt, warum die Frage unangemessen ist, besteht darin, weil man sich damit eine vorgegebene Problematisierungsweise zu eigen macht

Ein weiterer gewichtiger Grund, warum die Frage »Wie gehen ›wir‹ mit dem ›Problem‹ rückständiger sexueller Sozialisation von Migrant_innen um?« politisch unangemessen ist, ist, dass sie in eine falsche Richtung führt. Stattdessen müsste gefragt werden: Warum kleidet sich abendländische Migrationsabwehr in den Mantel der Sexualpolitik? Warum wird ein Bedrohungsnarrativ einer Mehrheit durch eine Minderheit aufgebaut? Warum ist es nötig, eine ›Emanzipation‹ darüber zu feiern, sich auf ein angeblich ›unemanzipiertes‹ homogenisiertes Gegenüber zu fokussieren?

Wie bereits erwähnt, sind Macht- und Regierungstechniken in das Feld der Sexualpolitik eingebettet. Neben Säkularität ist Freiheit eine der Grundlagen der sexualpolitisch argumentierenden Migrationsabwehr. Kritiker_innen und Theoretiker_innen des Neoliberalismus weisen darauf hin, dass die Anrufung, frei zu sein, aus selbstgewählten Freiheitsmotiven zu handeln und – geopolitisch gesehen – die Mission, Freiheit notfalls gewaltsam zu exportieren,42 eine der zentralen Regierungstechniken der Spätmoderne ist. Nikolas Rose, einer der profiliertesten Kritiker des Neoliberalismus, verbindet einen skeptischen Blick auf westliche Freiheitsrhetorik mit dem, was hier als ›Problematisierungsweise‹ diskutiert wurde:

»Individuals are to be governed through their freedom […] The practices of modern freedom have been constructed out of an arduous, haphazard and contingent concatenation of problematizations, strategies of government and techniques of regulation. This is not to say that our freedom is a sham. It is to say that the agonistic relation between liberty and government is an intrinsic part of what we have come to know as freedom. And thus, I suggest, a key task for intellectual engagement with contemporary relations of power is the critical analysis of these practices of freedom« (Rose 1996: 147 u. 161, Hervorhebung G.D.).

Judith Butler treibt die Zuspitzung neoliberaler Freiheitsvorstellungen auf die Frage der ›Sexuellen Freiheit‹ voran und entdeckt in der Behauptung des Globalen Nordens, in exklusivem Besitz sexueller Freiheit zu sein, eine Überlegenheitsnarration, die gleichzeitig Muslime ausschließt:

»[S]sexual politics […] claims to new or radical new freedoms […] that would try to define Europe and the sphere of modernity as privileged site where sexual radicalism does take place […]. Often but not always the further claim is made that such a privileged site of sexual freedom must be protected against the putative orthodoxies associated with new immigrant communities […] a certain version and deployment of ›freedom‹ can be used as an instrument of bigotry and coercion« (Butler 2008: 2 u. 3).

Wenn man Rose und Butler zusammenbringt, lässt sich also in der neoliberalisierten okzidentalen Spätmoderne von einer Sexualisierung des Freiheitsbegriffs sprechen. Gundula Ludwig trägt diesen Gedanken weiter, indem sie mit Lauren Berlant und Michael Warner von einer »sexualization of national membership« spricht (Berlant/Warner 1998: 147; Ludwig 2016a: 209).

Mit Blick auf die USA, wo in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von (meist heterosexuellen) Sex-Skandalen die Innenpolitik strukturiert hat, diagnostiziert Éric Fassin eine Sexualisierung von Politik oder besser eine Politik durch Sexualität, die Sexualität zu einer Sprache gemacht hat, in der über Macht verhandelt wurde (Fassin 2006: 86). Für die jüngere Gegenwart sieht er eine Diskursverschiebung am Werk, die Gleichheit zwischen Homosexualität und Heterosexualität und zwischen Mann und Frau, und damit die Freiheit der Objektwahl zu einem »democratic symbol« (ebd. 92) macht, das zur Abgrenzung gegen ›andere‹ Gesellschaften, Gruppenverhalten und Individuen aufgestellt wird.

Bei einer solchen Sexualisierung des okzidentalen Freiheitsbegriffs kommt es zu einer wichtigen Verschiebung. Muslimische Einwander_innen bedrohen nicht ›unsere‹ sexuellen mores, sondern ›unsere‹ Freiheit. Oder anders gesagt: Wenn man sie nicht davon überzeugen kann, andere Loyalitäten aufzugeben, dann sind sie nach diesem Verständnis ›nicht regierbar‹. Das heißt, sie gliedern sich nicht per Autopilot aus eigener Motivation zur Selbstoptimierung in die Gesellschaft ein, sondern bilden immer wieder besorgniserregende Besonderheiten aus.

Sexualpolitische Diskriminierung ist somit ein Rechtfertigungsdiskurs, mit dem der Ausschlussautomatismus als eine Besorgnis um die Freiheit ausgegeben werden kann. Sexualpolitik ist die Sprache, mit der diese besondere Form von Freiheit, derer sich neoliberale Regierungstechnik bedient, verkauft wird. Die Rassisierung von Muslimen ist dabei kein zufälliges Nebenprodukt, sondern die Bedingung der Möglichkeit, diese Freiheit zu empfinden. Hetero-Frauen und LGBT-People sind dabei einem Paradoxon ausgesetzt. Einerseits werden sie als Symbol und Avantgarde eines ausschließenden abendländischen Exzeptionalismus in Anspruch genommen. Andererseits sind sie selbst weiterhin Objekte von persistenten sexualpolitischen Macht-Techniken. Letzteres will oft nicht gewusst werden, weil das die Illusion der gleichberechtigten Teilnahme und Zugehörigkeit aufheben würde.

Dieses epistemologische Privileg, zugehörig und doch weiterhin Objekt von Diskriminierung zu sein, kann jedoch produktiv gemacht werden, das Wissen um ihre sexualpolitisch ausnutzbare Prekarität auszugraben und zur Kritik der schlechten Verhältnisse in Anschlag gebracht werden. Voraussetzung dazu ist, vorgegebene Problematisierungsweisen zu unterbrechen und angeblich zwingende Alternativen auf ihre Voraussetzungen zu hinterfragen. Noch einmal Foucault: »Ich habe mir vorgenommen […] den Menschen zu zeigen, daß sie weit freier sind, als sie meinen; daß sie Dinge als wahr und evident akzeptieren, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte hervorgebracht worden sind und daß man diese Evidenz kritisieren und zerstören kann« (Foucault 1993: 16). Oder anders gesagt: Man muss nicht denken, was man denken soll, insbesondere dann nicht, wenn man qua Geschlecht oder Sexualität als zu retten oder als bedroht angerufen wird.

Berlin, im Februar 2017

Teil I Okzidentalismuskritik, Orientalismus, Postkolonialität

1.›Okzidentalismuskritik‹: Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung

»When a tolerant civilization meets its limits,it says not that it is encountering politicaland cultural difference, but that it isencountering the limits of civilization itself.«

Wendy Brown

»So nimmt also die islamische ›Kultur‹Züge eines Psychodramas an, und manmacht sich allen Ernstes daran, eineKultur zu erfinden, primär in derWeise, dass Kennzeichen […] exotischerFremdartigkeit beschworen und proklamiert werden.«

Azis Al-Azmeh

Szene 1: Vor der Oper. Von einem engen Korsagenkleid und Stilettos behindert, arbeitet sich eine junge Frau aus dem Taxi. Der Begleiter hält sichtlich ungeduldig Handtasche und Autotür. Auf dem Bürgersteig läuft eine Gruppe von Frauen mit Kopftüchern vorbei. Die Opernbesucherin raunt: »Ich werde immer wütend, wenn ich diese Schleiereulen sehe.« Der Mann entspannt sich und hilft ihr freundlich die Treppen hinauf, indem er sie unter den Ellenbogen fasst.

Szene 2: Vor Gericht. Fereshta Ludin klagt über mehrere Instanzen, man möge ihr erlauben, als Lehrerin ein Kopftuch als Zeichen ihrer kulturell-religiösen Affiliation zu tragen. Die Klägerin verfolgt ihr Anliegen über fünf Jahre bis zur höchsten Instanz. Das Verfassungsgericht hält das Begehr für prinzipiell berechtigt, erklärt sich aber für nicht zuständig, da entsprechende Gesetze auf Länderebene fehlen. Mehrere Bundesländer haben daraufhin das Kopftuch verboten, fünf davon erlauben ausdrücklich jüdische und christliche Zeichen.43

Szene 3: Das Buch Mit dem Kopftuch nach Europa? Die Türkei auf dem Weg in die Europäische Union (Tibi 2005) wird bei amazon.de mit folgendem Werbetext angekündigt: »Im November 2004 hat der EU-Ministerrat offiziell beschlossen, mit der Türkei Verhandlungen über eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union aufzunehmen. Diese Entscheidung stößt in vielen Staaten der EU auf massive Kritik. […] Nur eine Türkei, die sich zu europäischen Grundwerten bekennt, kann in den Kreis der Europäischen Union aufgenommen werden« (amazon.de 2004).