Sexuelle Differenz - Tove Soiland - E-Book

Sexuelle Differenz E-Book

Tove Soiland

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Beschreibung

Tove Soiland zählt zu den wichtigsten Theoretikerinnen des gegenwärtigen Feminismus. In ihren ökonomie- wie auch subjekttheoretischen Analysen widmet sie sich seit mehr als zwei Jahrzehnten den gesellschaftlichen Grundlagen hierarchischer Geschlechterverhältnisse. Die Stärke ihres Werks liegt in dem Beharren auf einer nicht gender-theoretisch begründeten Geschlechtertheorie. Mit Bezug auf die Lacan’sche Psychoanalyse und Irigarays Denken der sexuellen Differenz legt sie in überzeugender Weise die Strukturen neo-patriarchaler Geschlechterverhältnisse offen. Die Anthologie widmet sich Soilands zahlreichen Arbeiten zur sexuellen Differenz und gewährt damit Einblick in das komplexe Denken dieser Theoretikerin und die Entwicklung ihrer feministischen Theorie. Die hier zusammengestellten Texte bieten Zugang zu einem im deutschsprachigen Raum marginalisierten Zweig feministischer Theoriebildung sowie zu den theoretischen Divergenzen zwischen der Gender-Theorie und dem Denken der sexuellen Differenz, die Soiland immer wieder prägnant dargelegt hat. Soilands jüngere Texte nehmen darüber hinaus die psychoanalytische Debatte zur postödipalen Gesellschaft auf. Damit ermöglichen sie, aktuelle, im Zuge des Untergangs patriarchaler Autorität entstandene Problemlagen in den Geschlechterverhältnissen in den Blick zu nehmen und hinsichtlich eines zeitgemäßen Feminismus zu diskutieren.

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Seitenzahl: 409

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Tove Soiland lehrt an verschiedenen deutschsprachigen Universitäten. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt im Bereich des Lacan-Marxismus. 2003 initiierte sie den »Gender-Streit«, eine Kontroverse um die theoretischen Grundlagen des Gender-Begriffs. 2008 promovierte sie über Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz. Sie ist Mitglied des Kollektivs Linksbündig, das sich kritisch mit der staatlichen Corona-Politik auseinandersetzt.

Anna Hartmann ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Allgemeine Erziehungswissenschaft/Theorie der Bildung an der Bergischen Universität Wuppertal. Sie promovierte über Sorge-Arbeit und Geschlechterhierarchie im Spätkapitalismus. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Frauen- und Geschlechterforschung, Psychoanalyse und Sexualpädagogik.

Tove Soiland

Sexuelle Differenz

Feministisch-psychoanalytische Perspektiven auf die GegenwartHerausgegeben von Anna Hartmann

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Tove Soiland:

Sexuelle Differenz

1. Auflage, Oktober 2022

eBook UNRAST Verlag, April 2023

ISBN 978-3-95405-144-1

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: cuore, Berlin

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Einleitung von Anna Hartmann

Irigaray mit Marx lesen Eine Rehabilitierung des Denkens der sexuellen Differenz

Was sind sexuierte Positionen? Anmerkungen zu Judith Butlers Lacan-Rezeption

Was heißt Konstruktion? Über den stillschweigenden Bedeutungswandel eines zentralen Paradigmas der Geschlechtertheorie

Eine andere Geschlechtertheorie Anja Nora Schulthess im Gespräch mit Tove Soiland über Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz

Kontingenz als Ideologie unserer Zeit

Subversion, wo steckst Du? Eine Spurensuche an den Universitäten

Jenseits von Sex und Gender: Die sexuelle Differenz Zeitdiagnostische Interventionen von Seiten der Psychoanalyse

Genießen in Zeiten des Neoliberalismus Anja Nora Schulthess im Gespräch mit Tove Soiland über den Imperativ des Genießens, das Rätselhafte des Begehrens und die patriarchale Dividende

Die mütterliche Gabe hat keine symbolische Existenz Maya Dolderer im Gespräch mit Tove Soiland

Der Umsturz des Ödipalen Ein feministisches Dilemma

Die postödipale Gesellschaft Eine lacan-marxistische Gegenwartsanalyse

Sexuelle Differenz Feministische Rückfragen an eine merkwürdige Rezeptionsgeschichte

Anmerkungen

Einleitung

Anna Hartmann

Das Denken der sexuellen Differenz spielt in feministischen Debatten – sowohl in der Akademie als auch in Bewegungen – eine eher marginalisierte Rolle. Es zirkuliert ein oftmals wiederholtes Vorurteil, dieses Denken würde die Zweigeschlechtlichkeit zementieren, den Unterschied zwischen Frauen und Männern naturalisieren oder auf eine identitäre Verwirklichung vermeintlich natürlicher weiblicher Stärken zielen. Solche Einschätzungen verkennen jedoch – gewollt oder ungewollt – das theoretische wie auch politische Anliegen dieses feministischen Ansatzes. Doch warum sollte das Denken der sexuellen Differenz nicht einfach verabschiedet, sondern an ihm für die Analyse gegenwärtiger Geschlechterverhältnisse festgehalten werden?

Wenngleich dies etwas paradox klingen mag, die Relevanz dieses Denkens ergibt sich aus der gegenwärtig etwas unklar gewordenen Geschlechterfrage. Einerseits besteht ein unübersehbarer und tiefgreifender Wandel in den Geschlechterverhältnissen. Die Bildungs- und Erwerbsarbeitsmöglichkeiten von Mädchen und Frauen haben sich in den letzten Jahrzehnten enorm erweitert, Geschlechtergleichstellung ist zum festen Bestandteil staatlicher Politik geworden, die Überschreitung ›klassischer‹ Geschlechterstereotype ist mehr als geduldet und vielfältige Lebens- und Identitätsentwürfe prägen den Alltag. Andererseits schreibt sich etwas fort, das auf ein ungelöstes mit Geschlecht verbundenes Problem verweist. Trotz – oder gerade wegen – der angestrebten und zunehmend realisierten Gleichstellung setzt sich etwas fort, das geschlechterhierarchisierende Effekte zeitigt: Konfrontiert sind wir gegenwärtig mit einer weiterhin ungelösten Frage der Sorge. Die an einem androzentrischen Ideal orientierte Gleichstellungspolitik drängt Frauen, sich an ein Modell männlicher Lebens- und Arbeitsweisen anzugleichen. Jener Bereich, der für das individuelle Aufwachsen, die Subjektwerdung sowie das soziale Zusammenleben unabdingbar ist und der historisch gesehen vornehmlich mit dem Privaten sowie mit Weiblichkeit verbunden war, bleibt damit jedoch auf der Strecke. Denn wer kommt (und vor allem unter welchen Bedingungen) für die mit diesem Bereich verbundenen Tätigkeiten auf, klammern zunehmend alle und nicht mehr nur ein Teil der Gesellschaft diese aus ihren Lebensentwürfen aus? Und ist die gegenwärtige Tendenz, diese Tätigkeiten an illegalisierte und hochgradig prekarisierte Migrantinnen mit der Folge von transnationalen Sorge-Ketten auszulagern, erstrebenswert? Oder ist es gar wünschenswert, diese in (gewinnorientierte) Dienstleistungen zu überführen, in denen der Raum für persönliche und intime Begegnungen zu schwinden droht?

Doch was bleibt hier eigentlich ungelöst? Wäre es mit einer gerechteren Verteilung von Sorge-Tätigkeiten zwischen den Geschlechtern getan? Auf welcher Ebene wären die Weichen für eine veränderte, emanzipatorisch gestaltete Organisationsweise der Sorge zu stellen? Für eine grundsätzliche Veränderung wäre mit Sicherheit um eine veränderte gesellschaftliche Wertigkeit dieser Tätigkeiten zu ringen. Dies setzt ein grundsätzliches Verständnis für die strukturell verankerte Abwertung, Unsichtbarkeit und Geringschätzung dieser für alle unabdingbaren Tätigkeiten sowie eine individuelle wie auch gesellschaftliche Reflexion über die Bedeutung dieser Tätigkeiten für das subjektive und intersubjektive Zurechtkommen voraus. Denn wie sind wir eigentlich selbst auf andere und die von ihnen kommende Sorge bezogen? Was bedeutet es überhaupt, auf andere angewiesen zu sein? Und wie gehen wir mit diesem Umstand individuell wie auch gesellschaftlich um? Wie ist dieser Umstand vergesellschaftet?

Tove Soiland setzt sich seit geraumer Zeit mit solchen, die Sorge in der spätkapitalistischen Gegenwart betreffenden Fragestellungen auseinander. Sie erschließt diese sowohl ökonomisch als auch aus der Perspektive des Denkens der sexuellen Differenz. Zugleich bringt sie diese in konkrete politische Debatten, etwa die Frauenstreiks, die seit 2019 in der Schweiz wieder stattfinden, ein. Insbesondere durch den Rückgriff auf das Denken der sexuellen Differenz überschreitet sie mit ihren Analysen herkömmliche feministische Ansätze und eröffnet feministische Denk- und Handlungsräume, die einen Ausblick geben auf eine emanzipatorisch gewendete gesellschaftliche Praxis. Mit Bezug auf das Theorem der sexuellen Differenz interpretiert sie etwa das hier angesprochene ungelöste Problem der Sorge als eine in der »postödipalen Gesellschaft« ungelöste, gesellschaftlich nicht bearbeitete Bezugnahme auf die Mutter und ihre unbewusste Vereinnahmung. Trotz aller Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen werde die Mutter weiterhin als »allgewährende« und den Subjekten vermeintlich unentwegt und ungebrochen zur Verfügung stehende Instanz phantasiert. Das, was sie gibt und für die Subjektwerdung zur Verfügung stellt, bleibe dabei jedoch unsichtbar und erhalte keine »symbolische Repräsentanz« (TSh: 175).

Mit einer solchen am Denken der sexuellen Differenz orientierten feministischen Perspektive scheint sich also, trotz allen Wandels, etwas in den gesellschaftlichen Tiefenschichten fortzusetzen, das mit der Bezogenheit der Subjekte, mit ihrer Angewiesenheit auf andere und insbesondere mit ihrer Bezogenheit auf die erste andere in Verbindung steht. Solche Überlegungen, in denen die feministisch brisante Frage nach der Mutter sowie nach ihrer gesellschaftlichen Position aufgeworfen wird, erweitern die feministische Auseinandersetzung um den Zusammenhang von Sorge und Geschlecht. Vorstellungen einer besser gestalteten Vereinbarkeit oder einer gerechteren Verteilung und damit verbundene Machbarkeitsphantasien rücken in den Hintergrund. In den Fokus schiebt sich vielmehr die psychische Dimension von Sorge, die Auseinandersetzung mit dem Umstand der Angewiesenheit der Subjekte.

Tove Soiland hat diese mit der Paradoxie spätkapitalistischer Geschlechterverhältnisse verbundenen Zusammenhänge in den letzten zwei Jahrzehnten in zahlreichen Texten diskutiert. Arbeiten, in denen sie sich explizit mit dem Denken der sexuellen Differenz auseinandersetzt und dieses für die Analyse gegenwärtiger Geschlechterverhältnisse fruchtbar macht, sollen in diesem Band gewürdigt sowie erstmals in gesammelter Form einem feministisch interessierten Publikum mit der Hoffnung zugänglich gemacht werden, gegenwärtige feministische Debatten durch dieses Denken zu bereichern.

Um einen ersten Zugang zu dieser nicht ganz so gängigen und leicht zu erschließenden feministischen Theorie zu eröffnen, sollen im Weiteren Soilands Texten zugrunde liegende zentrale theoretische Annahmen und mit ihnen verbundene thematische Zusammenhänge skizziert und vorgestellt werden. Konkret sollen vier Themenkomplexe diskutiert werden. Zum einen Soilands Kritik an der Gender-Theorie, die seit geraumer Zeit die geschlechtertheoretischen Diskussionen in den Universitäten wie auch in den sozialen Bewegungen dominiert (Kritische Einwürfe). Zum anderen wird das psychoanalytische Subjekt- und Geschlechterverständnis, das dem Denken der sexuellen Differenz zugrunde liegt, vorgestellt (Sprache, Subjekt, Geschlecht in der Psychoanalyse). Darüber hinaus wird die spezifische Perspektive des Theorems der sexuellen Differenz sowie Soilands Fruchtbarmachung dieser feministischen Denkweise für die Analyse gegenwärtiger Geschlechterverhältnisse skizziert (Denken der sexuellen Differenz). Zuletzt wird auf Soilands jüngste Arbeiten rund um die Frage nach einer neopatriarchalen Geschlechterordnung und einer damit verbundenen postödipalen Subjektivität eingegangen (Neopatriarchat und postödipale Gesellschaft).

Kritische Einwürfe

Irritiert über die Entwicklung der feministischen Theorie in den 1990er Jahren im deutschsprachigen Raum, plädierte Tove Soiland in den frühen 2000er Jahren für eine Debatte um ihre theoretischen Grundlagen. Diesen Aufruf verband sie mit dem Anliegen, eine Reflexion anzustoßen, die die Entwicklung der feministischen Theorie wie auch ihre zeitgeschichtliche Verortung unter die Lupe nähme. Zu klären galt es, wie es in den 1990er Jahren dazu kommen konnte, dass sich die Geschlechterforschung nicht länger für die Lebenslagen von Frauen interessierte, die Rede von Frauen grundsätzlich als überholt und als biologisierend aufgefasst sowie eine »kollektive Betroffenheitslage« von Frauen als essenzialisierende Setzung zurückgewiesen wurde. Es stellte sich die Frage, wie zu diesem historisch spezifischen Zeitpunkt eine feministische Theorie hegemonial werden konnte, die mit Gender die Geschlechterfrage auf eine der Zweigeschlechtlichkeit und heteronormativer Identitätszuschreibungen reduzierte. Verwundert über diese Entwicklung – gar schockiert, wie sich Soiland in einem Interview mit Bigna Rambert äußert (Soiland 2012: 14) – widmete sich die Denkerin fortan dieser inner-feministischen Debatte, die den Zündstoff für ihre theoretische wie politische Arbeit bildete.

Für die Analyse der spätkapitalistischen Geschlechterordnung zog Soiland fortan das Denken der sexuellen Differenz heran, insbesondere das Werk der französischen Philosophin und Psychoanalytikerin Luce Irigaray und deren kritische Auseinandersetzung mit dem Subjekt- und Geschlechterverständnis der französischen, genauer der Lacan’schen Psychoanalyse. Das Denken der sexuellen Differenz dient Soiland seither nicht nur zur Analyse der von der Gender-Theorie verkannten Tiefenschichten der Geschlechterordnung, sondern liefert in Verbindung mit der psychoanalytischen Subjekttheorie und ihrem spezifischen Sprach- bzw. Diskursverständnis den Ankerpunkt, die Gender-Theorie und insbesondere die deutschsprachige Rezeption Judith Butlers zu problematisieren.

Soilands Kritik an der Gender-Theorie berührt im Wesentlichen das ihr zugrunde liegende Sprach- und Subjektverständnis sowie die sich daran anschließende Geschlechterkonzeption. Entgegen der Lacan’schen Psychoanalyse, auf die sich Butler zwar in ihrer Subjekt- und Geschlechtertheorie maßgeblich bezieht (und daran anschließend wiederum die Gender-Theorie), wird in gendertheoretischen Ansätzen das »Symbolische als Ideal« (TSb: 52), das heißt vor allem als normative Funktion aufgefasst, womit die psychoanalytische »Unterscheidung zwischen Imaginärem und Symbolischem« (ebd.: 55) entfällt. Als Konsequenz bedeutet dies, dass die symbolische Position bzw. die sprachlich vermittelte Subjektposition als »Abbildfunktion« (ebd.: 55) begriffen wird, die kohärente normative Identitäten vorzugeben und festzuschreiben scheint. Macht, so Soiland, wird in diesem Verständnis insbesondere in der normativen »Zuweisung von Geschlecht« und »in der als Zumutung empfundenen Festschreibung kohärenter geschlechtlicher Identitäten verortet« (ebd.; TSc: 74). Insofern diese normativen Zu- und Festschreibungen die Individuen binär in eine Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit einteilen würden, wird subversives Potenzial wiederum in der Absetzung von diesen Vorgaben ausgemacht: in der »Veruneindeutigung geschlechtlicher Positionen« und in der »Pluralisierung von Identitäten« (TSf: 138) sowie in der »Ausweisung der Kontingenz jeder identitären Setzung« (ebd.).

Diese theoretischen Prämissen stellen – und hier greift Soilands Kritik ein – zentrale psychoanalytische Grundannahmen infrage: Fallen Subjekt und Identität in eins, wird folglich auch die psychoanalytische Unterscheidung zwischen diesen zwei psychischen Erfahrungsregistern außer Kraft gesetzt.[1] Im Kern wird die dezentrierende Wirkung der Sprache, die das Subjekt um einen Seinsmangel herum organisiert, und die damit verbundene Erfahrung des Unbewussten infrage gestellt. Soiland setzt sich nicht nur kritisch mit diesen subjekttheoretischen Verkürzungen gendertheoretischer Ansätze auseinander, die sie u.a. an Judith Butlers Lacan-Rezeption ausweist, sie sieht gendertheoretische Ansätze auch durch ihr Subjekt- und Geschlechterverständnis in die spätkapitalistischen Herrschaftsverhältnisse verstrickt; das in ihnen vertretene Geschlechterverständnis sei »selbst Teil der (…) veränderten Subjektivierungsweise geworden« (vgl. TSe: 130). So falle der gestiegene gesellschaftliche Anspruch einer »flexible[n] Handhabung des eigenen genders« (ebd.) mit der von gendertheoretischen Ansätzen eingeschlagenen subversiv angelegten Strategie, geschlechtliche Identitäten vervielfältigen und aufweichen zu wollen, zusammen. Nicht nur die subversive Strategie werde zu einem herrschaftsintegrierenden Mechanismus, auch die theoretischen Annahmen, die dem gendertheoretischen Feminismus zugrunde liegen, seien selbst Teil dieser Koinzidenz. Diesen Zusammenhang arbeitet Soiland zunächst entlang Foucaults Govermentalitätsanalyse und der damit verbundenen Selbsttechnologien heraus (siehe dazu in diesem Band Was heißt Konstruktion? Über den stillschweigenden Bedeutungswandel bei gleichzeitiger Stabilität der Geschlechterordnung). Später dient ihr die neuere Lacan-Rezeption mit ihrer Diagnose einer postödipalen Gesellschaft dazu, diese ideologische Verstrickung als Effekt veränderter (postödipaler) Subjektivierungsweisen nachzuzeichnen.

Neben diesen subjekttheoretischen und ideologiekritischen Argumenten kritisiert Soiland einen weiteren Aspekt: Gendertheoretische Ansätze würden die Paradoxie, die spätkapitalistische Geschlechterverhältnisse auszeichnet, vernachlässigen. Durch die Fokussierung darauf, überkommene Geschlechternormen außer Kraft setzen und überwinden zu wollen, gerate jedoch die komplexe Verschränkung einer zunehmenden »Feminisierung der Lasten« bei einer gleichzeitig stattfindenden gesellschaftspolitischen »De-Thematisierung von Geschlecht« aus dem Blick geschlechtertheoretischer Analysen (TSe: 129). Mit »Feminisierung der Lasten« bei gleichzeitiger »De-Thematisierung von Geschlecht« weist Soiland auf eine dem neoliberalen Umbau der Gesellschaft zugrunde liegende versteckte Geschlechteragenda hin (ebd.). Während die Geschlechterordnung oberflächlich betrachtet massiven Veränderungen zu unterliegen scheint, bestehen ihre Struktur und die mit ihr verbundenen geschlechterhierarchisierenden Mechanismen weitestgehend fort. Soiland arbeitet in zahlreichen Analysen die komplexe Transformation, die im Bereich der sozialen Reproduktion im Übergang von Fordismus zu Postfordismus stattgefunden hat, und die mit ihr verbundenen Folgen für das Geschlechterverhältnis heraus (vgl. 2018a, 2018b, 2018c, 2019). Jene, die den Großteil der Sorge-Verpflichtungen heute unter veränderten sozio-ökonomischen Bedingungen tragen – und dies sind nach wie vor mehrheitlich Frauen –, sind von der sich fortschreibenden gesellschaftlichen Entwertung und Geringschätzung der Sorge betroffen und haben die damit einhergehenden sozialen, finanziellen sowie physischen und psychischen Folgen individualisiert zu tragen. Während sich in diesem Zusammenhang also eine statistisch feststellbare kollektive Betroffenheitslage abzeichnet, die mit der gesellschaftlich ungelösten Sorge-Frage verkoppelt ist, problematisiert Soiland, warum diese kollektive Betroffenheitslage jedoch von Frauen nicht artikuliert wird oder artikuliert werden kann und warum zugleich der Feminismus diese selbst auch noch entnennt und damit dethematisiert (vgl. TSd).

An dieser Fragestellung offenbart sich ein wesentlicher Grundzug Soilands Denk- und Arbeitsweise: Gesellschafts- und ökonomietheoretische Fragestellungen werden nicht von subjekt- oder ideologietheoretischen Problemstellungen getrennt oder einfach losgelöst voneinander analysiert. Sie fragt nach ihrer Verschränkung sowie nach den ideologischen Bedingungen, die spätkapitalistischen Produktionsverhältnissen zugrunde liegen. So betrachtet sie das ungelöste Problem der Sorge und die sich daran anschließende Frage nach der Artikulation einer kollektiven Betroffenheitslage von Frauen eben auch als eine Frage, die subjekttheoretisch zu klären ist:

»Für mich ist die Frage vielmehr, warum trotz einer nach wie vor erdrückenden kollektiven Involviertheit von Frauen in die Problematik, der der Bereich der sozialen und individuellen Reproduktion ausgesetzt ist (…), es so schwierig ist, dieses Kollektiv zu artikulieren; eine Schwierigkeit, die sich auch und gerade in der feministischen Theorie abbildet, die nicht müde wird zu betonen, dass es dieses Kollektiv nicht gibt. Wenn eine subjekttheoretische Frage zu stellen ist, dann doch die, warum Frauen die ersten sind, ihre eigenen Anliegen zu dethematisieren. Dies ist also durchaus auch ein ideologietheoretisches Problem« (TSd: 100).

Soiland sieht diese Desartikulation aufseiten der Frauen in ihrer problematischen Positionierung im Symbolischen begründet (vgl. TSf: 154); diese Positionierung unterstelle Frauen nicht dem für den Eintritt in die gesellschaftlichen Austausch- und Vermittlungssysteme notwendigen symbolischen Einschnitt. Entgegen der Annahme, wir befänden uns in einer Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit, geht Soiland im Anschluss an das Denken der sexuellen Differenz von einer eingeschlechtlichen Ordnung aus (vgl. TSc: 73). Diese integriere die weibliche Position nicht in gleicher Weise in das symbolische Netz wie die männliche und beraube sie einer geschlechtlichen Position – psychoanalytisch gesehen einer Begehrensposition –, die die Voraussetzung für die Artikulation eines Kollektivs darstellen würde. Für die Analyse dieses Zusammenhangs, der diese subjekttheoretischen Gesichtspunkte betrifft, greift Soiland insbesondere auf Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz sowie die Lacan’sche Psychoanalyse zurück. Damit problematisiert sie die geschlechtliche Subjektivierung gerade nicht hinsichtlich normativer Identitäten, sondern stellt den dezentrierenden Einschnitt des Symbolischen ins Zentrum der geschlechtertheoretischen und -politischen Auseinandersetzungen. Die Form der Subjektkonstitution, der psychische Umgang mit der in sie eingelagerten Angewiesenheit und insbesondere die Form der Trennung von der ersten anderen – der Mutter – treten in den Fokus. Zum Dreh- und Angelpunkt der Geschlechterfrage wird damit die Angewiesenheit und Alterität des Subjekts. Die Form der Bezugnahme des Subjekts auf andere, die Ausgestaltung der ersten Bindung und intersubjektiver Bindungen generell sowie die darin eingelagerte Angewiesenheit der Subjekte rücken in diesen theoretischen Überlegungen ins Zentrum.

Sprache, Subjekt, Geschlecht in der Psychoanalyse

Der angesprochene Zusammenhang von Subjekt und Begehren sowie die Frage nach der damit verbundenen in das Geschlechterverhältnis eingeschriebenen Asymmetrie, die in Soilands Arbeiten im Zentrum stehen, verweist auf das Subjekt- und Sprachverständnis der Lacan’schen Psychoanalyse, das hier skizziert werden soll. Das in der Lacan’schen Psychoanalyse wie auch im Denken der sexuellen Differenz postulierte Sprach-, Subjekt- und Geschlechterverständnis rückt von dem gendertheoretischer Ansätze deutlich ab. Sprache wird in der Lacan’schen Psychoanalyse gerade nicht als normierende oder festschreibende Instanz betrachtet, die eine bestimmte Identität oder gar ein bestimmtes Begehren vorgibt (vgl. TSb: 63). Sie wird demgegenüber als gesellschaftlicher Vermittlungszusammenhang begriffen, »als Struktur einer Alterität« (ebd.), die (sprachliche) Vermittlung erst um den Preis einer Unmöglichkeit bzw. eines Verlusts möglich macht. Denn die sprachliche Seinsweise, die hier im Fokus steht, erfordert einen grundsätzlichen Verzicht auf Unmittelbarkeit, den das Subjekt auf sich zu nehmen hat, womit ein unmittelbares Dasein oder ein vollumfängliches Genießen – sozusagen eine vollkommene Befriedigung – konstitutiv ausgeschlossen ist.[2] Der Eintritt in die soziale Welt bedingt in diesem Verständnis demnach eine »grundsätzliche Enteignung« (TSf: 145), eine konstitutive, nicht aufhebbare Entfremdung, die das Subjekt sich selbst wie auch anderen gegenüber fremd macht. Das hier im Fokus stehende Subjekt zeichnet sich folglich durch einen grundsätzlichen Seinsmangel aus; ein selbstidentisches, sich selbst gegenüber transparentes Ich ist in dieser Subjektkonzeption allenfalls in der Phantasie zu haben. Die Sprachlichkeit bedeutet vielmehr, wie Soiland festhält, »eine grundlegende Verwiesenheit, die uns in unserer Allmacht einschränkt, insofern wir als soziale Wesen auf andere angewiesen, ja, an andere verwiesen sind ein Umstand, der in Lacans Verständnis das Subjekt in Form einer Kerbe, eben jener von ihm so bezeichneten Spalte des Subjekts durchzieht« (ebd.; Hervorhebung A.H.). Die sprachliche Seinsweise setzt demnach die Anerkenntnis voraus, dass der Andere, auf den ich angewiesen bin, konstitutiv unverfügbar und unerreichbar ist, zugleich jedoch das Subjekt in seinem Begehren betrifft und in entscheidender Weise prägt. Das gespaltene Subjekt ist ein begehrendes Subjekt, dessen Begehren sich im Begehren des Anderen begründet, womit das Intimste des Subjekts, sein Begehren, von außen kommt und somit dem Subjekt nicht einfach unmittelbar angehört oder gar aus ihm selbst heraus entsteht.[3]

In seinem Spätwerk, das für Soilands zeitdiagnostische Arbeit zur postödipalen Gesellschaft und ihre sich daran anschließende Diagnose einer neopatriarchalen Geschlechterordnung von wesentlicher Bedeutung ist, hebt Lacan die reale Dimension des Begehrens hervor. Das Begehren ist nicht mehr Begehren des Anderen, das sich in einer symbolischen Anerkennungsrelation vollzieht, sondern wird durch eine unwirkliche ›Ursache‹ verursacht, durch einen Rest oder Überschuss, der im Prozess der Symbolisierung entsteht. Das heißt, das Begehren wird hier durch ein unwirkliches Objekt verursacht, das für den Verlust bzw. das verlorene Objekt steht, das heißt für das, was von dem Verlust übrigbleibt. Lacan konzeptionalisiert diese Objekt-Ursache des Begehrens als Objekt a, das das Subjekt phantasmatisch an das verlorene Objekt, dieses vermeintlich verlorene Genießen bindet und damit den Verlust des Genießens phantasmatisch zu kompensieren vermag. Das Objekt a, hält Soiland fest, »steht für diesen Überschuss und damit in Lacans Terminologie für ›ein Reales‹, das nicht als ein dem Symbolischen vorgängiges Residuum zu verstehen ist, sondern vielmehr als der nachträglich entstehende, nicht-assimilierbare ›Rest‹ (…), der für das Subjekt beim Eintritt in die Sprache in Funktion tritt (…)« (TSi: 192).

Der Spracheintritt bedingt somit nicht nur einen Verzicht auf Genießen, sondern er produziert auch einen »nicht-assimilierbaren ›Rest‹«, der für das Begehren des Subjekts von zentraler Bedeutung ist, insofern er phantasmatisch ein Genießen nach dem Verlust in Aussicht stellt und damit als Grundlage des Begehrens fungiert. Für Soiland ist dieses »Objekt als Ort des Genießens« (ebd.) für zeitdiagnostische Untersuchungen von Interesse; sie geht davon aus, dass sich die »phantasmatische Auskleidung« (ebd.: 193) des Spracheintritts und damit das Verhältnis von Begehren und Genießen historisch unterschiedlich ausgestalten könne. In Anschluss an Lacans Spätwerk stellt sie heraus, dass sich die Stellung des Subjekts zu seinem Genießen und somit die phantasmatische Einbindung des Subjekts historisch wandeln könne. Sie geht davon aus, »dass es historisch je unterschiedliche Weisen der Subjektivierung« gibt, »die sich in der Art unterscheiden, wie das Subjekt zu diesem Objekt angeordnet, zu ihm in Beziehung gesetzt wird« (ebd.: 192). So interpretiert etwa auch die neuere Lacan-Rezeption (vgl. Soiland 2022; Soiland/Frühauf/Hartmann 2022), mit der sich Soiland in ihren späteren Texten dezidierter auseinandersetzt, die Infragestellung väterlicher Autorität im Kontext von ’68 und im Zuge der damals aufkommenden sozialen Bewegungen als einen solchen die Subjektivierungsweise nachdrücklich verändernden Schnitt, durch den das ödipale Verbot als phantasmatische Auskleidung des Verlust an symbolischer Bedeutungskraft verliert.

Für Luce Irigaray aber auch andere Denkerinnen im Umfeld der französischen Psychoanalyse und des französischen Poststrukturalismus, etwa Hélène Cixous oder Julia Kristeva, drängt sich bereits in den frühen 1970er Jahren die Frage auf, inwiefern dieses Subjektverständnis die ins Geschlechterverhältnis eingelagerte Hierarchie reflektiert. Befestigt dieses Subjektverständnis die Geschlechterhierarchie oder eröffnet dieses vielmehr einen Ausgang aus dieser Problematik? Dies wirft die weiterführende Frage auf, was in der Lacan’schen Psychoanalyse unter Geschlecht zu verstehen ist. Deutlich wurde bereits, dass Geschlecht nicht auf die Identität der Subjekte reduziert werden kann und sich somit nicht nur auf der Ebene des Normativen bewegt. Vielmehr wird Geschlecht mit der Sprachlichkeit des Subjekts verkoppelt und somit mit der durch die Sprachlichkeit induzierten Gespaltenheit des Subjekts sowie seinem Begehren und Genießen in Verbindung gebracht. Geschlecht wird in der Psychoanalyse – und aus diesem Grund ist dieses Geschlechterverständnis von Beginn an für feministische Theoretikerinnen von besonderem Interesse (vgl. TSf: 140) – als Positionierung im Symbolischen aufgefasst, als spezifische Stellung zum symbolischen Gesetz. Damit verweist Geschlecht auf die Einbindung der Subjekte in die symbolischen Austausch- und Vermittlungssysteme. Das, was die Geschlechter in dieser Konzeption scheidet, ist, so Soiland, »der von den Individuen zu entrichtende Preis beim Eintritt in die Kultur« (ebd.: 145): Die Geschlechter unterscheiden sich hinsichtlich »der das Subjekt durchziehenden Spalte« (ebd.: 145 f.). Da letztlich jedoch lediglich die männliche Position dem spaltenden Effekt der Sprache unterliegt,[4] fokussiert Soiland in Auseinandersetzung mit Irigarays Denken der sexuellen Differenz das damit verbundene Problem für das Geschlechterverhältnis: Der einen Position, der Weiblichen, obliegt es, der anderen, der männlichen den Eintritt ins Symbolische zu gewähren. Die weibliche Position definiert sich daher, so Soiland, insbesondere dadurch, »dass sie diese Rolle oder Funktion der Kerbe für die männliche Seite verkörpert« (ebd.: 146).

»Wenn nun die Geschlechter in Lacans Verständnis bezüglich dieses Scheiterns [der Sprache] unterschiedlich angeordnet sind, und zwar in einer Weise, die das Weibliche das Scheitern der männlichen Position sein lässt, so heißt dies nichts anderes, als dass nur die männliche Position zu einem solchen Schnitt und das heißt auch, in die Position des Begehrens gelangt« (ebd.; Hervorhebung A.H.).

Der subjektkonstituierende Eintritt ins Symbolische steht in dieser Auffassung somit lediglich der männlichen Seite offen, während die weibliche Seite diesen gewährt, ohne jedoch selbst Anteil an einer solchen Vermittlungs- und Begehrensposition zu erhalten. Daher die zuvor angesprochene Rede von einer eingeschlechtlichen Ordnung. In ihrer Irigaray-Rezeption arbeitet Soiland diese Asymmetrie im Geschlechterverhältnis in ihrer Komplexität heraus. Sie zeigt, dass die emotionalen und psychischen Voraussetzungen, die der männlichen Subjekt- und Begehrensposition zugrunde liegen, in unserer Kultur und Gesellschaft individuell wie auch kollektiv ausgeblendet sowie nicht als relevant erachtet werden (siehe dazu vor allem Soiland 2010/2018).

Denken der sexuellen Differenz

Soiland hebt hervor, dass Irigaray diese Geschlechterkonstellation gerade nicht als Kulturnotwendigkeit, sondern als Kulturdiagnose interpretiert (vgl. Soiland 2012: 17), der sie Überlegungen für ein verändertes Geschlechterverhältnis entgegenstellt. Diese Überlegungen zielen insbesondere darauf, das »Potenzial der symbolischen Funktion, [nämlich] Zeichen tatsächlicher Alterität zu sein« (TSa: 37) ins Werk zu setzen. Dies bedeutet auch, die Angewiesenheit, die das Subjekt durchzieht, nicht weiter auszublenden, sondern zur Kenntnis zu nehmen. Ebenfalls würde dies heißen, die Voraussetzungen der eigenen Subjektivität, insbesondere die Angewiesenheit auf andere, wahrzunehmen sowie den mit diesen Bedingungen verbundenen Tätigkeiten symbolisch Ausdruck zu verleihen. Der »emotionale Bezug« (TSh: 175), der der eigenen Subjektivität vorausgesetzt ist und in diese eingeht, müsste demnach als etwas gewahr werden, das von einer/einem anderen kommt und somit gerade nicht voraussetzungslos ist (ebd.). Soiland geht mit Irigaray davon aus, dass die ›mütterliche Gabe‹, »der emotionale Bezug, den wir von unserer ersten Bezugsperson bekommen« (ebd.), in unserer Kultur nicht als etwas gedacht werden kann, das eine notwendige Voraussetzung des Subjekts ist. Sie wird nicht als etwas gedacht, ohne das sich das Subjekt nicht entwickeln könnte, das jedoch auch nicht einfach bedingungslos zur Verfügung steht, sondern an das Begehren der ersten anderen gebunden ist.

Die ödipale Subjektformation, in der eine väterlich verbietende Instanz die Trennung von der ersten anderen und somit den Eintritt in die Sprache und Gesellschaft symbolisch vermittelt, lässt die erste andere jedoch nicht als unverfügbares und begehrendes Subjekt, als Subjekt, das der symbolischen Funktion unterstellt wäre, in Erscheinung treten. Ihr ist der Möglichkeitsraum genommen, den Einschnitt sowie die damit verbundene Alterität gegenüber dem/der anderen selbst zu verkörpern. Das väterlich ödipale Verbot unterbindet, wie Soiland festhält, »eine Begegnung zwischen zwei Subjekten«:

»Eine Begegnung, in der die Begrenzung nicht von einem Verbot herkommt, sondern von einem zweiten Subjekt, das reagiert. Also eine Intersubjektivität, in der sich die Grenzen der Allmachtsfantasie der beiden Subjekte aus der gegenseitigen Interaktion ergeben« (ebd.: 178).

Was Soiland mit Irigarays Denken der sexuellen Differenz in den Blick zu rücken versucht, ist demnach eine intersubjektive Subjektkonstitution, die es ermöglichte, dass die in sie involvierten Subjekte jeweils die »Kerbe der Alterität des anderen« als eigene Grenze ins sich trügen (TSa: 40). Das Denken der sexuellen Differenz drängt damit auf eine Subjektkonstitution, in der das Phantasma eines Subjekts, das sich als allmächtig und unbegrenzt phantasiert, überwunden würde. Zugleich ginge es um eine Subjektkonstitution, die die eigene emotionale und psychische Herkunft nicht ausklammern und der konstitutiven Angewiesenheit Rechnung tragen würde. Die in diesen Überlegungen enthaltene Kritik am Geschlechterverhältnis rückt somit etwas ins Zentrum, das in gegenwärtigen feministischen Auseinandersetzungen kaum Berücksichtigung findet oder durch die spezifisch gelagerte Problematisierung feministischer Fragestellungen von vornherein ausgeblendet wird, z.B. wenn in Bezug auf die gegenwärtige Care-Krise die hier hervorgehobene psychische Dimension von Sorge-Bindungen ausgeklammert wird. In diesen Überlegungen wird alles andere als nach einer Essenz des Weiblichen gesucht, vielmehr stellt dieser feministische Ansatz die Ausgestaltung intersubjektiver Beziehungen und die in ihr eingelagerte Angewiesenheit und Bezogenheit der Subjekte ins Zentrum der Auseinandersetzung. Dieser Ansatz drängt darauf, dass es um eine andere Form der Subjektkonstitution gehen müsste, die beiden geschlechtlichen Positionen eine symbolische und damit gespaltene Seinsweise zuerkennt.

Neopatriarchat und postödipale Gesellschaft

Dass sich dieses feministisch-emanzipatorische Anliegen im Zuge der gesellschaftlichen Transformationen im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert alles andere als realisieren ließ, verdeutlicht Soiland in ihren jüngsten, zeitdiagnostischen Arbeiten. In diesen stellt sie die Frage, inwiefern sich trotz der gravierenden Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen etwas Patriarchales fortschreibt. In Anschluss an die neuere Lacan-Rezeption beschreibt sie die gegenwärtige Gesellschaft als ›postödipale Gesellschaft‹, der sie eine »neopatriarchale Struktur« unterstellt (TSg: 166). Weder leben wir in einer post-patriarchalen Gegenwart, noch lässt sich diese als patriarchal beschreiben. Obwohl der Untergang väterlicher Autorität die bürgerlich-patriarchale Kleinfamilie und das in sie eingelagerte Ödipale untergräbt, schreibt sich dennoch etwas von dieser Konstellation fort, weshalb Soiland mit dem »Umsturz des Ödipalen« keine »Befreiungsgeschichte« (TSi: 186) verbindet, sondern vielmehr den Aufstieg neuer, postödipaler Herrschaftsverhältnisse. Das Schwinden väterlicher Autorität sowie die parallel einsetzende Pluralisierung von Geschlecht und die zunehmende Auflösung der bürgerlich-patriarchalen Kleinfamilie setzt eine alte Problematik im Geschlechterverhältnis auf veränderte Weise fort. Vor diesem Hintergrund dreht sich Soilands Analyse vor allem um die Frage, inwiefern sich das Schwinden des Ödipalen auf die Position der Mutter sowie das Phantasma auswirkt, das ausgehend vom Ödipalen stets ihre Verfügbarkeit impliziert. Ihre Antwort fällt eindeutig aus: Die postödipale Subjektstruktur belässt die Bezugnahme auf die erste andere unbearbeitet und verschärft damit die Problematik im Geschlechterverhältnis:

»Wenn die ödipale Konstellation um ein Verbot kreiste, das Verbot eines Zugangs zum Körper der Mutter, so führt dessen Aufhebung in den Kern des diesem Verbot zugrundeliegenden Phantasmas, dass ein solcher Zugang (überhaupt) möglich wäre. (…) Die Liberalisierung lässt dieses Phantasma, hinter dem letztlich immer die unbewusste Fantasie einer allgewährenden Mutter steht, unangetastet. Sie versetzt aber gleichzeitig Frauen in eine schwierige Lage, erhalten sie doch so – im Namen ihrer Emanzipation – Zugang zu etwas, wovon sie in gewisser Weise selbst Bestandteil sind« (TSi: 201).

Was verschiebt sich nun im Übergang von der ödipalen zur postödipalen Konstellation? Im Kern haben wir es mit einer veränderten phantasmatischen Konstellation zu tun, womit sich die Stellung des Subjekts zu seinem Genießen (zum Objekt a) und das heißt das Phantasma, die phantsmatische Einbindung des Subjekts verändert. In der ödipalen Konstellation steht das Verbot des Genießens im Zentrum des Phantasmas. Der Eintritt in die Sprache vollzieht sich entlang des ödipalen, väterlichen Verbots, das Mutter und Kind (bzw. Junge) trennt und damit den Eintritt in Sprache und Kultur vermittelt. In der postödipalen Konstellation wiederum tritt an die Stelle des Verbots der Imperativ ›Genieße!‹, also das Gebot, sein Genießen vollumfänglich auszuschöpfen und alle Genießensmöglichkeiten zur Gänze auszukosten. Die Subjektkonstitution vollzieht sich hier nicht mehr entlang eines väterlichen Prinzips, vielmehr scheint die »symbolische Kastration« durch das Schwinden väterlicher Autorität und generationaler Differenz sowie das Versprechen auf »einen durch das richtige Wissen angeleiteten unmittelbaren Zugang zum Genießen« (TSi: 196) aufgehoben. Während im ersten Fall (durch das Verbot) ein Genießen jenseits des Verbots in Aussicht gestellt ist, scheint im zweiten Fall das Genießen unbegrenzt, ohne Hindernis zur Verfügung zu stehen, es gilt lediglich von den Subjekten in toto ausgeschöpft zu werden. Beide Phantasmen beruhen somit auf der Phantasie, dass ein vollumfängliches Genießen, das ausgehend vom Ödipalen stets mit dem Körper der Mutter verkoppelt ist, möglich wäre: entweder jenseits des Verbots (ödipal) oder ohne Hindernis als neue soziale Pflicht (postödipal). Was sich durchzieht, ist der ödipale Konnex von Genießen und Mütterlichkeit, der sich auch im postödipalen Phantasma eines möglichen Genießens fortschreibt. Eben das veranlasst Soiland zu der Diagnose eines Neopatriarchats.

Perfide ist diese postödipale, neopatriarchale Konstellation nicht nur, weil sie die Subjekte gegenüber ihren nicht erreichten Genießensmöglichkeiten schuldig werden lässt und somit gegenüber einer Unmöglichkeit (!), sondern weil dieser Imperativ – unbemerkt – das Geschlechtliche berührt. Insofern nun alle – unabhängig von Geschlecht – mit dem Imperativ des Genießens konfrontiert sind – ohne dass das Genießen jedoch als Unmöglichkeit wahrgenommen, noch vom Körper der Mutter gelöst würde –, scheint nun allen, wie Soiland pointiert, der Zugang zum Körper der Mutter in Aussicht zu stehen. Es setze sich die »Vorstellung eines demokratischen Zugangs zum Körper der Mutter« (TSh: 177) durch, womit Frauen sich selbst gegenüber in ein ›selbstkannibalistisches‹ Verhältnis geraten würden (vgl. TSf: 158; TSi: 204). Dieser Umstand wirft also die dringlich zu diskutierende Frage auf, wer und in welcher Form unter diesen liberalisierten Bedingungen der Subjektkonstitution für die emotionalen und psychischen Voraussetzungen dieses genussgesteuerten Subjekts aufkommt. Insofern die Mutter weiterhin, wie Soiland herausstellt, als ›allgewährend‹, als eine, die keine Grenzen zu haben scheint, phantasiert wird, bleibt die Frage des emotionalen Bezugs und der Angewiesenheit ungelöst; letztlich lässt die postödipale Konstellation »das Phantasma, dass es einen Zugang gäbe, dass die Mutter allgewährend wäre, von sich aus keine Grenzen setzt, ihre Ressourcen, ihre Gabe einfach so zur Verfügung stellt, untangiert« (TSh: 177).

Eine feministische Theorie und Praxis, die dieser Geschlechterproblematik begegnen will, hätte diese von Soiland fokussierte Tiefenschicht der Geschlechterordnung, die die Bedingungen der Subjektkonstitution berührt, in den Fokus zu rücken. Zugleich hätte sie sich von vereinfachten Emanzipationsvorstellungen, die sich in der Pluralisierung geschlechtlicher Identitäten erschöpfen, zu lösen. Für eine solche Fokusverlagerung, die eine vertiefte feministische Gegenwartsanalyse ermöglicht, geben Soilands vielschichtige Analysen fruchtbare Impulse.

Zum Buch

Der vorliegende Band versammelt Texte aus Tove Soilands Œuvre, die eine solche Fokusverlagerung ermöglichen und einen Zugang zum Denken der sexuellen Differenz und somit zu dieser anderen Geschlechtertheorie eröffnen. Zusammengestellt sind hier Texte, die in den letzten zwei Jahrzehnten entstanden sind und mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung die in die spätkapitalistische Gesellschaft eingelagerte Geschlechterproblematik subjekttheoretisch und psychoanalytisch erschließen. Den Leitfaden für die Auswahl bildet dabei der Bezug auf das Denken der sexuellen Differenz. So liegen hier nahezu ausschließlich Texte vor, die sich mit diesem Zugang feministischer Theorie befassen. Thematisch können die Texte drei Schwerpunkten zugeordnet werden:

Erstens liegen Texte vor, die sich explizit mit diesem Ansatz feministischer Theorie und insbesondere Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz befassen. Diese Texte rahmen den Band: Eröffnet wird er durch einen frühen Text von Tove Soiland, in dem sie sich mit Irigarays Frauenmarkt (1979) auseinandersetzt und eine Rehabilitierung Irigarays feministischen Denkens anstrebt (Irigaray mit Marx lesen. Eine Rehabilitierung des Denkens der sexuellen Differenz). Abgeschlossen wird der Band durch einen (Vortrags-)Text, der hier erstmals veröffentlicht wird, der wiederum der Rezeptionsgeschichte von Irigarays Ansatz und dem Begriff der sexuellen Differenz auch hinsichtlich gegenwärtiger Adaptionen im Kontext der neueren Lacan-Rezeption nachgeht (Sexuelle Differenz: Feministische Rückfragen an eine merkwürdige Rezeptionsgeschichte).

Zweitens stehen die theoretischen Grundlagen und Unterschiede zwischen dem Theorem der sexuellen Differenz und der Gender-Theorie im Fokus sowie Soilands Kritik gegenüber der Gender-Theorie hinsichtlich ihrer Eignung für eine feministische Theorie, die sich zugleich als Gesellschaftsanalyse versteht. Diesem Schwerpunkt sind insbesondere folgende Texte zuzuordnen: Was sind sexuierte Positionen? Anmerkungen zu Judith Butlers Lacan-Rezeption; Was heißt Konstruktion? Über den stillschweigenden Bedeutungswandel eines zentralen Paradigmas der Geschlechtertheorie; Subversion, wo steckst Du? Eine Spurensuche an den Universitäten.

Drittens liegen hier zeitdiagnostische Texte vor, die nach der geschlechtlichen Struktur der postödipalen Gesellschaft fragen. Dazu zählen: Jenseits von Sex und Gender: Die sexuelle Differenz. Zeitdiagnostische Interventionen von Seiten der Psychoanalyse; Der Umsturz des Ödipalen. Ein feministisches Dilemma; Die postödipale Gesellschaft.

Darüber hinaus ist der Text Kontingenz als Ideologie unserer Zeit aufgenommen. Insofern er keinen unmittelbaren Bezug zum Denken der sexuellen Differenz aufweist, liegt er zu den restlichen Texten quer. Durch sein Plädoyer, ökonomische Fragen – vor allem solche nach der Bedeutung von Sorge-Arbeit für die spätkapitalistische Ökonomie – nicht losgelöst von subjekttheoretischen und ideologiekritischen Analysen zu bearbeiten, bietet er für die hier anvisierte Auseinandersetzung jedoch fruchtbare Anschlüsse. Ergänzt werden die Texte durch drei Interviews, die von Anja Nora Schulthess bzw. von Maya Dolderer geführt wurden und einerseits nach der Spezifik dieser anderen Geschlechtertheorie (Eine andere Geschlechtertheorie und Die mütterliche Gabe hat keine symbolische Existenz) sowie andererseits nach der Herrschaftsförmigkeit der postödipalen Gesellschaft (Genießen in Zeiten des Neoliberalismus) fragen.

Die Texte sind chronologisch nach ihrem Erscheinungsdatum geordnet. Dies ermöglicht, Tove Soilands Denkbewegungen über die letzten zwei Jahrzehnte nachzuvollziehen. Die Texte erscheinen in ihrer ursprünglichen Form, es wurden lediglich kleinere redaktionelle Änderungen vorgenommen. Wenngleich zwischen einigen Texten zum Teil inhaltliche Überschneidungen bestehen, jedoch jeder Text wiederum einen sehr eigenen und spezifischen Fokus einnimmt, sind auftauchende Redundanzen hoffentlich zu entschuldigen.

Ich danke Marie Bickmann vom Unrast-Verlag für die vertrauensvolle Zusammenarbeit. Für die kollegiale und freundschaftliche Unterstützung in der Vorbereitung dieses Buchs danke ich Rita Casale, Friederike Nastold und Sarah Trentzsch.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre sowie ein spannungsreiches Eintauchen in Tove Soilands Denken und den von ihr entworfenen Fokus feministischer Theorie.

Literatur

Irigaray, Luce (1979): Frauenmarkt. In: dies: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin: Merve, S. 177–198.

Lacan, Jacques (2015): Das Seminar Buch XX. Encore. Wien/Berlin: Turia + Kant.

Recalcati, Massimo (2000): Einführung in Lacan: Vom Begehren zum Geniessen. In: ders.: Der Stein des Anstosses. Lacan und das Jenseits des Lustprinzips. Wien: Turia + Kant, S. 15–42.

Soiland, Tove (2010/2018): Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz. Eine dritte Position im Streit zwischen Lacan und den Historisten. Wien/Berlin: Turia + Kant.

Soiland, Tove (2012): Interview mit Tove Soiland. In: texte. Psychoanalyse. Ästhetik. Kulturkritik. 32. Jg., Heft 4/12, S. 9–21.

Soiland, Tove (2018a): Der Sockel des Eisberges. Umrisse eines feministischen Marxismus für das 21. Jahrhundert. In: Soziopolis. Gesellschaft beobachten. Onlinezeitschrift: https://soziopolis.de/erinnern/jubilaeen/artikel/der-sockel-des-eisbergs/ [letzter Zugriff: 10.06.2022].

Soiland, Tove (2018b): Soziale Reproduktion und Neue Landnahme: ein feministischer Zugang. In: Widersprüche 150, 38. Jg., S. 85–112.

Soiland, Tove (2018c): Innere Kolonien: Care als Feld einer ›Neuen Landnahme‹. In: LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 3/2018, S. 72–77.

Soiland, Tove (2019): Ökonomisierung – Privatisierung. Die verdeckte Unterseite neoliberaler Restrukturierungen und ihre Implikationen für die Geschlechterforschung. In: Kortendiek, Beate; Riegraf, Brigit; Sabisch, Katja (Hrsg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung Bd. 1. Wiesbaden: Springer VS, S. 95–104.

Soiland, Tove (2022): Genießen als Faktor des Politischen – psychoanalytische Zugänge zur Gegenwart. Eine Einführung. In: Soiland, Tove; Frühauf, Marie; Hartmann, Anna (Hrsg.): Postödipale Gesellschaft. Band 1. Wien/Berlin: Turia + Kant, S. 9–50.

Soiland, Tove; Frühauf, Marie; Hartmann, Anna (Hrsg.) (2022): Postödipale Gesellschaft. Band 1. Wien/Berlin: Turia + Kant.

Zitierte Aufsätze von Tove Soiland aus diesem Band

TSa: Irigaray mit Marx lesen. Eine Rehabilitierung des Denkens der sexuellen Differenz (2003). S. 27–44.

TSb: Was sind sexuierte Positionen? Anmerkungen zu Judith Butlers Lacan-Rezeption (2004). S. 45–68.

TSc: Was heißt Konstruktion? Über den stillschweigenden Bedeutungswandel eines zentralen Paradigmas der Geschlechtertheorie (2008). S. 69–90.

TSd: Kontingenz als Ideologie unserer Zeit (2013). S. 99–107.

TSe: Subversion, wo steckst Du? Eine Spurensuche an den Universitäten (2013). S. 109–133.

TSf: Jenseits von Sex und Gender: Die sexuelle Differenz. Zeitdiagnostische Interventionen von Seiten der Psychoanalyse (2014). S. 135–164.

TSg: Genießen in Zeiten des Neoliberalismus. Anja Nora Schulthess im Gespräch mit Tove Soiland (2015). S. 165–172.

TSh: Die mütterliche Gabe hat keine symbolische Existenz. Interview durchgeführt von Maya Dolderer (2016). S. 173–184.

TSi: Der Umsturz des Ödipalen. Ein feministisches Dilemma (2018). S. 185–206.

Irigaray mit Marx lesen

Eine Rehabilitierung des Denkens der sexuellen Differenz

1998 widmet die von der John Hopkins Universität herausgegebene und äußerst renommierte Zeitschrift diacritics dem Denken der französischen Philosophin Luce Irigaray eigens eine Nummer mit dem sprechenden Titel Irigaray and the Political Future of Sexual Differenz. Schon dieser Umstand ist für deutschsprachige Leserinnen erstaunlich, sucht man hierzulande seit Beginn der 90er Jahre doch nahezu vergeblich nach Spuren einer deutschsprachigen Irigaray-Rezeption. Noch erstaunlicher allerdings ist, dass es sich die Herausgeberinnen nicht nehmen ließen, an prominenter Stelle ein Interview mit Judith Butler und Drucilla Cornell zu platzieren, in welchem die beiden bekannten US-amerikanischen Theoretikerinnen den großen Einfluss Luce Irigarays auf ihr eigenes Denken bestätigen. Zwar bestimmte die französische Philosophin in den 80er Jahren die feministische Theoriebildung auch des deutschsprachigen Raums, doch geriet sie bei uns spätestens seit ihrem Buch Ethik der sexuellen Differenz in den Ruf, einen essenzialistischen Begriff von Geschlechtlichkeit zu portieren, ein Vorwurf, der sich durch ihr Spätwerk der 90er Jahre zu bestätigen schien und in dessen Folge dieses weitgehend unrezipiert blieb.[5] Währenddem bei uns die Rezeption der englischsprachigen Gender-Diskussion zunehmend in das mündet, was als ›Krise der Kategorie Geschlecht‹ bezeichnet wird (vgl. Purtschert 2003), und sich – nicht zuletzt durch die Aufnahme der Werke Judith Butlers – ein spezifisches Verständnis von Gender herausgebildet hat, das mit dem Denken der sexuellen Differenz gänzlich unvereinbar erscheint, werden im englischen Sprachraum diese beiden Ansätze offenbar nicht als sich gegenseitig ausschließend wahrgenommen, sondern gelten als zwei valide Möglichkeiten, Fragen geschlechtlicher Hierarchisierungen zu reflektieren. Nicht, dass Irigaray nicht auch dort zu heftigen Diskussionen Anlass gäbe, doch stößt ihr Werk seit den 90er Jahren auf eine zunehmend breite, wenn auch kontroverse Resonanz.[6]

Tatsächlich stellt sich die Frage, was wir mit Irigarays häufig wiederkehrenden und in ihrem Spätwerk stellenweise geradezu aufdringlich werdenden Formulierungen von der Zweigeschlechtlichkeit der Natur anfangen sollen, hat doch der Rekurs auf die Natur in der Vergangenheit nicht nur den Frauen viel Unheil gebracht. Es ist denn auch der Status dieses Naturbegriffs, an dem sich die transatlantischen Geister scheiden: Währenddem sich deutschsprachige Leserinnen offensichtlich davon abgestoßen fühlen, weist Elisabeth Grosz meiner Ansicht nach zurecht darauf hin, dass auch Irigarays Naturbegriff als ein immer schon kulturell vermittelter verstanden werden muss und sie bekundet keinerlei Mühe, genau darin die Gemeinsamkeit von Irigaray und Butler zu sehen. Es sei gerade beider Interesse an der Frage nach jenem »Material«, aus welchem die kulturellen Konstrukte hervorgingen, insofern nämlich der »Körper als das politische, soziale und kulturelle Objekt par excellence« betrachtet werde.[7] Butlers Vorbehalte Irigaray gegenüber beziehen sich denn auch nicht auf diesen angeblichen Essenzialismus; die Bedenken, die sie im genannten Interview äußert, sind vielmehr folgende: dass Irigaray die sexuelle Differenz für die Anerkennung von Alterität als das zentrale Moment erkläre, dass sie damit die sexuelle Differenz gegenüber anderen Differenzen privilegiere und dass sie, was mit beidem zusammenhängt, auf diese Weise erneut eine normative Heterosexualität befestigen helfe.[8] Gerade weil Butler der ›Materialität‹ des Geschlechts einen so hohen Stellenwert einräumt, ist für sie gewissermaßen schon das ›nackte‹ Frausein nicht anders denn als Inkarnation einer heterosexuellen Norm zu begreifen und jenes »Paar«, das Irigaray seit J’aime à toi als Grundlage eines neuen geschlechterdifferenzierten Gesellschaftsvertrages postuliert, nichts anderes als eine heterosexistische Provokation.

Angesichts dieser beiden Vorwürfe, dass es politisch nicht legitim sei, die Geschlechterdifferenz gegenüber anderen Differenzen zu bevorzugen und dass diese in der Vorstellung von der Zweigeschlechtlichkeit die Rollenmuster einer alten Geschlechterordnung zementiere, möchte ich hier den Versuch einer Rehabilitierung des Denkens der sexuellen Differenz wagen, insofern nämlich, als ich der Ansicht bin, dass Irigaray mit diesem Theorem etwas anspricht, das gewissermaßen quer sowohl zu den hier angesprochenen Problemlagen wie deren Begrifflichkeit steht. Es scheint mir naheliegend, dies anhand eines Vergleichs zu tun: Wie kommt es, dass obwohl Irigaray und Butler gleichermaßen über Prozesse der ›Materialisierung‹ nachdenken, indem sie jede Rede über Vorgängiges als eine Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse begreifen, sie dennoch, zumindest in gewisser Hinsicht,[9] zu einem diametral entgegengesetzten Resultat kommen, was die Frage der Zweigeschlechtlichkeit und insbesondere: die des Status des weiblichen Subjekts betrifft.

Das Geschlecht: Vergegenständlichung von welchem Verhältnis?

Seit Marx im Zusammenhang seiner Wertlehre den Begriff einer »gesellschaftlichen Natureigenschaft« prägte, indem er vom »Wert« in paradoxaler Wendung als der »gesellschaftlichen Naturbestimmtheit« der Dinge spricht, hat sich – nicht nur für die feministische Theorie – ein weites Feld eröffnet, Prozesse gesellschaftlicher Selbsthypostasierungen zu analysieren. Wenn Marx die Menschen »bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse« eingehen sieht, von denen sie gleichwohl nichts wissen; wenn er nicht davor zurückscheut, den »Wert« als das eigentliche »Subjekt« zu bezeichnen, das er sogar ein »automatisches« nennt,[10] so steht ihm bereits ein Begriff dessen zur Verfügung, was die Subjektkritik des 20. Jahrhunderts die dezentrische Seinsweise des Menschen nennen wird: ein radikal von gesellschaftlichen Verhältnissen durchzogenes Wesen, das gleichwohl seine ureigenste Identität aus diesen Verhältnissen bezieht. In diesem Zusammenhang wird klar, wieso Fragen der Identität für die Gender-Forschung einen so zentralen Stellenwert erhielten: Wenn Menschen gerade mittels der den Gesellschaftsverhältnissen eigenen Subjektivierungsformen in diese eingebunden sind, so bleibt – was Marx wusste, wenn er »den Arbeiter« als »historisches Produkt« bezeichnet[11] – der Rekurs auf ebendiese Identität eine höchst ambivalente Angelegenheit. Insofern bin ich mit Gudrun Axeli-Knapp nicht einverstanden, die das heute in der Geschlechterforschung vorherrschende Interesse an »Subjekt- und identitätstheoretische[n] Fragestellungen« als ein »Brachliegen von Gesellschaftstheorie« versteht (2002: 17), doch stellt sich in der Tat das Problem, wie diese Fragen anzugehen sind. Den Menschen als ›Materialisierung‹ gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen, besagt noch nichts über die Form der darin wirksamen Verknüpfungen, geschweige denn, dass sich diese durch eine Revision des ›falschen Bewusstseins‹ auflösen ließen.

Denn was Marx in seiner Warenanalyse als den »gegenständlichen Schein« der Waren bezeichnete, ist ja nicht einfach eine dem Gegenstande irrtümlich anhaftende Eigenschaft; der »Schein« bezieht sich vielmehr auf die »Gegenständlichkeit« selbst.[12] Diese allerdings ist in dem die Ware konstituierenden »Wert ein Verhältnis zwischen Personen«, ein »unter dinglicher Hülle verstecktes Verhältnis« zwischen Personen, wie Marx präzisiert und damit etwas sehr Reales (MEW 23: 88). Und er zögert nicht, diese »gespenstige Gegenständlichkeit« der Ware mit der religiösen Welt zu vergleichen, in welcher »die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten« sind (MEW 23: 86). Kann man die Evidenz der Geschlechter als solch »selbständige Gestalten« betrachten, die, wie Butler im Unbehagen formuliert, sich einer »Selbst-Verdinglichung« des Patriarchats verdanken (1991: 63–67), so bleibt doch genauer zu klären, welches Personenverhältnis sich in ihnen materialisiert.

Es ist in dieser Frage, worin genau bezüglich dem Geschlechterverhältnis sinnvollerweise von einer Vergegenständlichung gesprochen werden muss, in der sich Butler und Irigaray unterscheiden. Wenn Butler in jener berühmten Passage (1991: 24), in welcher sie die sex/gender-Unterscheidung verwirft, die »Geschlechtsidentität« als »jenen Produktionsapparat« bezeichnet, der über die diskursiven Mittel verfügt, »die Dualität der Geschlechter (sexes)« »als das radikal Nicht-konstruierte« erscheinen zu lassen, so lässt sie keinen Zweifel daran, dass sie die »Geschlechtsidentität« als jenes Machtverhältnis begreift, das die naturalisierende Verdinglichung produziert:[13]sex wäre die Materialisierung einer heterosexuellen Norm, als die Butler die Geschlechtsidentitäten versteht. Währenddem hier beide Geschlechter gleichermaßen »gestiftet« sind durch einen »kulturellen Konstruktionsapparat«, dessen Verankerung in einem ›Verhältnis‹ allerdings unklar bleibt, bietet Irigaray eine Lektüre der Warenanalyse an, deren Auffassung von Geschlechterverhältnis als Gesellschaftsverhältnis eine grundsätzlich kategoriale Asymmetrie zwischen den Geschlechtern anvisiert.

Die Frau – ein Verhältnis zwischen Männern

In ihrem 1976 entstandenen Text Frauenmarkt, der nur schon deshalb von Interesse ist, weil er bereits unmissverständlich von der Notwendigkeit einer geschlechtlich differenzierten symbolischen Ordnung spricht (1979: 180) und damit die These eines Bruchs in ihrem Werk widerlegt, überlagert Irigaray die Marx’sche Warenanalyse mit der von der Anthropologie geprägten und von der strukturalen Psychoanalyse aufgenommenen Rede vom Frauentausch als dem kulturbegründenden Moment, der sie gleichsam einen diagnostischen Wert zuerkennt. Anders als die meisten feministischen Analysen kommt Irigaray dabei zum Schluss, dass die abendländische Geschlechtermetaphysik nicht adäquat erfasst ist, wenn sie lediglich als eine Spaltung zwischen ›Kultur‹ und ›Natur‹ und der geschlechterkomplementären Kodierung dieser beiden Pole verstanden wird. Nimmt man die Rede vom Frauentausch ernst und liest sie auf dem Hintergrund der Warenanalyse, so besagt dies vielmehr, dass Frauen einen sehr viel komplizierteren Status innehaben, insofern sie als Waren Naturalform und Wertform, Gebrauchswert und Tauschwert zugleich darstellen: »Die Ware, wie das Zeichen, ist metaphysischen Dichotomien unterworfen. Ihr Wert, ihre Wahrheit ist das Gesellschaftliche. Aber dies Gesellschaftliche ist ihrer Natur, ihrer Materie übergestülpt, und ordnet sich diese als Minderwert, das heißt als Nicht-Wert unter. Die Teilnahme am Gesellschaftlichen verlangt, dass der Körper sich einer Spiegelung unterwirft, einer Spekulation, die ihn zum Wertträger umbildet, (…). Die Ware – die Frau – ist in zwei unversöhnliche Körper geteilt: ihren ›natürlichen‹ Körper und ihren gesellschaftlich wertvollen, austauschbaren Körper (…)« (1979: 186 f.).

Die Teilhabe am Gesellschaftlichen verlangt, dass der Körper sich einer Spiegelung unterwirft, in deren Folge erst jene beiden »unversöhnlichen Körper« entstehen, deren einer als ›natürlicher‹ im Text Irigarays schon deshalb in Anführungsstrichen steht, weil ihn jene gesellschaftliche Werthülle in einem Akt der Unterordnung selbst konstituiert. Erinnern wir uns an Marx’ Aussage, dass die das gesellschaftliche Funktionieren fundierende Wertform sich daraus ergibt, dass sich die eine Ware im Gebrauchswert der anderen, der eine Körper im Körper der anderen spiegelt, so postuliert Irigaray hier – gleichsam als kulturbegründendes Moment – einen über das Dasein der Frau sich vollziehenden spek(tak)ulären Eingriff, in dessen Folge erst jene für das abendländische Denken so zentrale Kultur-Natur-Dichotomie entsteht.

Deren beide Pole jedoch sind in der Folge von der Frau zu tragen, wie Irigaray im Wortspiel von »sang rouge« und »semblant« nahelegt: das »rote Blut« im Gebrauchswert der Mutter und der »bloße Schein« im Tauschwert der Tochter sind ihre beiden möglichen, sich wechselseitig bedingenden Daseinsweisen. »Die Frauen würden also einen Natural- und einen gesellschaftlichen Wert darstellen. Ihr ›Werden‹ wäre der Übergang vom einen zum anderen. Doch würde es niemals einfach stattfinden« (1976: 191 f.).[14] Es würde deshalb nicht einfach stattfinden, weil ihre »Wertgegenständlichkeit« als ihre gesellschaftliche Seinsweise »nur im gesellschaftlichen Verhältnis von Ware zu Ware« existiert (MEW 23: 62), über dessen Zustandekommen nicht sie entscheiden. Dieses Verhältnis könne nicht von ihnen selbst realisiert werden, schreibt Irigaray wiederum mit Bezug auf Marx, denn es entspreche der Tätigkeit zweier Tauschender: »[D]er Tauschwert von zwei Zeichen, zwei Waren, zwei Frauen, ist eine Repräsentation von Bedürfnissen-Wünschen der Subjekte von Konsumtion und Tausch: er ist ihnen in keiner Weise ›eigentümlich‹. Im Grenzfall sind die Waren – bzw. ihre Verhältnisse – das materielle Alibi für den Wunsch nach Beziehungen unter Männern« (Irigaray 1976: 187).

Damit aber wird greifbar, welche Wendung Irigaray der Rede von der Materialisierung im Zusammenhang mit dem Geschlecht geben will: Wenn Marx sagt: »Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt« (MEW 23: 86), so heißt dies, dass jene den Waren-Frauen ihre Wertform verleihende Relation, ihnen in keiner Weise eigen, lediglich das Verhältnis der sie tauschenden Subjekte widerspiegelt. Mit anderen Worten: In ihrer Wertgegenständlichkeit, die gleichzeitig ihre einzig mögliche gesellschaftliche Existenz ist, hat sich das Verhältnis der sie tauschenden Männer inkarniert: In der Tat ›gespenstische Gestalten‹ – hat man sich ihr Dasein als die Vergegenständlichung der Beziehung zwischen Männern zu denken.

Währenddem also die meisten Gender-Theorien das geschlechtliche Sein als Inkarnation bestimmter Wertvorstellungen auffassen, von denen beide Geschlechter gleichermaßen betroffen sind, womit sie das Geschlechterverhältnis selbst als jenes »bestimmte gesellschaftliche Verhältnis« begreifen, scheint Irigaray mit Vergegenständlichung meines Erachtens nach sehr viel näher an der Marx’schen Terminologie[15] eine Asymmetrie zwischen den Geschlechtern zu benennen, in welcher deren eine Pol die Inkarnation der Verhältnisse des anderen bedeutet: Darin erscheint das Dasein der Frauen nicht als »Materialisierung einer Norm« (Butler 1997: 40), sondern als »Materialisierung der Beziehungen unter Männern«,[16] zu denen sie somit nicht in ein Verhältnis treten, sondern dessen Verhältnis sie vielmehr sind.

Was heißt das? Es wäre eine verkürzende Lesart, wollte man Irigarays Feststellung lediglich als Allegorisierung der Marx’schen Warenanalyse verstehen. Wenn Irigaray tatsächlich beansprucht, nicht lediglich die Warenanalyse auf Frauen ›anzuwenden‹, sondern das Geschlechterverhältnis dem Marx’schen Begriff des Produktionsverhältnisses einzuschreiben, so deshalb, weil sie seine Wertlehre als Beschreibung gesellschaftlicher Austauschsysteme überhaupt versteht.[17] Liest man Irigarays Kommentar zum Warenfetischismus in dieser Weise, so bezeichnet er gleichzeitig eine Asymmetrie in der Subjektkonstitution, die als das die westliche Kultur ebenso fundierende wie für geschlechtliche Hierarchisierungsprozesse verantwortliche Moment in einer unterschiedlichen Positionierung der Geschlechter vis-à-vis des Prozesses der Symbolisierung gründet.[18] Wenn deshalb Irigaray in Frauenmarkt auf einer zweiten, gleichsam untergründigen Ebene der Marx’schen Warenanalyse einen Lacan’schen Subtext unterlegt, indem sie das »Produktionsverhältnis« mit dem Begriff der »symbolischen Ordnung« verknüpft,[19]