Shelter Rock Cove – Ein Sommer am Meer - Barbara Bretton - E-Book
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Shelter Rock Cove – Ein Sommer am Meer E-Book

BARBARA BRETTON

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Beschreibung

Frische Meeresbrise – neues Glück? Die Small-Town-Romance »Shelter Rock Cove – Ein Sommer am Meer« von Barbara Bretton jetzt als eBook bei dotbooks. Wie es Ellen, eine waschechte New Yorkerin, ausgerechnet in das malerische Shelter Rock Cove an der Atlantikküste verschlagen hat, kann sie selbst gar nicht mehr so genau sagen. Aber was als Experiment beginnt, entpuppt sich bald als wahrer Segen: Ihre kleine Arztpraxis kann sich vor Zulauf kaum noch retten – schließlich eignet sich das gemütliche Wartezimmer hervorragend für den Austausch von herzlichem Kleinstadt-Tratsch. Also lässt sich Ellen mitten hinein in diese kuschlige Geborgenheit fallen … und in die Arme eines Mannes, von dem sie sich doch eigentlich tunlichst fernhalten wollte! Natürlich weiß am nächsten Morgen die ganze Stadt davon, und natürlich steht auch ausgerechnet jetzt noch Ellens Schwester Deirdre vor der Tür, im Gepäck einen riesigen Hund, eine Harfe und jede Menge Chaos … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Cozy-Romance-Roman »Shelter Rock Cove – Ein Sommer am Meer« von Bestseller-Autorin Barbara Bretton – für alle Fans von Kelly Morans und Robyn Carrs zauberhaften Kleinstadtserien. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 585

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Über dieses Buch:

Wie es Ellen, eine waschechte New Yorkerin, ausgerechnet in das malerische Shelter Rock Cove an der Atlantikküste verschlagen hat, kann sie selbst gar nicht mehr so genau sagen. Aber was als Experiment beginnt, entpuppt sich bald als wahrer Segen: Ihre kleine Arztpraxis kann sich vor Zulauf kaum noch retten – schließlich eignet sich das gemütliche Wartezimmer hervorragend für den Austausch von herzlichem Kleinstadt-Tratsch. Also lässt sich Ellen mitten hinein in diese kuschlige Geborgenheit fallen … und in die Arme eines Mannes, von dem sie sich doch eigentlich tunlichst fernhalten wollte! Natürlich weiß am nächsten Morgen die ganze Stadt davon, und natürlich steht auch ausgerechnet jetzt noch Ellens Schwester Deirdre vor der Tür, im Gepäck einen riesigen Hund, eine Harfe und jede Menge Chaos …

Über die Autorin:

Barbara Bretton wurde 1950 in New York City geboren. 1982 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem bis heute 40 weitere folgten, die regelmäßig die Bestsellerlisten eroberten. Ihre Bücher wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Sie lebt mit ihrer Familie in Princeton, New Jersey.

Bei dotbooks veröffentlichte Barbara Bretton in ihrer »Shelter Rock Cove«-Reihe auch den Roman »Ein Traum für jeden Tag«. Außerdem veröffentlichte sie bei dotbooks ihre »Candlelight Inn«-Reihe mit den Bänden »Liebeszauber« und »Herzchaos« sowie ihre »Jersey Love«-Reihe mit den unabhängig voneinander lesbaren Romanen »Nächte aus Sternenlicht«, »Das Glitzern der Wellen« und »Auf der Spur der Träume«.

***

eBook-Neuausgabe November 2021

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2003 unter dem Originaltitel »Girls of Summer« bei Berkley, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Ein Sommer am Meer« bei Weltbild.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2003 by Barbara Bretton

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2006 Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt 67, 86167 Augsburg

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-916-4

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Barbara Bretton

Shelter Rock CoveEin Sommer am Meer

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ursula Wulfekamp

dotbooks.

Meinem Mann Roy, denn manchmal landet eine Frau

gleich beim ersten Mal den Volltreffer. Ich liebe dich, BDH,

habe dich immer geliebt und werde dich immer lieben.

Kapitel 1

Als Ellen O’Brien Markowitz das letzte Mal neben einem Mann im Bett aufgewacht war, stand ihre Hochzeit kurz bevor, und der Mann, in dessen Bett sie lag, war ihr Verlobter.

Aber wie sich herausstellte, sollte die Verlobung von recht kurzer Dauer sein. Ellen sah Bryan noch heute vor sich, wie er aufrecht im Bett saß, den Organizer in der Hand, von dem er ihr geduldig die Gründe ablas, warum es für sie beide besser wäre, die Hochzeit abzublasen. Bevor er den neunten Grund genannt hatte, war sie bereits angezogen und zur Tür hinaus. Sein Einwand »Aber das sind noch nicht alle!« war ihr in den Flur hinaus gefolgt.

Nicht, dass es sie überrascht hätte. Vielmehr fragte sie sich, ob sie Bryan nicht aus genau den Gründen gewählt hatte, aus denen die Ehe scheiterte, noch bevor sie überhaupt geschlossen wurde.

Das war vor über vier Jahren gewesen. Eintausendsechshundertundfünfundachtzig Morgen, an denen sie allein aufgewacht war. Natürlich hatte sie die Tage nicht einzeln mitgezählt, aber andererseits konnte eine Frau eine solche Zahl kaum ignorieren. Hätte ein einziger weiterer Morgen der Einsamkeit das himmlische Gleichgewicht gestört und das Ende der Zivilisation bedeutet? Würde die Welt untergehen, wenn die Göttin des Morgens danach die Kassette auf den vorherigen Abend zurückspulte, zu der Sekunde, in der Ellen den verhängnisvollen Fehler beging?

Eine Sekunde lang hätte sich die Situation in Hall Talbots dämmrigem Schlafzimmer so oder so wenden können. Er war der vollkommene Kavalier. Trotz des Champagnerschwipses hätte er sofort von ihr abgelassen, wenn sie auch nur den mindesten Widerstand geleistet hätte – aber das hatte sie nicht. Stattdessen hatte sie die Arme geöffnet und ihr Herz gegen jede Hoffnung verschlossen. Zumindest hatte sie es versucht.

Sie hatte Übung darin, ihr Herz gegen Hoffnung zu verschließen. Schon früh hatte sie erfahren, dass nichts so ist, wie es scheint, die Familie nicht und ganz bestimmt nicht die Liebe. Die Zugbrücke zu ihrem Herzen war hochgezogen, die Tür verrammelt und verriegelt, aber vergangene Nacht war in einem unbewachten Moment trotzdem die Hoffnung zu einem Fensterspalt hereingeschlichen.

Blinzelnd äugte sie über das breite Bett. »O mein Gott«, flüsterte sie. Sein Anblick, seine Wärme und Nähe, ließen ihr den Kopf schwimmen, während sie sich mit mehr als einem Anflug von Reue an die Freuden der vergangenen Nacht erinnerte.

Sie hatte ihn sich nicht nur eingebildet, ihn nicht durch eine fatale Mischung von allzu viel Champagner und drei Jahren Träumen herbeigezaubert. Hall Talbot, der beliebteste Gynäkologe von Shelter Rock Cove, ihr guter Freund und Kollege, gab gerade einen halben Meter von ihr entfernt leise Schnarchlaute von sich.

Selbst jetzt sah er aus wie Adonis in Person, ein Adonis leicht vorgerückten Alters. Sein silberblondes Haar glänzte auf dem zartblauen Kissen. Seine muskulöse Brust nahm sich im ersten Morgenlicht prachtvoll aus. Ellen erinnerte sich, wie er vergangene Nacht ausgesehen hatte, als sie ihm das elegante weiße Hemd über seine eleganten braunen Schultern gestreift hatte und …

Sie vergrub das Gesicht im Kissen und unterdrückte ein Stöhnen.

Im Gefüge des Weltgeschehens war es eigentlich keine Tragödie. Menschen schliefen tagtäglich mit den falschen anderen Menschen, und die Welt drehte sich dennoch weiter. Vergangenen Abend waren sie und Hall noch gut befreundet gewesen, und es gab keinen Grund, warum ihre Freundschaft eine leidenschaftliche Nacht nicht überstehen sollte.

Auch wenn er in einem höchst unpassenden Moment den Namen einer anderen Frau geflüstert hatte.

Und das hat dich wohl überrascht, oder wie, Markowitz? Zwei Dinge hatte sie nach ihrem Umzug nach Maine sofort gelernt, und zwar ihre neue Telefonnummer und die Tatsache, dass Hall Talbots große Liebe Annie Galloway Butler hieß.

Hall hatte die Schuld für seinen Versprecher auf den Champagner geschoben und seinen Lapsus auf einige sehr erstaunliche Arten wettzumachen versucht, aber was passiert war, war passiert. Sie hatten zu dritt dort in dem Bett gelegen, und Ellen wusste nur zu gut, was es bedeutete, zweite Wahl zu sein. Jedem in Shelter Rock Cove war bekannt, dass Hall die ehemalige Witwe Galloway seit Jahren anbetete, woran auch mehrere gescheiterte Ehen nichts geändert hatten. Nicht einmal Annies Hochzeit mit Sam Butler hatte seiner Leidenschaft einen Dämpfer versetzt. Erst mit der Geburt ihrer zweiten wunderschönen Tochter hatte er sich notgedrungen mit der Tatsache abgefunden, dass er Annie verloren hatte, noch bevor sie ihn hatte finden können.

Hall und Ellen hatten am vergangenen Tag der Taufe von Kerry Amanda Butler als Familienmitglieder ehrenhalber beigewohnt, und beim Anblick dieses perfekten Babys, dieses Wunders der Liebe und des Schicksals, hatte sich Ellen das Herz im Leibe umgedreht. Was der Anblick bei Hall bewirkt hatte, konnte sie nur ahnen. Die Familien Galloway und Butler waren mit Kind und Kegel in Shelter Rock eingefallen, hatten Sams und Annies Häuschen mit Essen, Musik und Lachen erfüllt und mit genügend Liebe, um selbst den abgefeimtesten Skeptiker davon zu überzeugen, dass es glückliche Familien nicht nur gab, sondern dass sie auch in der Lage waren, zu blühen und zu gedeihen. Es war ein Kreis gut aussehender, fruchtbarer Menschen, und Ellen hätte ihre Seele dafür verkauft, zu diesem Kreis zu gehören. Aber wie immer war sie eine Außenseiterin.

Nur ein einziges Mal hatte sie sich noch mehr ausgeschlossen gefühlt, und das war bei einem der seltenen Familientreffen ihres Vaters Cy gewesen, bei dem sie lediglich durch ihr Namensschild als Teil des Clans erkannt wurde. Das passierte ihr bei der Familie immer, als wäre diese Verwandtschaft ein Privatclub, in dem sie als Mitglied unerwünscht war. Als Hall früh am Abend vorschlug, sie sollten gehen, war sie ihm von Herzen dankbar gewesen.

»Hunger?«, fragte er, als sie die Zufahrt zum Haus der Butlers hinab zu Ellens Wagen gingen.

»Ich bin am Verhungern.«

Sie entschieden sich gegen Cappy’s, wo sie unweigerlich jemanden treffen würden, der sie nach der Taufe ausfragte, und fuhren auf Halls Anregung hin zum Spruce Goose, einem kleinen Lokal etwas außerhalb von Shelter Rock Cove. Gutes Essen, noch bessere Beleuchtung, die Art Lokal, in der man sich eine Weile vorgaukeln konnte, ein anderer Mensch zu sein.

Sie hätte wissen müssen, wie gefährlich das war. Zerkratzte Holztische und Papiersets passten eher zu ihr. Leinene Tischtücher und Suppenlöffel brachten nichts als Ärger. Kollegen holten sich ein Hummerbrötchen bei Cappy’s oder eine Pizza bei Frankie’s neben dem Yankee Shopper. Freunde tafelten nicht bei Kerzenlicht, zu Barmusik im Hintergrund und Verheißung in der Luft. Nicht, wenn sie Freunde und Kollegen bleiben wollten.

Aber die Einsamkeit kann selbst der erfahrensten Frau einen Streich spielen. Hall hatte am gestrigen Abend jemanden gebraucht, und sie hatte es gebraucht, von ihm gebraucht zu werden. So einfach war das.

Und dabei hätte es bleiben sollen. Das war weiß Gott mehr, als sie je erwartet hatte. Es hatte ihr Spaß gemacht, sich einem gedämpften Verlangen nach ihm hinzugeben. Es hatte ihr gefallen, zu sehen, wie seine Schultermuskeln unter seinem weißen Kittel spielten, wie es ihm gelang, in OP-Kleidung wie ein Gentleman auszusehen. Wenn ihr jemand in der vergangenen Woche gesagt hätte, dass sie an diesem Morgen in Hall Talbots Bett aufwachen würde, dass sie nackt zwischen Hall Talbots sündteuren Laken liegen würde, hätte sie laut gelacht und dieser Person geraten, einen Therapeuten aufzusuchen.

Und dann hätte sie bei der Kosmetikerin angerufen und sich einen Termin für eine Pediküre sowie eine Enthaarung der Bikinizone geben lassen.

Da es aber nicht dazu gekommen war, hatte sie am vergangenen Abend nach Seife gerochen, ihre Fingernägel waren kurzgefeilt, ihre Frisur konnten selbst Wohlmeinende bestenfalls als lässig bezeichnen. Hall hatte sie auf ein Glas Champagner zu sich nach Hause gebeten, um auf Kerry Amandas Taufe anzustoßen, ein Glas hatte zum nächsten geführt, bis er meinte, sie dürfe nach dem vielen Champagner keinesfalls nach Hause fahren, und sie meinte, dann würde sie eben bei ihm auf der Couch schlafen. Aber plötzlich waren sie sich in den Armen gelegen, und zum ersten Mal im Leben war es ihr passiert, dass die Fantasie mühelos die Realität überflügeln konnte.

Hall gab ihr das Gefühl, schön zu sein. Das hatte noch niemand getan, nicht einmal in ihren Träumen. Als er mit seinen langen, gepflegten Fingern über die Rundung ihrer bloßen Hüfte fuhr, wusste sie, zumindest einen Moment lang, was es bedeutete, angebetet zu werden.

Natürlich musste er dann alles zerstören, indem er sie »Annie« nannte, gerade in dem Augenblick, in dem sie sich nichts mehr wünschte, als zu glauben, sie sei die Einzige, an die er denke, wenn schon nicht die Einzige, die er liebe. Sie hatte versucht, die Peinlichkeit zu verdrängen, sich tiefer in die Fantasie fallen zu lassen, aber seine heisere Stimme, mit der er Annies Namen sagte, ging ihr nicht mehr aus Kopf.

Vielleicht sollte sie ihm für diesen Versprecher dankbar sein, denn nur etwas derart Hässliches konnte sie in die Realität zurückbringen, bevor sie sich noch mehr blamierte.

Zumindest hatte sie nichts Blamables gesagt. Nichts, das sie für den Rest ihres Lebens bereuen und das irgendwie auf die Titelseite der Shelter Rock Cove Gazette gelangen würde. Irgendwie war es ihr gelungen, all ihre Amok laufenden Gefühle zusammenzuklauben und für sich zu behalten. Für Lust ließ sich leicht eine gute Ausrede finden, aber bei Gefühlen war das eine andere Sache. Die Welt sah sehr anders aus, wenn man nackt war, in der Horizontalen lag und der Körper an ungeahnten Stellen verlockend pochte.

Zum Beispiel das Herz?

Aber das war einer der Gedanken, den sie so weit wie möglich wegschieben wollte.

Langsam schob sie die Zudecke zurück und rutschte zur Bettkante. Es machte erschreckend viel Lärm, als ihre nackten Beine über das feste Baumwolllaken glitten. Selbst ihr Herzschlag kam ihr zu laut vor. Wie Hall trotz des Radaus, den sie veranstaltete, weiterschlafen konnte, war ihr zwar ein Rätsel, aber sein Atem ging regelmäßig, seine Augenlider öffneten sich nicht. Sie war alt genug, um zu wissen, dass sie die Gunst der Minute nutzen musste. Sie schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Er rührte sich nicht. Rasch klaubte sie ihre Kleider vom Boden und dem Stuhl in der Ecke des Zimmers auf, fischte ihre Stöckelschuhe unter der Kommode hervor und flitzte ins Bad.

Hall Talbot öffnete die Augen, sobald er die Badezimmertür gehen hörte. Es war dämmrig im Zimmer. Aus dem Rotkehlchennest draußen vor dem Fenster war kein Zwitschern zu hören. Er spähte auf den Wecker: 4:52 verkündete die Anzeige in grellem, grünem Flackern, das ihm in den Augen schmerzte. Es konnte einem nicht sonderlich gut gehen, wenn ein Blick auf die Uhr einem das Gefühl gab, auf eine Rakete gebunden zu sein, die jederzeit im Gehirn zu explodieren drohte.

So hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit er als Assistenzarzt 72-Stunden-Schichten geschoben hatte. Was zum Teufel war bloß passiert? Es gab keine Grippeepidemie, er hatte sich nicht am Kopf verletzt. Es gab keinen Grund, weshalb er sich vorkam, als sei eine Dampfwalze über ihn hinweggefahren.

Oder doch?

Seine Haut roch zart nach Nelken und Frau. Er hatte von einer Frau geträumt, von langen Beinen und weicher Haut, und dass er sich in ihrer Wärme verlor und darin verloren bleiben wollte. War es möglich, dass er das gar nicht geträumt hatte? Die Laken waren zerwühlt, die andere Seite des Bettes war warm, wie er beim prüfenden Tasten feststellte. Stück um Stück trudelte die vergangene Nacht an die Oberfläche: Kerry Amanda Butlers Taufe, der Scotch im Spruce Goose, eine Flasche Champagner auf der Terrasse, Ellens lange, elegante Beine um seine Taille, der süße Geschmack ihrer Lippen, wie er Annie Butlers Namen sagte, als …

Mist. Er hatte gehofft, der Teil wäre nichts als einer der Träume, in denen man zur besten Einkaufszeit nackt die Hauptstraße hinuntergeht, aber das Echo hallte laut und deutlich in seinem Kopf wider. Das Komische war – wenn an der Situation überhaupt irgendetwas komisch sein konnte –, dass er gar nicht an Annie gedacht hatte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren war er völlig bei der Frau gewesen, die neben ihm lag, ganz in dem Moment gefangen, und natürlich musste ihm genau in dem Moment sein champagnerbenebeltes Unterbewusstsein einen Streich spielen und ihn etwas sagen lassen, das Ellen vor den Kopf stieß.

Was zum Teufel hatte er sich bloß gedacht, als er sie zu sich auf einen Drink einlud? Er war doch alt genug, um zu wissen, wohin das führte. Er könnte natürlich den Scotch als Ausflucht anführen, aber normalerweise bekam er von Scotch einen klaren Kopf. Sie hatte etwas Besseres verdient. Daran bestand für ihn kein Zweifel. Er hatte den Großteil seines Lebens in einem Dreiecksverhältnis verbracht, und diese Erfahrung wünschte er niemandem. Aber irgendetwas war gestern anders gewesen, von dem Moment an, als sie am Krankenhaus vorfuhr, um ihn für die Taufe abzuholen. Vielleicht, weil sie in ihrem Partykleid wie eine Sommerblume aussah, oder vielleicht ihr leises, warmes Lachen, als sie Kerry Amanda im Arm hielt.

Er hatte ihr Gesicht gesehen, wenige Minuten nachdem Kerry zur Welt gekommen war. Er hatte den Ausdruck von Staunen, von Freude gesehen – ein Ausdruck, den man auf Renaissancegemälden sah, aber nicht in der postmodernen Welt der unterkühlten Rationalität.

Alle anderen Menschen in Annie Butlers Garten verblassten, und er sah nur Ellen, hörte nur ihre Stimme.

Er wusste nicht, aus welchem Motiv heraus sie in sein Bett gestiegen war, aber er war mehr als dankbar dafür gewesen. Dankbar für ihre Wärme, ihre Freundlichkeit, für die Art, wie sie sich mit ihm bewegte. Dankbar für alles, was sie zu der Person machte, die sie war.

Er hielt Arbeit und Freizeit immer streng getrennt, vergaß nie die Bedeutung seines Berufs und was er den Frauen schuldig war, die ihm ihr Leben und das ihres ungeborenen Kindes anvertrauten. Genau das hatte ihn vor drei Jahren auch bewogen, einen Partner zu suchen. Junge Paare zogen schneller nach Shelter Rock Cove, als das Baugewerbe Schritt halten konnte, und damit stieg die Geburtenrate so drastisch an, dass seine Arbeit sich fast über Nacht verdreifachte. Wenn er seinen Patientinnen weiterhin die Aufmerksamkeit und Fürsorge schenken wollte, die sie verdienten, musste er einen Partner haben.

Er hatte Bewerber aus dem ganzen Bundesstaat zum Bewerbungsgespräch gebeten. Alle hatten sie erstklassige Zeugnisse gehabt, aber niemand schien wirklich geeignet. Eine Weile hatte er eine Frau aus Boston in Betracht gezogen, doch da sie einem Leben in einer Kleinstadt am Meer eher abgeneigt schien, hatte er sich gezwungen gesehen, sie abzulehnen. Er hatte gerade beschlossen, seine Suche einige Monate auf Eis zu legen, als Ellen auftauchte. Damit war sein Problem gelöst. Niemand war mehr überrascht als Hall selbst, dass der perfekte Partner sich als eine große, gertenschlanke New Yorkerin mit roten Locken herausstellte, die über die unglaubliche Gabe verfügte, mit ihrem trockenen Humor und ihren sanften Händen selbst seine puritanischsten Yankee-Patientinnen zu bezaubern. Zuerst machte er sich Sorgen wegen der Reaktion der alten Drachen, doch zum Großteil hatten sogar die Witwen von Shelter Rock Ellen akzeptiert. Vielleicht nicht gerade als eine von ihnen, aber doch als willkommene Erweiterung. Selbst Claudia Galloway hatte ihren Widerstand schließlich aufgegeben und sagte einen Termin nicht mehr ab, wenn sie dabei von seiner Partnerin und nicht von ihm behandelt wurde.

In den Städtchen von Neuengland hielt der Fortschritt nur langsam Einzug, aber wenn er in Gestalt einer Person wie Ellen daherkam, ließ er sich nicht aufhalten, nicht einmal von jenen, die ihren Stammbaum dreihundert Jahre zurückverfolgen konnten, einfach indem sie zum Friedhof hinter der Kirche gingen.

Mittlerweile gehörte Ellen zur Gesellschaft der Stadt, zu den Clubs und Wohltätigkeitsveranstaltungen. Sie war ein gern gesehener Gast bei Kirchenfesten, auch wenn sie die fragliche Kirche sonst nicht besuchte, ein bekanntes Gesicht bei Partys und Paraden, bei Taufen und Beerdigungen. Sie hatte sich die Freundschaft, das Vertrauen und die Achtung der Einheimischen erworben. Und das wollte in einer Stadt wie Shelter Rock Cove etwas heißen.

Und jetzt hatte er das alles durch eine außerordentlich egoistische Tat gefährdet.

Ihm war klar, dass er etwas sagen oder tun musste. Die Frage war nur: Was? So gut er Ellen kannte, war sie ihm doch auch ein Rätsel. Das war kein normaler Morgen danach, an dem man auf der Terrasse gemeinsam einen Doughnut von Dee Dee’s und eine Scheibe Toast aß, während der Tag sich vor einem entfaltete. Dafür hatte er gesorgt, als er Annies Namen sagte.

Würde sie lässig reagieren, als hätten sie lediglich einen netten Abend miteinander verbracht? Das bezweifelte er. Um solche Spielchen zu spielen, kannten sie sich zu gut. Vielleicht sollten sie am Strand spazieren gehen, wo er Gelegenheit hätte, sich zu entschuldigen. Entschuldigungen dieser Art waren heikel, das wusste er. Er hatte zu oft erlebt, dass eine aufrichtige Entschuldigung nach hinten losgegangen war und denjenigen, der es am allerwenigsten verdiente, noch tiefer verletzte. Er könnte natürlich auch so tun, als würde er noch schlafen, bis sie das Haus verließ, und den Moment des Wiedersehens hinauszögern, aber das wäre feige. Das hatte sie nicht verdient.

Sie hätte auch in der vergangenen Nacht etwas anderes verdient, aber dafür war es jetzt zu spät. Jetzt konnte er nur ihre Reaktion abwarten und das Beste hoffen.

Vielleicht gab es irgendwo auf der Welt Frauen, die mit einer Montur neuer Kleider in eine Affäre schwebten, bewaffnet mit Zahnbürste und Fön, aber zu der Sorte gehörte Ellen nicht. Als sie in Halls Badezimmer stand, ein dunkelgrünes Handtuch um sich gewickelt, das kaum das Wesentliche verhüllte, fand sie, dass ihr Spiegelbild eine Frau in Not zeigte.

Sie sah zu bedürftig aus. Der Ausdruck ihrer Augen war zu offen, zu verletzlich, zu … alles. Sie sah aus wie in dem Sommer, als sie vierzehn gewesen war und ihre ganze Welt aus den Fugen geraten war.

Wenn sie die Harbor Road entlangfuhr, in genau denselben Kleidern, die sie zur Taufparty bei den Butlers getragen hatte, würde jede Menschenseele im Ort wissen, was sie in der vergangenen Nacht getan hatte. Schlimmer noch, ihr Wagen hatte die ganze Nacht in Halls Einfahrt gestanden. Genauso gut hätte sie ein Banner mit den Worten »Dr. Markowitz hat hier geschlafen« in Grellrot aus seinem Schlafzimmerfenster hängen können.

Zu Hause hätte niemand etwas davon bemerkt. In Manhattan konnte man ein Privatleben führen. Das war ihr nicht bewusst gewesen, bis sie nach Maine gezogen war. Man konnte einen Monat lang jeden Abend ein Takeaway beim Chinesen bestellen oder jeden Morgen einen anderen Liebhaber nach Hause schicken, mitbekommen würde es nur der Türsteher, und wenn man ihm zu Weihnachten ein entsprechendes Trinkgeld gab, würde er das Geheimnis mit ins Grab nehmen. Ihre Freunde liebten die Anonymität, die die Großstadt ihnen bot, aber Ellen hatte sich immer nach etwas mehr gesehnt. Sie wollte das Gefühl haben, zu einer Gemeinschaft zu gehören. Was ihr an Familienbanden fehlte, wollte sie mit Freundschaften wettmachen. Als Jack, einer ihrer Kollegen in der großen, unpersönlichen Klinik, die euphemistisch »Familienhospital« genannt wurde, ihr sagte, dass in Maine ein Gynäkologe gesucht wurde, war sie Feuer und Flamme. Jack und seine Familie verbrachten jeden Sommer ein paar Wochen in Shelter Rock Cove, wo er bisweilen mit Hall zum Fischen ging. Dabei hatte er den älteren Arzt sehr zu schätzen gelernt.

»Da oben ist tiefste Provinz«, hatte er Ellen gewarnt, bevor sie zum Bewerbungsgespräch fuhr. »Ich weiß nicht, ob das für eine Stadtpflanze wie dich das Richtige ist.«

Aber in dieser Stadtpflanze schlummerte ein Landei, und sobald sie Hall Talbot gesehen hatte, war die Entscheidung gefallen. Er war groß und golden, einer der seltenen, von der Natur bevorzugten Menschen, die nicht nur gut aussahen, sondern auch ein gutes Herz hatten. Sie und Hall hatten sich den ganzen Nachmittag unterhalten, über alles, von pränataler Vorsorge bis hin zur Gynäkologie bei Seniorinnen, und festgestellt, dass sie stets der gleichen Meinung waren. Als dann später die Sonne über dem Hafen unterging, wandten sie sich persönlicheren Themen zu, und zu ihrer Überraschung erzählte sie ihm von dem Leben, das sie mit Bryan geplant hatte, und wie sich der Traum über Nacht zerschlagen hatte.

Er hörte ihr auf genau die Art zu, die eine Frau sich bei einem Mann wünscht. Seine warmen, blauen Augen blieben fest auf sie gerichtet, er beugte sich über den Glastisch vor, als sei jedes Wort, das sie sagte, von lebenswichtiger Bedeutung. Aber ohne jeden Falsch, ohne jede Berechnung. Er hörte ihr zu, weil ihm wirklich wichtig war, was sie sagte. Das war für sie eine Offenbarung gewesen.

Als der Mond über dem Hafen aufging, waren ihre letzten Zweifel verflogen.

Sie hatten wohl bis zehn oder elf Uhr auf der Terrasse von Cappy’s gesessen. Er bestellte zwei Schüsseln Muschelsuppe und dazu Hummerbrötchen, und sie verzehrte das einfache Essen mit dem Appetit eines Holzfällers. Er gestand, in Ehe- und Liebesdingen sei seine Vergangenheit sehr bewegt. »Am besten hören Sie es gleich von mir selbst«, hatte er gesagt, als er der Kellnerin ein Zeichen gab, ihnen noch einen Eistee zu bringen. »Sonst hören Sie es früher oder später von anderen.« Schließlich gab es in Kleinstädten keine Geheimnisse.

Vier Töchter. Dreimal geschieden. Ellen hatte versucht, ihren Schock zu verbergen, aber er musste etwas in ihrem Gesicht bemerkt haben, denn er lächelte und lehnte sich zurück. »Schon in Ordnung, ich kann’s auch nicht glauben«, sagte er. Von Annie Galloway Butler erzählte er ihr nicht, aber das war auch nicht seine Art. Nachdem Ellen sechs Monate in Shelter Rock Cove gelebt hatte, hatte sie mindestens ein Dutzend unterschiedliche Versionen der Geschichte gehört, die sich in Einzelheiten unterschieden, doch der Grundtenor war immer derselbe: Hall liebte Annie, und Annie liebte einen anderen.

Eine klügere Frau hätte aus der Enthüllung etwas gelernt. Sie hätte ignoriert, dass sich ihr Herzschlag beschleunigte, sobald er ins Zimmer kam. Sie hätte sich angewöhnt, nicht mehr wahrzunehmen, dass seine Haut immer leicht nach Zitrone und Sonne duftete, selbst im tiefsten Neuengland-Winter. Und eine klügere Frau hätte sich ganz bestimmt nicht in sein Bett gelegt, ganz egal, wie viel Champagner sie getrunken hatte.

Aber Ellen hatte nie behauptet, in Fragen der Liebe klug zu sein, und die Tatsache, dass sie an einem Montagmorgen so gut wie nackt in Hall Talbots Bad stand und sich fragte, wie sie nach Hause kommen sollte, ohne der ganzen Stadt auf die Nase zu binden, dass sie die Nacht mit dem begehrtesten – und scheidungswilligsten – Junggesellen am Ort verbracht hatte, war wieder einmal ein schlagender Beweis dafür.

Hall schlüpfte in ein Paar verblichener Jeans und seinen Lieblings-Baumwollpullover und ging in die Küche, um eine Kanne Kaffee zu kochen. In einer Tüte auf der Arbeitsfläche lagen ein paar Doughnuts. Mittlerweile waren sie etwas altbacken, aber vielleicht konnte er sie in der Mikrowelle aufwärmen. Natürlich könnte er zu Dee Dee’s gehen und neue kaufen, aber dann könnte er genauso gut eine rote Fahne durch die Stadt flattern lassen. Die Nachricht würde sich verbreitet haben, ehe er wieder zu Hause angelangt war.

Er beschloss, die Doughnuts mit Mikrowellen zu beschießen und ein paar Bagels aus dem Gefrierschrank zu holen. Irgendwo stand im Kühlschrank auch ein Behälter mit Frischkäse. Nur nichts Aufwändiges. Wenn er großes Theater machte, würde die Situation noch peinlicher sein, als sie ohnehin schon war.

Während im Badezimmer über ihm im ersten Stock das Wasser rauschte, ging er in der Küche auf und ab. Wie konnte eine Frau nur so lange Zeit im Bad verbringen? Schließlich brauchte sie sich nicht groß zu überlegen, was sie anziehen sollte. Allmählich fragte er sich, ob sie wohl still und heimlich hinausgeschlüpft und nach Hause gefahren war, aber ihr Wagen stand noch in der Einfahrt.

Er trank ein Glas Saft, schluckte ein paar Vitamintabletten und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Über dem Meer ging die Sonne auf, tauchte seinen Garten in die zarten Pastelltöne des frühen Morgens und löste den leichten Dunst über dem Rasen auf. Er überlegte sich, ob er an die Badezimmertür klopfen sollte, aber das kam ihm unhöflich vor. Sie konnte ja kaum ewig dort oben ausharren, auch wenn sie das gern wollte. Sie musste am Nachmittag den Kaufvertrag für ihr erstes eigenes Haus unterschreiben und hatte um elf Uhr einen letzten Besichtigungstermin.

Was natürlich bedeutete, dass sie sich in seinem Bad verbarrikadieren konnte, bis er ins Krankenhaus gefahren war. Sie würde immer noch rechtzeitig zu ihrem Termin kommen.

War es das, was sie vorhatte? Ihn nicht zu sehen und jedes Gespräch zu vermeiden? Der Gedanke hatte zweifellos etwas Verlockendes, andererseits brachte es nichts, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Am besten wäre, wenn sie sich von Angesicht zu Angesicht unterhielten, und zwar ohne neugierige Beobachter und Lauscher.

Die Überlegung überzeugte ihn. Er würde ihr ein Glas Saft bringen. Vielleicht brauchte sie noch ein Handtuch oder Seife oder einen Fön und versuchte, ohne seine Hilfe zurechtzukommen. Was immer da oben vor sich ging, sie mussten miteinander reden, je eher, desto besser.

Er holte gerade ein Glas aus dem Schrank, als er Schritte auf der Treppe hörte und dann das Öffnen der Haustür.

»Ellen?« Er stellte das Glas ab und ging in den Flur. »Warte!«

Sie war schon halb zur Tür hinaus und fühlte sich unverkennbar unbehaglich in den Kleidern und den hohen Absätzen des Vorabends.

»Ellen!«

Auf der obersten Stufe blieb sie stehen und drehte sich um, und da sah er, dass in ihrem Gesicht all die Dinge geschrieben standen, die er am allerwenigsten sehen wollte. Verletztheit. Verwirrung. Peinlichkeit. Und noch etwas, etwas, womit er überhaupt nicht gerechnet hatte: Verlangen. Ein so intensives, offenkundiges Verlangen, dass seine Beine fast unter ihm nachgaben.

»Ich wollte dich nicht wecken«, sagte sie. Ihre Stimme war ein Flüstern. Sie wussten beide, wie weit Geräusche in der frühen Morgenluft tragen.

»Ich habe Kaffee gemacht«, sagte er und deutete zur Küche. »Lass mich dir wenigstens etwas Koffein einflößen, bevor du gehst.«

»Nein, danke. Ich muss nach Hause, und …«

Sie sah an sich hinab. »Ich glaube nicht, dass Claudia Galloway es gutheißen würde, mich wieder in diesen Klamotten zu sehen.«

Auf diese Bemerkung ging er nicht ein. Sie wussten beide, dass Annies ehemalige Schwiegermutter die Sachlage in einer Nanosekunde begreifen würde.

»Aber Zeit für einen Kaffee hast du doch.«

»Ich hole mir einen beim Drive-in.«

»Der ist noch nicht offen.«

»Du machst die Sache unnötig schwer, Hall.«

»Das ist nicht meine Absicht.«

»Dann mach dich fertig«, sagte sie. »Um acht kommt doch Mrs McIntyre, oder?«

»Du lenkst vom Thema ab.«

Sie begegnete seinem Blick. »Es gibt kein Thema. Ich fahre nach Hause, mehr nicht.«

»Ellen, ich …«

»Lass es gut sein«, sagte sie und kramte in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel.

Ihre feuchten Locken hingen ihr ums Gesicht und über die Schultern. Er fragte sich, ob sie wohl immer noch nach Nelken duftete, der leicht süße, würzige Geruch, der so gut zu ihr passte.

»Du sollst wissen …«

»Nein.« Ihr Tonfall war nicht zu missdeuten. »Wenn du wirklich etwas wettmachen willst, dann sag kein Wort mehr dazu.«

»Wenn du das willst.«

»Das ist genau das, was ich will.«

Sie wandte sich ab, aber er hielt sie zurück: »Dein Kleid. Du hast es nicht ganz zugeknöpft.«

Tränen schossen ihr in die Augen, und er musste sehr an sich halten, sie nicht in die Arme zu schließen und an sich zu drücken. Das würde ihr gar nicht gefallen, genauso wenig wie die Tatsache, dass er ihre Schwäche gesehen hatte. Man arbeitete nicht drei Jahre lang tagein, tagaus mit einer Frau zusammen, ohne sie etwas näher kennenzulernen.

Sie fasste sich an den Nacken und fummelte herum, in ihrer Verwirrung unfähig, ein paar Knöpfe zu schließen. Sie konnte es eindeutig nicht erwarten, aus dem Haus zu kommen.

»Lass mich das tun«, sagte er.

Er trat hinter sie, hob ihr schweres, feuchtes Haar an und schloss mit der anderen Hand geschickt die Knöpfe.

»Das kannst du gut«, sagte sie. Er versuchte, nichts in ihren Tonfall hineinzudeuten.

»Übung«, antwortete er. »Ich habe Töchter.«

Sie wollte gehen, aber er legte ihr eine Hand auf die bloße Schulter. »Ob du’s glaubst oder nicht, Ellen, du warst gestern Abend die einzige Frau in dem Bett da oben.«

»Schwacher Versuch«, sagte sie und ging, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

Kapitel 2

Ellen hatte das Gefühl, als würde die ganze Stadt mitverfolgen, wie sie die drei Kilometer von Halls Haus zu ihrer Wohnung fuhr. Sie kam sich vor wie ein Festwagen bei der Parade zum Volkstrauertag vergangene Woche, als würde sie die Hauptstraße mit nichts als einem dunkelgrünen Handtuch von Hall am Leib entlangfahren. Seit wann war die gesamte Stadt überhaupt schon um halb sieben morgens auf den Beinen? Ceil, die Kassiererin vom Yankee Shopper, schaute an der Kreuzung von Harbor Road und Shore Drive vom Bankomat zu ihr herüber. Fred Custis von der Eisenwarenhandlung nickte ihr zu, als er mit einer Tüte und einem Becher Kaffee aus Dee Dee’s Doughnuts herauskam. Die Fontaines und ihr Berner Sennenhund namens Lola blieben wie erstarrt stehen und beobachteten sie, während sie an der einzigen Ampel der Stadt auf Grün wartete.

Sweeney, die Leiterin der Künstlerinnen-Kooperative, winkte ihr von ihrem Motorrad aus zu und schoss dann an ihr vorbei auf dem Weg zum Leuchtturm, wo sie jeden Morgen schwimmen ging, und Ellen war sicher, dass ihre Sozia ihr ein aufmunterndes Zeichen hinterherschickte.

Es war ja nicht so, als hätte sie ein Geschwindigkeitsverbot übertreten oder im Halteverbot gestanden. Sie hatte lediglich mit ihrem Kollegen geschlafen und ihren Wagen (den einzigen feuerwehrroten PT Cruiser in ganz Shelter Rock Cove) über Nacht auf seiner Zufahrt geparkt. Zum Glück war Dummheit nicht strafbar, auch wenn sie es sein sollte.

Ellen war sich nicht sicher, was bei Hall zwischen Bad und Flur gerade passiert war, aber sobald sie ihn dort gesehen hatte, hätte sie ihn am liebsten geschlagen. Zuvor hatte sie sich verletzt gefühlt, war aber ganz ruhig gewesen, peinlich berührt, aber nicht im mindesten ärgerlich. Doch sobald sie sein Gesicht gesehen hatte, hatte eine unfassbare Wut sie gepackt, die ihr fast den Atem raubte.

Nur ein paar Sekunden zuvor hatte sie sich nur wegen ihrer Würde Sorgen gemacht. Doch als sie dann dort im Flur gestanden hatte und er ihr das Kleid zugeknöpft hatte, hatte sie sich gefragt, wie sie aus dem Haus kommen konnte, ohne gewalttätig zu werden.

Bis gestern Abend war der Umstand, dass er nicht zu haben war, einer seiner größten Vorzüge gewesen. Was wollte sie mehr? Ein warmherziger, geistreicher, erfolgreicher Mann mit einer längeren Geschichte als Troja. Der Typ Mann, den eine Frau betrachten und beobachten konnte, den sie trösten und nach dem sie sich verzehren konnte, ohne dass die Gefahr bestand, es könnte je etwas daraus werden.

Kurz gesagt, der perfekte Mann für sie.

Nichts zeigte einer Frau ihren Irrtum unerbittlicher als eine Nacht in den Armen der harten, kalten Realität. Es war sehr leicht, sich etwas vorzumachen, wenn man mit einer Tüte Chips und Harry und Sally im DVD-Spieler allein zu Hause saß. Die Probe aufs Exempel machte frau, wenn der Mann, von dem sie geträumt hatte, von einer anderen träumte.

Es war Zeit, sich von den Fantasien zu verabschieden, in denen sie eines Tages ins Krankenhaus kam und ihr Zimmer voll roter Rosen stand oder dass Hall ihr auf dem Parkplatz vor ihrer Wohnung ein Ständchen brachte. O ja, sie war Fachfrau im Entwerfen von Szenarien, wie Hollywood sie zu seiner Glanzzeit hätte ersinnen können, Szenarien, in denen Frauen schlagfertig waren und Männer wunderbar und jeder genau wusste, wann die Zeit für das Lebewohl gekommen war. Keine peinlichen Versprecher, kein verlegenes Erröten, keine Erklärungen, die keine Frau ihrer Lebtage je hören wollte. Unnütze Fantasien, die sie mit der gestrigen Zeitung in den Müll werfen konnte.

Sie wusste nicht genau, wann sie aufgehört hatte, ihn lediglich als Kollegen zu sehen, und anfing, ihn als Mann zu betrachten, auf jeden Fall war es relativ früh in ihrer Bekanntschaft gewesen. Er war warmherzig, witzig, charmant und attraktiv. Eine Frau musste schon ein Herz aus Stein haben, um ihm zu widerstehen – ein Umstand, den auch die Zahl seiner Scheidungen bestätigte. Sie hatte von seinem Umgang mit Frauen sämtliche Details erfahren, aber bis zum vergangenen Abend hatte sie so gut wie nichts von seinem Privatleben gewusst. Offenbar verbrachte er den Großteil seiner Zeit im Krankenhaus und in der Praxis sowie mit seinen zwei jüngeren Töchtern. Wenn er in den letzten Jahren ein Verhältnis gehabt hatte, dann war es das bestgehütete Geheimnis der Stadt, und jeder wusste, wie schwer es war, in Shelter Rock Cove ein Geheimnis zu hüten.

»Da sind Sie ja.« Ihre Nachbarin Mary erschien, als Ellen gerade den Schlüssel ins Türschloss steckte. »Eine Frau hat die ganze Nacht nach Ihnen gesucht. Sie sagte, Sie hätten nichts dagegen, wenn ich sie in Ihre Wohnung ließe, aber weil Sie mir nichts gesagt hatten, wollte ich ihr nicht Ihren Schlüssel geben.«

»Hat sie Ihnen gesagt, wie sie heißt?«

Mary runzelte die Stirn. »Dorothy? Doris? Ach nein, Dee Dee. Ich glaube, sie sagte, sie heiße Dee Dee wie der Doughnutladen.«

Ellen stützte sich mit der Stirn an der Haustür ab. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Eine kleine Frau mit blauen Augen und roten Locken, wie die meinen?«

»Ja«, sagte Mary. »Und mit den schönsten Händen, die ich je gesehen habe.«

»Das ist meine Schwester Deirdre.« Deirdre, die wie eine Seifenblase im Wind von Job zu Job, von Stadt zu Stadt trieb, die keine E-Mails beantwortete, keine Briefe und Telefonate, bis sie etwas brauchte.

»Ja, hast du Töne! Ich dachte, Sie seien ein Einzelkind.«

»Nein«, sagte Ellen und versuchte, sich in die dunkelste Ecke zu drücken, damit ihre ältere Nachbarin nicht bemerkte, dass sie noch dasselbe Sommerkleid trug, das sie am vergangenen Nachmittag so an ihr bewundert hatte. »Ich habe sogar zwei Schwestern, Mary Pat und Deirdre.« Eigentlich waren es Halbschwestern, aber Mary brauchte nicht die ganze Geschichte zu erfahren. Sie sah ohnehin schon überrascht genug aus. Ellen wusste genau, wie es ihr ging. Sie war selbst nicht minder überrascht gewesen, als sie von der Existenz der beiden erfahren hatte.

»Ich glaube nicht, dass ich Ihre Schwestern je gesehen habe, oder?«

Ellen holte tief Luft. Die meisten Familien waren mehr oder minder kaputt. Warum sollte es in ihrem Fall anders sein? Trotzdem war sie zutiefst verlegen, selbst nach all diesen Jahren.

»Unsere Familie pflegt keine sehr engen Kontakte«, sagte sie. »Mary Pat hat mit ihren fünf Kindern alle Hände voll, und Deirdre …« Sie zuckte mit den Schultern und hoffte, damit wohlwollendes Unverständnis auszudrücken.

»Sie hatte eine Harfe im Auto.«

»Eine Harfe!« Als sie Deirdre das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie ein Tenorsaxophon und Bongos im Gepäck gehabt.

»Und einen Hund.«

»Was für einen?«

»Einen großen.« Mary breitete die Arme weit. »Einen von denen, die sabbern. Ich kann Ihnen sagen, die Windschutzscheibe sah aus wie zugekleistert, ich weiß gar nicht, wie sie überhaupt noch die Straße ausmachen konnte.«

Ein kleiner Sexskandal, eine Harfe und Cujo, und es war noch nicht einmal acht Uhr. Der Tag fing ja prächtig an.

Sie drehte sich zu dem kleinen Parkplatz und sah dann wieder zu Mary. »Haben Sie eine Ahnung, wo sie hingegangen ist?« Deirdres Pläne änderten sich oft um hundertachtzig Grad, während sie an einer Ampel wartete.

»Tut mir leid, aber danach habe ich sie nicht gefragt. Ich habe gehört, dass sie gegen Mitternacht noch einmal bei Ihnen klingelte und ein paar Minuten wartete, dann ist sie wieder gefahren. Vielleicht …«

Marys kräftige graue Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Entschuldigen Sie, dass ich frage, aber ist das nicht dasselbe Kleid, das Sie gestern getragen haben?«

Halls Handy klingelte, als er auf seinen Krankenhausparkplatz fuhr. Er parkte seinen Rover ein und griff nach dem Telefon.

»Dr. Talbot.«

»Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?« Susan Galloway Aldrins melodiöses Kreischen fuhr ihm direkt ins Gehirn. Eine kalte Dusche und schwarzer Kaffee hatten seine Fassung einigermaßen wiederhergestellt, aber gegen Susans wutschnaubende Empörung würde ihn nur eine Vollnarkose wappnen.

»Kannst du ein bisschen leiser drehen, Susan? Ich bin am Krankenhaus.«

Sie tat ihr Bestes. Er musste zugeben, dass sie sich wirklich bemühte, aber sie war trotzdem noch drei Straßenzüge weiter zu vernehmen.

»Du hast mit Ellen geschlafen!«

Weder bestätigte er ihre Aussage, noch leugnete er sie. »Du hast wohl ihren Wagen bei mir vorm Haus gesehen.«

»Jeder in Shelter Rock Cove hat ihren Wagen bei dir vorm Haus gesehen. Ich sah ihn, als ich gestern Abend von Annie nach Hause fuhr, und Ma hat ihn gesehen, als sie heute morgen zur Frühmesse fuhr.«

»Ihr Wagen hat gestreikt.«

Susan war seine älteste Freundin und engste Vertraute, sie ließ sich nicht mit Ausflüchten abspeisen. »Dieses Märchen kannst du anderen auftischen, Talbot. Im Moment redest du mit mir, der Frau, die dir bei Annies beiden Hochzeiten die Hand hielt.«

Das war das Problem, wenn man sein ganzes Leben in einer einzigen Stadt verbrachte. Geheimnisse waren stadtbekannt, und man wurde beständig an sie erinnert. »Ich habe jetzt keine Zeit, mit dir darüber zu reden. Ich muss einen Kaiserschnitt vorbereiten.«

»Super«, sagte Susan. »Jedes Mal, wenn ich dir etwas sagen will, das du nicht hören willst, steht dir praktischerweise ein Kaiserschnitt ins Haus.«

»Übertreib nicht, Galloway.«

»Wie bitte? Willst du sagen, es gäbe keine Bevölkerungsexplosion in Shelter Rock?«

»Du weißt verdammt genau, dass Jamie McIntyre heute den Kaiserschnitt bekommt. Ich habe doch gesehen, wie du dich gestern bei der Party mit ihr unterhalten hast.«

»Das habe ich offenbar vergessen.«

»Ich zum Glück nicht. Das Baby will jetzt raus, und wie’s aussieht, wird Jamie einen Achtpfünder kriegen.«

Hall war nicht dumm – kaum hörte Susan etwas von einem Neugeborenen, schmolz sie dahin. »Dann lass ich dich mal gehen, damit du Jamies Sohn zur Welt bringen kannst«, sagte sie widerstrebend. »Aber glaub ja nicht, dass du so leicht davonkommst. Du hast Mist gebaut, mein Guter, und mach dich darauf gefasst, wegen Ellen Ärger zu kriegen. Du hättest ihren Wagen wenigstens in deine Garage stellen können.«

Er beendete das Gespräch, ohne sich von Susan zu verabschieden. Er war in Shelter Rock Cove geboren, hatte den Ort nie verlassen. Der Rhythmus der Kleinstadt war ihm altvertraut, gehörte zu seinem Alltag und bestimmte auch seine Sicht der Welt, aber an manchen Tagen wünschte er sich, er würde in Boston wohnen, wo niemand seinen Namen kannte.

»Na, Doc, wie geht’s?« Marie am Empfang wedelte ihm mit den Fingern zu, als er durch das kleine Foyer ging. Vor knapp drei Jahren hatte er ihre Zwillingstöchter zur Welt gebracht.

»Gar nicht so schlecht für einen Montag, Marie.« Er warf Leandra, Maries Kollegin am Empfang, ein Lächeln zu. Leandra beantwortete immer das Telefon. Sie war Ellens Patientin, eine Erstgebärende mit hohem Risiko, die sanfte Hände und genaue Beobachtung brauchte – zwei Eigenschaften, mit denen Ellen brillierte.

Bildete er es sich nur ein, oder flüsterte Leandra Marie tatsächlich etwas ins Ohr, was Marie veranlasste, die elegant gezupften Augenbrauen zu heben? Er spürte, wie ihm im Vorbeigehen die Röte ins Gesicht stieg. Das war ihm nicht mehr passiert, seit er mit vierzehn vor der versammelten Schule die Gettysburg Address aufgesagt hatte und ihm mittendrin die Stimme gebrochen war.

Find dich damit ab, sagte er sich entschlossen. Wenn Susan Recht hatte, und das war zu seiner Bestürzung meist der Fall, würde er den ganzen Tag lang gehobenen Augenbraunen und fragenden Blicken begegnen müssen. Wenn dir das schlimm vorkommt, dann stell dir mal vor, wie schlimm es erst heute Nachmittag für Ellen sein wird. Da würde sie den Kaufvertrag für Claudia Galloways Haus oben am Berg unterschreiben und an einem Konferenztisch Gott und der Welt gegenübersitzen, von Claudia über Susan bis hin zu einem Heer von Notaren. Ihm schwante, dass sie vermutlich weit mehr würde aushalten müssen als gehobene Augenbrauen.

Das kam alles nur von der verdammten Flasche Champagner. Und von den verdammt einsamen Nächten. Und weil Ellen mit ihren roten Locken und den großen Augen ihn im Spruce Goose über den Tisch hinweg so angeschaut hatte, weil ihre Einsamkeit die seine widerspiegelte und er sich so nach ihr gesehnt hatte, dass alles andere nebensächlich erschienen war.

Und weil er so dumm gewesen war, das auszunutzen.

Am anderen Ende der Stadt reagierte Susan Galloway Aldrin ihre Aggressionen an einem unschuldigen Rührei ab.

»Halt an dich, Susie«, sagte Jack, als er zwei Tassen mit Kaffee füllte und sie auf den Küchentisch stellte. »Die Eier haben dir nichts getan.«

Sie drehte sich um und fuchtelte mit dem Bratenwender durch die Luft wie mit einem Gewehr. »Welcher Teufel hat mich da bloß geritten, Jack? Kannst du mir sagen, was in mich gefahren ist, dass ich meiner Mutter erzähle, Ellen habe die Nacht mit Hall verbracht? Da hätte ich ihr genauso gut gleich eine geladene Pistole geben können.«

»Zumindest hast du ihn angerufen und ihn vorgewarnt.«

Sie lehnte sich an die Arbeitsfläche und tippte sich mit dem Bratenwender an die Stirn. »Ich schwör’s dir, ich hab’s gesagt, bevor ich’s überhaupt mitgekriegt habe. Ich wollte ihr überhaupt nicht erzählen, dass der Wagen dort stand.«

»Du bist die Tochter deiner Mutter, da beißt die Maus keinen Faden ab.«

Er versuchte, komisch zu sein, und das war ihr auch bewusst, aber in diesem Augenblick war ihr nicht nach Lachen zumute. »Was willst du damit sagen? Dass ich dominant bin und neugierig und ein Klatschmaul? Du darfst mich jederzeit unterbrechen.«

Jack hielt ihrem Angriff stand, auch wenn ihm anzusehen war, dass er am liebsten im Erdboden verschwinden würde. »Du hast etwas gewusst, das sie nicht wusste, und konntest der Versuchung nicht widerstehen, ihr das mitzuteilen.«

»Nachdem ich’s ihr gesagt hatte, fragte sie mich, was Ellen wohl bei Hall gesucht hat – kannst du dir das vorstellen? Die Frau ist sechsundsiebzig, sie sollte wissen, was es heißt, wenn eine Frau die Nacht bei einem Mann verbringt.«

Er schüttete sich das Äquivalent eines Esslöffels Zucker in seinen Kaffee, kostete ihn und rührte dann noch einmal dieselbe Menge hinein. »Ist dir in den Sinn gekommen, dass sie Hall und Ellen schützen wollte?«

»Also bitte. Sie war die Erste, die ihren Freundinnen brühwarm erzählte, dass Eileen bei der Hochzeit schwanger war, und das war ihre eigene Tochter.«

»Du hast mich nach meiner Meinung gefragt, ich habe sie dir gesagt. Ich weiß nicht, was du noch von mir verlangst, Susie.«

»Mit ist schleierhaft, wie er das Medizinstudium geschafft hat«, fauchte sie, während sie die Eier umrührte. »Jeder weiß doch, dass man nicht mit einer Angestellten schläft.«

»Sie ist nicht seine Angestellte.«

»Aber sicher ist sie das. Ihm gehört die Praxis, sie ist nur Juniorpartnerin.«

»Ich dachte, die beiden wären gleichberechtigte Partner.«

»Nein«, sagte Susan. »Noch nicht. Zumindest meines Wissens nicht.«

»Sag ihm, das ist dasselbe wie Heiraten. Und damit scheint er ja keine große Schwierigkeiten zu haben.«

»Das ist nicht komisch«, tadelte Susan. »Vielleicht sollte ich ihn noch mal anrufen und …«

»Die Sache geht dich nichts an«, unterbrach Jack sie warnend. »Halt dich da raus.«

»Dann rufe ich Ellen an«, beschloss sie und stellte die Hitze unter der Pfanne kleiner. »Vielleicht können wir …«

»… die Sache noch mehr verpfuschen? Tolle Idee.«

Sie warf ihm ihren vernichtendsten Blick zu, der in den ersten Ehejahren erstaunliche Wirkung gezeigt hatte. Nach über zwanzig Jahren Zusammenleben hatte er erheblich an Effektivität verloren. »Ich möchte sie an die Besichtigung in Mums Haus erinnern.«

»Daran hast du sie gestern auf dem Fest schon drei Mal erinnert.«

»Nur einmal«, stellte sie richtig. »Ellen ist Ärztin. Sie hat endlos viel um die Ohren. Es ist meine Aufgabe, ihr beim Hauskauf nach Kräften zur Seite zu stehen.«

»Wenn du ihr wirklich helfen willst, dann halt dich raus aus dem, was zwischen ihr und Hall vorgeht. Die sind beide erwachsen. Ob du’s glaubst oder nicht, dein alter Schulfreund muss dir seine Freundinnen nicht zur Genehmigung vorlegen.«

Das saß. Sie und Hall waren seit der Grundschule eng befreundet. Susan war in sämtliche Geheimnisse seines Privatlebens eingeweiht. Wenn sie von etwas nichts wusste, dann war es nicht passiert.

»Verdammt«, murrte sie, während sie mit dem Bratenwender den Pfannenboden abkratzte. »Blöde Eier.« Sie hatte nicht aufgepasst, das Rührei war fast angebrannt und zu trocken geworden. Susan holte Frischkäse aus dem Kühlschrank und rührte eine halbe Tasse davon unter die Masse, die zunehmend zur Cholesterinbombe mutierte. Zumindest war es nicht weit zur Herzstation.

»Du musst aufhören, die Heiratsvermittlerin zu spielen«, sagte Jack und löffelte Blaubeerkonfitüre auf eine Scheibe Toast. »Der Typ ist fünfundvierzig. Er war drei Mal verheiratet. Von seinen Affären mal ganz abgesehen.« Er machte eine mitfühlende Geste. »Vielleicht ist ihm einfach kein trautes Eheglück beschieden.«

Sie öffnete den Mund, um eine witzige Bemerkung zu machen, aber es kam nichts heraus. Jack hatte Recht. Sie wollte aber nicht, dass er Recht hatte. Die Vorstellung tat ihr weh, dass ihr bester Freund vielleicht nie das Glück finden würde, das er verdiente, das Glück, das sie seit fünfundzwanzig Jahre für ihn zu beschaffen versuchte. Trotzdem, Jack hatte Recht.

Sie dachte an Hall, seine Ex-Frauen, seine Geliebten, seine Kinder. Er war ein großartiger Vater und der beste Ex, den sich eine Frau wünschen konnte. Bei jeder neuen Beziehung war er entschlossen, dass es dieses Mal klappen würde, nahm sich fest vor, alles zu sein, was seine Partnerin sich erhoffte, aber irgendwie funktionierte es nie. Früher oder später wurde der Frau klar, dass sie zu dritt in der Ehe lebten und sie nie an erster Stelle stehen würde.

Wenn Hall herausfand, was sie getan hatte, würde er wütend werden. Sie hätte die Klappe halten sollen, als Claudia anrief, und ihre Mutter in dem Glauben belassen, dass Ellen frühmorgens zu Hall gefahren war, um mit ihm zu besprechen, wie sie den Hauskauf absagen konnte. Claudias unlogische Gedankensprünge hatten Susan immer schon geärgert, und unausgeschlafen und gehetzt wie sie an diesem Morgen war, war es ihr lebenswichtig erschienen, Claudia ihren Irrtum aufzuzeigen.

Wäre es nur nicht auf Kosten von Hall und Ellen gewesen.

Wie würde sie es bloß schaffen, bei der Hausbesichtigung am Vormittag der Frau ins Gesicht zu sehen? Mit dem Wissen, dass sie die Neuigkeit wie eine Marktschreierin ausposaunt hatte? Sicher, der Klatsch würde keine fatalen Folgen haben. Natürlich würde die Gerüchteküche eine Weile überkochen, eventuell würden einige Patientinnen zu einem anderen Arzt wechseln, aber wenn der Rauch nicht zu einem Feuer wurde, würde sich der Aufruhr wieder legen. Leider würden Ellen und ihr Ruf am meisten darunter leiden, weil sie in dieser Kleinstadt immer noch mehr oder minder als Außenseiterin galt. Aber es war nichts passiert, das einen nicht wieder gutzumachenden Schaden verursacht hatte.

In ein oder zwei Monaten würde ein anderes unglückseliges Paar ertappt werden, wie es aus dem Cozy Cottage Motor Court am Stadtrand schlich, und Hall und Ellen würden in die zweite Riege verwiesen werden.

Je früher, desto besser, dachte Susan.

Simon Andrew McIntyre kam um 8:32 Uhr zur Welt und wog über viertausend Gramm. Hall sprach den Eltern seinen Glückwunsch aus und machte sich dann schnell daran, den Schnitt zuzunähen, damit die McIntyres sich der Aufgabe widmen konnten, eine Familie zu werden.

»Gut gemacht«, sagte er zu seiner Assistenzchirurgin, als sie den Entbindungssaal verließen. »Sie lernen schnell.«

Sie war eine brünette Frau mit weit auseinander stehenden Augen, die selbst hinter der Gesichtsmaske noch zu leuchten schienen. »Es ist immer wieder unfassbar«, sagte sie und stotterte fast vor Ergriffenheit. »Ich meine, dabei zu sein, wenn ein neues Leben beginnt …«

Sie schüttelte den Kopf, und er bemerkte, dass ihre Augen vor Tränen glänzten. »Bitte sagen Sie mir, dass es nie zur Routine wird, Dr. Talbot.«

»Wenn es das je wird, dann ist es Zeit, sich einen neuen Job zu suchen«, sagte er.

Über diese Worte dachte er etwas später in seinem Büro nach. Das war einer der Gründe, weshalb er Ellen zu seiner Partnerin gemacht hatte. Er hatte erlebt, wie sie am Ende eines schweren Tags so müde war, dass sie sich kaum zum Auto schleppen konnte, aber wenn dann ihr Piepser ging und sie hörte, dass eine ihrer Patientinnen in den Wehen lag, fiel die Erschöpfung vor seinen Augen von ihr ab. Es genügte die Vorstellung, wieder ein Wunder mitzuerleben, den Moment, wenn das Neugeborene die Welt zum ersten Mal sah und den ersten, lebensbejahenden Schrei äußerte – das sah er jedes Mal wieder in Ellens Augen.

Manchmal meinte das Schicksal es nicht so gut. Wenn es in seiner Macht stünde, würde keine Frau je eine Totgeburt haben, würde kein Ehemann je die Worte hören müssen: »Es tut mir sehr leid, wir konnten sie nicht retten.« Jedes Baby wäre so vollkommen wie die Babys in den Hochglanzmagazinen und im Fernsehen, rundlich und rosig, mit zehn Fingerchen und zehn Zehen, alle am richtigen Fleck. Aber das Leben war nun einmal ungerecht, manchmal passierten den besten Menschen die schlimmsten Dinge, und oft war es an ihm, die Hiobsbotschaft zu überbringen. Im Lauf der Jahre hinterließ das seine Spuren. Vor jeder Entbindung flüsterte er ein Stoßgebet, in dem er darum bat, die Mutter möge die Geburt gut überstehen, das Kind möge gesund sein und er möge die richtigen Entscheidungen treffen. Doch jedes Mal spürte er in der Magengrube auch das Grauen, dass etwas schief gehen könnte.

Er und Ellen hatten sich angewöhnt, nach jeder Entbindung kurz miteinander zu reden. Eine kleine Verneigung vor dem Wunder des Lebens. Manchmal eine Schweigesekunde, wenn sich jede Hoffnung zerschlagen hatte. Es war ein Ritual, auf das er sich immer freute, das die Bedeutung des Ereignisses für ihn erst wirklich greifbar machte.

An jedem anderen Tag hätte er sie sofort mit der Nachricht angerufen. Viertausendeinhundert Gramm, würde er sagen. Sechzig Zentimeter und eine entsprechend kräftige Lunge.

Ein neuer Tag, ein neues Wunder, würde sie sagen, dann würden sie beide leise lachen und wieder in ihrem Arbeitsalltag aufgehen.

Er brauchte nur nach dem Hörer zu greifen und ihre Nummer zu wählen, wie er es in den letzten drei Jahren Hunderte von Malen getan hatte. Sie würden ein paar Worte wechseln, und dann wäre alles wieder so, wie es bis vor vierundzwanzig Stunden gewesen war, bis er den größten Fehler seines Lebens begangen hatte.

Aber er griff nicht zum Hörer, weil er die Worte nicht sagen konnte. Die Worte, die ihm wirklich am Herzen lagen, wollte sie nicht hören; sie würden alles noch schlimmer machen, als es ohnehin schon war.

»Verdammt, Elly«, sagte er laut in seinem leeren Büro. »Was zum Teufel habe ich bloß gemacht?«

Kapitel 3

Für Ellen bestand kein Zweifel, dass der Tag rapide einen immer schlimmeren Lauf nahm, und sie wollte sich gar nicht ausmalen, was der Vormittag noch für sie bereithielt. Es würde sie nicht wundern, wenn Claudia Galloway in diesem Moment am Frühstückstisch saß und sich überlegte, ob sie das Haus tatsächlich verkaufen wollte. Vermutlich würde jeden Moment das Telefon klingeln, und Susan würde ihr sagen, der Verkauf sei abgeblasen. Oder vielleicht würde Claudia keinen Rückzieher machen, und stattdessen würde sich die Erde auftun und das Grundstück mitsamt Haus verschlingen, keine dreißig Sekunden, nachdem Ellen den Vertrag unterschrieben hatte, und sie würde dreißig Jahre lang ein Darlehen abbezahlen für nichts als ein Loch im Boden.

Ihre Nachbarin Mary hatte ihre gestotterte Erklärung mit einem Kopfnicken quittiert, als sie erläuterte, warum sie noch das Partykleid des vergangenen Abends trug, aber Ellen bezweifelte, dass die alte Dame ihr auch nur ein Wort geglaubt hatte. War das ein Wunder? Sicher, Gynäkologen wurden zu jeder Tages- und Nachtzeit in die Klinik gerufen (das brachte die Arbeit so mit sich), aber in einem Ort wie Shelter Rock Cove konnte man keinen Notfall erfinden, ohne sich in seinen eigenen Lügen zu verstricken. Jeder kannte jeden. Man wusste, wer schwanger war, wer schwanger werden wollte, wer jeden Monat genügend Midol kaufte, um der Apotheke Gewinne einzufahren. Sie hatte eine Touristin mit schweren Unterleibskrämpfen erfunden, um ihre Abwesenheit letzte Nacht zu erklären, und konnte nur beten, dass Mary nicht bei ihrer Nichte Leandra nachfragte, die im Krankenhaus arbeitete.

Sobald Ellen allein in ihrem Schlafzimmer war, schlüpfte sie aus dem Kleid und warf es aufs Bett. All ihre Habseligkeiten waren verpackt, um auf den Umzugswagen geladen zu werden, der innerhalb der nächsten Stunde eintreffen würde, und wenn sie den Möbelpackern nicht in der Unterwäsche gegenüberstehen wollte, musste sie sich umziehen, und zwar schnell. Ihr Lieblingsoutfit, eine elfenbeinfarbene Leinenhose und dazu ein handgestricktes Seidentop, lag über der Lehne des Stuhls vorm Fenster. Sie brauchte sich nur die Zähne zu putzen, in ihren Glücks-BH und einen Slip zu schlüpfen, dann war sie für alles gewappnet.

Was natürlich eine noch größere Lüge war als die schwangere Touristin mit den Unterleibskrämpfen.

Als sie die Armbanduhr anlegte, fiel ihr ein, dass Jamie McIntyre ihren Kaiserschnitt jetzt vermutlich hinter sich hatte. Wenn alles nach Plan gelaufen war, würden sie und Don mit einem wunderschönen kleinen Sohn bereits wieder in ihrem Zimmer sein. Jamie und Don hatten Tod und Teufel unternommen, um ihr zweites Kind zu bekommen. Wenn es je ein Wunschkind gegeben hatte, dann war es McIntyre junior. Würde er blond und hellhäutig sein wie seine Mutter, fragte Ellen sich, oder rotwangig und rotköpfig wie sein Vater? Und als er zum ersten Mal die Welt außerhalb der Gebärmutter erlebte, hatte er da einen Schrei ausgestoßen oder sich still umgeguckt, als wollte er sagen: »Das kenne ich doch«?

Mittlerweile hätte Hall sie schon anrufen sollen. Nicht, dass sie wirklich damit rechnete, nachdem sie ihn wortlos verlassen hatte, ohne sich seine Entschuldigung anzuhören, aber ein Teil von ihr hatte doch auf seinen Anruf gewartet. Nicht, dass sie sich wünschte, seine Stimme zu hören. (Die hatte sie schon laut genug vernommen, als er letzte Nacht Annies Namen gemurmelt hatte.) Aber ihr Nach-Entbindungsritual war fast heilig, etwas Freudiges und Lebensbejahendes, und ging weit über einen banalen Alltagsstreit hinaus. Fast wünschte sie sich …

Egal. Das würde sie später herausfinden. Wenn der Kaufvertrag unterschrieben war, würde sie vielleicht im Krankenhaus vorbeischauen, sich das Neugeborene ansehen und den Eltern alles Gute wünschen. Und wenn sie dort zufällig Hall begegnete, wäre sie der Situation hoffentlich etwas besser gewachsen als am Morgen.

Es wird sich schon alles finden, sagte sie ihrem Spiegelbild, während sie sich die Zähne putzte. Sie waren doch beide erwachsen, oder? Und noch wichtiger, sie waren Freunde, nicht nur Praxispartner. Nur weil ihre kurze Begegnung an diesem Morgen unerquicklicher gewesen war als eine Wurzelbehandlung ohne Novocain, bedeutete das doch nicht, dass sie nicht wieder auf freundschaftlichem Fuß verkehren konnten, sobald sie wieder ihrer täglichen Arbeit nachgingen. Sie waren nicht als Liebespaar gedacht. Die Vorstellung sollten sie beide ad acta legen. Sie waren Freunde, die sich von einem momentanen Gefühl hatten hinreißen lassen.

Wenn es ihr nur gelingen würde, den Moment zu vergessen, als er … Und? Es ging doch. Sie konnte es verdrängen. Sich metaphorisch die Finger in die Ohren stecken und laut genug pfeifen, dass sie ihn nicht hörte, wenn er zu jeder vollen Stunde Annies Namen flüsterte.

Sich etwas vorzumachen war einfach. Sie stammte aus einer Familie, die die Kunst, sich etwas vorzumachen, meisterlich beherrschte. Ihre Eltern hatten getan, als wären sie eine normale Familie, und nach einem verschlungenen Irrweg als Teenager hatte sie gelernt, sich vorzumachen, dass sie Recht hatten. Kein Grund, warum das nicht auch bei Hall funktionieren sollte. Solange die nächtliche Entgleisung ihrer beider Sache blieb, konnten sie einfach tun, als sei der Fauxpas nie passiert, und weitermachen wie bisher. Vielleicht nicht morgen oder übermorgen, aber nächste Woche.

Das sagte die Optimistin in ihr. Die Pessimistin in ihr war nicht überzeugt, dass die Welt, wie sie sie bislang gekannt hatte, nicht dem Untergang geweiht war.

Einen fünfzig Kilogramm schweren Hund ins Motelzimmer zu schmuggeln, war schwierig genug gewesen, aber denselben Hund wieder hinauszuschmuggeln, erwies sich als nahezu unmöglich.

Deirdre O’Brien öffnete die Tür, linste in den Flur und zog den Kopf schnell wieder zurück. An ein Rauskommen war wohl nur zu denken, wenn sie Stanley Hut und Mantel anzog und ihn »Liebling« nannte. Derselbe Manager, der sie sechs Stunden zuvor beim Einchecken misstrauisch gemustert hatte, kanzelte gerade zwei Zimmermädchen ab für ihr Unvermögen, Handtücher richtig zusammenzufalten. Eigentlich sollte man nicht meinen, dass ein Motel, das hauptsächlich mit seiner Nähe zum Lastwagenterminal Werbung machte, wegen Handtüchern ein solches Drama veranstalten würde, aber Deirdre hatte den Manager klar und deutlich gehört. Dieser Mann würde nicht freundlich reagieren angesichts eines zahlenden Gasts, der von einem Hund in der Größe eines Babyelefanten begleitet wurde.

KEINE HAUSTIERE bedeutete keine Haustiere, auch wenn dieses betreffende Haustier sich nicht als solches verstand.

»Keine Sorge, Stan«, sagte sie zu dem Hund, der ihr zu Füßen saß. Sie waren fast in Augenhöhe. »Wir verschwinden, sobald die Luft rein ist.«

Einen Typen auf ihr Zimmer an der St. Adalbert’s Academy zu schmuggeln war im Vergleich dazu ein Kinderspiel gewesen.