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Für Nai steht alles auf dem Spiel: das Band zu ihrem Schicksalsgefährten, die Sicherheit ihrer Familie und ihre eigene Freiheit. Die Akademie der Hochmagier ist völlig anders, als sie es ich vorgestellt hat, und Nai wünscht sich nichts sehnlicher, als zurück an Rage‘ Seite zu kehren. Doch als dunkle Mächte nicht nur Shifter Island, sondern auch High Mage Island bedrohen, müssen sich die Magier und Gestaltwandler zusammenraufen, um nicht jede Hoffnung auf Frieden zu verlieren. Nai muss sich fragen, wer wirklich auf der Seite des Bösen und des Guten steht - und wem sie vertrauen kann.
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Seitenzahl: 399
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Weitere Titel der Autorin
Titel
Impressum
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 1
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 2
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 3
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 3,5
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 4
The Last Dragon King – Die Chroniken von Avalier 1
The Broken Elf King – Die Chroniken von Avalier 2
The Ruthless Fae King – Die Chroniken von Avalier 3
Shifter Island 1 – Die Akademie der Wölfe
Shifter Island 2 – Der Wächter der Seelen
Shifter Island 2,5 – Der Alphakönig
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Michael Krug
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Midnight Truth (Shifter Island Book 3)«
Für die Originalausgabe:
Copyright ® 2021 by Leia Stone and Raye Wagner
Published by arrangement with Bookcase Literary Agency
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright ® 2025 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Textredaktion: Stephanie Röder, Remscheid
Umschlaggestaltung: Cigdem Bilge
Umschlagmotiv: © Neo Poetra/Shutterstock; Instaphics/Shutterstock; Chikovnaya/Shutterstock; RV ART AND DESIGN/Shutterstock; Didik12/ Shutterstock
MichalPrzybylski/Shutterstock; Pro-Stocks/Shutterstock; mauluddin/Shutterstock
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-7390-4
Sie finden uns im Internet unter one-verlag.de
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Ich folgte Reyna und meinem Großvater, als wir durch das Portal in der Bibliothek der Alpha Academy in jene auf der Hochmagierinsel huschten. Das Klicken meiner Schuhe auf dem Steinboden durchbrach die drückende Stille. Kurz blieb ich stehen, um sie auszuziehen, bevor ich die trägen Schritte mit Honor an der Seite fortsetzte. Fasziniert betrachtete ich die ledergebundenen Bände. Die goldene Schrift auf den Rücken konnte man im fahlen Mondlicht kaum erkennen. Zwischen den Regalen standen kahle, verwaiste Tische verteilt. Als wir uns einer großen Rotunde näherten, starrte ich auf die goldene Statue einer Magierin in der Mitte. Blau schimmernde Flüssigkeit in einem Becken zu ihren Füßen wurde irgendwie in ihre Hände gepumpt – wo sie sich in Flammen verwandelte, die als kaltes, magisches Feuer nach oben züngelten.
Wow.
Mein Blick folgte jenen Flammen höher. Sie erstreckten sich bis zur Decke. Mein Mund klappte auf. Mit hohen Bögen aus dunkel gebeiztem Holz und Hunderten kunstvoll gestalteten Buntglasscheiben übertraf die Pracht dieser Bibliothek zehnfach jene auf der Alpha-Insel.
In Bewegung blieb ich nur, weil Honor mich gelegentlich stupste.
»Komm weiter«, raunte Reyna und löste damit meine Aufmerksamkeit von der Architektur. Sie trat aus dem Kuppelbereich in einen breiten Gang. »Wir müssen dich in ein Versteck bringen.«
Ruckartig deutete sie mit dem Kopf zur Seite. Ich eilte zu ihr, weil ich fürchtete, sie könnte Grandpa Geoff fallen lassen. Er stützte sich so sehr auf sie, dass sie ihn praktisch schleifte. War er überhaupt noch bei Bewusstsein? Honor folgte mir dicht auf den Fersen, ließ keinen vollen Schritt Abstand zwischen uns entstehen.
Reyna und Grandpa steuerten auf eine Tür an der gegenüberliegenden Wand der Bibliothek zu. Sie wies das Symbol für Geist auf. Mein Großvater stöhnte in ihren Armen, und sie wurde noch langsamer.
»Brauchst du Hilfe?«, fragte ich die Schildwächterin.
»Nein. Ich schaffe das schon.« Sie ächzte unter dem Gewicht meines Großvaters.
Was für ein stures Frauenzimmer.
Ich nahm mir die Zeit für einen Blick in die anderen Gänge zu den umliegenden Wänden der Bibliothek. Dabei bemerkte ich vier weitere Türen, jeweils mit dem Symbol eines der Elemente, die wie jene an meinem Körper aussahen. Wasser, Feuer, Erde und Luft.
Cool.
»Heute noch, wäre nett«, rief Reyna zu mir zurück.
Oh Mann. Ich hob den Rock an, damit ich nicht darüber stolperte, und hastete hinter ihr her.
»Warum noch mal verstecken wir mich?«, flüsterte ich.
Nachdem Reyna die Tür zum Raum mit dem Geistsymbol aufgerissen hatte, schleifte sie Grandpa über die Schwelle in einen dunklen Vorraum. Mittlerweile atmete sie schwer und lehnte sich an die Wand, um abgehackt zu verschnaufen.
Ich folgte ihr. Dabei bemerkte ich zwei Zierstühle und einen Beistelltisch dazwischen, doch Reyna setzte meinen Großvater nicht hin. Stattdessen wartete sie nur, bis auch Honor eingetreten war. Kaum hatte er die Tür mit der Schnauze geschlossen, hievte sie Grandpa wieder aufrechter.
»Weil er dich«, stieß sie ächzend hervor, als sie meinen Großvater mühsam weiterschleppte, diesmal durch einen mit dunklem Holz getäfelten Flur, »zuerst ordnungsgemäß als seine Erbin anmelden muss, sonst könntest du angegriffen werden.«
Angegriffen? Hörte sich unlustig an.
»Warte, lass mich dir helfen.« Als ich vortrat, ließ sie mich mit einem finsteren Blick erstarren.
»Es ist meine Ehre und Pflicht, mich um ihn zu kümmern«, erklärte sie schroff und mit gebleckten Zähnen.
Mit weit aufgerissenen Augen wich ich zurück. Mein Großvater hob das Kinn und grinste mich an. »Nach außen hin ist sie kratzbürstig und hart«, flüsterte er matt. »Aber innen warmherzig und sanftmütig.«
Als ich ihn bei Bewusstsein sah, seufzte ich erleichtert und ignorierte seine scherzhafte Bemerkung völlig.
»Bin ich nicht«, widersprach Reyna mit knurrendem Unterton. »Nimm das zurück.« Er lachte nur keuchend.
Auf halbem Weg durch den stark gebeizten Flur betraten wir ein überfrachtetes Arbeitszimmer, vermutlich das meines Großvaters. Es strotzte vor Büchern, viele davon über den Boden verstreut. Außerdem enthielt es zwei Tische und mehrere Holzstühle. Neben den bunten Schmökern verteilten sich Dutzende Kristalle unterschiedlicher Farben sowie Glasflaschen in allen erdenklichen Formen und Größen über den Raum.
Es sah so chaotisch aus, als wäre eingebrochen worden.
Ich beobachtete, wie sich Reyna einen Weg durch die Unordnung bahnte. Nur deshalb erkannte auch ich die einigermaßen freien »Wege« durch das Gewirr.
Mit dem Fuß schob die Schildwächterin einen dicken, ledergebundenen Schmöker von einem silbrigen Sofa mit Samtbezug, bevor sie meinen Großvater darauf ablud und sich neben ihn plumpsen ließ. »Du musst ... in Erwägung ziehen ... den Stock zu benutzen ... den ich dir gekauft habe«, stieß Reyna schwer atmend hervor. »Es wird nur noch schlimmer werden.«
Ich lehnte mich knapp neben der Tür an die Wand, entsetzt darüber, wie rasant die Krankheit meines Großvaters ihn schwächte. Vor einer halben Stunde hatte er mich bei Rages Krönung um Hilfe angefleht, nun sah er aus, als stünde er an der Schwelle des Todes. Honor kauerte sich zu meiner Rechten hin und schmiegte sich an mein Bein. Zerstreut strich ich mit den Fingern durch sein Fell.
Ich hätte gedacht, Grandpa Geoff würde sich dagegen verwehren, einen Stock zu brauchen. Aber er hob nur das Kinn, bedachte sie mit einem traurigen, resignierten Blick und nickte knapp. »Na schön.«
Okay ...
Ich musste mehr erfahren. Die vergangenen Stunden waren wie ein Wirbelsturm verflogen und hatten mir kaum Zeit gelassen, irgendetwas zu überlegen oder zu verarbeiten. Nach Rages und Clives Kampf auf Leben und Tod fühlte ich mich vollkommen ausgelaugt. Und wenngleich ich auf keinen Fall wollte, dass die Arschgeige Kian oder die anderen Hochmagier des Rats die Macht meines Großvaters bekamen, musste ich mich erst mal hinpflanzen und alles verdauen.
Langsam drehte ich mich im Kreis und hielt Ausschau nach einer Sitzgelegenheit, während ich das riesige Arbeitszimmer auf mich wirken ließ. Hinter einem großen Schreibtisch befand sich eine leicht angelehnte Tür. Dahinter brannte Licht, wodurch ich den Raum dort als angeschlossenes Badezimmer erkannte. Gegenüber bei Grandpa und Reyna erstreckte sich eine kleine Küchenzeile mit Spülbecken, Kochplatte, Mikrowelle und Kühlschrank.
»Wohnst du hier?«, fragte ich ihn.
Als Unterkunft wäre der Raum zwar beengt, aber vielleicht brauchte man als alleinstehender Mann nicht mehr. Obwohl ich schon mit zumindest einem richtigen Bett gerechnet hätte ...
Grandpa schmunzelte, und Reyna brach in Gelächter aus.
»Heilige Mutter Magierin, nein!« Sie kicherte. »Der Meister des Geistelements besitzt den schönsten Palast auf der Insel. Das hier ist sein – und bald dein – geheimes Arbeitszimmer. Es ist so verzaubert, dass kein anderer Meistermagier es betreten kann.«
Er zeigte auf Reyna. »Wie sie gesagt hat«, bestätigte er krächzend.
Ein Schauder erfasste ihn. Er streckte sich nach etwas auf dem Schreibtisch, doch sein Arm fiel kraftlos herab. Reyna stand auf. Sie holte eine kleine Kristallflasche, gefüllt mit etwas, das nach schwarzem Sirup aussah. »Nicht mehr viel übrig«, sagte sie zu ihm und hielt ihm die Flasche mit gerunzelter Stirn hin.
Er wischte ihre Sorge mit einer Geste weg, zog den Korken heraus und trank einen kleinen Schluck.
Sofort flutete Farbe seine Wangen, und seine abgehackte Atmung beruhigte sich. Er brachte den Korken wieder an, setzte sich auf und wirkte so jung wie seit Rages und meiner Rückkehr aus dem Reich der Toten nicht mehr.
Was auch immer dieses schwarze Zeug sein mochte, ich brauchte etwas davon. Oder Schlaf. Vielleicht beides. Das Adrenalin in meinem Blut verflüchtigte sich allmählich, und der Stress der vergangenen Tage holte mich ein.
Dabei fiel mir ein ... Wie lange war ich eigentlich schon verschwunden? Wohl mindestens zwanzig Minuten. Was reichte, dass Rage anfangen würde, sich zu sorgen. Ich hatte nur gewollt, dass er mich nicht vom Gehen abhielt. Mittlerweile jedoch war ich am Ziel eingetroffen.
»Rage, ich muss dir was sagen«, übermittelte ich ihm über unsere geistige Verbindung. Plötzlich wollte ich unbedingt mit ihm reden. Schuldgefühle stiegen in mir auf, während ich seiner Antwort harrte. Wahrscheinlich war er stinksauer – und konnte ich es ihm verübeln? Wenn er mich so zurückgelassen hätte ...
Bei dem Gedanken wurde mir erst richtig bewusst, was ich getan hatte. Was zum Magier hab ich mir bloß dabei gedacht? Ich hätte nicht gehen sollen, ohne vorher mit ihm zu reden. Wer tat so etwas – noch dazu seinem Gefährten gegenüber?
»Rage?«
Panik breitete sich in meiner Brust aus. Stockend holte ich Luft.
»Rage!«
Diesmal wartete ich nicht mehr auf eine Antwort, sondern richtete den Blick auf den schwarzen Wolf an meiner Seite. »Honor, kannst du Rage erreichen?«
Mein Großvater stand auf. Am Rande nahm ich wahr, dass er zwischen Büchern auf seinem Schreibtisch herumkramte.
»Nein.« Honor schaute zu mir auf. »Die Verbindung zu meinen Brüdern ist in dem Moment abgerissen, als wir durch die Tür aus Onyx in der Bibliothek gegangen sind.« Mist!
Wir konnten uns an diesem Ort nicht miteinander verständigen?
Rage würde mich umbringen. Er würde glauben, dass ich absichtlich gegangen war – was ja auch stimmte, allerdings nicht, um mich dauerhaft von ihm loszusagen! Was, wenn er dachte, ich wäre entführt worden? Oder Schlimmeres? Ich musste ihn wissen lassen, dass es mir gut ging.
»Äh, Grandpa Geoff?« In meinem Magen breitete sich Beklommenheit aus.
»Hm?« Er durchwühlte weiter seine Sachen, ohne auch nur zu mir aufzuschauen.
Reyna schien überzeugt zu sein, dass es ihm wieder besser ging, denn sie stand mittlerweile in der Küchenzeile und wusch am Spülbecken Geschirr ab. Bei Rages Krönung hatte es bei beiden so geklungen, als müssten wir unbedingt auf der Stelle zur Insel der Hochmagier. Nun jedoch, da wir eingetroffen waren ...
»Ich kann Rage über unsere Bindung nicht erreichen«, klagte ich, bedrückt von Angst und Scham. »Er wird sich Sorgen machen ...«
»Ach ja, richtig«, sagte Grandpa und richtete sich auf. Er unterbrach die Suche und drehte sich mir mit gerunzelter Stirn zu. »Was das angeht ... Solange du hier bist, wirst du von der Alpha-Insel und allem aus jener Welt abgeschnitten sein.«
Mir stockte der Atem. Wie bitte?
Mit einem scharfen Atemzug presste ich die Hand auf die Brust – nur für den Fall, dass mein Herz auf die Idee käme, herauszuspringen und zu flüchten. »Okay ...«
Nur war es nicht okay. Überhaupt nicht.
»Wenn das so ist, könnte ich dann wohl kurz zurückhuschen und echt schnell mit ihm reden?«, fragte ich und bereute meine selbstsüchtige Vorgehensweise. Ich hatte mir eine Konfrontation ersparen wollen. Doch Rage so zurückzulassen, war einfach nicht in Ordnung. »Wenn ich mich beeile, bin ich im Nu wieder da. Ich will ihn nur wissen lassen, dass es mir gut geht.«
»Natürlich.« Mein Großvater nickte, allerdings sah er mir dabei nicht in die Augen. »Aber ... zuerst müssen wir deine Aufnahme abschließen. Wenn Kian erfährt, dass du hier bist und ich vorhabe, dich anzumelden ... fürchte ich, dass er versucht, es zu verhindern.«
Ich schluckte und wünschte, ich hätte die Dinge anders angepackt. Reiß dich zusammen. Wenn ich zurückkehrte, würde ich zu meinem Fehler stehen. Abgesehen davon, wie lange konnte so ein Aufnahmeritual schon dauern? Ein paar Stunden? Rage kannte mich. Er wusste, dass ich ihn nicht einfach verlassen würde. Alles würde gut werden ...
Grandpa Geoff stieß einen Jubelruf aus und hielt einen wasserklaren Kristall hoch, fünfzehn bis zwanzig Zentimeter lang und vielleicht zwei Zentimeter im Durchmesser. »Komm. Gehen wir zum Palast, damit du deine Ahnen kennenlernen kannst.« Sein Blick fiel auf Honor. »Ich will dir nicht vorschreiben, was du zu tun hast. Aber wenn die Hochmagier Honor hier sehen, bevor du die Aufnahme erfolgreich abgeschlossen hast, werden sie versuchen, ihn umzubringen. Erst wenn du als meine Erbin anerkannt bist, wird dir ein Schildwächter zugestanden. Und selbst dann ist es ein seltenes Privileg.«
Meine Augen wurden groß, meine Gedanken überschlugen sich. Wie bitte?
Ich schaute zu Reyna, doch sie spülte weiter Geschirr. Entweder hatte sie es nicht mitbekommen, oder es ging ihr am Allerwertesten vorbei. Hätte ich es nicht bereits gewusst, ich hätte sie nie und nimmer für eine Harvest-Frau gehalten. Abgesehen vom roten Haar besaß sie keine der Eigenschaften der quirligen, plapperhaften Harvest-Schwestern, die ich an der Alpha Academy kennen- und lieben gelernt hatte. War sie immer so? Oder lag es an diesem Ort? Gingen hier Dinge vor sich, die ihre Lebhaftigkeit dämpften?
»Ich bleibe hier bei ihr«, übermittelte mir Honor. »Wenn du mich brauchst, rufst du mich einfach, und ich komme – pfeif auf die Konsequenzen.« Ich nickte. Was konnte ich sonst schon tun?
Mein Großvater humpelte den Flur hinunter, eine Hand an der Wand, die andere am Griff seines Gehstocks. Ich trabte hinter ihm her und beobachtete ihn unterwegs. Nach etwa zehn Schritten bogen wir um die Ecke. Es folgten Wände aus Stein statt aus Holz. Wandleuchter aus Glas erwachten mit violetten Flammen zum Leben und erhellten uns den Weg durch einen schier endlosen Korridor – er erstreckte sich über mindestens einen halben Kilometer. Einen so langen Flur hatte ich noch nie gesehen, und er wies keine Türen auf. Er erinnerte mich an die Gänge im Palast des Alpha-Königs.
»Das ist eine Verbindung zu unserem Anwesen«, erklärte mein Großvater. »Aber das an die Bibliothek grenzende Arbeitszimmer ist der einzige Ort, zu dem Kian und die anderen Hochmagier keinen Zugang haben. Nur jemand mit demselben Blut eines Meistermagiers des Geistelements oder mit einer Schildwächterverbindung mit ihm kann ihn betreten. Vorläufig jedenfalls«, murmelte er vor mir.
Gut zu wissen. Bei Bedarf im Arbeitszimmer vor Kian verstecken. Geschnallt.
Schließlich mündete der Flur in ein weitläufiges Foyer. Zwei große Ohrensessel standen zu beiden Seiten des Eingangs aus Stein. Von der Decke hing ein atemberaubender Kristallkronleuchter, der durch Prismen kleine Regenbögen in dem Raum verteilte.
Zwischen den zwei Sitzbereichen nahm der Fuß einer breiten Treppe aus Stein den Großteil der Eingangshalle ein. Sechs Stufen verliefen zu einem Absatz, größer als mein Schlafzimmer an der Alpha Academy. Zu beiden Seiten oben führte eine weitere Treppe zu einer anderen Eingangshalle im ersten Stock. Fenster erstreckten sich von der zweiten Etage bis zum oberen Rand des Erdgeschosses. Der Vorraum, in dem ich mich befand, besaß nur einen offensichtlichen Zugang von außen – die Doppeltür zu meiner Linken. Sie erregte meine Aufmerksamkeit. Grandpa Geoff deutete beiläufig darauf.
»Das ist der offizielle Eingang zum Geistanwesen. Wenn da jemand klopft, musst du nicht hingehen.«
Gut zu wissen. Bei ihm klang es so, als würde es an diesem Ort nur so von Feinden wimmeln.
Er setzte den Weg auf den Stock gestützt fort, während ich mich mit großen Augen in dem gewaltigen Palast umsah. Der Ort war riesig, und im Gegensatz zum Wohnheim an der Alpha Academy hatte sich nicht überall eine dicke Staubschicht angesammelt. Vielmehr glänzte alles vor Flächen aus Gold und Kristall.
Ich folgte Grandpa Geoff durch einen breiten Flur. Unterwegs bemerkte ich ein Wohnzimmer, ein Büro und eine Bibliothek sowie mehrere geschlossene Türen. Als wir uns dem Ende des Gangs näherten, trieb der Geruch von Kuchen durch die Luft. Mein Magen knurrte unzufrieden, da ich die Feier zu Rages Triumph samt Festschmaus verpasst hatte.
»Pappy!«, ertönte eine quietschende Männerstimme.
Ich trat an die breite Tür und erblickte einen Teenager, der uns entgegeneilte. Wie erstarrt stand ich am Eingang einer riesigen Küche. Der groß gewachsene, vielleicht sechzehn Jahre alte Bursche kam schlitternd vor uns zum Stehen. Sein Mund klappte auf, während er mich anstarrte. In der Hand hielt er einen Schoko-Cupcake, über seine Lippen und sein Kinn war Glasur verschmiert.
Er trug ein schlichtes schwarzes T-Shirt und eine Jeans, unter der nackte Füße hervorlugten. Silbriges Haar hing ihm ins Gesicht und streifte seine Wangenknochen.
»Elia ist tot«, sagte er mit runzelnder Stirn. Dann schlug er die mit Tränen gefüllten Augen nieder, mied meinen Blick. »Sie ist weg.«
Was zum ... Die Erwähnung meiner Mutter verblüffte mich. Hielt er mich etwa für sie?
»Donovan, das ist Elias Tochter Nai«, stellte mich Grandpa Geoff vor und schleppte sich zu dem jungen Mann. »Sie ist deine Cousine.«
Ein Cousin?
Heilige Scheiße! Ich hatte einen weiteren Cousin? Hoffentlich nicht noch so einen Arsch wie Nolan.
»Familie?«, fragte er meinen Großvater.
»Familie«, bestätigte Grandpa.
Der junge Mann nickte, den Mund vor Überraschung geöffnet. Als er sich über die Augen wischte, verteilte er Schokoschlieren über sein Gesicht. Ohne vom Boden aufzuschauen, schniefte er. »Wo ist Ma?«
»Deine Mutter hat Dienst am Portal. Sie kommt in ein paar Stunden«, antwortete Grandpa mit einem milden Lächeln. Er zeigte auf die Küchentheke. Dort reihten sich mehrere Dutzend Cupcakes, alle dick mit Schokolade glasiert und Schokoraspeln garniert. »Wie ich sehe, hat Annette für dich gebacken.«
»Schoko«, sagte mein Cousin. Sein Blick richtete sich auf meine Schuhe. »Ich mag Schokolade.«
Viel wusste ich zwar nicht über Autismus, doch mir schien, dass mein Cousin die eine oder andere Form davon hatte.
»Ich mag Schokolade auch«, sagte ich mit einem Blick zu den Cupcakes. Lona hatte regelmäßig welche gebacken. Sie hatte sie immer Zuckerbomben genannt. Ich schüttelte den nostalgischen Gedanken ab und streckte Donovan die Hand entgegen. »Freut mich, dich kennenzulernen.«
Grandpa Geoff sah mich mit strahlender Miene an, bevor er sein Lächeln auf Donovan richtete. Der starrte unverändert auf den Boden und hatte meine Hand nicht ergriffen. Ich senkte sie an die Seite und räusperte mich. Langsam hob mein Großvater die seine und legte sie auf Donovans Arm. Er ließ dem jungen Mann genug Zeit, auszuweichen, falls er den Körperkontakt nicht wollte.
»Nai ist zur Ausbildung hier«, erklärte er und bückte sich, um Donovan in die Augen zu sehen. »Bist du ein lieber Cousin, während sie sich in der Schule eingewöhnt? Hilfst du ihr?«
Die Last meines Vorhabens an diesem Ort senkte sich dermaßen schwer auf meine Schultern, dass ich um ein Haar geächzt hätte. »Ich nehme jede Hilfe an, die ich kriegen kann.«
Bei meinen Worten hob Donovan das Kinn und lugte auf meine Nasenspitze. Falls er mein Lächeln sah, ließ er es sich nicht anmerken. Ebenso wenig begegnete er meinem Blick. »Ich kann hilfreich sein.«
Grandpa drückte zart seine Schulter. »Ja, das kannst du!«
Ich behielt mein Lächeln bei. »Also, wenn du teilen magst, würde ich mich über einen Cupcake freuen. Ich hatte kein Abendessen.«
Donovan schüttelte den gesenkten Kopf und murmelte: »Ist nicht gesund.«
Mein Großvater lachte prustend und wirkte schlagartig zehn Jahre jünger, als er meinen Cousin mit strahlender Miene ansah. »Das ist sehr wahr. Aber sie hat einen schweren Tag hinter sich.«
Mein Cousin schürzte die Lippen und blickte auf seinen halb aufgegessenen Schoko-Cupcake hinab. Nach einem tiefen Atemzug hob er den Blick, sah mir in die Augen und bot mir den Rest an. »Nai«, sagte er und nickte mir mit ernster Miene zu. »Familie.«
Mein Herz zog sich zusammen, und ich spürte vor Rührung einen Kloß im Hals. Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, wie mein Großvater weiter in die Küche ging und auf die anderen Cupcakes zusteuerte, als wüsste er, dass ich den angebissenen nicht wollen würde, den Donovan mir anbot.
»Ach, Donovan, mein Guter«, wandte sich Grandpa an meinen Cousin und trat an die Arbeitsfläche mit den aufgereihten frischen Küchlein. »Nai möchte vielleicht lieber ein ...«
Würde ich einen halb vollgesabberten Cupcake essen, um die Gefühle meines süßen, soeben kennengelernten Cousins nicht zu verletzen? Scheiße, und ob.
Mit Tränen in den Augen nahm ich die halb gemümmelten Reste entgegen und schob sie mir am Stück zwischen die Kiemen. Die süße Schokolade liebkoste meine Geschmacksknospen. Zusammen mit der zarten Konsistenz ergab sich daraus das vielleicht Beste, was ich seit dem Aufbruch aus Montana gegessen hatte. »Mmm ...«, machte ich genüsslich mit vollem Mund. »Köstlich! Das ist so was von gu...«
Donovan brach in Gelächter aus, ein so völlig sorgloser, unbekümmerter Laut, dass er für mich wie flüssiger Sonnenschein klang. Es wärmte mir das Herz und brachte auch mich zum Grinsen.
»Mit vollem Mund redet man nicht«, tadelte er mich mit einem Seitenblick zu unserem Großvater. »Aber verrat sie nicht, Pappy, ja? Sie hat’s nicht gewusst.«
Grandpa Geoff verdrehte zwar die Augen, doch seine Lippen zuckten, als müsste er selbst ein Lachen unterdrücken. »Das eine Mal macht es wohl nichts.« Mein Großvater sah mich an. »Annette ist sehr freundlich und bemüht sich redlich, allen im Haus Manieren beizubringen – auch deiner Tante und mir.«
Ich schluckte den Bissen runter und leckte mir die restliche Glasur von den Fingern, statt sie am Kleid abzuwischen.
»Tja, dann will ich versuchen, mich an das bisschen zu erinnern, was ich über Etikette weiß«, gelobte ich und zog die Augenbrauen hoch, bevor ich die Aufmerksamkeit wieder auf meinen Cousin richtete. »Danke. Der Cupcake war wirklich lecker.« Ich zwinkerte ihm zu.
»Familie.« Grinsend nickte er, als freute er sich darüber, mich glücklich zu sehen. Mir wiederum bescherte es ein aufrichtig erhebendes Gefühl, ihn glücklich zu sehen.
»Noch Cupcakes?«, fragte er an Grandpa Geoff gewandt.
Der verdrehte die Augen. »Oh, na gut.« Mit erhobenem Zeigefinger fügte er hinzu: »Du darfst noch einen haben, weil du mit Nai geteilt hast.«
Donovan bedeutete mir, mitzukommen. »Holen wir uns mehr Schokolade.«
»Tut mir leid«, warf Grandpa ein und trat an meine Seite. »Nai und ich haben noch Arbeit.«
Mein Cousin nickte enttäuscht. »Pass auf dich auf.« Er starrte auf meine Füße. »Wenn du zurückkommst, essen wir Schokolade.«
Mir traten Tränen in die Augen. »Danke.«
Ich schloss ihn auf Anhieb ins Herz. Alles an ihm und an diesem Ort begeisterte mich. Zum ersten Mal, seit ich Montana verlassen hatte, fühlte ich mich wieder zu Hause.
Grandpa kehrte zurück in den Gang, dem wir gefolgt waren, bevor Donovan nach ihm gerufen hatte.
»Er ist ja so süß«, sagte ich, als ich hinter ihm her eilte.
Er nickte. »Die Welt mit Donovans Augen zu sehen, ist eine der größten Freuden meines langen Lebens gewesen. Sein Verstand stellt vielleicht Verbindungen anders her als deiner oder meiner, aber er hat ein Herz aus Gold, ist loyal, ehrlich und freundlich.«
Sein Blick wurde verträumt, und ich schluckte, um die eigenen Emotionen im Griff zu behalten, die mein Herz quetschten.
Gestaltwandler wurden nicht krank – und Behinderungen traten höchst selten auf. Dank unserer rasant heilenden Genetik blieben körperliche oder geistige Beeinträchtigungen ausgesprochen rar.
»Er ist zu drei Vierteln Mensch, zu einem Viertel Magier«, erklärte Grandpa, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Da du in der Welt der Sterblichen aufgewachsen bist, müsstest du von Autismus gehört haben. Das kommt seinem Zustand meiner Einschätzung nach am nächsten.«
»Er ist perfekt«, erwiderte ich, doch in der Miene meines Großvaters verblieb Traurigkeit. Über Autismus wusste ich nur, was ich in der Schule gelernt hatte. Allerdings konnte ich mir vorstellen, dass sich bei Donovan nicht ständig alles um Schokolade und Lächeln drehte.
»Wir lieben ihn sehr«, versicherte mir Grandpa. »Tatsächlich bin ich überzeugt davon, dass wir von ihm mehr lernen als er von uns.«
Ehe ich die letzte Äußerung vollständig verdauen konnte, blieb mein Großvater vor einer Doppeltür aus Holz stehen, kleiner als jene im Foyer, aber auf Hochglanz poliert und glatt. Er drehte sich mir zu. »Bevor ich dich zu meiner Erbin ernenne, musst du unsere Ahnen kennenlernen und ihren Segen erhalten. In Anbetracht der Umstände werden sie einen Großteil deiner Ausbildung mit dem Geistelement übernehmen.«
Okay ... Mein Gehirn war überlastet. Seine Worte ergaben keinen Sinn für mich. Vorerst würde ich einfach alles auf mich zukommen lassen. Ich rang mir ein Lächeln ab.
»Soll mir recht sein, wenn ich so dabei helfe, dass Kian und die anderen nicht deine Macht bekommen«, erwiderte ich.
Grandpa lächelte verkniffen. »Sobald ich deine Aufnahme als meine Erbin einleite, kann Kian dir den Zugang zur Akademie der Hochmagier nicht mehr verwehren. Vorausgesetzt, du bestehst die Aufnahmeprüfung. Dann kannst du die Schule zusammen mit den anderen auszubildenden Hochmagiern besuchen und meine rechtmäßige Erbin werden.«
Aufnahmeprüfung?
Ich schüttelte den Kopf. Schien mir am besten, darin vorerst gar nicht erst herumzurühren.
»Prima. Legen wir los.« Je früher ich den Teil hinter mir hätte, desto eher könnte ich zurück und die Lage mit Rage in Ordnung bringen.
Er nickte, machte jedoch keine Anstalten, die Tür zu öffnen. Aus seinen Augen sprach ein gewisses Unbehagen. Und noch etwas, das ich nicht zu interpretieren vermochte.
»Was ist?«, fragte ich, als sich Beklommenheit in mir ausbreitete.
Er verzog das Gesicht. »Der Segen ist ... mächtig. Und wenn man nicht ... Na ja, es könnte gefährlich sein.«
Natürlich. Trotzdem würde ich auf keinen Fall zulassen, dass Kian und die anderen die Toten auferweckten oder die Macht meines Großvaters an sich rissen. »Eine andere Möglichkeit gibt’s wohl nicht, oder? Und wenn du mich für die beste Hoffnung hältst, den durchgeknallten Kian und seine Handlanger aufzuhalten, dann ... schaffe ich das. Tun wir’s.«
Er klopfte mir auf die Schulter. »Ich denke, dir passiert nichts.« Damit wandte er sich ab, und ich vermeinte zu hören, wie er murmelnd hinzufügte: »Hoffentlich.«
Na toll.
Ohne ein weiteres Wort schob er die Doppeltür auf.
Dampf walte in den Flur aus Stein heraus. Die dichte Feuchtigkeit verbarg zunächst, was der Raum enthielt. Was zum ...
Als sich die Schwaden verflüchtigten, spähte ich in den Raum ... und schnappte nach Luft.
Keine Ahnung, womit ich gerechnet hatte. Vielleicht mit einer Fitnesskammer samt Trainingsmatte und Boxsack. Oder mit Zielattrappen für Messerwürfe. Jedenfalls nicht damit.
Der Raum, wenn man ihn so nennen wollte, mutete beinah wie eine Höhle an, nur mit Wänden und Decke aus trübem Glas wie bei einem Gewächshaus. Der Boden bestand aus unebenem Stein. Ein Weg schlängelte sich durch die Höhle in Richtung der Quelle des wallenden Dampfs. Ich folgte Grandpa hinein und trat mehrere graue Kiesel aus dem Weg. Grünes Moos wucherte in kleinen Flicken über den Stein verteilt. Man hatte den Eindruck, wir wären nach draußen gegangen, doch wir befanden uns nach wie vor im Haus.
In der Mitte des Raums gelangten wir zu zwei kleinen Becken nebeneinander. Mondlicht schien durch Milchglas herein und erhellte das blubbernde, dampfende Wasser darin.
»Wow.«
Grandpa lächelte. »Unser Anwesen ist um diese heiße Quelle herumgebaut. Wie du bald sehen wirst, ist das Wasser magisch.«
In dem Moment wäre mir beinah egal gewesen, wenn sich Piranhas darin getummelt hätte. Ich wollte einfach hineingleiten und von der Wärme die Anspannung aus meinem Körper vertreiben lassen.
Mein Großvater zeigte auf eine schulterhohe Felswand, die als Sichtschutz diente. »Auf der anderen Seite sind Badeanzüge an Haken. Reyna benutzt sie, wenn sie mich begleiten muss. Hoffentlich passen sie dir.«
»Okay. Bin gleich wieder da.« Auf dem Weg zum Umkleidebereich griff ich zum Reißverschluss meines Kleids. Nachdem ich um die Ecke gebogen war, zog ich ihn runter und streifte die Schuhe ab.
Zur Auswahl standen zwei einteilige Badeanzüge und Boardshorts. Ich griff mir erst den näheren Anzug, dann die Shorts und schnürte sie um die Taille so eng, wie es ging. Der dunkelrote Badeanzug entsprach so gar nicht meinem Geschmack, trotzdem fand ich ihn besser als meinen weißen Push-up-BH und einen Slip.
Warme, feuchte Luft kroch über meine Haut, während ich die Klamotten zurechtrückte und mich vergewisserte, dass sie alles Wesentliche verdeckten.
Das Wasser köderte mich. Rasch bahnte ich mir den Weg zurück zu den Becken.
Grandpa Geoff trug nach wie vor seine Robe eines Meisters des Geistelements. Er holte einen handtellergroßen schwarzen Beutel mit mehreren klobigen Objekten hervor. »Das brauchst du, um Verbindung mit deinen Ahnen herzustellen«, erklärte er und hielt ihn mir hin. Der Inhalt klackte aneinander, als bestünde er aus Stein oder Glas. »Steck den Beutel ein oder knüpf ihn am Badeanzug fest. Du musst ihn am Körper tragen.«
Er zeigte auf das größere der beiden Becken. »Auf einer Seite ist ein Steinvorsprung, den man als Sitzbank nutzen kann.«
Ich nahm den schwarzen Beutel von ihm entgegen und bemühte mich, mein Nervenflattern zu ignorieren.
Also gut. Magische Steine am Körper tragen. Ich steckte sie in die Gesäßtasche der Shorts. Erledigt.
»Kommst du mit rein?« Ich betrachtete seine Robe und fragte mich, ob er sich auch umziehen würde.
»Diesmal nicht«, erwiderte er mit einem etwas traurigen Lächeln. »Aber ich bin gleich neben dem Becken und achte darauf, dass dir nichts passiert.«
Gut zu wissen. Ich tauchte erst den Fuß ein, bevor ich vollständig hineinglitt. Sicherheitshalber zog ich den Reißverschluss der Tasche mit dem Beutel zu. Sobald mich das Wasser umschloss, umfing mich die Wärme wie eine Umarmung. Seufzend sank ich auf den Vorsprung und wackelte mit dem Hintern, um den Beutel mit Steinen so zu verlagern, dass ich nicht darauf saß.
»Hast du’s gemütlich?«, erkundigte sich Grandpa.
»M-hm.« Ich lehnte den Kopf an den Stein hinter mir und schloss die Augen. »Noch gemütlicher, und ich würde einschlafen.«
»Ausgezeichnet. Dann hol jetzt tief Luft, Nai, und entspann dich.«
Alles klar. Vielleicht würde er mich bei einer geführten Meditation oder so anleiten. Bei der Mutter Magierin, ich konnte eine Therapie gebrauchen. Wahrscheinlich sogar eine umfangreiche.
Als ich ausatmete, öffnete ich die Augen und blickte durch das Milchglas zum nächtlichen Himmel empor. Mein Körper stieg von der Bank auf und trieb zur Oberfläche. Wasser drang mir in die Ohren und dämpfte die Geräusche um mich herum.
Meine Gedanken begannen zu wandern.
Was Rage wohl gerade tat? Wahrscheinlich sucht er nach mir. Bei der Vorstellung stiegen Schuldgefühle in mir auf. Ging es Honor bei Reyna gut? Kaja würde ausflippen, wenn sie herausfand, dass ich verschwunden war ...
»Sobald du entspannt bist, denkst du an deinen Lieblingsort«, meldete sich Grandpa Geoff in meinem Kopf zu Wort.
Ich versuchte es – aufrichtig. Doch plötzlich schien mein Geist so aufgewühlt zu sein, dass ich ihn nicht mehr bändigen, geschweige denn mir einen Strand, eine Berghütte oder etwas anderes Beschauliches ausmalen konnte. »Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren.«
»Ich hatte schon die Befürchtung, dass es dazu kommen könnte«, erwiderte Grandpa. »Keine Sorge, darauf bin ich vorbereitet.«
»Inwiefern?«, hakte ich nach. Auf weitere Überraschungen hatte ich keine Lust. Ich warf einen Blick zu ihm, aber er fummelte in seiner Robe, sah mich nicht an.
Und er antwortete nicht.
Natürlich.
Als ich mich aufsetzte, warf Grandpa Geoff etwas ... zu mir. Oder genauer gesagt in das Becken, in dem ich saß. Der Gegenstand reflektierte einen Strahl des Mondlichts.
Der Kristall aus seinem Büro!
Jäh streckte ich mich vorwärts, um ihn aufzufangen, allerdings verlangsamte das Wasser meine Bewegung. Der Kristall landete mit einem leisen Platschen in der heißen Quelle und verschwand unter der Oberfläche.
Frustration flammte in meiner Brust auf. Gern hätte ich sarkastisch super geworfen gebrummelt, doch ich zügelte meine Emotionen. Grandpa anzupflaumen, würde nichts bringen. Nur war ich müde und nicht wirklich in der Stimmung, im heißen Wasser nach dem Kristall zu tauchen.
Als ich blinzelte, verpuffte der dichte Nebel im Raum – schlagartig.
Wie in Dreimagiersnamen geht das denn?
Als Nächstes stieg mir der Geruch von Sand unter heißer Sonne in die Nase. Warme Luft hob die Spitzen meines Haars an – meines trockenen Haars. Vor mir erstreckte sich türkisfarbenes Wasser zu einem Horizont, den die Sonne berührte und dabei die Wolken über mir rosa und violett tünchte.
Was zum Magierhimmel ist hier los?
Ich drehte mich vollständig im Kreis, völlig überrumpelt von meiner jähen Versetzung in eine andere Welt. Gedankennotiz: Das war ein ziemlich mächtiger magischer Kristall!
Wellen leckten sanft über den Strand und beruhigten meine angespannten Nerven. Über mir krächzte eine Möwe. Ich schaute nach rechts und nach links, aber außer mir hielt sich niemand an dem Küstenstreifen auf.
Obwohl mir die Umgebung vage bekannt vorkam, hatte ich keine Ahnung, wo ich mich befand. Jedenfalls nicht auf der Alpha-Insel oder an der Küste in der Nähe der Fähre ...
Abermals drehte ich mich im Kreis und schüttelte den Kopf. Fest stand, dass ich mich nicht mehr in dem Becken und dem eigenartigen, höhlenartigen Raum befand, der an den Palast grenzte. Tatsächlich war ich mir ziemlich sicher, nicht mal mehr auf der Hochmagierinsel zu sein.
Plötzlich ertönten Stimmen zu meiner Rechten, als fünf Leute keine zehn Schritte von mir entfernt erschienen. Alle schienen Mitte dreißig zu sein und hatten dasselbe silbrig-blonde Haar wie ich – sogar der mit einem von Kopf bis Fuß schwarzen Ninja-Kostüm wie aus einem Halloween-Katalog. Bei ihm ragten silbrige Strähnen unter dem Stoff hervor, der seinen Kopf verbarg.
»Geoff hat Strandkleidung gesagt, Than.« Eine junge Frau in einem knappen, lavendelfarbenen Bikini schüttelte bei der Bemerkung den Kopf, wodurch ihr die schulterlangen Locken um das Gesicht wippten. Sie zeigte auf die Ninja-Gestalt. »Warum ...«
»Ich weiß, was er gesagt hat«, fiel ihr der Ninja barsch ins Wort und schwenkte eindeutig abweisend die Hand. »Aber ich hatte keine Lust, anzuhalten und mich noch mal umzuziehen. Als er uns das letzte Mal aufgefordert hat, uns bereitzuhalten, ist er nach zwölf Jahren aufgetaucht – und dann allein.«
»Er ist nicht mal hier, Lucia«, meldete sich eine andere junge Frau zu Wort. Sie trug ein einteiliges, schwarzes, durchscheinendes Strandkleid.
»Seine Zeit ist fast abgelaufen«, kam von einem anderen Mann in hellgrünen Boardshorts mit weißem Hibiskusaufdruck. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und schüttelte den Kopf. »Wenn er nicht bald seinen Erben oder seine Erbin bekannt gibt ...«
»Still«, sagte die dritte junge Frau, als sich ihre Aufmerksamkeit auf mich richtete. Ihr weißes Ösenkleid reichte ihr bis zu den Fußgelenken, aber der tiefe V-Ausschnitt erstreckte sich beinah bis zum Brustbein und betonte die Erhebungen ihres Vorbaus wie ein Badeanzug. Das silbrige, gewellte Haar trug sie zu einem seitlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Mit ihrem zierlichen, dünnen Körperbau war sie mit Abstand die Kleinste der Gruppe und anscheinend auch die Jüngste. Dafür wirkten ihre eisgrünen Augen umso stechender, und die anderen verstummten bei ihrem Befehl. Ohne den Blick von mir zu lösen, hob sie die Hand und zeigte auf mich. »Sie ist hier.«
»Äh ... hi«, sagte ich und winkte lahm.
Stille zog sich peinlich lange hin, während sie mich anglotzten, als hätte ich drei Köpfe. Reizend.
»Ich bin Nai. Mein Großvater, Geoff Drudner« – mein Magen verkrampfte sich beim Gefühl der Unmöglichkeit dessen, was ich erreichen sollte, aber ich biss die Zähne zusammen und fuhrt fort – »hat mich hergeschickt, um meine Ahnen zu treffen. Euch, schätze ich mal. Ich bin seine Erbin.«
Die Frau im weißen Ösenkleid rümpfte die Nase und schnaubte, als mieften meine Worte. Dann kehrte sie mir den Rücken zu.
Hä?
»Ach Zia, jetzt hör schon auf!« Lucia, die junge Frau in Lavendel, gab jener in Weiß ein Zeichen. Dann legte sie den Kopf schief und musterte mich mit gerunzelter Stirn. »Wo ist Geoff?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Er hat gesagt, diesmal würde er nicht mitkommen oder so.«
Vor lauter Müdigkeit fiel mir der genaue Wortlaut nicht ein. Und diese Leute wirkten nicht so, als hätten sie mich erwartet. Superpeinliche Situation also.
»Lebt er noch?«, wollte Lucia wissen. Ihre Augen wurden dabei groß, und ihre Unterlippe bebte.
Sollte er besser!
»Ja«, antwortete ich, allerdings wurde mir bei ihrer Frage ein wenig mulmig. »Er hat mich gerade hergeschickt.«
»Warum wollte er nicht mitkommen? Inwiefern bist du seine Erbin?«, fragte der Ninja namens Than und zog sich das schwarze, sockenähnliche Etwas vom Kopf. Seine Augen hatten dieselbe Farbe wie die von Zia. »Ich dachte, das wäre Elia ... bevor sie gestorben ist.«
Ich hatte keine Ahnung, warum Grandpa mich nicht begleiten wollte. Aber da ich das bereits erwähnt hatte, konzentrierte ich mich lieber darauf, was ich wusste. »Elia war meine Mutter. Mein Großvater hat gesagt, ich müsste euch für irgendeinen Segen oder eine Aufnahme treffen, bevor wir meinen Namen in eine Schriftrolle oder ein Buch schreiben könnten.« Durch Anspannung und Erschöpfung fühlte sich mein Hirn wie Brei an. »Wisst ihr, ich hab ’nen echt ziemlich stressigen Tag – oder eigentlich ’ne stressige Woche – hinter mir. Kann also sein, dass mir ein paar Details entgangen sind. Aber ich bin, wer ich behaupte. Könnt ihr mir helfen?«
Die junge Frau in Schwarz schluckte. In ihre Augen traten Tränen, die sie schnell wegblinzelte. Als sie das Wort ergriff, klang ihre Stimme zittrig. »Natürlich glauben wir dir. Wir dachten nur ... alle Hoffnung war verloren. Ich bin Aine.« Sie zeigte auf den Mann in Boardshorts. »Das ist Raiden.« Sie fuhr fort, deutete nacheinander auf die anderen und stellte sie vor. »Lucia, Than und Zia.«
Alle traten vor und schüttelten mir die Hand – außer Zia.
Unhöflich.
»Also ...« Ich lächelte zaghaft. »Bringt ihr mir bei, wie man das Geistelement beherrscht?«
Raiden sah erneut auf die Armbanduhr und runzelte die Stirn. »Wir können morgen mit dem Unterricht anfangen – nachdem du die Aufnahme abgeschlossen hast.«
»Du meinst, falls sie die Aufnahme schafft«, brummelte Zia, nach wie vor mit dem Rücken zu mir.
Ich richtete den Blick mit zu Schlitzen verengten Augen auf die junge Frau, beschloss jedoch, ihre passive Aggressivität vorerst zu ignorieren.
»Was muss ich für diese Aufnahme tun?« Mir lag daran, die Sache voranzutreiben. »Ich möchte unbedingt rechtzeitig zurück sein, damit Grandpa ...«
»Die Aufnahme steht an, nachdem dein Name in den Schriftrollen eingetragen ist«, fiel mir Than kopfschüttelnd ins Wort. »Du bist für unseren Segen hier.«
Richtig. Vor lauter Müdigkeit scherte es mich kaum noch.
Können wir’s einfach hinter uns bringen?
Aine seufzte und trat vor. »Geoff muss sehr krank sein, wenn er dich nicht begleitet hat. Ich kann nicht fassen, dass er nicht hier ist.«
Okay, allmählich jagte sie mir echte Angst um meinen Großvater ein, und meine Geduld neigte sich dem Ende zu. Ich holte den schwarzen Beutel aus der Tasche. »Das hier hat er mir gegeben.« Ich schüttelte den Beutel. »Er hat mich in die heiße Quelle steigen lassen und dann einen Kristall ins Wasser geworfen.«
Alle fünf erschraken, als sie sahen, wie ich mit dem Beutel umging.
»Vorsicht damit!« Lucia packte mich mit einer Hand am Handgelenk, die andere drückte sie sich auf die Brust, als drohte ihr eine Ohnmacht.
Ich zuckte zusammen. »Entschuldigung.« Nachdem ich die Hand von Lucia befreit hatte, steckte ich den Beutel behutsam wieder ein.
Than schüttelte erneut den Kopf. »Geoff hat ihr offensichtlich nichts erklärt«, murmelte er und ließ den Blick in die Runde wandern. »Die Kleine hat unsere Seelensteine gerade geschüttelt, als wären sie Würfel.«
»Seelensteine!« Ich schluckte schwer, als mir die Spucke wegblieb. Plötzlich weiteten sich meine Augen mit einer Erkenntnis. »Eure Seelensteine?«
Moment mal. Hatte nicht der Wächter etwas über Seelensteine gesagt – und dann jenen verschluckt, den mein Großvater mir als Verhandlungswährung für einen Ausweg aus dem Reich der Toten gegeben hatte?
Oh ihr Magier.
Woher hatte Grandpa ihn gehabt?
»Na schön«, meldete sich Zia schroff zu Wort und wirbelte zu uns herum. »Geoff wird ja eindeutig nicht kommen, also legen wir besser los! Die Kleine arbeitet gegen eine Frist, und bloßes Gewäsch ändert daran nichts.«
So unhöflich Zia war, sie ergriff wenigstens die Initiative, was ich respektieren konnte. Die anderen nickten. Dann rückten sie mit ausgestreckten Händen auf mich zu.
»Was genau hat’s mit diesem Segen auf sich?« Als ich zurückweichen wollte, stieß ich gegen Raiden, der mich an den Oberarmen packte.
»Stell es dir als Aktivierung von Macht vor«, sagte er.
Aine grinste. »Außerdem binden wir unsere Seelen an deine, damit du uns rufen kannst, wenn du uns brauchst.«
Ihre Seelen! War das nicht ein bisschen übertrieben?
»Das ist ... schräg.« Mein Blick wanderte zwischen ihnen hin und her. Aber was für Möglichkeiten hatte ich schon? »Wird das wehtun?«
Hatte Grandpa nicht etwas davon erwähnt, dass es gefährlich sein könnte?
»Vielleicht«, erwiderte Than. »Vielleicht auch nicht. Hängt von deiner Kapazität ab.«
Kapazität wofür?
Einer nach dem anderen legten sie die Hände auf mich. Sofort kribbelte und prickelte meine Haut. »Du bist mit einem gewissen Ausmaß an Macht geboren worden«, sagte Aine mit freundlicher Stimme. »Unser Segen aktiviert die gesamte Macht des Geistelements in dir.«
Zia stand noch am äußeren Rand des Kreises und betrachtete mich mit einer Mischung aus Anspannung und Beklommenheit. Was hatte die Frau gegen mich? Und warum waren alle meine Ahnen um die dreißig Jahre alt? Und wieso hatte Grandpa mir nichts von all dem erzählt, bevor er mich mit einem Beutel voller Seelensteine in eine heiße Quelle verfrachtet hatte?
»Sie ist nicht Elia«, murmelte Zia und sah mir unverwandt in die Augen. »Hoffen wir mal, dass du so mächtig bist wie sie«, fügte sie an mich gewandt hinzu. Damit streckte sie sich vor und legte beide Hände auf meine nackten Unterarme. Prompt durchströmte mich ein Feuer, als stünde ich bei lebendigem Leib in Flammen ...
Es fühlte sich wie ein kraftvoller, sengender, magischer Stromstoß an, der durch mich blitzte. Die Hitze nistete sich in meine Haut, meine Muskeln, meine Knochen ein. Sie füllte jede Faser, jede Zelle aus. Solche Schmerzen hatte ich noch nie zuvor erlebt. Die Energie steigerte und steigerte sich weiß glühend, bis sie alles andere weggebrannt hatte und nur ... Macht zurückblieb. So ... viel ... Macht.
Heilige Mutter Magierin ... was war das?
Meine aktivierten Kräfte? Hatte ich das die ganze Zeit in mir getragen?
Ich wimmerte, als meine Nerven zuckten.
Raiden grinste. »Sie nimmt eine ziemliche Menge auf«, merkte er an.
Aine nickte. »Wesentlich mehr als Elia.«
Ich schnappte nach Luft, doch jeder Atemzug schien die Flammen der Energie zusätzlich anzuheizen.
»Geoff hat an der Stelle das Bewusstsein verloren«, kommentierte Than.
»Du auch«, brummelte Zia.
Wovon redeten sie?
Schwärze tänzelte an den Rändern meiner Sicht, während ungezügelte Energie durch meinen Körper pulsierte und aus meiner Haut quoll. Die Macht kroch mir das Rückgrat hoch und entlud sich in meinem Schädel.
»Ahhh!«, schrie ich auf, als mich ein greller weißer Blitz blendete.
Darauf folgte Dunkelheit, die mich verschlang. Dann spürte ich einen Haken am Bauchnabel, bevor ich unter Wasser getaucht wurde.
Hustend und prustend setzte ich mich in der heißen Quelle auf der Hochmagierinsel auf. Dampf trieb in der Luft. Grandpa Geoff stand am Rand des Beckens, ragte über mir auf. Seine Robe hing an seiner dünnen, zerbrechlichen Gestalt, während er mich mit freudiger Miene auf seinen Stock gestützt musterte.
»Ha!«, rief er grinsend aus. »Du hast es geschafft!«
Nach wie vor hustend bedachte ich ihn mit einem finsteren Blick. »Was ... zum ... Magierhimmel war das denn?«, fragte ich knurrend.
Einen Moment lang hatte ich geglaubt, ich wäre gestorben.
Sein Blick wanderte über meine Arme und Beine. »Oh, du hast eine ganze Menge bekommen. Ich kann die Macht sehen.« Er wirkte wie ein Kind in einem Süßwarenladen.
»Die dort haben sich verrückt aufgeführt, und du hast mich nicht gründlich darauf vorbereitet«, erwiderte ich.
Er zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid. Keine Zeit. Beeil dich und zieh dich um. Wir müssen vor Mitternacht in die Bibliothek der Aufzeichnungen.«
Ich stöhnte.
Rage würde mich so was von umbringen.
»Was mache ich damit?« Ich zog den Beutel mit den Seelensteinen aus der Tasche. Grandpa deutete mit dem Kopf auf den Umkleidebereich. »Behalte den Beutel für den Fall, dass du die Steine brauchst. In diesem Reich sollten sie in Sicherheit sein.« Er verzog das Gesicht. »Vorerst.«
Vorerst?
Na bravo.
Reyna, mein Großvater und ich standen auf einem Hof vor einem riesigen Gebäude namens »Bibliothek der Aufzeichnungen«. Drei Stufen führten hinauf zu einer großen Steinterrasse vor einer Schiebetür aus Glas. Die Front des Bauwerks bestand durchgehend aus Fenstern. Ein sanfter Schimmer unmittelbar nach dem Eingang hielt die Dunkelheit drinnen in Schach. Trotz des Lichts konnte ich im Gebäude niemanden ausmachen, was hoffentlich bedeutete, dass wir allein waren. Über den von einer hüfthohen Hecke umgebenen Hof verteilten sich mehrere Bänke aus Stein. Obwohl pechschwarze Finsternis herrschte, kauerten wir hinter einem Buchsbaum.
»Warum noch mal verstecken wir uns?«, flüsterte ich.
Mein Blick wanderte von Grandpa, der mit geschlossenen Augen so langsam ein- und ausatmete, dass er schlafend wirkte, zu Reyna, die mich ignorierte.
»Kian ist da drin«, antwortete mein Großvater.
Ich versteifte mich. Wie vermochte Grandpa das von draußen zu sagen? Ich wollte es gar nicht wissen.
Aber es schien eine coole Jedi-Kraft zu sein, die ich hoffentlich irgendwann auch lernen würde.
Reyna verstärkte den Griff um ihr Schwert und knurrte. »Der alte Knochensack wird versuchen, Nai daran zu hindern, ihren Namen als deine Erbin einzutragen.«
Grandpa grinste. »Der ›alte Knochensack‹ ist mindestens fünfhundert Jahre jünger als ich. Aber du hast recht. Er wird es versuchen.« Kurz tippte er sich ans Kinn, bevor er den Kopf schüttelte. »Er muss Wind von Nais Anwesenheit hier bekommen haben.«
Reyna rieb sich die Hände. »Wie sieht der Plan aus? Soll ich sein Haus anzünden oder so?«
Mein Großvater reagierte mit einem missbilligenden Laut auf ihren Vorschlag, ich hingegen sah darin eine brauchbare Idee.
Mit einem weiteren Kopfschütteln bahnte sich Grandpa mit dem Gehstock einen Weg aus dem Gebüsch. Für seinen zusehends schlechteren Zustand bewegte er sich erstaunlich leise. »Nein, das geht nicht. Es würde uns am Ende auf den Kopf fallen. Aber wir brauchen eine Ablenkung.« Er sah mich an. »Wenn Kian herausrennt, huschst du hinein, suchst die Meisterschriftrolle und unterschreibst mit deinem Namen unter dem deiner Mutter. Verstanden?«
Ich schluckte, ehe ich nickte, denn was hatten wir schon für eine Wahl? »Verstanden.«
Meinen Namen auf eine Schriftrolle schreiben. Wie schwer konnte das sein?
Reyna wippte auf den Fersen und grinste wie eine Irre. »Was für eine Ablenkung? Soll ich jemanden abmurksen?«
Grandpa verdrehte die Augen. »Ich täusche einen Herzinfarkt vor. Hoffentlich können deine Fähigkeiten als Schauspielerin deinem Blutdurst das Wasser reichen. Komm mit.«
Er humpelte auf das Gebäude zu, bis er sich im Sichtbereich der Doppeltür befand.
»Aaarrrh!«, rief er und umklammerte seine Brust.
»Showtime.« Reyna zwinkerte mir zu, sprang hinter der Hecke hervor und eilte zu ihm.
»Hilfe!« Sie fiel auf die Knie, fasste sich ebenfalls an die Brust und röchelte dramatisch.
Ich runzelte die Stirn. Einen Moment lang verwirrte mich, warum sie einen Herzinfarkt vortäuschte. Dann dämmerte es mir. Reyna war seine Schildwächterin. Wenn ihn so etwas ereilte, wirkte es sich auf sie aus ...
Hieß das, auch sie würde in wenigen Monaten sterben?
Der Gedanke entsetzte mich. Aber bevor ich darüber brüten konnte, glitten die Schiebetüren auf. Kian und dessen Sohn Julian, den ich auf der Alpha-Insel schon gesehen hatte, rannten heraus und kamen schlitternd zum Stehen.
»Was ist hier los?« Erschrocken blickte Kian auf Reyna und Grandpa hinab.
Die Adern am Hals der Schildwächterin traten hervor. »Kriege ... keine ... Luft.«
Mein Großvater lag auf der Terrasse aus Stein und zitterte so heftig, als hätte er einen epileptischen Anfall. Ich war mir nicht sicher, ob das zu den Symptomen eines Herzinfarkts gehörte, doch sowohl Kian als auch sein Penner von einem Sohn glotzten wie gebannt hin. Ich nutzte die Ablenkung, schlich unbemerkt um sie herum und durch den Eingang hinein. Danach dauerte es einen Moment, bis sich meine Augen an die Helligkeit anpassten. Der Duft von Öl und Leder stieg mir in die Nase. Einen Atemzug später sah ich mich um, und mir fiel die Kinnlade runter.
Heilige Mutter Magierin.