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Der Kampf gegen die Nightfall-Königin erreicht seinen Höhepunkt
Als in Fallenmoore die Königinnenprüfung ausgerufen wird, um eine Partnerin für den neuen König Axil Moon zu finden, will auch die 20-jährige Zara teilnehmen. Doch im Gegensatz zu den anderen Teilnehmerinnen hat Zara ihr ganz eigenes Motiv, zu gewinnen. Sie ist auf Rache aus. Denn Axil war Zaras große Liebe, bevor er ihr damals das Herz gebrochen hat. Als der Wolf jedoch nun Jahre später vor ihr steht, gleicht er in nichts mehr dem Teenager von früher. Während die beiden sich langsam wieder annähern, droht der Krieg gegen die Nightfall-Königin vollends zu eskalieren. Plötzlich steht die Welt vor dem Abgrund, und gemeinsam mit den anderen Königreichen ziehen sie in den alles entscheidenden Kampf ...
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Seitenzahl: 348
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Weitere Titel der Autorin
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Einen Winter später
Inhaltsinformation
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 1
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 2
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 3
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 3,5
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 4
The Last Dragon King – Die Chroniken von Avalier 1
The Broken Elf King – Die Chroniken von Avalier 2
The Ruthless Fae King – Die Chroniken von Avalier 3
Shifter Island 1 – Die Akademie der Wölfe
Shifter Island 2 – Der Wächter der Seelen
Shifter Island 2,5 – Der Alphakönig
Shifter Island 3 – Der Geist des Magiers
Leia Stone
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Michael Krug
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der Originalausgabe:
»The Forbidden Wolf King – Kings of Avalier Book Four«
Für die Originalausgabe:
Copyright ® 2023 by Leia Stone.
Published by arrangement with Bookcase Literary Agency
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright ® 2025 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten. Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
Umschlagmotiv: © Fay Lane Book Cover Design
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-5993-9
Sie finden uns im Internet unter one-verlag.de
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Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Dazu findet ihr genauere Angaben am Ende des Buches.
ACHTUNG: Sie enthalten Spoiler für das gesamte Buch.
Wir wünschen uns für euch alle das bestmöglicheLeseerlebnis.
Euer Team vom ONE-Verlag
»Du musst das nicht tun«, sagte mein älterer Bruder Cyrus, während er in dem Zuhause auf und ab lief, das ich mir mit meinem jüngeren Bruder Oslo teilte. Unsere Eltern gab es längst nicht mehr, nur noch meine beiden Geschwister und mich. Cyrus war verheiratet und hatte zwei eigene Welpen, deshalb lebte der kleine Oslo bei mir.
Ich schaute zu ihm auf. »Doch, muss ich. Es ist Pflicht, Cy. Die Vorladung besagt, dass die dominanteste Frau ...«
Cyrus fiel mir ins Wort und baute sich mit seiner überragenden Größe vor mir auf. »Die Vorladung ist mir egal! Der König wird aus reichlich Frauen wählen können. Es ist nicht nötig, sich umbringen zu lassen, um ...«
»Wie bitte?«, schnitt diesmal ich ihm das Wort ab. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und pikte ihm in die Brust. »Du glaubst nicht, dass ich gewinnen kann?«
Cyrus schaute leicht verlegen drein. »Zara, ich habe dich selbst ausgebildet. Ich weiß, dass du eine mächtige Kriegerin bist. Aber willst du für die Hand des Königs wirklich gegen alle dominanten Frauen in Fallenmoore antreten?«
Stille machte sich zwischen uns breit. Ich wollte diese Möglichkeit nicht ergreifen, schon gar nicht bei Axil Moon. Wir hatten eine Vorgeschichte, die ich jeden Sommer zu vergessen versuchte. Das wusste Cyrus. Aber wir hatten einen verbindlichen Befehl erhalten, und ich war kein Feigling.
»Die Teilnahme an den Königinnenspielen – bedeutet den Tod«, kam es nun von meinem jüngeren Bruder, der auf der Couch saß. Er schaute zu mir auf wie ein verängstigter kleiner Junge. Im Alter von zwölf könnte er zwar im Notfall für sich selbst sorgen, aber ich war auch ein Mutterersatz für ihn. Ohne mich würde ihn niemand abends ins Bett bringen oder in der Lebensart der Wölfe unterweisen.
»Was ist mit dem Rang, den es unserer Familie einbringen würde?«, fragte ich die beiden. »Mit den Machtpositionen für dich und Oslo, wenn ich gewinne?«
Meine Brüder waren dominant – allerdings reichte es nicht, um Alpha unseres Rudels zu werden. Zugleich waren sie nicht unterwürfig genug, um von den anderen Mitgliedern versorgt zu werden. Wie die meisten Wölfe ihres Rangs mussten sie sich im Kampf um Ressourcen allein durchschlagen. Wenn ich an dem Wettbewerb teilnähme und gewinnen könnte, würde mich das nicht nur zur Königin unseres Volks machen. Auch meine beiden Brüder würden in ihren Rängen aufsteigen. Der Familie der Herrscherin mangelte es an nichts. Jeden Winter neue Pelze, Verpflegung und Unterkunft, alles vom König bereitgestellt. Zudem würden sie Ehrenplätze in der königlichen Wolfsarmee erhalten.
Mein älterer Bruder verschränkte die Arme vor der Brust und musterte mich abwägend. Mittlerweile war ich zwanzig Sommer alt. Er konnte nicht abstreiten, dass ich zu einer Frau herangewachsen war. Ich hielt den Blicken der stärksten männlichen Mitglieder meines Rudels stand, ohne mich ihnen zu unterwerfen, und meine Muskeln wirkten wie aus Stein gehauen. Das dürre kleine Mädchen, dem Cyrus am Flussufer das Kämpfen beigebracht hatte, war ich längst nicht mehr. Ich nahm die dritte Stelle der Rangordnung im Rudel ein, unmittelbar hinter dem Alpha und dessen Stellvertreter. Nicht übel für eine Frau.
»Zara, wenn du gewinnst, musst du König Axil heiraten. Macht dir das gar nichts aus? Mit eurer Vorgeschichte?«, fragte er.
»Welche Vorgeschichte?«, warf mein kleiner Bruder ein.
»Musst du nicht wissen«, gaben Cyrus und ich gleichzeitig zurück.
Wenn ich nachts die Augen schloss und an die zwei Sommermonde im Ausbildungslager der dominanten Wölfe dachte, konnte ich noch immer Axils Lippen auf meinen spüren. Damals waren wir fünfzehn gewesen.
Meine erste Liebe. Oder zumindest hatte ich ihn dafür gehalten, als ich noch ein ahnungsloses Junges war. Schon zu jener Zeit hatte ich für meinen kleinen Bruder im Wesentlichen die Mutter gespielt und war ständig mit Pflichten im Haushalt eingespannt gewesen. Axil war wie ein frischer Wind in meinem Leben gewesen. Damals hatte ich nicht gewusst, dass er der Prinz von Fallenmore war. Ich lebte in einem winzigen Dorf fernab des Death Mountain, wo sich der königliche Hof befand. Wir lachten und redeten stundenlang, küssten uns im Mondlicht und tanzten, bis sich unsere Füße anfühlten, als würden sie jeden Moment abfallen. Zwei Monde lang ging ich völlig in Axil Moon auf. Erst als uns sein älterer Bruder am letzten Tag des Lagers beim Rummachen erwischte, wurde mir klar, wer er war. In diesem Moment war alles in sich zusammengestürzt.
Ich konnte mich noch lebhaft an die Diskussion erinnern, die unmittelbar vor meinen Augen stattgefunden hatte.
»Ich liebe sie«, hatte Axil zu seinem Bruder gesagt.
»Solche Frauen liebst du nicht, Axil. Du vergnügst dich mit ihnen und suchst dir dann eine geeignetere Partnerin in Death Mountain aus. Du bist ein Prinz. Fang gefälligst an, dich entsprechend zu verhalten. Gehen wir, bevor dich noch jemand sieht.«
Ich war am Boden zerstört gewesen. Axil hatte von einer gemeinsamen Zukunft gesprochen. Von gegenseitigen Besuchen. Davon, mich eines Tages zu heiraten. Ich hatte von ihm erwartet, dass er seinem Bruder gegenüber standhaft blieb. Stattdessen hatte er den Kopf hängen lassen und war ohne ein weiteres Wort verschwunden.
Er war einfach gegangen, hatte mich wie Müll behandelt. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass ich mich mit Prinz Axil, dem Bruder von König Ansel, auf eine Liebschaft eingelassen hatte, die sich nie wiederholen würde. Weil ich unter seiner Würde war.
»Zara.« Cyrus holte mich in die Gegenwart zurück.
Ich sah meinem Bruder in die Augen, hielt seinem Blick mühelos stand. »Ja, ich würde ihn heiraten. Um zu beweisen, dass auch eine einfache Dorfbewohnerin aus den Mud Flats Königin werden kann«, stieß ich mit einem Grollen tief in der Kehle hervor. Außerdem wollte ich Axil Moon und seinem Bruder beweisen, dass ich sehr wohl gut genug für ihn war. In Fallenmoore wurde man nicht durch seinen Status Königin, sondern durch Brutalität, Dominanz, Verschlagenheit und Geschick im Kampf. Der Wettbewerb wurde buchstäblich bis zum Tod ausgetragen – es sei denn, man gab auf, was jedoch niemand mit ein wenig Selbstachtung tat. Wer aufgab, würde dafür von seinem Rudel in der Luft zerrissen und brächte für drei Generationen Schande über die Familie.
Mein Bruder musterte mich und umkreiste mich bedächtig. »Die Einstellung würdest du brauchen, um zu gewinnen.«
Und schon befanden wir uns wieder in den Rollen des Ausbilders und der Schülerin. Ich hatte mit Cyrus bereits mit drei Wintern Übungskämpfe bestritten, als ich noch kaum gelernt hatte, mich in meine Wolfsgestalt zu verwandeln.
»Dorian wird dich ungern verlieren. Du wirst seine Erlaubnis brauchen.« Mein Bruder sprach von unserem Alpha. Cyrus hatte recht. Für das Mud-Flat-Rudel wäre es ein herber Schlag, seine dominanteste Frau einzubüßen, denn ich sorgte dafür, dass sich die anderen benahmen. Aber wenn ich es schaffte, den Wettbewerb zu gewinnen, würde die Ehre auf Dorian und das gesamte Rudel abfärben. Unverändert hielt ich dem Blick meines Bruders stand und wartete auf seine Zustimmung. In unserer eigenartigen kleinen Familie war er für mich wie ein Vaterersatz. Ohne grünes Licht von ihm würde ich nicht teilnehmen.
Zwar handelte es sich um eine verpflichtende Einladung, aber wenn der Alpha des Rudels die genannte Frau nicht gehen lassen wollte oder sie bereits einen Lebensgefährten hatte, konnte statt ihr jemand anders entsandt werden. Morgan könnte meinen Platz einnehmen. Sie stand in Sachen Dominanz nach mir an nächster Stelle.
»Geh ihn fragen. Wenn er zustimmt, trainiere ich dich«, sagte mein Bruder schließlich und brach den Blickkontakt mit mir ab.
Cyrus galt als gefragter Kampfausbilder. Er mochte nicht dominant genug für einen Alpha sein, doch seiner Verschlagenheit und seinen Strategien konnte in unserer Gegend niemand das Wasser reichen. Er war sogar schon am Death Mountain gewesen, um dort königliche Wächter auszubilden. Was ihm an Muskelkraft fehlte, wog er durch Intelligenz auf.
»Ich werde ihn nicht fragen, sondern es ihm mitteilen«, korrigierte ich die unterwürfige Denkweise meines Bruders.
Cyrus schmunzelte. »Viel Glück dabei.«
Dorian war ein gerechter Alpha. Manchmal hart, aber immer fair. Der Begriff »strenge Liebe« musste eigens für ihn geprägt worden sein. Mit dreizehn hatte ich aus Langeweile zusätzliche Rationen aus dem Gemeinschaftslager stibitzt. Er hatte mich vier Tage und Nächte nur mit Wasser hungern lassen. Seither hatte ich nie wieder Essen gestohlen. Dorian verlangte Respekt nicht blind, er verdiente ihn.
Ich nickte meinem Bruder zu und griff nach der Vorladung vom Death Mountain. Sie war in alle Städte und Dörfer in Fallenmoore verschickt worden. Auf diesem Exemplar stand mein Name. Ich fragte mich, ob Axil überhaupt wusste, dass ich kommen würde, oder ob ich von seinen Beratern angeschrieben worden war. Zuletzt gesehen hatte ich ihn vor fünf Wintern, einen Jungen, der mittlerweile der König war.
Ich trat zum Sofa und zerzauste meinem kleinen Bruder das Haar.
»Bin gleich wieder da.«
Oslo wirkte traurig. Ich wusste, warum er nicht wollte, dass ich teilnahm – weil er fürchtete, ich könnte ihm entrissen werden. Ich blickte ihm tief in die Augen. »Wenn ich Königin werde, kannst du bei mir im Palast am Death Mountain wohnen«, sagte ich zu ihm. Prompt hellten sich seine Züge auf.
»Wirklich?«
Ich nickte, und er schaute weg, konnte mir nicht länger in die Augen sehen. Er war der Unterwürfigste der Familie, und das weckte in mir das Bedürfnis, ihn umso mehr zu beschützen.
»Was, wenn du stirbst?«, fragte er kleinlaut.
Cyrus streckte die Arme aus, packte ihn ein wenig grob und schüttelte ihn an den Schultern, zwang Oslo, ihn zu schlagen, um ihn abzuschütteln. »Dann stirbt sie ehrenvoll, und wir heulen jeden Winter zum Gedenken ihren Namen dem Mond entgegen«, sagte Cyrus.
Er hatte recht. Während der Königinnenspiele zu sterben, galt als große Ehre.
Zumal der Wettbewerb nur ausgetragen wurde, wenn der König eine Partnerin suchte. Meine Mutter war damals in die Stadt gereist, um sich die Spiele von Axils Vater anzusehen. Vor drei Wintern hatte ich jene für seinen Bruder Ansel von unserem Dorf aus mitverfolgt, doch mit eigenen Augen gesehen hatte ich sie noch nie. Im Winter darauf hatte Axil seinen Bruder zum Kampf herausgefordert und ihm das Rudel abgenommen. Aus Gnade hatte er ihn jedoch am Leben gelassen.
Ich verließ unser Haus und überquerte den Dorfplatz, auf dem sich das gesamte Rudel herumzutreiben schien. Einige der Frauen häuteten unlängst erlegte Beute, mehrere Männer übten in ihrer Wolfsgestalt die Bewegungsabläufe bei der Jagd. Für ein frisch verheiratetes Paar wurde gerade eine neue Hütte gebaut. Die Sonne stand hoch am Himmel. Es war ein wunderschöner Tag in unserem verschlafenen Dorf. Wenn ich an dem Wettbewerb teilnähme, würde sich alles verändern. Ich müsste in die belebte Hauptstadt Death Mountain, weit weg von meiner ruhigen Normalität hier.
Ich wollte gerade bei Dorian zu Hause anklopfen, da hörte ich ihn schon von innen rufen. »Komm rein, Zara!«
Ich grinste. Verdammt, an seinen Geruchssinn reichte wirklich nichts heran. Als ich die Tür öffnete, fand ich ihn beim Essen, einen dampfenden Teller mit Fleisch und Kartoffeln vor sich. Seine Frau rührte etwas in einem Topf auf dem Herd um und nickte mir zu, als ich eintrat.
Amara galt als die Unterwürfigste unseres Rudels. Sie stellte selten mit jemandem Blickkontakt her. Konfrontationen vermied sie um jeden Preis. Sie war eine Friedensstifterin, was mich begeisterte. Streitigkeiten trug man stets zuerst Amara vor, um herauszufinden, ob sich eine faire Einigung erzielen ließ. Wenn nicht, wandte man sich an mich, die die Probleme ein wenig anders anging. Mich nannte man »die Strafvollzieherin«, weil ich gern ähnlich bestrafte wie einst Dorian mich, um den Wölfen Lektionen zu erteilen, die sie nie vergessen würden. Wer noch nie echten Hungerschmerz im Magen gespürt hatte, der wusste nicht, wie es sich anfühlte, wirklich Essen stehlen zu wollen, und würde es danach nie wieder aus schierer Langeweile tun. Mich hatte es abgehärtet und mehr gelehrt, als es ein bloßer Klaps auf die Hand getan hätte.
Ich zog mir einen Stuhl herbei, legte unserem Alpha die Vorladung vor und setzte mich dann.
»Habe ich auch bekommen«, sagte er, kaute an einem Stück Fleisch und schaute schließlich zu mir auf. Ich hielt Dorians Blick stand. Der muskelbepackte Alpha war beinah so groß wie ein Bäraro. Und obwohl er bereits über vierzig Winter auf dem Buckel hatte, bewegte er sich mit der Geschwindigkeit und Anmut eines ausgebildeten Meuchlers. Das kurz gestutzte, von grauen Strähnen durchzogene Haar ging nahtlos in den grau melierten Bart über. Im Moment jedoch bannten mich vor allem seine Augen, tiefbraun mit gelben Sprenkeln. Es fühlte sich an, als könnten sie geradewegs in meine Seele sehen.
Eine geschlagene Minute lang saßen Dorian und ich da und starrten uns gegenseitig an, während Amara vor sich hin pfiff und umrührte, was sich im Topf auf dem Herd befand. Auf meinen Schultern schien ein schweres Gewicht zu lasten. Mein Verstand wollte, dass ich wegschaute, aber meine Willenskraft war wesentlich stärker. Als ich schon dachte, ich würde bei dem Blickduell durchdrehen, ergriff er das Wort.
»Du willst es wirklich tun?«, fragte er. Ich schaute nach unten auf die Vorladung und atmete durch. Ich musste ihm beweisen, dass ich stark genug dafür war.
»Ja. Ich will unserem Rudel alle Ehre machen und dem König und seinem Bruder zeigen, dass eine junge Frau aus den Mud Flats den Boden mit seinen Stadtwölfinnen aufwischen kann.«
Kurz grinste mein Alpha, rasch jedoch ernüchterten seine Züge. »Und dass du dabei um Axil Moons Herz kämpfst, ist für dich in Ordnung?«
Mir stockte der Atem. In jenem Sommer war es Dorian gewesen, der mich aus dem Lager abholte. Nachdem Axil mich gebrochen hatte, waren es Dorian, Amara und Cyrus gewesen, die mir wieder Mut zusprachen. Er wusste, wie schwer mich Axils Ablehnung getroffen hatte.
Ich begegnete seinem Blick und bemühte mich, mir nicht anmerken zu lassen, wie verletzlich ich mich fühlte. »Darüber muss ich hinwegsehen. Ich muss Axil Moon beweisen, dass er sich in mir geirrt hat.«
Dorian nickte knapp. »Dann habe ich nur eine Bedingung, Zara.«
»Nenn sie mir.« Ich setzte mich aufrechter hin.
»Meine Bedingung lautet, dass du nicht aufgibst«, erklärte er. »Ich möchte, dass du entweder Königin wirst oder beim Versuch stirbst.«
Ein kalter Schauder raste mir über die Wirbelsäule. Ich schluckte schwer. Natürlich wollte ich das auch. Man hatte mir von jeher eingebläut, dass Kapitulation unehrenhaft sei, aber ... Wenn es wirklich darauf ankäme, könnte ich dann einfach ... zulassen, dass ich getötet wurde, um die Ehre meines Rudels zu bewahren?
Mich beschlich das Gefühl, dass es sich um eine weitere seiner Lektionen handelte. Vermutlich wollte er herausfinden, wie sehr ich es wollte, wie bereit ich wirklich dafür war.
Er beugte sich vor. Plötzlich funkelten Emotionen in seinen Augen. »Zara, du bist immer mein Liebling gewesen. Aber wenn du vor einer aufgeblasenen Stadtwölfin auf die Knie sinkst, muss ich dich eigenhändig umbringen. Und das will ich nicht.«
Amara hielt mitten in der Bewegung inne. Ein leises Winseln rutschte ihr heraus. Mich hingegen erfüllten Dorians Worte mit Stolz. Irgendwo darin verbarg sich ein Kompliment.
»Ich werde entweder gewinnen oder beim Versuch sterben, Alpha«, versprach ich ihm.
Er griff nach dem Zettel und gab mir die Vorladung zurück. »Dann sag zu. Wird Cyrus dich trainieren?«
Ich nickte. »Ja, Alpha.«
»Du hast nur zwei Wochen zur Vorbereitung. Ich helfe ebenfalls mit. Und Morgan.«
Mein Herz machte einen Satz. Es war alles andere als selbstverständlich, dass der Alpha für mich Zeit davon abzwackte, ein Rudel von über fünfzig Wölfen zu leiten.
»Danke, Alpha. Ich werde dich mit Stolz erfüllen«, gelobte ich und stand, die Vorladung fest umklammert, auf.
Er nickte mir knapp zu, bevor er sich wieder dem Elcharofleisch widmete. Als ich mich zum Gehen wandte, eilte Amara herüber und zog mich in eine Umarmung.
Zuerst war ich überrascht. Dominante Wölfinnen hielten nicht viel davon, Emotionen zu zeigen, deshalb war ich selbst nicht allzu scharf auf Umarmungen. Allerdings stand Amara mir wirklich nahe. Ich war erst acht gewesen, als meine eigene bei der Geburt meines Bruders gestorben war. Mein Vater, der letzte Alpha unseres Rudels vor Dorian, war ihr wenige Monde danach durch einen Bäraroangriff bei einem Jagdausflug in den Tod gefolgt. Unsere gesamte Familie war vom Verlust unserer Eltern am Boden zerstört gewesen.
Aber das Rudel hatte sich um uns gekümmert und dafür gesorgt, dass wir alles hatten, was wir brauchten, bis wir erwachsen wurden und uns selbst versorgen konnten. Man brachte uns Essen und Decken, kam vorbei, um das Haus zu putzen und mit uns zu spielen. Vor allem jedoch Amara, damals Anfang zwanzig und frisch mit Dorian verheiratet, hatte uns vier Winter lang jeden einzelnen Abend besucht. Sie hatte Oslo und mir den Rücken getätschelt und uns mit denselben alten Liedern wie früher meine Mutter in den Schlaf gesungen. Mir hatte sie beigebracht, wie ich Oslo mit einem Milchbeutel füttern konnte und wie man seine verschmutzte Bettwäsche wechselte.
Diese Freundlichkeit hatte ich ihr nie vergessen.
»Du wirst mir fehlen.« Ihre Stimme wurde brüchig, und ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals.
»Du mir auch, Amama«, erwiderte ich, und sie lachte auf.
Amara war mir wie eine zweite Mutter geworden. Deshalb hatte ich sie als kleines Kind eine Zeit lang Amama genannt. Oslo tat es nach wie vor.
Als sie sich zurückzog, weinte sie. Ich hingegen konnte mich nicht mal daran erinnern, wann ich das letzte Mal geweint hatte.
»Das reicht jetzt, du machst sie zu rührselig«, wandte sich Dorian lächelnd an seine Ehefrau, und ich grinste.
Nachdem ich ihre Hütte verlassen hatte, öffnete ich die Vorladung erneut und las sie zum zehnten Mal.
An: Mud-Flat-Rudel
Die dem König Axil dienenden Wolfsberater ersuchen, dass sich eure dominanteste Wölfin namens Zara Swiftwater in zwei Wochen am Death Mountain zur Teilnahme an den Königinnenspielen einfindet.
Die Gewinnerin erringt den Thron.
Bitte um umgehende Antwort per Kurier. Es kann eine dominante Ersatzfrau entsandt werden.
Name der Teilnehmerin oder Ersatzfrau:
Vom Alpha genehmigt:
Ich betrat unser Haus und holte Feder und Tinte aus dem alten Schreibtisch meines Vaters.
Cyrus schwieg, während er beobachtete, wie ich Zara Swiftwater ins Feld für den Namen der Teilnehmerin und Ja bei der Genehmigung eintrug. Dann reichte ich ihm das Schriftstück.
»Dorian und Morgan helfen dir dabei, mich zu trainieren«, teilte ich ihm mit.
Davon wirkte er beeindruckt, und über unsere Rudelbindung spürte ich, wie sich Aufregung in die Besorgnis über die Teilnahme seiner kleinen Schwester an dem Wettkampf mischte. Als Mitglied eines Wolfsrudels brauchte man manchmal keine Worte – man konnte die Gedanken oder Empfindungen anderer wahrnehmen, als wären es die eigenen. Und da er mein Bruder war, hatten wir eine besonders enge Bindung. In Wolfsgestalt konnten wir uns alle innerhalb des Rudels mental miteinander verständigen. Als Menschen hingegen waren es eher Gefühlsfetzen, die man intuitiv aufschnappen musste.
Cyrus ging zu dem Spind neben der Couch, der meine Trainingsausrüstung enthielt. Er riss die Tür auf und sah mich an. »Ich bringe die Vorladung zu einem Kurier. Mach du dich bereit, wir fangen sofort an.«
Sofort?
»Wir haben zwei Wochen«, erwiderte ich in kläglichem Ton. Mit meinem Bruder zu trainieren, war kein Spaziergang. Er nahm es überaus ernst.
»Wir hätten schon vor sechs Monden anfangen sollen«, gab er mit knurrendem Unterton zurück und verließ das Zimmer.
Ich schaute zu meinem kleinen Bruder. Er beobachtete mich von der Couch. Ich hob das Kinn, in der Hoffnung, selbstsicher und unerschrocken zu wirken. Als seine Unterlippe bebte und er mit den Tränen kämpfte, seufzte ich. Er ähnelte so sehr meiner Mutter. Man konnte ihm seine Gefühle immer deutlich ansehen. Ich glich mehr meinem Vater – körperlich und mental stark, innerlich ein wenig gefühlskalt. Das machte mich aus. Im Grunde war es aber eine Überlebenstechnik.
»Hör zu, Kleiner«, wandte ich mich an ihn. »So beschere ich unserem Familiennamen und dem Rudel Ehre. Ich werde uns nicht enttäuschen.«
Oslo runzelte die Stirn und zog seine Knie an die Brust. »Ehre ist mir egal. Ich will nur nicht, dass du verletzt wirst.«
In diesem Moment wurde mir klar, dass ich ihn zu sehr verhätschelt hatte. Er war zu verweichlicht, um auch nur in der mittleren Ordnung des Rudels zu überleben. Wie unsere Mutter würde er unterwürfig und zu niedrigen Aufgaben im Dorf verdammt werden. Das stimmte mich traurig. Aber vielleicht wollte er es ja auch so. Ein Leben ohne Jagd, Kämpfe und alles, was mein Blut in Wallung versetzte. Er war mittlerweile zwölf, ein Alter, in dem sich entschied, welcher Wolf man werden würde. Dominant oder unterwürfig.
Ich ging zu ihm und zerzauste ihm das Haar. »Ich werde trotzdem alle stolz machen.«
Sonst würde ich in einem Leichensack landen. Aufzugeben kam für mich nicht infrage. Auf die Knie würde ich höchstens sinken, wenn man mir die Beine bräche.
Zwei Wochen waren ins Land gezogen. Ein Dutzend Mal wäre ich beinah gestorben, vor allem vergangene Woche, in der Nacht des Vollmonds, als sich meine Wölfin gegen die Rückverwandlung in ihre menschliche Gestalt gesträubt hatte. Es fühlte sich an, als wollten Dorian, Morgan und mein Bruder mich umbringen. In wenigen Augenblicken sollte ich zum Death Mountain aufbrechen, und mein Bruder wollte noch eine letzte Lektion mit mir durchgehen.
»Aber ich habe mich schon umgezogen.« Ich deutete auf meine saubere Lederhose und meinen makellosen Bäraropelzmantel von einem erst vergangene Saison erlegten Tier.
Mein älterer Bruder funkelte mich finster an. »Du bist zu sauber. Wenn du mit Blut und Dreck auf der Kleidung eintriffst, zeigst du, wie hart du gearbeitet hast. Du musst dafür sorgen, dass die anderen Frauen dich fürchten.«
Damit führte er ein gutes Argument an. Nicht zuletzt deshalb war mein Bruder der bevorzugte Trainer unseres Alphas – Cyrus brachte einem die nötigen Psychospielchen bei, um zu gewinnen.
Du musst rein in ihren Kopf, sie ablenken, sie durcheinanderbringen.
Seufzend zog ich den Pelzmantel aus. Zum Vorschein kam der schmale Stoffstreifen, der meine Brüste bedeckte. Als Gestaltwandler wechselten wir oft zwischen unserer Wolfs- und Menschenform. Deshalb war es besser, sich in Stoffstreifen zu hüllen, als ständig teure Waffenröcke zu zerreißen.
Die Dorfbewohner versammelten sich um uns und stampften anspornend auf den Boden.
Ich grinste. In letzter Zeit hatten sie mich sehr unterstützt. Es bedeutete mir alles, dass sie bei meinem Versuch, die Königinnenspiele zu gewinnen, hinter mir standen.
Ich wartete darauf, dass Morgan oder Lola für einen letzten Übungskampf gegen mich in den Kreis traten. Allerdings geschah das nicht. Stattdessen öffnete sich eine Lücke für Dorian höchstpersönlich, nur mit einem Lendenschurz bekleidet.
Oh Hades.
Ich hatte schon gegen Männer unseres Rudels gekämpft. Wegen kleiner Streitigkeiten oder als Training. Aber noch nie gegen den Alpha.
Ich schluckte schwer.
Er sah mir in die Augen, als er den Kreis betrat. Statt zu protestieren oder zu fragen, was das sollte, knackte ich mit den Knöcheln und wappnete mich. Die Rudelmitglieder stimmten sogar in menschlicher Gestalt wildes Geheul an und trampelten aufgeregt auf den Boden.
Meines Wissens hatte der Alpha noch nie einen Übungskampf gegen eine Frau bestritten. Wahrscheinlich, weil er fürchtete, er könnte sie versehentlich töten.
Die Gefühle meines Bruders nahm ich über die Rudelbindung wahr, ohne dass er sie aussprechen musste.
Dorian war größer und stärker als ich. Also musste ich meine Wendigkeit und Schnelligkeit zu meinem Vorteil nutzen.
Bei den Königinnenspielen würde gemischt gekämpft werden – in menschlicher Gestalt, als Wölfinnen und mit Waffen. Zwar kannte ich keine Einzelheiten, aber ich würde auf alles gefasst sein müssen.
»Regeln?«, fragte ich meinen Alpha, während wir einander umkreisten. Ich wollte ihn weder verletzen noch von ihm vor aller Augen gerügt oder übertrieben hart rangenommen werden, wenn es nur darum ging, Techniken zu veranschaulichen.
»Keine«, antwortete er, und dann griff er an.
Ein überraschter Aufschrei rutschte mir heraus, doch mein Bruder hatte mich gut unterrichtet. Instinktiv sank ich auf die Knie, ließ den Arm vorschnellen und traf mit der Faust den Schritt des Alphas. Ächzend fiel er nach vorn auf meine Höhe, und ich rang ihn mühelos zu Boden. Ein kräftiger Ruck an seinem Fußgelenk genügte, um ihn flach auf dem Bauch landen zu lassen. Das Rudel johlte und heulte außer Rand und Band.
Ich sprang Dorian auf den Rücken, schlang ihm einen Arm um die Kehle und versuchte, mit den Beinen seine muskulösen Arme zu fixieren. Vergeblich. Er richtete sich mitsamt mir auf, bevor er sich nach hinten fallen ließ. Sein Körper landete mit voller Wucht auf mir und presste mir die Luft aus der Lunge. Ich konnte nicht atmen. Meine Arme erschlafften, als er sich von mir rollte und herumwirbelte. Seine Fäuste droschen mir ins Gesicht, in den Magen, in die Kehle, ein so rasanter Sturmangriff, dass es mir nicht gelang, mich zu orientieren.
»Setz ein, was du hast!«, brüllte mein Bruder scharf.
Ich spürte die Erde unter den Fingern, krallte mir eine Handvoll davon und schleuderte sie dem Alpha ins Gesicht. Er hustete und prustete, was mir eine Verschnaufpause und die Möglichkeit verschaffte, mich unter ihm wegzurollen.
Zeit, meine Wölfin hervorzukehren. Nur so hätte ich eine Chance. Während der Verwandlung war ich zwar verwundbar, doch die nächsten Sekunden würde Dorian von der Erde geblendet sein. Jetzt oder nie.
Meine Knochen knackten los, und ein stechender Schmerz fegte durch meinen Körper. Man konnte die Gestalt wechseln, sooft man wollte, die Qualen ließen nie nach. Es war jedes Mal eine Tortur, weshalb unsere Art eine hohe Schmerztoleranz entwickelt hatte. Ich war bereits halb verwandelt, da packte mich Dorian am Bein und zog daran.
Mein Oberkörper prallte auf den Boden, bevor ich durch die Luft gewirbelt wurde, doch endlich war ich komplett zur Wölfin geworden. Ich knurrte ihm entgegen, aber er hielt mich wie einen Welpen hoch, und ich wand mich in seinem Griff. Dorian schlug mir erneut in den Magen, behandelte mich wie einen Sandsack. Weil es sich um einen Übungskampf handelte, legte er nicht alle Kraft hinein, deshalb brachen keine Rippen, dennoch würde ich üble Blutergüsse davontragen.
In jenem Moment fiel mir alles ein, was mir mein Bruder beim Training sowohl über die Winter als auch in den vergangenen zwei Wochen beigebracht hatte.
Abrupt erschlaffte ich und ließ den Kopf zur Seite baumeln, als hätte ich das Bewusstsein verloren.
»Netter Versuch«, fauchte Dorian und schlug mir erneut in den Magen, während er mich nach wie vor am Bein hochhielt.
Es kostete mich alle Selbstbeherrschung, nicht auf den Treffer zu reagieren. Ich wusste, dass Dorian ein Kämpfer mit Ehre war – er würde niemals auf Bewusstlose einprügeln. Verlor jemand die Besinnung, bedeutete das für ihn, er hatte gewonnen. Seine einzige Schwäche bestand darin, ehrenwert zu sein und es sich nie leicht zu machen.
Seufzend senkte er mich schließlich zu Boden und wandte sich an das Rudel. »Offensichtlich ist sie ...«
In diesem Moment sprang ich auf, zielte direkt auf seine Kehle und biss leicht zu, um ihm zu verdeutlichen, dass ich sie ihm hätte herausreißen können, wenn es nicht bloß ein Übungskampf gewesen wäre. Als ich wieder auf meinen Pfoten landete, schaute ich auf und sah die roten Kratzer, die meine Zähne an seiner Haut hinterlassen hatten.
Ich begegnete seinem Blick, während das Rudel jubelte und johlte. Alle wussten, dass ich in dem Moment gewonnen hatte, in dem ich seine Gurgel zu fassen bekommen hatte. In einem echten Kampf wäre er tot gewesen.
Dorian packte meine Wolfsgestalt an den Vorderläufen und hob mich hoch. Ich starrte in seine gelblich leuchtenden Augen.
»Gut gemacht. Du bist eine nicht zu unterschätzende Kraft, Zara Swiftwater. Immer gewesen. Vergiss das nie.«
Für Dorians Begriffe war die Äußerung gleichbedeutend mit: Ich hab dich lieb und bin stolz auf dich, Kleine. Stirb nicht.
Ich nickte, und er ließ von mir ab.
Endlich fühlte ich mich bereit, mit meinem Bruder in die Stadt zu reisen.
Die Verabschiedung von Oslo und den anderen brachte ich rasch hinter mich. Ich wollte unmittelbar vor dem Aufbruch nicht emotional werden.
»Halte dich an Amara, bis ich gewonnen habe, dann lasse ich dich holen«, sagte ich zu meinem kleinen Bruder. Sie hatte mir versprochen, ein Auge auf ihn zu haben, doch er war bald in einem Alter, ab dem man bei uns im Rudel Verantwortung übernahm. Er musste lernen, sich allein durchzuschlagen. Verhätschelt werden würde er nicht mehr.
Mit Tränen in den Augen nickte er knapp, und mein Herz zog sich zusammen.
»Was, wenn du ... stirbst?«, fragte er, als wir an der Tür unseres Hauses standen.
Cyrus wartete draußen auf mich, wir waren daher unter uns.
Wäre er erst zehn gewesen, hätte ich ihn belogen und gesagt, das könnte nicht passieren. Aber er musste die Wahrheit erfahren.
Ich zog ihn in eine innige Umarmung. »Dann wirst du mir am meisten fehlen, weil du mein Liebling bist«, sagte ich zu ihm, und er erdrückte mich beinah. »Und du würdest auch ohne mich zurechtkommen. Sei tapfer, und arbeite dich im Rudel nach oben, bis du einen Platz findest, der sich richtig anfühlt.«
Er nickte an meiner Schulter, und ich hörte, wie er ein Schluchzen unterdrückte.
Ich zog mich von ihm zurück, wollte ihn nicht zu sehr bemuttern. Er würde härter werden müssen, wenn er ohne mich überleben wollte. Trotzdem hätte ich lügen müssen, um zu behaupten, dass ich ihn nicht mitnehmen, ihn in meiner Nähe behalten wollte, bis er älter und weniger sensibel gewesen wäre.
Immerhin waren wir noch Kleinkinder gewesen, als wir unsere Eltern verloren hatten. Oslo und ich waren zusammen aufgewachsen. Er und ich gegen den Rest der Welt.
»Geh rein, und mach dir ein Mittagessen, ja?«, sagte ich.
Er nickte, wischte sich die Augen ab, und damit hatte es sich. Länger durfte ich nicht warten.
Also wandte ich mich ab und ging hinaus zu meinem älteren Bruder. Er stand schon auf dem Wolfsschlitten. Sechs Rudelmitglieder waren davorgespannt und bereit, ihn zu ziehen.
Hätte ich nichts mitnehmen müssen, ich hätte mich einfach in meine Wolfsgestalt verwandeln und zum Death Mountain laufen können. Aber als Anwärterin des Wettbewerbs brauchte ich Kleidung, Waffen und insgesamt mehr, als mein Bruder und ich allein tragen konnten.
»Du verhätschelst ihn«, schimpfte Cyrus, als ich mich ihm näherte.
Ich verdrehte nur die Augen, hatte die alte Leier satt. »Kommt Mena mit den Zwillingen zurecht, während du weg bist?« Ich stieg neben ihn auf den Schlitten.
Seine Frau Mena hatte erst vor sechs Monden zwei Jungen zur Welt gebracht. Besonders erfreut würde sie nicht sein, dass er so bald danach fortging, davon war ich überzeugt.
»Ja. Zum einen ist sie stark, zum anderen hat sie das Rudel.« Als er sich in unserem kleinen Dorf umsah, folgte ich seinem Blick. Ich liebte unsere Gemeinde in den Mud Flats. Unter der dünnen Schneedecke, die wir derzeit hatten, erstreckte sich schier endlos der rissige, getrocknete Schlamm. Im Umkreis von mehreren Meilen gab es niemanden außer uns. Mitten im Nirgendwo zu hausen, mochte nicht jedermanns Sache sein, doch mir gefiel die Abgeschiedenheit, in der unser Rudel unter sich blieb. Andere mussten ständig um Territorium kämpfen. In dieser Gegend jedoch wollte kaum jemand leben, deshalb hatten wir Hunderte Quadratmeilen für uns allein. Es gab nichts Befreienderes als das Gefühl, wie ein geölter Blitz ungehindert über die Weiten der Mud Flats zu laufen. Ich persönlich brauchte nicht viel, um mich glücklich und wohlzufühlen. Und ich war überzeugt davon, das würde mir beim Wettbewerb zugutekommen. Gerüchten zufolge wurde bei einer Herausforderung der Königinnenspiele die Willensstärke auf die Probe gestellt, indem versucht wurde, einen durch alles andere als wohnliche Unterkünfte zu zermürben. Das Volk würde keine schwache Königin akzeptieren.
Unsere vor den Schlitten gespannten Rudelkameraden preschten los, und ich hielt mich an den seitlichen Stangen fest. Meine Lippen bluteten, ich war verdreckt und müde, doch mein Bruder hatte recht. Es würde ein Vorteil sein, so unter den schicken Stadtwölfinnen in der Hauptstadt aufzukreuzen.
***
Die Fahrt dauerte den ganzen Tag und einen Teil des Abends. Wir mussten auf den Gemeindewegen bleiben, um nicht in das Gebiet anderer Rudel einzudringen. So trafen wir erst lang nach der Zeit zum Abendessen an den Toren von Death Mountain ein. Mein Magen knurrte. Man hatte Cyrus mitgeteilt, dass es ein Willkommensessen geben würde. Danach würden die Teilnehmerinnen Unterkünfte für sich und ihre Trainer erhalten. Ich war noch nie zuvor in Death Mountain gewesen. Die Stadt reizte mich nicht. Im Sommer schlief ich mit Oslo draußen in einer Hängematte, und wir konnten die Sterne betrachten. Sogar im Winter unternahm ich täglich lange Spaziergänge, damit meine Muskeln straff blieben und ich mir die Widerstandsfähigkeit gegen die Kälte bewahrte. In der Stadt tat man das nicht. Dort kam man sich zu gut dafür vor. Deshalb galten die Stadtbewohner als die Verweichlichten unserer Art. Ihre Körper waren rundlicher, die Muskeln weniger definiert. Essen wurde ihnen auf Tellern serviert. Feuer wurden für sie von Dienern angezündet und geschürt. Gut, sie mochten sich teure Trainer leisten können. Dennoch überstieg es meinen Verstand, wie aus diesem Ort eine starke Königin hervorgehen sollte.
Als wir das Tor zur Stadt passierten, sah ich mich um. Death Mountain war ursprünglich durch frühe Siedler entstanden, die nach Gold gesucht hatten. Die Wölfe hatten bei der Übernahme des Orts den Palast auf einem Plateau errichtet, etwa auf halbem Weg den Berg hinauf. Keine Armee könnte ihn unbemerkt erreichen. Angreifer würden in den Tod geschleudert werden, lang bevor sie auch nur in die Nähe kämen.
Wir zogen an einem Bereich mit schmalen, aber hohen Gebäuden vorbei, manche nur zehn Schritte breit, jedoch vier Stockwerke hoch. Platz war Mangelware, wenn man auf einem Gebirgshang baute.
Während ich die opulente, von Menschenhand geschaffene Stadt betrachtete, gingen mir widerstreitende Gedanken durch den Kopf. Die Wölfin in mir empfand den riesigen, verschwenderischen Palast aus Stein mit seinen schimmernden Goldeinlagen als Hohn für unsere Art. Wir waren Tiere, die auf dem Erdboden schliefen, nicht auf Seidenlaken. Mein menschlicher Teil hingegen konnte den Wunsch danach verstehen. Immerhin verbrachten wir die halbe Zeit als Menschen, die solchen Luxus als angenehm empfanden.
Vor dem Haupteingang drängten sich die Zelte von Reisenden aus den entlegenen Städten und Dörfern. Den Schlitten hatten wir am Fuß des Bergs zurückgelassen und den restlichen Weg hinauf als achtköpfige Gesandtschaft des Mud-Flat-Rudels zu Fuß bewältigt.
Einige Wölfe kamen aus den Zelten, um sich ein Urteil über die Neuankömmlinge zu bilden. Ich hielt den Blickduellen mit ihnen stand, um von Anfang an zu verdeutlichen, mit wem sie es zu tun hatten.
Unterwürfige schauten rasch weg, Dominantere begegneten meinem Blick länger.
Der Geruch von Lagerfeuern und gebratenem Fleisch stieg mir in die Nase und brachte meinen Magen erneut zum Knurren.
Cyrus wandte sich an die anderen Vertreter unseres Rudels. »Sucht einen Platz für unser Zelt und schlagt ein Lager auf. Ich muss Zara drinnen registrieren.«
Sie nickten. Eine der dominanteren Frauen, Sasha, streckte die Hand aus und drückte meine Schulter. »Mach uns stolz«, sagte sie in ernstem Ton zu mir.
Ich nickte und versuchte, mir ihre Worte nicht unter die Haut gehen zu lassen. Das Mud-Flat-Rudel bei den Königinnenspielen zu vertreten, stellte eine bedeutende Ehre dar.
Manch einer würde sagen, wir gehörten am wenigsten in einen Palast. Wir lebten mit dem Land, ganz ohne fließendes Wasser und Toiletten, wie es sie in der Stadt und anderen größeren Ortschaften gab. Wir kauften unsere Nahrung nicht an Marktständen, sondern jagten sie. Allein deshalb war ich mir sicher, einen solchen Wettbewerb gewinnen zu können. Mich hatte das Leben abgehärtet, zudem kämpfte ich tagtäglich darum, meinen Platz an dritter Stelle in einem großen Rudel zu behaupten.
Während Cyrus und ich uns zwischen den Zelten auf dem weitläufigen Palastrasen hindurchschlängelten, glotzten die Leute mich an und zeigten mit dem Finger auf mich. Einige hielten sogar Karten in den Händen und markierten etwas darauf.
Als wir nah genug an einer Gruppe vorbeigingen, spähte ich auf die Papiere, und mein Magen krampfte sich zusammen.
Wettkarten. Die Leute setzten darauf, wer zuerst sterben würde. Und ein flüchtiger Blick ließ mich schätzungsweise zwei Dutzend Namen erspähen.
Cyrus gab einen scharfen Laut von sich. Ich richtete die Aufmerksamkeit auf seine Hände, als er mit den Fingern zu sprechen begann.
Bist du nervös, weil du den König sehen wirst? Mein Bruder benutzte die Gebärdensprache, damit uns andere in der Nähe nicht verstehen konnten. Eines der Kinder unseres Rudels war gehörlos zur Welt gekommen. Ausgesprochen selten bei einem Wolf, doch Tig konnte nicht mal den Wind rauschen hören. Wir hatten diese Sprache beim Mud-Flat-Rudel erfunden, um uns mit ihm zu verständigen. Aber sie erwies sich auch bei Festen und sonstigen Veranstaltungen als nützlich, wenn wir nicht wollten, dass Vertreter anderer Rudel uns mit ihren empfindlichen Ohren belauschten. In Wolfsgestalt konnten wir Gedanken austauschen, als Menschen jedoch war das Gebärden eine großartige Möglichkeit, wenn wir nicht frei sprechen konnten.
Nein. Warum auch? Wir waren Kinder, als ich ihn zuletzt gesehen habe. Es war bloß eine dumme Schwärmerei. Nachdem ich es mit raschen Fingerbewegungen übermittelt hatte, bedachte mein Bruder mich mit einem Blick, der besagte: Ich glaube dir nicht. Und wenn ich ehrlich sein wollte, war ich selbst nicht wirklich überzeugt davon.
Lass es dir einfach nicht anmerken. Du darfst keine Schwäche zeigen, die andere Teilnehmerinnen ausnutzen könnten, bedeutete er mir mit den Händen.
Zwar nickte ich dazu knapp, aber seine Worte trafen mich hart.
Es würde mich bestimmt nicht beeinträchtigen, Axil Moon zu sehen ... Oder doch?
***
Schloss Royal Moon entsprach ganz dem, was ich mir unter einem Palast vorstellte. Haufenweise Diener, Strom, kunstvolle Wandteppiche und mehr Essen, als ich je im Leben gesehen hatte. Cyrus und ich hatten uns gerade bei den königlichen Wolfsberatern gemeldet, die uns ermahnten, uns bei den Königinnenspielen an die Regeln zu halten.
»Viel Vergnügen heute Abend. Morgen früh beginnen die ersten Wettbewerbe«, teilte uns einer der Berater mit.
Insgesamt handelte es sich um acht, die dem Königsstab angehörten. Man erkannte sie leicht an den rasierten Schädeln und den roten Roben ihres Stands. Axil mochte der Alphakönig sein, dennoch tat er nichts ohne den Zuspruch dieser Männer.
Ich nickte knapp. Der Berater warf einen Blick auf meine Kleidung. »Möchtest du in deine Unterkunft gebracht werden? Dann kannst du dich vor dem Abendessen umziehen.«
Cyrus ergriff das Wort, bevor ich es konnte. »Nein, wir möchten sofort essen. Wir haben einen weiten Weg hinter uns. Unsere Aufmachung stört nicht.«
Der Berater schaute drein, als wäre er geohrfeigt worden, und ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Die psychologische Kriegsführung hatte begonnen. Cyrus war ganz in seinem Element.
»Natürlich.« Der Mann in der roten Robe deutete auf eine offene Doppeltür.
»Oh, das hätte ich fast vergessen. Hier ist deine Teilnahmenummer, Zara.« Der Mann reichte mir einen handgeschriebenen Zettel. Die Nummer eins stand groß und klobig darauf. Eine Nadel steckte darin.
Der Mann richtete den Blick auf meine Brust, als wollte er darauf hinweisen, dass ich die Nummer tragen sollte. Ich heftete sie mir an, und er nickte zufrieden.
Danach zu urteilen, wie viel Treiben in dem Raum herrschte, musste ich als eine der letzten Frauen eingetroffen sein. Dennoch hatte ich die Nummer eins erhalten. Interessant. Was hatte das zu bedeuten? Wurden wir nach unseren gemunkelten Fähigkeiten gereiht? Oder willkürlich? Die Mud Flats erhielten wenig Aufmerksamkeit. Und wenngleich ich die dominanteste Frau unseres Rudels war, bezweifelte ich, dass ich es auch an diesem Ort sein würde.
Um den Wettbewerb zu überleben, würde ich alles in die Waagschale werfen müssen, was mein Bruder mir beigebracht hatte.
Kaum waren wir eingetreten, wusste ich, wie gut es gewesen war, dass Cyrus auf meinem Kampf an diesem Morgen gegen unseren Alpha bestanden hatte. Und darauf, dass wir uns nicht umziehen würden.
Der Saal strotzte vor Frauen in hübschen, bodenlangen Seidenkleidern. Das Haar trugen sie in glänzenden Strähnen zusammengebunden. Auch ihre Trainer, ob männlich oder weiblich, traten protzig gekleidet auf.
Jeder einzelne Kopf drehte sich zu uns um, als wir eintraten. Über mindestens die Hälfte der Gesichter huschte ein Anflug von Angst. Die wirren Blicke wanderten über meine blutverkrustete Kleidung zu den gelblich verfärbten Blutergüssen in meinem Antlitz und an meinem Bauch, dann weiter zu meinem Bruder, der von der Reise ähnlich gezeichnet aussah.
Ohne ein einleitendes oder höfliches Wort marschierten wir zu einem langen Tisch, griffen uns Teller und beluden sie üppig mit Fleisch, Kartoffeln und Brötchen. Als ich mir außerdem ein paar Süßigkeiten nehmen wollte, klatschte mein Bruder mir auf die Hand.
Morgen kämpfst du. Keine Süßigkeiten, teilte er mir über Handzeichen mit.