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Nais erste Monate auf der Alpha Academy waren nicht gerade einfach: Ihr Schicksalsgefährte ist aus dem rivalisierenden Clan, Selkie-Angriffe halten die Schule in Atem, und sie entkommt nur knapp einem Mordanschlag. Eins ist klar: Das Leben auf Shifter Island ist schwieriger als gedacht. Als einer von Nais Freunden umgebracht wird, ist sie fest entschlossen, ihn zurückzuholen. Sie macht sich auf nach Dark Row, um Wächter der Seelen aufzusuchen. Aber die Reise ins Totenreich verläuft ganz anders als geplant. Nai entdeckt nicht nur ein riesiges Familiengeheimnis, sondern verliert auch beinahe ihren Seelengefährten. Dabei würde sie lieber sterben, als Rage seinem Schicksal zu überlassen ...
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Seitenzahl: 361
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Weitere Titel der Autorin
Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Danksagung
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 1
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 2
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 3
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 3,5
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 4
The Last Dragon King – Die Chroniken von Avalier 1
The Broken Elf King – Die Chroniken von Avalier 2
The Ruthless Fae King – Die Chroniken von Avalier 3
Shifter Island 1 – Die Akademie der Wölfe
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Michael Krug
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Midnight Lies (Shifter Island Book 2)«
Für die Originalausgabe:
Copyright ® 2020 by Leia Stone and Raye Wagner
Published by arrangement with Bookcase Literary Agency
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright ® 2025 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Textredaktion: Stephanie Röder, Remscheid
Umschlaggestaltung: Cigdem Bilge
Umschlagmotiv: © Neo Poetra/Shutterstock; Instaphics/Shutterstock; RV ART AND DESIGN/Shutterstock; Didik12/ Shutterstock;
MichalPrzybylski/Shutterstock; Pro-Stocks/Shutterstock; Media Guru/Shutterstock
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-7389-8
Sie finden uns im Internet unter one-verlag.de
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Der Mond hing groß und schwer am nächtlichen Himmel. Sein Licht tünchte alles in eine tödliche Blässe, als betrauerte sogar er den Tod des Midnight-Prinzen. Noble beförderte das Boot an den Steg, Justice und Rage banden uns daran fest. Im Gegensatz zu meiner früheren Reise zur Dark Row näherte sich uns niemand, als wir ausstiegen und den Weg zum belebten Markt antraten. In der Luft hingen durchdringend die Gerüche von Weihrauch, Hefebroten, Kardamom, Zimt und gebratenen Steaks.
Zumindest hoffte ich, dass es sich um Steaks handelte. Wenn man bedachte, was sich an diesem Ort alles an Verbotenem abspielte, konnte der Geruch jeder Art von Fleisch entstammen. Bei dem Gedanken krampfte sich mein Magen zusammen, und ich schauderte, als der Wind zulegte. Nichts erhöhte den Gruselfaktor wirkungsvoller als ein eisiger Luftzug.
»Du weichst nicht von meiner Seite«, befahl Rage mit knurrendem Unterton und zog mich besitzergreifend enger an sich.
Ich wischte eine verirrte Träne weg und ließ mich von ihm führen, während wir dem von Fackeln erhellten Weg folgten. Schatten tanzten in Verbindung mit den Flammen, als sich eine Wolke vor den Mond schob und dessen Licht blockierte.
Der Anblick, wie sich Honor vor Schmerzen heulend gewunden hatte ... Das Gefühl, seinen verbrannten Wolf in den Armen gehalten zu haben ... Ich konnte nicht verhindern, dass die Eindrücke wieder und wieder in meinem Kopf abliefen.
Honor ist tot.
»Unfassbar, dass du dich noch einmal auf die Dunkelhexe einlassen willst«, brummte Rage. »Weder sie noch dieser Ort sind sicher.«
Ich straffte die Schultern und löste mich von ihm. »Schlimmer als die Alpha-Academy kann es im Augenblick wohl kaum sein. Außerdem ist es die einzige Möglichkeit, Honor zurückzuholen.«
Als er die Stirn runzelte, wusste ich, dass mein scharfer Ton einen Nerv getroffen hatte. War ich sauer auf Rage? Oder auf die Welt? Ich war zu müde und überwältigt, um meine Emotionen zu analysieren, also schleppte ich mich zähneknirschend weiter. Kein Zweifel bestand daran, dass ich zu 100,9 Prozent stinksauer auf den Alpha-König war.
Vor allem wollte ich Honor zurück.
»Ich will nur sichergehen, dass dir nichts passiert«, gab Rage in milderem Ton zurück. »Als dein Gefährte und Schild ist es meine Aufgabe, für dich zu sorgen und dich zu beschützen.«
Es trieb mir die Röte ins Gesicht, wie selbstverständlich er das G-Wort benutzte. Eine völlige Kehrtwende seines Verhaltens von vor zwei Tagen. Oder lag es erst einen Tag zurück? Wie dem auch sein mochte, ich schüttelte den Kopf und streckte abwehrend die Hand aus. »Ich bin dir gleichgestellt, Rage. Wenn du das nicht respektieren kannst ... wird unsere Bindung darunter leiden.«
Zähneknirschend verengte er die Augen zu Schlitzen. Ich brauchte unsere Gefährtenbande nicht, um zu erkennen, wie aufgebracht er war. Als ich mich näher zu Noble bewegte, um mich mit ihm zu unterhalten, streckte Rage die Hand aus und packte mich behutsam. Als ich ihn ansah, tänzelten orangefarbene Flammen in seinen Augen.
»Nai, du bist mir gleichgestellt. Und falls ich mich vorhin nicht klar ausgedrückt habe, ich bin wahnsinnig in dich verliebt. Das Letzte, was ich will, ist, dir wehzutun.«
Der Atem strömte hörbar aus mir, als mir Hitze in die Wangen stieg. Justice warf Noble ein wissendes Grinsen zu, doch Rage sah seine Brüder nicht mal an.
Stattdessen rückte mein Gefährte näher, um sich meine Aufmerksamkeit zu sichern.
»Alles, was ich tue, mache ich aus Liebe zu dir. Das weißt du, oder?«
Liebe. Wahnsinnig verliebt.
Wow.
Seine Worte schwirrten mir durch den Kopf, bis mir schwindlig wurde.
Wir blieben auf dem Markt stehen und versperrten die Hauptdurchgangsstraße. Die Leute murrten, als sie sich an uns vorbeischoben. Feindselige Blicke bohrten sich in uns, doch ich achtete nicht darauf. Nach Monaten der Unsicherheit und Anspannung brauchte ich das Gefühl, dass zwischen Rage und mir alles halbwegs in Ordnung war, bevor ich mich in unbekannte Gefahren wagen würde.
Vielleicht hatte ich ihn falsch verstanden. »Sag es noch mal.«
Ein Grinsen verzog seine Mundwinkel. »Ich liebe dich, Nai Crescent.«
Nach einem tiefen Luftzug grinste ich ebenfalls. Plötzlich fühlte sich mein Körper leicht und frei vor Freude an, wenn auch nur kurz. Er ergriff meine Hand und zog mich zu sich, bis ich mich an ihn schmiegte. Ein Kribbeln von ... Energie tänzelte über meine Haut, als er die Hand hob und auf meine Wange legte. Langsam senkte er den Kopf und ließ mir reichlich Zeit, mich ihm zu entziehen, bevor er den Mund zu einem Kuss auf meinen drückte.
Sanft und zärtlich, eher beruhigend als leidenschaftlich. Perfekt zur Betonung seiner Äußerung.
»Konzentrier dich gefälligst«, kam mit knurrendem Unterton von Justice, und Rage schwankte leicht vom Schulterrempler seines Bruders, mit dem er uns voneinander trennte. Abrupt riss ich die Augen auf. Aber die scharfe Erwiderung, die mir auf der Zunge lag, blieb mir beim Anblick des gequälten Ausdrucks in Justice’ Gesicht in der Kehle stecken. Rage schenkte mir ein zaghaftes Lächeln, das mir wie eine Entschuldigung für das Verhalten seines Bruders vorkam.
Rage und ich hatten noch einiges zu klären – zum Beispiel, wie man Vertrauen zueinander aufbaute, sich gegenseitig seine Gefühle mitteilte und einander nicht hinterging. Aber diese Unterhaltungen würden warten müssen. Honor zurückzuholen war dringender.
Mein Blick heftete sich auf Nobles hängenden Kopf. Ich entfernte mich von Rage und näherte mich meinem ersten Verbündeten unter den Tugendbrüdern.
»Wie kommst du zurecht?«, fragte ich ihn und hakte mich bei ihm ein.
Mit einem traurigen Lächeln tätschelte er sanft meine in seiner Armbeuge ruhende Hand. »Ich kann nicht fassen, dass Honor« – seine Stimme wurde brüchig – »tot ist.«
Seine Worte trafen mich wie ein Faustschlag in den Magen, und ich nickte. »Ich weiß. Aber wir holen ihn zurück.«
»Hoffentlich«, erwiderte er ohne Überzeugung in der Stimme.
Herrje. Was konnte ich noch tun?
Ich nickte ihm knapp zu, bevor ich die Schritte beschleunigte und ein wenig Abstand zwischen die Midnight-Prinzen und mich brachte. Das Gewicht der bevorstehenden Aufgabe lastete schwer auf meinen Schultern. Es war meine Idee gewesen, Honor zurückzuholen. Ich hatte die anderen an diesen Ort geführt ...
Heilige Mutter Magierin, bitte lass es mich schaffen.
Ich könnte die Enttäuschung der Brüder nicht ertragen, wenn ich sie in die Irre geführt hätte.
Keine zwei Schritte weiter zog Justice an mir vorbei und übernahm die Führung. Seufzend folgte ich ihm tiefer in die Dark Row.
Trotz der späten Stunde verstopften Leute die Wege und gingen unverhohlen ihrem verbotenen Treiben nach. Je näher wir Madame Surlamas Zelt kamen, desto mehr krampfte sich mein Magen zusammen. Ungeachtet meiner impulsiven Verlautbarung bei der Flucht von der Alpha-Insel hatte ich keine Ahnung, ob es funktionieren würde.
»Also, wie sieht der Plan aus?«, fragte Rage, der wieder an meiner Seite auftauchte. »Glaubst du wirklich, diese Dunkelmagierin kann uns ins Reich der Toten schaffen?«
»Als wir vergangenen Monat hier waren, hat Madame Surlama mit ihrer Verbindung zum Wächter der Seelen geprahlt. Wenn es jemand kann, dann ...«
»Madame Surlama ist bösartig«, fiel Rage mir mit knurrendem Unterton und giftiger Stimme ins Wort. Sein Blick heftete sich auf Justice’ Rücken, an dessen Armen sich schwarzes Fell abzeichnete. Offensichtlich war der jüngere Bruder mehr als wütend. »Du willst, dass wir uns damit an Surlama wenden? Wer weiß, welchen Preis sie verlangt ...«
»Hey, Wolfjunge!«, rief eine spärlich bekleidete Magierin spöttisch aus der Menge. Sie wackelte einladend mit den Brüsten. »Komm mit, und ich sorge dafür, dass die finstere Miene aus deinem Gesicht ver ...«
Justice entfesselte einen Feuerball auf sie und knurrte, als sie dem Geschoss lachend auswich.
Obwohl er die Stimme senkte, erreichten mich seine nächsten Worte. »Magier der Dark Row sind allesamt Lügner und Diebe.« Fell breitete sich über seinen Nacken aus. Gleichzeitig knackten seine Knochen. Zwei Männer in Justice’ Nähe lösten sich von der Menge und schienen vor ihm und seiner nahenden Wolfsgestalt die Flucht zu ergreifen.
Noble zischte von hinten eine Warnung. »Wenn du dich verwandelst und Aufsehen verursachst, erfährt Declan, wo wir sind, und schickt Wächter los, um uns zu holen. Reiß dich zusammen, Justice.«
Sein Bruder klappte hörbar den Mund zu, und sein Körper erzitterte vor Anstrengung, als er versuchte, seinen Wolf zu bändigen. Ganz gleich, welche Frustration und Schuldgefühle mich wegen Honors Tod plagten, seine Brüder kämpften mit ihren eigenen Dämonen.
Noble presste eine weitere Warnung an seinen Bruder hervor.
»Hast du eine andere Idee?«, fragte ich Rage und achtete nicht länger auf das Hin und Her zwischen den anderen beiden.
Justice verlangsamte die Schritte, als er sich dem weißen Seidenzelt näherte, und wir alle blieben davor stehen. Als er sich zu uns umdrehte, sah er blass aus, und seine Augen wirkten untertassengroß. Noble erbleichte, verlor jedoch kein Wort, als er sich unserer Gruppe anschloss.
Rage musterte seine Brüder, ehe er den Blick der smaragdgrünen Augen auf mich richtete. »Nein.« Er holte tief Luft, bevor er hinzufügte: »Trotzdem gefällt mir die Sache nicht. Diese Frau ist wie ein bösartiger Hai.«
»Kannst du laut sagen«, räumte ich mit einem Schnauben ein. »Ich traue ihr ja auch nicht. Aber da niemand sonst einen Alternativplan ausspuckt ... bleibt uns nichts anderes übrig. Wir müssen es versuchen. Immerhin reden wir hier von Honor.«
Damit drehte ich mich dem Zelt zu und hob die Hände. Rage packte sie und drückte sie fest.
»Bevor wir das tun ...«, stieß er leise und hastig hervor. »Bitte ...« Er schluckte schwer. »Bitte sei vorsichtig. Lass mich das Opfer bringen, das sie verlangt, ganz gleich, was es ist. Lass mich dir zeigen, wie viel mir daran liegt. Lass mich versuchen ...«
Mein Herz schmolz ein wenig. Eigentlich sehr. Mit einem großen Schritt drückte ich die Lippen zu einem kurzen keuschen Kuss auf seine, bevor ich ihm ein verhaltenes Lächeln schenkte. »Okay.«
Ich konnte nur hoffen, dass die Frau nicht um eine Niere verhandeln würde. Aber Moment – brauchte man zum Überleben nicht nur eine Niere? Ich war zu 62,4 Prozent davon überzeugt. Obwohl ich mich für Honors Tod verantwortlich fühlte, würde ich Rage daher dieses Opfer nicht verweigern, um seinen Bruder zu retten. Es war für Rage als erster Alpha-Erbe des Midnight-Rudels zugleich Recht und Pflicht.
An meine Ohren drang das Rascheln von Stoff, gefolgt von einem tiefen, kehligen Kichern.
»Dachte ich mir doch, dass ich Alpha-Erben wittere«, sagte Madame Surlama. Ihre Augen leuchteten, als ihr Blick von Justice zu mir wanderte. »Eine Woche zu früh. Das ist eine Premiere.«
Bevor ich etwas sagen konnte, wirbelte Rage herum, schob mich hinter sich und zog sein Schwert.
»Surlama«, stieß er knurrend hervor. »Nicht zu fassen, dass du noch lebst.«
Kannte er sie etwa?
»Welche Tugend bist du?«, fragte sie Rage und schnupperte. »Hm, du bist eindeutig einer der Stärkeren.«
Aha. Die Bekanntschaft beruhte wohl nicht auf Gegenseitigkeit, aber sie hatte offensichtlich schon von den vier Midnight-Erben gehört.
»Kannst du uns ins Reich der toten Seelen bringen?«, fragte er. Dabei strahlte er spürbar Wut und mühsam gebändigte Gewalt aus. »Oder war das bloß eine deiner Lügen?«
Oha. Mein Gefährte nahm kein Blatt vor den Mund.
Sie bleckte die Zähne zu einem verächtlichen Grinsen. »Pass auf, wen du hier einen Lügner nennst, Wolf.«
Ich trat einen Schritt zur Seite und starrte die wunderschöne Dunkelmagierin finster an. »Madame Surlama ...«
Ihre Augen leuchteten auf, und sie säuselte: »Jungfrau.« Echt jetzt? Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken.
»Wenn du willst, dass dein Kopf auf dem Hals bleibt, rate ich dir, sie mit ihrem Namen anzureden«, warnte Rage und richtete die Schwertspitze auf ihre Kehle.
Surlama schob die Waffe weg. Dann beugte sie sich vor und flüsterte: »Wenn du nicht willst, dass deine Gefährtin eine Jungfrau ist, rate ich dir, etwas dagegen zu unternehmen.«
Oh ... du ... lieber ... Magier ...
Mir entrang sich ein nervöses Lachen.
»Kannst du uns jetzt ins Reich der Toten bringen oder nicht?«, bemühte ich mich, das Gespräch von Sex zwischen Rage und mir wegzulenken.
Sie seufzte. »Für einen Preis.«
»Nenn ihn«, verlangte Rage. »Und halt dir dabei vor Augen, dass du den ersten Prinzen der Alpha-Insel vor dir hast. Ich lasse mich nicht dazu übertölpeln, dir ein monatliches Blutopfer zuzusagen.«
Justice und ich ließen den Kopf hängen. Bei Verhandlungen stellten wir beide uns eindeutig nicht gut an.
Surlama wirkte fasziniert bei der Erwähnung seiner Abstammung, bevor sie das lange rote Haar über die Schulter zurückwarf. »Kommt rein, Alpha-Erben. Über solche Dinge spricht man besser nicht draußen vor so großem Publikum.«
Damit verschwand sie hinter dem Vorhang. Rage setzte dazu an, ihr zu folgen, aber ich drängte mich vor ihn und ging voraus. Leider kannte ich mich in dem Zelt besser aus als er. An der Gabelung darin bog ich nach links ab und folgte dem Gang zu dem offenen Bereich mit dem Steintisch, auf dem Kaja gelegen hatte. Man erkannte darauf ein wenig getrocknetes Blut. Unwillkürlich fragte ich mich, ob es von ihr stammte. Ein Luftzug hob Surlamas rotes Haar von den Schultern, als sie in den Garten rechts des Raums verschwand, und ich folgte ihr hinaus. Die Jungen trotteten hinter mir her.
Die Dunkelmagierin stand vor einem von Ranken überzogenen Spalier. Rosa und weiße Blüten hingen von den Pflanzen. »Werft eure Waffen in den Korb. An meinem Altar gestatte ich keine.« Sie deutete auf einen kleinen Weidenkorb an der Ecke des Bereichs. Widerwillig und beklommen zogen wir alle die Schwerter und warfen sie hinein.
Surlama hielt einen Dolch in der Hand, womit sie selbst gegen die Regel verstieß. Sie fuhr mit einem Finger über die Schneide.
»Den kannst du wegstecken. Kein Blut, habe ich gesagt«, brummte Rage hinter mir.
Sie verdrehte die Augen. »Zunächst mal, wo ist der Leichnam?« Ihr Blick fiel auf die Leere hinter Justice und Noble. »Wie stellt ihr euch vor, dass ich einen Toten ohne Leiche wiedererwecken soll?«
Mein Mut sank, während ich ihre Worte verarbeitete. »Na ja, ich hab gehofft ...«
»Dass er einfach aus einem Portal zum Reich der Toten kommen und wie neu sein würde?« Schnaubend schüttelte sie den Kopf. »Sei nicht so naiv.«
Rage knurrte tief in der Kehle und trat näher zu mir. Noble hingegen bewegte sich mit flehend ausgestreckten Armen auf die Hexe zu.
»Sag uns, was du darüber weißt, wie man jemanden von den Toten zurückholt. Bitte.« Seine Stimme wurde brüchig, als er hinzufügte: »Er war unser Bruder.«
Nobles Flehen schien etwas in Surlama zu berühren. Sie seufzte. »Nach dem Übergang hat man zweiundsiebzig Stunden.«
Prompt fingerte Rage an seiner Armbanduhr, und ich fragte mich, wie viel Zeit vergangen sein mochte. Sicher höchstens eine Stunde.
»Man braucht einen Körper, in den die Seele einziehen kann«, fuhr sie fort. »Sonst bleibt sie hier als Geist gefangen und durchstreift für immer diese Welt.«
Herrje, das wollte ich nicht.
»Sein Körper ist ...« Meine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an.
»Verbrannt. Das ist keine Option«, teilte Justice ihr mit.
Er stand mit den Fäusten an den Seiten da. Seine Nasenflügel blähten sich bei jedem Atemzug. Er wirkte mehr als nur ein wenig neben der Spur.
Sie schüttelte den Kopf. »Dann brauchen wir einen anderen Leichnam. Jemanden, der vor höchstens drei Tagen gestorben ist.«
Rage schnaubte. »Du willst, dass wir die Seele unseres Bruders in irgendeinen Körper stecken?«
Surlama zuckte mit den Schultern. »Ich will, dass ihr euch nach Hause verzieht und mich nie wieder belästigt. Aber das werde ich ja offensichtlich nicht kriegen.«
»Ich finde einen Körper«, meldete sich Justice mit rauer Stimme zu Wort. »Du bringst Nai und Noble ins Reich der Toten und suchst Honor.«
Surlama lachte. »Wie drollig. Glaubst du, ich kann drei Lebende dorthin befördern? Unmöglich. Nur Nai.«
Mit sehr langsamen Bewegungen schob Rage sowohl Noble als auch mich beiseite und näherte sich Surlama. Dabei lieferten sich die beiden ein episches Blickduell. Spannung knisterte in der Luft. Abrupt spross lückenhaft Fell an seinem Nacken. Als er mit den Zähnen knirschte, traten die Muskeln am Hals straff angespannt hervor. »Wieso bist du so besessen von meiner Gefährtin?«
Surlama besaß zumindest den Anstand, verängstigt zu wirken, wenn auch nur einen Herzschlag lang. Dann verschwand der Ausdruck aus ihren Augen und wurde von Kälte abgelöst.
»Deine Gefährtin ist mächtiger als ihr drei zusammen. Nur sie kann dieses Reich betreten und mit eurem gefallenen Bruder zurückkehren.«
»Du lügst.« Rage knurrte. »Das sehe ich dir an den Augen an. Und ich kann es riechen. Was verheimlichst du?« Verdammt. Er zeigte keinerlei Scheu, ihre Verschlagenheit offen anzusprechen.
Wieder huschte Furcht über ihre Züge, bevor sie die Augen berechnend zu Schlitzen verengte. Sie streckte die Hand aus, streichelte mit einem Finger über Rages Brust und säuselte: »Das soll nicht heißen, dass du nicht mächtig bist.«
Meine Sicht verschwamm, als mich lodernde Eifersucht durchzuckte.
»Nenn uns endlich deinen Preis, Hexe«, stieß ich zornig hervor. »Spiel nicht mit uns.«
Sie als Hexe zu bezeichnen, mochte krass und respektlos sein. Aber wenn sie die Hände nicht von meinem Mann ließ, würde ich sie ihr abreißen, und wie stünden wir dann da? Wir brauchten sie.
Surlama zog den Finger von Rage zurück und sah ihm mit gierigem Blick in die Augen. »Ich will dein Blut, erster Prinz.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Sonst lasse ich mich nicht darauf ein.«
»Oh, das wirst du.« Rage ließ ein düsteres Lachen vernehmen und verzog die Lippen. »Sonst reiße ich dir den verdammten Kopf ab.« Dann lächelte er, und seine Eckzähne verlängerten sich, Vorboten drohender Gewalt. »Mein Blut bekommst du nur über meine Leiche.«
Wow. Ja, auch so konnte man verhandeln. Sowohl meine Wölfin als auch ich starrten Rage anerkennend an. Uns gefiel das Selbstvertrauen, mit dem er einer Dunkelmagierin androhte, sie zu enthaupten.
Surlamas Blick wurde zwar schärfer, doch in ihren Augen erkannte ich Respekt. »Was schlägst du dann vor?«
»Ich bin der künftige König aller Wölfe, die es gibt. Wenn du es tust, schulde ich dir einen Gefallen.«
Ihre Augen leuchteten auf. Langsam breitete sich ein Lächeln in ihrem wunderschönen Gesicht aus. Ein Gefallen vom zukünftigen Alpha-König stellte einen verlockenden Köder dar.
»Einen Gefallen meiner Wahl?«, hakte sie nach und legte den Kopf schief.
Rage nickte. »Solange es zumutbar ist. Ich werde niemanden in deinem Namen umbringen oder verletzen.«
»Abgemacht.« Mit einem verruchten Schimmer in den Augen grinste sie.
Wow. Das war kurz und relativ schmerzlos gegangen – zumindest für meine Verhältnisse. Meiner Schätzung nach würde Rage zu 74,9 Prozent nicht gefallen, was Surlama fordern würde. Aber mit dem Problem könnten wir uns später auseinandersetzen. Vorerst mussten wir zu Honor. »Also wie ...«
Plötzlich drang ein tiefes Geheul durch die Nacht und schnitt meine Frage ab. Gleich darauf folgten ein zweites und drittes.
Rage zuckte zusammen. »Mein Onkel und unser Rudel. Sie sind gekommen ...«
»Der Preis hat sich gerade verdoppelt«, murmelte Surlama und rieb sich kräftig die Hände, bis ihre Handflächen ein hässlich-grünes Licht abstrahlten.
»Zwei Gefallen?« Wieder knurrte Rage. Seine Aufmerksamkeit schnellte erst zu Justice, dann zu Noble.
Ich folgte seinem Blick und stellte fest, dass beide Brüder erbleichten. Noble verzog zudem das Gesicht.
Die hinterhältige Magierin nickte. »Und einen löse ich jetzt ein. Als ersten Gefallen will ich, dass meine Schwester Kalama aus der lebenslangen Knechtschaft unter der Krone entlassen wird.«
Um ein Haar hätte ich mich am eigenen Speichel verschluckt. »Kalama ist deine Schwester?«
Rage saugte tief die Luft ein, schwieg jedoch.
Surlama verlangsamte die Hände, und das grünliche Licht verblasste. Wieder erhob sich Geheul, diesmal näher. Die Dunkelmagierin beugte sich vor und fragte: »Haben wir eine Abmachung?«
Oh, hallo Zwickmühle. In jenem Moment hätte ich nicht in Rages Haut stecken wollen.
»Na schön«, stieß er widerwillig hervor. »Nur bring uns endlich ins Reich der Toten!«
Dunkle Schemen tänzelten in Surlamas Gesicht unter der Haut, als sie den Kopf schüttelte. »Ich habe es schon gesagt. Nur die Frau kann gehen.«
Wieder schaute Rage zu Noble und Justice. Beide nickten ihm zu. Konnten sie sich telepathisch verständigen? Hatte sich Rage gerade mit ihnen ausgetauscht?
»Nai?« Rage bückte sich, um mir in die Augen zu sehen.
Ich schluckte schwer, nickte aber. »Passt schon. Ich schaffe das.«
Vielleicht. Hoffentlich. Tatsächlich sah ich die Chancen bei 50/50, doch im Augenblick musste ein halb volles Glas reichen.
»In Ordnung«, wandte er sich an Surlama. »Wir haben eine Abmachung.«
Oha. Ich hatte gedacht, er würde vehementer verlangen, mich zu begleiten. Rasch verdrängte ich den Gedanken und drehte mich Surlama zu. Honor war tot. Jede Minute zählte.
Ihre Handflächen leuchteten wieder grün auf. Sie schaute auf und zum Eingang, als die gespenstische Erscheinung eines alten Mannes den Garten betrat. Mit einem erschrockenen Laut sprang ich zurück und stieß gegen Rage.
»Genau zur rechten Zeit«, säuselte Surlama.
Ich murmelte eine Entschuldigung zu meinem Gefährten, der mich anstarrte, als wäre ich verrückt.
Rage stützte mich an den Armen. »Was ist?«
»Äh ... da ist ein ... ein Geist.« Mit zittriger Hand zeigte ich hin. Mit ziemlicher Sicherheit wussten die Brüder nicht, was meine neuen »Geschenke« beinhalteten.
»Hier drüben.« Surlama gab dem gespenstischen Mann ein Zeichen, und er schwebte auf sie zu.
»Du kannst ihn auch sehen?«, fragte ich die Dunkelmagierin. »Beherrschst du Geistermagie?«
»Ich sehe alles Mögliche zwischen den Welten«, erwiderte sie kryptisch. Sie holte den Dolch wieder hervor und streckte die Hand nach mir aus. »Jetzt brauche ich dein Blut. Nur einen Tropfen.«
»Nein«, kam knurrend von Rage.
Ich deutete zu den Räumen im Zelt. »Du hast da drin schon jede Menge. Benutz etwas davon.«
Sie schüttelte den Kopf. »Frisch und aus freien Stücken gegeben ist es mächtiger.«
Der Geist begann zu zittern. Sein gesamter Körper bebte.
»Wenn du zögerst, verlieren wir die Chance, ein Portal zu öffnen!«, rief Surlama. »Gib mir deine Hand!«
Verdammt.
Ich streckte ihr den Zeigefinger hin. »Na schön. Nur bring mich zu Honor.«
Sie ergriff den Finger, stach hinein, drückte einen einzigen Tropfen Blut auf die Messerspitze heraus und ließ meine Hand wieder los.
Ich wickelte den Finger in den Zipfel meines schmutzigen Shirts, damit kein Blut auf Surlamas Boden tropfte. Auf keinen Fall wollte ich ihr noch mehr geben, das sie später benutzen konnte.
Wieder erklang Geheul. Diesmal schien es direkt aus ihrer Zeltbehausung zu stammen.
»Beeilung«, herrschte ich sie an.
Sie verengte die Augen zu Schlitzen. »Bereit?«
»Wir besorgen Honor einen Körper«, sagte Justice zu mir. »Mach dir keine Sorgen.«
Ich nickte. Emotionen schnürten mir die Kehle zu.
»Pass auf dich auf.« Rage trat näher. Ich spürte die Wärme seines Körpers am Rücken. Surlama stieß ein Schwert in die Brust des Geists, und sein Schrei erschütterte den Gartenbereich so schrill, dass ich mir die Ohren zuhielt. Was um alles in der Welt sollte das denn? Als ich den Mund öffnete, um die Frage laut zu stellen, schimmerten die Ranken des Spaliers hinter Surlama mit einem goldenen Licht.
»Wappne dich«, forderte sie mich auf.
Ich zuckte zusammen. Was sollte ich tun? Wie würde das Reich der Toten sein? Wo sollte ich Honor dort finden? Und ... Mist! Ich wandte mich an Surlama. »Wie komme ich zurück, wenn ich Honor gefunden habe?«
Ein Portal in eine andere Welt tat sich auf – sattgrüne Bäume mit türkisfarbenen Blüten, Blumen in kräftigen Farben, so weit das Auge reichte, und bunt schillernde Vögel an einem hell lavendelfarbenen Himmel. Mit offenem Mund starrte ich hin und bewegte mich auf die wunderschöne Umgebung zu.
»Ich lasse dich holen«, antwortete Surlama.
Ihre Stimme zog mich zurück. Als ich über die Schulter zurückschaute, huschte über ihr Gesicht ein wilder Ausdruck, dem ich kein Stück traute. Bevor ich weitere Antworten verlangen konnte, trat der Geist durch das Portal, und ich spürte ein jähes Ziehen am Nabel ... als wäre ich an die Erscheinung gebunden.
Was zum ...
Mein Blut. Hatte sie mich tatsächlich an den Geist gebunden?
Vermaledeiter Magierrat!
»Beeil dich besser, es schließt sich bereits«, zischte Surlama, als die Ränder des Portals zu schrumpfen begannen.
Ich wirbelte für einen letzten Blick zu Rage herum, wollte ihm sagen, ich würde Honor finden und bald zurück sein. Aber er kam wild angestürmt, prallte mit mir zusammen, schlang die Arme um mich und beförderte uns beide durch die Öffnung ins Reich der Toten.
Surlama schrie gellend auf, doch der Laut wurde gekappt, als sich das Portal abrupt schloss.
Rages Wucht beförderte mich durch das Portal, und ich stolperte, aber mein Gefährte stützte mich und hielt mich auf den Beinen.
»Nai.« Seine Hände drückten gegen meinen Rücken, sein Atem streifte über mich hinweg.
Ich sog scharf die Luft ein. Gleich darauf erzitterten meine Beine, und sie strömte abrupt wieder aus mir. Das Gefühl der Bindung an den Geist verpuffte, und die Erscheinung flog über sanfte Hügel in Richtung eines entfernten weißen Palasts davon.
»Rage!«, stieß ich hervor und schaute entsetzt zu meinem Gefährten auf.
Obwohl er schwer atmete, begegnete er meinem Blick mit einem Grinsen. »Du hast doch nicht wirklich gedacht, ich würde dich allein gehen lassen, oder?«
Sein schwarzes Haar war zerzaust, und von der Halbjahresprüfung hatte er noch Ruß im Gesicht. In seinen grünen Augen funkelten Emotionen, während er auf mich herabsah.
»Unser erstes Date. In der Unterwelt. Wie ... romantisch.« Obwohl ich sarkastisch eine Augenbraue hochzog, konnte ich mir ein erleichtertes Lächeln nicht ganz verkneifen. Das Reich der Toten war kein Ort, den ich gern allein aufsuchen wollte.
Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn, bevor er mich losließ. »Für dich nur das Beste.«
»Ha-ha.« Ich wischte mir die verschwitzten Handflächen an der Hose ab, bevor ich mich in dem wunderschönen Land umsah. Je länger ich es tat, desto überraschter war ich. Alles wirkte ... bezaubernd. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber das nicht. Als wären wir in einen besonders schönen Obstgarten getaumelt. Silbrige Früchte, die ich nicht erkannte, hingen an den Ästen der nahen Bäume mit so kraftstrotzend neongrünen Blättern, dass man den Eindruck hatte, sie könnten nicht echt sein. Ich bewegte mich die Reihe entlang und ließ die Fingerspitzen über die goldene Rinde streichen.
»Vielleicht sollten wir zu dem Palast da«, meinte Rage und zeigte auf das Bauwerk aus Stein auf einem hohen Hügel mit Blick auf das Tal, in dem wir uns befanden. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn und zuckte bei jedem Schritt leicht zusammen.
»Alles in Ordnung?« Ich eilte zu ihm zurück. »Bist du verletzt?«
»Du hättest nicht herkommen sollen«, ertönte hinter mir eine vertraute männliche Stimme. Mit einem spitzen Aufschrei wirbelte ich herum. »Ich habe dir gesagt, du sollst in der Welt der Sterblichen auf mich warten.«
»Heilige Mutter Magierin. Was machen Sie hier?« Ich schnappte nach Luft und drückte mir die Hand auf die Brust, aus der mein rasendes Herz zu entkommen drohte. Der freundliche alte Hochmagier mit den silbrigen Gewändern, der mir wiederholt geholfen hatte, stand als Geistererscheinung unmittelbar vor mir. Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Sind Sie tot?«
»Nein, ich bin nicht tot«, entgegnete er und trat näher auf mich zu. Er schmunzelte, als fände er die Vorstellung belustigend, bevor er hinzufügte: »Zumindest noch nicht.«
O-kaaay.
»Ich glaube, wir sind einander nie offiziell vorgestellt worden. Dafür muss ich mich entschuldigen.« Er bedachte mich mit einem verkniffenen Lächeln. »Ich bin Geoff Drudner der Fünfte, Magiermeister des Geistelements. Ich kann zwischen beiden Welten wandeln ... genau wie du.«
Auf ... keinen ... Fall.
Zunächst mal passte der Name Geoff Drudner der Fünfte zu ihm. Ein ausgefallener Name zu seinem ausgefallenen Titel, Magiermeister des Geistelements. Und zweitens konnte ich ... Wie bitte?
Mit offenem Mund glotzte ich ihn an.
»Du hättest nicht in deiner lebendigen Gestalt herkommen müssen«, fuhr er fort und runzelte dabei die Stirn. »Die Dunkelmagierin hat dich über den Tisch gezogen.«
»Was?« Ich schnappte nach Luft. Diese verlauste Surlama! Woher wusste er überhaupt, dass wir mit der Dunkelmagierin zusammenarbeiteten?
Rage knurrte, bevor er sich die Seite hielt. Ich trat näher zu ihm und legte den Arm um seine Taille.
»Was ist?«, fragte ich.
»Keine Ahnung. Mir tut alles weh, und mir ist schwindlig«, antwortete Rage.
Mist.
Ich richtete die Aufmerksamkeit wieder auf den Magiermeister des Geistelements. »Was stimmt nicht mit ihm?«
»Ich fürchte, ihm fehlt die Macht über den Geist, und wir sind hier im Reich der Toten. Ohne Magie, die Leib und Seele zusammenhält, wird sein Körper zerfallen, und seine Seele wird auf ewig hier festsitzen.«
Was?
Nein, nein, nein!
Ich schüttelte den Kopf. »Aber Madame Surlama hat gesagt, sie würde mir helfen, diesen Ort zu verlassen. Sie hat gemeint ...«
»Die Frau ist eine Lügnerin und Betrügerin!«, fiel er mir so lautstark ins Wort, dass ich zusammenzuckte. »Sie hat dich hier in eine Falle gelockt. Jetzt euch alle beide. Sie kann dich nicht rausholen – diese Fähigkeit hat sie nie besessen.«
Verdammt. Deshalb ihr wilder Blick. Vormerken – nie wieder Surlama vertrauen.
Zeit, sich demütig zu geben. »Können Sie uns helfen?«
Bitte sag, dass du darum hier bist. Dass meinem Gefährten die Seele aus dem zerfallenden Körper gerissen werden sollte, hörte sich nämlich nach keinem vielversprechenden ersten Date an.
Er schürzte die Lippen, bevor er nickte. »Wenn ihr genau das tut, was ich sage, könnt ihr beide lebend davonkommen, aber ihr müsst euch beeilen.«
Alles klar. Also musste ich so schnell wie möglich Honor finden und Rage wegschaffen.
Gar kein Druck.
»Wie lange haben wir, bevor Rage ...« Ich brachte es nicht über mich, das Wort zerfällt auszusprechen, geschweige denn stirbt, aber ich brauchte einen zeitlichen Rahmen, mit dem ich arbeiten konnte.
»Das weiß ich nicht. Wäre er ein Mensch, dann wäre er bereits tot. Ich bin noch nie mit einem Alpha-Erben hier gewesen. Eine Stunde? Vielleicht zwei. Höchstens.« Er runzelte die Stirn und schnippte mit den Fingern in Rages Richtung. »Der Körper deines Gefährten wird bereits schwächer.«
Eine Stunde!
Mein Magen krampfte sich zusammen, als ich zähneknirschend Rages Schulter drückte. Ich konnte es schaffen. »Und was ist mit Honor? Wir sind hergekommen, um ihn zurückzuholen.«
Unbehagen huschte über die Züge des alten Mannes. »Manchmal belässt man Tote besser dort, wo sie sind.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht diesen.«
»Was du vorhast, ist nahezu unmöglich. Und falls es dir doch gelingt, dann nur unter großen Opfern.«
»Honor gehört zur Familie. Er ist der Bruder meines Gefährten. Und was mit ihm passiert ist ...« Mein Körper erzitterte, als ich an die schreckliche Szene bei der Halbjahresprüfung zurückdachte. Honor in Flammen. Die Hochmagier, die etwas von einem »Schwerverbrechen« brüllten. Es war so ziemlich der grauenvollste Moment meines Lebens gewesen.
Was lag diesem alten Kerl überhaupt an mir? Und woher wusste er, dass ich wie er zwischen Welten wandeln konnte? Es sei denn ...
»Woher wissen Sie, dass ich diese Gabe des Geistelements habe?«, fragte ich.
Er schluckte schwer und streckte kapitulierend die Hände aus. »Zuerst war ich zu betroffen von ihrem Tod, dann zu ängstlich, um zu hoffen. Ich habe mir gesagt, ich könnte mir nicht völlig sicher sein, obwohl du genau wie sie aussiehst ...«
Seine kryptischen Worte verwirrten mich, und ich runzelte die Stirn. Sollte das heißen ... er hatte meine Mutter gekannt?
»Als ich herausgefunden hatte, dass du den Tod deiner Mutter überlebt hast, habe ich beschlossen, deine Ausbildung zu beschleunigen. Ich hätte es dir früher sagen sollen.«
»Wovon reden ... – Moment. Sie haben die gefälschte Ladung geschickt?« Meine Augen wurden groß, und ich schluckte schwer, weil sich mein Mund plötzlich voller Sägemehl anfühlte. Er nickte, doch seine angespannte Miene ließ mich mit einer Wahrscheinlichkeit von 85,8 Prozent vermuten, dass mich eine noch größere Überraschung erwartete.
»Was verschweigen Sie mir außerdem?«
»Du bist meine Enkelin.« Er streckte die Hand aus, als wollte er mein Gesicht berühren, dann zog er sie zurück. »Du hast meine gesamte Hochmagiermacht geerbt, darunter die Meistermacht des Geistelements.«
Die Welt drehte sich um mich herum. Blinzelnd schüttelte ich mich, überzeugt davon, mich verhört zu haben. Denn wenn ich seine Enkelin wäre, dann ... »Meine Mutter ...«
Er nickte, als wüsste er, was mir durch den Kopf ging. »Elia war meine Zweitgeborene. Hochmagierin in Ausbildung.« Heiliger Magierbart.
Tausend Fragen kamen mir in den Sinn, doch alle verpufften, als sich Rage krümmte und den Bauch hielt.
»Im Augenblick ist dafür keine Zeit, Nai. Ich verspreche dir, bald alle deine Fragen zu beantworten. Aber jetzt musst du zum Wächter der Seelen und ihm das hier geben.« Er streckte den Arm aus und schloss die Augen. In seiner Handfläche erschien ein kleiner, durchscheinend schimmernder türkisfarbener Edelstein. Ich trat einen Schritt von Rage weg und näher zur transparenten Gestalt des Hochmagiers. Sobald ich den Stein berührte, verfestigte er sich schlagartig.
»Hilft uns das, Honor mit zurückzunehmen?« Ich starrte auf den daumennagelgroßen Edelstein, der sich wesentlich schwerer anfühlte, als die Größe erahnen ließ.
Die Gestalt des Hochmagiers flackerte, und er schüttelte den Kopf. »Nein. Es reicht dafür, dich und Prinz Courage zurück in die magischen Länder zu bringen. Von dort kannst du Honors Seele zurückholen – wenn dir eine Vereinbarung mit dem Wächter gelingt und du einen Körper hast, in dem du deinen Freund unterbringen kannst.«
»Moment mal, wir hätten also gar nicht herkommen müssen?« Ich knurrte. Nicht vor Wut auf ihn, sondern auf mich selbst und diese verfluchte Hexe.
»Nein. Nicht in menschlicher Gestalt.«
Hass war gar kein Ausdruck dafür, was ich in jenem Moment für Surlama empfand.
Noch eine Verhandlung? Mit diesem Wächter der Seelen? Na super. »Okay ...« Wie sollte ich den Mann nennen? Ich kannte ihn nicht mal wirklich, aber er half mir ... weil er mein Großvater war.
Schräg.
»Danke ... Mr. Drudner. Oder Grandpa Geoff? Ist das zu merkwürdig? Oder zu früh?« Herrje. Ich bedachte ihn mit einem unbehaglichen Lächeln. »Wie soll ich Sie ... oder dich nennen?«
Mann, den ich kaum kenne ...
Ein durchscheinendes Lächeln erhellte seine Züge. Ich wartete und überlegte, was ich gesagt hatte, um ihn zu erfreuen, denn bisher schien rein gar nichts richtig zu laufen.
»Ich wollte immer Grandpa genannt werden«, sagte er leise, beinah so, als redete er mit sich selbst.
Dann verschwand er.
Was zum ...
»Bitte sag, dass ich keine Wahnvorstellungen habe.« Rage schnappte nach Luft und hielt sich immer noch krampfhaft die Seite. »Wir stecken im Reich der Toten fest, ich bin am Sterben, und du zerbrichst dir den Kopf darüber, wie du deinen neuen ... Grandpa nennen sollst ...«
Erst nach zwei vollen Atemzügen wurde mir klar, dass sein rasselndes Keuchen ein Lachen war. Ich trat zu meinem Gefährten hin und schlang ihm wieder den Arm um die Taille. Kopfschüttelnd murmelte ich: »Ich bin froh, dass du noch darüber lachen kannst, denn ich bin mir zu 75,3 Prozent sicher, dass ich gerade den Verstand verliere.«
Ich massierte mir die Schläfen.
Rage zog mich näher zu sich, bis sich unsere Körper von meiner Schulter bis zu den Hüften berührten, beinah so, als wären wir Teamkameraden bei einem dreibeinigen Wettrennen. Nur überragte mich mein Gefährte um etliche Zentimeter und brachte mindestens doppelt so viel auf die Waage wie ich. Wir steuerten auf den weißen Palast zu. Beklommenheit schnürte mir die Brust zu, als er sich mit jedem Schritt stärker auf mich stützte.
»Tja, wenn ich sterbe, kann Madame Surlama wenigstens ihre dämlichen Gefälligkeiten nicht einfordern«, brachte Rage keuchend heraus.
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist nicht witzig. Ich lasse nicht zu, dass du stirbst.«
Rage stöhnte, hielt sich den Bauch und krümmte sich vornüber. »Bist du sicher? Kommt mir nämlich schwer so vor, als würde ich gerade sterben.«
Die nächsten drei Schritte ächzte er, bevor er stolperte und nach vorn kippte, als die Beine unter ihm nachgaben.
Die Zeit verlangsamte sich. Panik brach über mich herein, als Rage zusammenbrach.
»Rage!« Ich fiel neben ihm auf die Knie. Mein Herz trommelte wie wild gegen den Brustkorb. »Rage?«
Keine Antwort. Hatte Grandpa Geoff nicht gesagt, wir hätten noch mindestens eine Stunde? Ich war mir zu 100,6 Prozent sicher, dass die Zeit nicht abgelaufen war – wir hielten uns seit gerade mal fünfzehn Minuten an diesem Ort auf!
Ich packte Rage an der Schulter und rollte ihn mit einem angestrengten Ächzen auf den Rücken. Ein Blick auf ihn, und mein Mut sank. Seine sonst so golden sonnengebräunte Haut wirkte aschfahl und gräulich, die Lippen hatten sich bläulich verfärbt. Als ich den Kopf über dem Herzen auf seine Brust legte, erfuhr ich wenigstens ein bisschen Erleichterung. Sein Brustkorb hob und senkte sich leicht, außerdem konnte ich seinen Herzschlag hören, wenn auch schwach und matt. Aber er lebte. Wie konnte ich dafür sorgen, dass es so blieb?
Dann dröhnte ein Donnergrollen durch die Luft. Ich schaute zum Himmel auf und stellte stirnrunzelnd fest, dass weit und breit jede Spur von Wolken fehlte.
Was um alles in der Welt war das? Angesichts des tödlichen Zustands meines Gefährten konnte ich nicht auch noch ein Unwetter gebrauchen.
Ich fädelte die Finger zwischen seine, richtete mich auf und schaute zum Palast. Wie schnell könnte ich ihn erreichen? Würde ich dort Hilfe finden? Da mir mein Großvater einen Edelstein zum Verhandeln gegeben hatte, schätzte ich die Wahrscheinlichkeit, dass mir jemand in dem Palast helfen würde, auf nur 10,2 Prozent. Noch schlechter sah ich die Chancen dafür, Rage lebend vorzufinden, wenn ich ihn in der Zwischenzeit zurückließe.
Bei einem weiteren Donnergrollen ließ ich finster den Blick über die hellvioletten Weiten wandern. Die Schönheit dieses Reichs schien meine triste Lage zu verhöhnen.
Monatelanger Unterricht an der Alpha-Academy brachte mir in dieser Situation ganz genau gar nichts. Wie konnte es sein, dass einem Heilfertigkeiten erst im zweiten Jahr des Wasserstudiums beigebracht wurden? Ich hatte nicht mal eine Ahnung, was mit Rage nicht stimmte. Abgesehen von der Sache mit seinem zerfallenden Körper.
Seine Atmung wurde flacher und schneller.
Mist, Mist und noch mal Mist.
Sollte ich eine Herz-Lungen-Wiederbelebung durchführen? Vielleicht erlitt er gerade einen Herzinfarkt. War das bei einem Werwolf überhaupt möglich?
»Bitte zwing mich nicht, dich wiederzubeleben«, murmelte ich und steckte mir den kleinen Edelstein in die Gesäßtasche. »Ich weiß nämlich nicht, wie das geht!«
Eine der scharfen Kanten des Edelsteins schrammte über meine Fingerspitze. Mit einem spitzen Aufschrei vor Schmerz zog ich die Hand zurück. Als frisches Blut über meinen Finger lief, verfluchte ich Surlama. Ich wickelte den Zipfel meines Shirts um die Wunde und übte Druck darauf aus, um die Blutung zu stoppen.
Denk nach. Denk nach. Denk nach.
Mit der anderen Hand ergriff ich die von Rage. Seine Finger zuckten. Mein Blick fiel auf unsere ineinander verflochtenen Hände – bevor er sich auf unsere Gefährtenmale heftete. Mein erster Kuss mit Rage hatte magische Bande zwischen uns erschaffen. Würde das auch in dieser Lage helfen? Zählte es überhaupt als »Kuss«, wenn einer der Beteiligten besinnungslos war? Jedenfalls wäre es ziemlich sicher zugleich unheimlich und aufregend. Und ein Akt der Verzweiflung.
Tu irgendetwas, Nai!
»Bitte wach auf.« Ich beugte mich über ihn und fuhr mit dem Finger über seine Lippen. Beim Anblick des schimmernden, leicht violetten Rots, das meine Berührung hinterließ, zuckte ich zusammen. Herrje, mein Blut. Ich hob den Saum meines Shirts an und wollte die grausige Schliere wegwischen, erstarrte jedoch, als der violette Schimmer in seine Haut sickerte. Nur ein kleiner Blutfleck blieb zurück. War das ... Magie?
»Tut mir leid«, murmelte ich und wischte mit dem Stoff darüber, womit ich allerdings mehr Blut auf seine Lippen schmierte.
Igitt. Verdammt, ich mache es nur noch schlimmer.
Ich ließ meinen Hemdzipfel sinken und griff nach seinem. So widerlich ich es fand, ich musste ...
Wieder schien die schimmernde Magie mit seiner Haut zu verschmelzen und darin zu verschwinden. Ich wischte das Blut weg und runzelte die Stirn. Seine Lippen wirkten nicht mehr so bläulich. Wenn ihm mein Blut irgendwie durch Magie half, dann könnte ich vielleicht ...
Bitte verzeih mir, Rage.
Ich zwängte seine Zähne auseinander und schob ihm meinen blutenden Finger tief genug in den Mund, um mindestens einen Tropfen auf seine Zunge zu träufeln.
Offensichtlich war ich verzweifelt und durchgeknallt, wenn ich meinen Gefährten wie einen Vampir behandelte. Aber ich würde alles tun, um ihn zu retten. Schlimmer konnte dieser Tag unmöglich werden.
Ich beobachtete ihn, starrte ihn wie gebannt an. Und als Rage mehrmals sichtlich besser atmete, erschlaffte ich vor Erleichterung.
Vielleicht funktionierte es ja wirklich ...
Seine Brust erzitterte, und er stieß einen langen Atemzug aus.
Wenigstens bekam er besser Luft.
Nur atmete er nicht wieder ein.
Ich zählte erst einmal bis zehn, dann erneut.
Oh ihr Magier.
Genug geküsst. Wenn all die Wiederholungen von Grey’s Anatomy stimmten, war es an der Zeit für Mund-zu-Mund-Beatmung. Beschleunigte mein Blut seinen Tod etwa? Der Gedanke fuhr mir wie ein Schlag in den Magen. Tränen brannten mir in den Augen, als ich den Finger aus seinem Rachen zurückriss.
Für eine Mund-zu-Mund-Beatmung gab es irgendeinen Richtwert, der mir allerdings völlig entfallen war. Zwanzig Atemzüge pro Minute? Zehn? Fünfzig? Fünf? Warum wurden solche wichtigen Einzelheiten nicht in Grey’s Anatomy berücksichtigt? Zu einer Herz-Lungen-Wiederbelebung gehörte eine Herzmassage, doch ein rascher Blick bestätigte, dass sein Herz – vorerst – noch schlug.
Falls Rage je Alpha-König werden sollte, würde ich ihn dazu bringen, den Lehrplan der Akademie zu ändern. Erste Hilfe sollte verpflichtend für alle Neuankömmlinge sein.
Nach einem tiefen Atemzug senkte ich den Mund auf seinen und blies. Ein feuchtes Furzgeräusch brodelte durch die Luft um meine Ohren. So ging es offensichtlich nicht.
Wahrscheinlich musste ich erst seinen Mund öffnen. Gehörte das nicht zum Einmaleins der Wiederbelebung? Hatte ich das aus Grey’s Anatomy? Ich hatte keine Ahnung, aber es erschien mir logisch, und ich klammerte mich an die Erkenntnis wie an eine Rettungsleine. Ich zog an seinem Kinn und verspürte Erleichterung, als sich seine Lippen teilten. Abermals holte ich tief Luft, senkte den Kopf, stülpte den Mund auf seinen und atmete aus. Dabei wurde mir klar, dass ich besser abdichten musste, unter anderem seine Nase.
Heilige Mutter Magierin.
Das ist gar nicht so einfach.
»Bitte«, flehte ich Rages bewusstlose Gestalt an. »Wag es bloß nicht, mich zu verlassen.«
Was hatte die so dramatische Verschlechterung seines Zustands nur ausgelöst? Mein Großvater hatte gesagt, wir hätten eine Stunde. Verdammt noch mal! Wieso nur war Rage hinter mir hergehechtet?
Dass er lebte, wusste ich nur deshalb zweifelsfrei, weil ich seinen Geist nicht sah. Sonst hätte ich vollends den Verstand verloren. Wieder holte ich tief Luft, hielt ihm die Nase zu und drückte die Lippen fest auf seine. Als ich kräftig in Rages Mund ausatmete, spürte ich, wie sich seine Brust hob.
Halle-dalle-lujah!