Sic notus Achilles? - Björn Sigurjónsson - E-Book

Sic notus Achilles? E-Book

Björn Sigurjónsson

0,0

Beschreibung

In Statius' Achilleis bewegt sich der namensgebende Held des Werkes, der den antiken und modernen Leser:innen aus Homers Ilias als der Krieger schlechthin bekannt ist, in unkriegerischen Situationen: Bevor er nach Troja aufbricht, versteckt ihn seine Mutter als Mädchen verkleidet auf der Insel Skyros, um ihn vor dem Krieg zu bewahren. Auch diese Ereignisse waren bekannt, sie wurden allerdings in nichtepischen Gattungen wie der Bukolik, Tragödie und dem Liebes-Lehrgedicht dargestellt. Ziel der Arbeit ist es, zu zeigen, mit welchen Mitteln die Erzählung in Statius Achilleis im Vergleich zu diesen Prätexten neu akzentuiert wird, Achill heroischer und männlicher wirken kann und damit seine Bestimmung zum Helden deutlich wird. Die Arbeit bietet eine Besprechung aller zentralen Stellen der Achilleis.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 605

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Björn Victor Sigurjónsson

Sic notus Achilles?

Episches Narrativ und Intertextualität in Statius’ Achilleis

Umschlagabbildung: Marmorsphinx als Basis. Neapel, Museo Nazionale, Inv. 6882. Guida Ruesch 1789. H: 91 cm INR 67. 23. 57. Su concessione del Ministero dei Beni e delle Attività Culturali e del Turismo – Museo Archeologico Nazionale di Napoli.

 

Diss. Ludwig-Maximilians-Universität 2023

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783381107223

 

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0941-4274

ISBN 978-3-381-10721-6 (Print)

ISBN 978-3-381-10723-0 (ePub)

Inhalt

Vorwort1 Statius’ Achilleis – Ein Anti-Epos?1.1 Das Proöm der Achilleis: Angekündigte Intertextualität1.2 Die Achilleis in der Forschung1.3 Ziele der Arbeit2 Das epische Narrativ in Statius’ Achilleis2.1 Thetis’ Bitte um einen Seesturm und die epischen Vorbilder2.1.1 Strukturreferenzen2.1.2 Thetis’ Bitte um einen Seesturm2.2 Achill bei Thetis’ Ankunft: Protoiliadischer Held und Kind zugleich2.2.1 Achill in Chirons Bericht2.2.2 Achill bei seiner Ankunft2.3 Epos und andere Traditionen. Achill auf Skyros2.3.1 Tellus tutissima. Thetis’ Auswahl des Verstecks2.3.2 Achills Metamorphose2.3.3 Angewandte Ars. Deidamias Verführung2.3.4 Die Aufdeckung von Achills Identität als Mann2.3.5 Die Aufdeckung von Achills wahrer Identität als epischer Held2.3.6 Placatus placidissimus. Die Wiederherstellung des Friedens auf Skyros und gleichzeitige Kriegsvorbereitungen für Achill2.3.7 Achills Abschied von Skyros und Deidamia2.3.8 Achill als epischer Held auf Skyros2.4 Selbstverortung der Achilleis in ihrer epischen Tradition2.4.1 Die Griechen auf Aulis und ihre Suche nach Achill2.4.2 Die Kriegsgründe in Odysseus’ Darstellung2.4.3 Achills Apolog: Seine Erziehung durch Chiron3 Die Achilleis als intertextuelles und psychologisierendes PrequelLiteraturverzeichnisPrimärliteraturPrimärliteratur zur AchilleisPrimärliteratur zu weiteren AutorenSekundärliteraturIndex Locorum

Vorwort

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Herbst 2022 an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereicht habe.

Gedankt sei an erster Stelle meiner Doktormutter Prof. Dr. Claudia Wiener, die mich schon im Studium in ihrem Seminar im Sommersemester 2015 für Statius’ Achilleis begeisterte. Danke für die hervorragende Betreuung!

Mein Dank gilt ebenfalls Prof. Dr. Markus Janka, der als Zweitgutachter für die Dissertation fungierte und in dessen Forschungsseminar „Verjüngte Antike“ ich zwei Kapitel der Dissertation vorstellen durfte. Hier danke ich auch allen Teilnehmenden des Seminars für ihre weiterführenden Hinweise.

Für die gute Betreuung bei der Buchlegung sei Tillmann Bub und Iris Steinmaier vom Narr Francke Attempto Verlag gedankt.

Besonders danke ich auch meiner Frau Regina, mit der ich viele Textstellen intensiv diskutiert habe und die mir auch eine unschätzbare Hilfe bei der Durchsicht des Manuskripts war. Zuletzt gilt mein Dank auch meinen Eltern Henriette Doppler-Sigurjónsson und Guðmundur Sigurjónsson, die mich während meines Studiums und der Promotion unterstützt haben.

1Statius’ Achilleis – Ein Anti-Epos?

Jugend- und Kindheitserzählungen von bekannten literarischen Helden machen einen besonderen Reiz aus. In dieser Form des Prequels1 lernt der Leser den ihm bekannten Helden noch einmal kennen, erfährt, wie er zu dem wurde, als der er aus dem Vorgängerwerk bekannt ist. Die Kindheits- und Jugenderzählung füllt also eine offensichtliche Leerstelle im Leben des Helden. Einen besonderen Reiz üben für den Leser dabei Vorverweise und Referenzen auf schon bekannte Taten des Helden aus. Ein antikes Beispiel für solch eine Jugenderzählung stellt Statius’ Achilleis dar. Hier erhält der Leser Einblicke in Achills Erziehung durch den Kentauren Chiron, Achills schon damals heroische Taten und seine erste Liebe auf Skyros, für die er sich als Mädchen verkleiden lässt.

Im Rahmen der Jugenderzählungen stellt Statius’ Achilleis jedoch einen Sonderfall dar: Zwar ist die Handlung der beiden erhaltenen Bücher im Umfang von 960 und 167 Versen in sich geschlossen. Wie aber aus dem Proöm deutlich wird, war die Achilleis auf einen weitaus größeren Zeitraum angelegt. Das uns erhaltene Fragment, das Achills Jugend bis zur Fahrt nach Aulis schildert, umfasst also nur einen kleinen Teil des eigentlich intendierten Werks;2 eine Bezeichnung der Achilleis als Epyllion ist also irreführend.3 Auch von einem Prequel zur Ilias können wir somit nur sprechen, weil wir allein den uns überlieferten Teil des Werkes untersuchen. Hätte Statius sein Werk vollendet, könnten die Referenzen auf das Geschehen der Ilias als epische Vorverweise, d. h. intratextuelle Verweise auf Geschehnisse der Achilleis, aufgefasst werden. Allerdings bleibt natürlich offen, wie Statius die Ilias rezipiert hätte. Eine bloße Nacherzählung der Ilias erscheint kaum plausibel. Auf jeden Fall hatte die Achilleis, als sie in ihrer jetzigen Form veröffentlicht wurde, den Effekt eines Prequels der Ilias. Dass Statius sein Werk als Vorgänger der Odyssee vorstellt, bliebe jedoch, auch wenn er die Achilleis vollendet hätte, ein auffallendes Merkmal dieses Epos.

Der fragmentarische Zustand erschwert also die Interpretation des Werkes auf der Ebene der epischen Gesamtstruktur. Die Aussagen des Proömiums lassen für Zielsetzung und Strukturen wichtige Angaben erwarten.

1.1Das Proöm der Achilleis: Angekündigte Intertextualität

Sprachlich lässt sich das Proöm durch den jeweiligen Adressaten der Verse in drei Abschnitte gliedern: Im ersten an die Muse gerichteten Teil (1–7) erfolgt wie üblich die Inhaltsangabe des Epos. Im zweiten Teil (8–13), der an Apollon gerichtet ist, bittet die Dichter-Persona Apoll um göttliche Inspiration, wobei auf die Erfolge der Thebais verwiesen wird. Der letzte Abschnitt (14–19) richtet sich an Domitian und beinhaltet Statius’ recusatio, ein Epos zu schreiben, in dem der Kaiser der Held ist.

Das Thema der Achilleis soll Achill sein, der mit seinem Patronym als Enkel des Aiakos bezeichnet wird und das Epitheton ornans eines großen Helden trägt (Magnanimum Aeaciden, Stat. Ach. 1,1).1 Dabei wird besonders seine Herkunft betont: Er ist der Nachkomme, den Jupiter gefürchtet hat und den er als seinen Nachfolger verhindert hat (formidatamque Tonanti | progeniem et patrio vetitam succedere caelo, 1f.).2 Damit werden Bezüge zu Proteus’ Prophezeiung, Thetis werde einen Sohn gebären, der seinen Vater übertreffen werde (Ov. met. 11,221–223), deutlich. Während Jupiter in den Metamorphosen seinem Enkel Peleus befiehlt, seine eigentlich geplante Rolle auszuüben (in suaque Aeaciden succedere vota nepotem | iussit, Ov. met. 11,227f.), hat dies auf Achill den gegenteiligen Effekt: Jupiter hindert ihn daran (vetitam, Ach. 1,2),3 in seiner Rolle im Himmel als Herrscher der Götter nachzufolgen (succedere, 2). Obwohl Achill ja Jupiter nicht zum Vater hat, bleibt der Himmel dabei dennoch das patrium caelum. Dies entspricht der Inszenierung der „Quasi-Jupiter-Sohnschaft“ Achills, die ein Leitmotiv der Achilleis ist.4 Thetis, Achill und auch andere Personen betonen dabei immer wieder, dass Achill beinahe ein Sohn Jupiters ist. Gleichzeitig erscheint er, wie ich auch zeigen will, immer wieder göttlich und sein Verhalten und seine Erscheinung bieten Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Jupiter-Söhnen sowie mit Jupiter selbst.

Im Mittelpunkt der Achilleis sollen also ein einzelner bedeutender Mann und seine Taten stehen (acta viri, 3). Damit reiht sich die Achilleis in die Tradition von Epen wie der Odyssee und der Aeneis ein, die ebenfalls im Proöm einen einzelnen ins Zentrum ihrer Darstellung rücken (ἄνδρα, Hom. Od. 1,1; virum Verg. Aen. 1,1). Zusätzlich ist Achill beziehungsweise sein Zorn natürlich auch das Thema der Ilias. Auf diese bezieht sich auch die Dichter-Persona der Achilleis: Obwohl Achills Taten durch Homers Dichtung schon sehr berühmt sind (quamquam acta viri multum inclita cantu | Maeonio, 3f.),5 rechtfertigt Statius sein Vorhaben mit dem Desiderat der epischen Darstellung von Achills Taten, die im engen Zeitraum der Ilias nicht erzählt werden konnten (sed plura vacant, 4). Dabei soll die ganze Persönlichkeit des Helden (ire per omnem | […] heroa, 4f.) dargestellt werden, was der Dichter mit seiner Begeisterung für Achill begründet (sic amor est, 5).6 Wie Rosati betont, knüpft also Statius damit an den von Homer bekannten Charakter an und stellt dabei den Menschen Achill ins Zentrum seiner Darstellung.7

Dies soll ausgehend von seinem Versteck auf Skyros und der Aufdeckung seiner wahren Identität durch Odysseus (Scyroque latentem | Dulichia proferre tuba, 5f.) über die gesamte Zeit des Trojanischen Krieges (tota […] Troia, 7) geschehen und damit über den Endpunkt der Ilias (nec in Hectore tracto | sistere, 6f.) hinausgehen.8 Wie die Metamorphosen Verwandlungen vom Anbeginn der Zeit bis in die augusteische Zeit behandeln sollen (deducite, Ov. met. 1,4), so soll Achill9 von seiner Jugend bis zu seinem Tod Thema der Achilleis sein (iuvenem deducere, 7).10 Statius’ Ansatz, Achills ganze Biographie zu bieten, hat zu Kritik an der Achilleis geführt. Schließlich habe Aristoteles sich in seiner Poetik gerade gegen solche biographischen Epen gewandt und Ilias und Odyssee wegen des nicht biographischen Ansatzes gelobt.11 Diese Kritik am ganzheitlichen Zugriff, der angeblich die Einheitlichkeit der Handlung verhindere, knüpft an die ältere Forschung an, die Statius’ Epen insgesamt als „kyklisch“ geringschätzte. So wertet Turolla die Achilleis nur deshalb positiv, da sie nicht abgeschlossen sei und somit das angekündigte omne nicht erfülle.12 Allerdings geht diese Eingrenzung des „echten“ Epos viel zu weit. Aristoteles sagt nur, dass ein einziger Held im Mittelpunkt nicht ausreicht, um die Einheit der Handlung herzustellen (Aristot. poet. 1451a,16–30).13 Bei einer engeren Auslegung von Aristoteles’ Maßstäben könnte man praktisch kein nachhomerisches Epos als gutes Epos bewerten. Auch ganze Untergattungen wie das historische Epos müssten ausgeschlossen werden.

Allerdings signalisiert Statius in den ersten sieben Versen der Achilleis mit ihrer Inhaltsangabe im Akkusativ, dem Anruf der diva14 und den expliziten Verweisen auf den Dichter und auf die Inhalte der Ilias, dass er sich an Homer orientiert.15

In seinem zweiten Anruf wendet sich der Dichter an Apollon.16 Diese Bitte um göttliche Inspiration ist eng verbunden mit Statius’ bisheriger Dichterlaufbahn. Apollon soll Statius, wenn er sich in seiner bisherigen Dichtung als würdiger Dichter gezeigt hat (si veterem digno deplevimus haustu, 8), göttlich inspirieren (da fontes mihi, Phoebe, novos, 9) und ihn damit zum Apollonpriester machen (fronde secunda | necte comas, 9f.).17 Zur Begründung hebt er seine Bedeutung als Dichter hervor: Er ist kein neuer Dichter, sondern den Musen schon bekannt (neque enim Aonium nemus advena pulso, 10),18 es handelt sich bei der Achilleis nicht um ein Erstlingswerk eines Mannes, der sich noch nicht als vates hervorgetan hat (nec mea nunc primis augescunt tempora vittis, 11). Statius’ Ruf als Epiker liegt dabei in der Thebais begründet: Das Land um Theben kennt seinen Namen (scit Dircaeus ager, 12) und durch die Thebais hat Statius eine solche Bedeutung erlangt, dass er für Theben denselben Rang einnimmt wie der mythische Stadtgründer Amphion (meque inter prisca parentum | nomina cumque suo numerant Amphione Thebae, 12f.).19 Durch seine Dichtung ist Statius also zum zweiten Stadtgründer von Theben geworden, womit er seine herausragende Eignung für ein weiteres Werk beweist.

Im dritten Abschnitt des Proöms spricht der Dichter Domitian an (at tu, 14), der damit eine ähnliche Stellung wie Apollon erhält (tu modo, 8). Wie schon in der Thebais (Stat. Theb. 1,17–33) entschuldigt sich Statius dafür, noch kein Epos über den Kaiser zu verfassen (da veniam, Ach. 1,17). Wie er selbst in der Thebais und wie auch Horaz gegenüber Augustus (Hor. epist. 2,1,257–259) rechtfertigt der Dichter die recusatio, da er sich ein solches Werk noch nicht zutraue und noch trepidus (17) bei dem Gedanken daran sei.20 Die Achilleis soll Statius als Trainingsplatz besser auf die anspruchsvollste Aufgabe vorbereiten (patere hoc sudare parumper | pulvere, 17f.), um dann über den Kaiser schreiben zu können.21 Statius habe dazu aber noch nicht das Selbstvertrauen (te longo necdum fidente paratu | molimur, 18f.). Wenn die Achilleis als Vorstufe für einen Panegyricus auf Domitian dienen soll, wäre damit auch die biographische Erzählweise von Kindheit an gerechtfertigt, die für die Herrscherpanegyrik typisch ist. Zugleich soll in dieser panegyrischen Synkrisis Domitian über den größten griechischen Helden gestellt werden (magnusque tibi praeludit Achilles, 19).22 Die Formulierung praeludit scheint auf einen niedrigeren Platz innerhalb der Gattungshierarchie hinzuweisen. Da Statius in dem den Silven vorangestellten Brief an Stella (Stat. silv. 1 praef.)23 die Silven mit dem Vergil zugeschriebenen Culex und der Homer zugeschriebenen Batrachomyomachia vergleicht und dabei das Verb praeludere benutzt,24 wird praeludit oft als Ankündigung eines niedrigeren Stils in der Achilleis gelesen.25 Doch praeludere im poetologischen Sinne kann sich durchaus auch auf das genus sublime beziehen (Gell. 19,11,2)26 und bezeichnet damit ein Werk, das zeitlich vor einem anderen Werk entstanden ist.27 Statius’ Thebais und Achilleis sind somit Werke vor einem noch herausragenderen Werk über Domitian. Die Abstufung findet also innerhalb der Gattung Epos statt: Das künftige Werk über Domitian wird in panegyrischer Hyperbel einen noch höheren Anspruch als beide Vorgängerwerke haben. Domitian muss Achill übertreffen, aber natürlich bleibt ein Werk über Achill ein Epos mit hohem Anspruch. Dadurch, dass die Achilleis der Vorläufer für das noch zu verfassende alles übertreffende Werk über den Kaiser ist, erhält sie zusätzliche Dignität,28 während gleichzeitig Achills Größe auf Domitian abstrahlt.

1.2Die Achilleis in der Forschung

Die Achilleis fand in der Forschung jedoch lange nur wenig Beachtung.1 Nach Margit Benkers 1987 vorgelegter Dissertationsschrift erschien 2005 mit Peter Heslins The Travestite Achilles die erste Monographie, die nur der Achilleis gewidmet war. Neben der dort weit ausgeführten Rezeptionsgeschichte in der Frühen Neuzeit wollte Heslin einen Beitrag zur Intertextualität in lateinischen Werken, besonders zur frühen Ovidrezeption leisten und wagte sich mit psychoanalytischer Perspektive an die antike Literatur. Ein weitergreifender Vergleich mit den Vorstellungen von Achill in Homers Ilias und bei späteren Autoren bleibt bei Heslin jedoch meist auf Teilbereiche beschränkt. Vor allem die psychoanalytischen Fragestellungen führen zu anachronistischen Schlussfolgerungen, die zum Teil nicht dem antiken Götter- und Heldenbild entsprechen. Denn antike Leser hatten sich durch die der Achilleis vorangegangene Literatur schon Vorstellungen von Achill gebildet, die nicht unbedingt mit dem modernen Bild eines Helden korrespondieren. So sollte nach Horaz’ de arte poetica ein Dichter Achill in einem geplanten Werk übereinstimmend mit den literarischen Vorbildern keineswegs kontrolliert und bedacht darstellen:

Aut famam sequere aut sibi conuenientia finge

scriptor. honoratum si forte reponis Achillem,

impiger, iracundus, inexorabilis, acer

iura neget sibi nata, nihil non arroget armis. (Hor. ars 119–122).

Auch wenn Achill in der Ilias der Held ist, der das Kampfgeschehen in der Schlacht entscheidet, wurde sein Charakter im Rom der frühen Kaiserzeit wie auch schon in Homers Ilias also keineswegs durchgehend vorbildlich gesehen.2 Stattdessen galt Achill bis in die Spätantike als Paradebeispiel für den erbarmungslosen, von Zorn getriebenen Krieger.3

Ausgehend von Heslin sieht ein Teil der neueren angelsächsischen und deutschsprachigen Forschung in der Achilleis zwar diesen offensichtlichen Widerspruch zum modernen Heldenbild. Die Studien, die nachweisen wollen, dass Statius’ in klarem Gegensatz zu Homers Achill stehe, kommen zu diesem Urteil, weil die literarischen Traditionen nur selektiv ausgewertet werden, so dass sie die Beurteilung des Helden aus moderner Perspektive zu bestätigen scheinen. So bezeichnet Heslin die Achilleis als „transvestite sex-farce“4. Des Weiteren sei Achills Darstellung respektlos5 und Heldenmut werde in der Achilleis pervertiert.6

Fernand Delarue wiederum vertritt die Meinung, dass es in Statius’ Achilleis grundsätzlich keine homerischen Einflüsse gebe, sondern bewusst nur eine Rezeption der nachhomerischen Literatur zu Achill stattfinde. Dies versucht er zu belegen, indem er Widersprüche zur Ilias aufzeigt.7

Claudia Klodt fasst den statianischen Achill als „kriegsversessene[n], verantwortungs- und herzlose[n] ungezogene[n] Tunichtgut“8 auf. Diese Einschätzung begründet sie damit, dass Achill ohne Rücksicht auf die Jungen eine Löwenmutter töte und Deidamia ohne Nachdenken schwängere. Die Erziehung durch den Kentauren Chiron habe dazu geführt, dass Achill zum monstrum geworden sei.9 Hieraus folgert Klodt, dass es sich bei Statius’ Achilleis um eine „ironische Destruktion homerischen Heldentums“ handle.10 Dieser Befund deckt sich jedoch weder mit dem antiken Heldenbild noch mit dem ambiguen Bild Achills in der Ilias und auch nicht mit dem Ansehen, das Chiron in der Antike als Erzieher innehatte.11

Wenn die Achilleis als Parodie12 oder als eine ironisierte Darstellung13 aufgefasst wird, fällt oft eine unscharfe Benutzung der Begriffe auf. Tatsächlich fällt „es schwer, die einzelnen Erscheinungsformen des Komischen präzise voneinander zu unterscheiden.“14 Achill bewegt sich als Held der Achilleis in Situationen, die den typischen Situationen eines Epos wie der Ilias nicht entsprechen; oft erhält der Leser ein größeres Hintergrundwissen als einzelne Figuren. Durch diese Spannungen zwischen den Erwartungen des Lesers und den tatsächlichen Handlungen der Figuren im Epos entstehen häufig Situationen der Komik.15 Diese Komik ist jedoch nicht als Ironie im allgemeinen Sinne16 oder Parodie17 zu werten. Stattdessen fällt diese Komik oft unter den Bereich der tragischen beziehungsweise dramatischen Ironie: „In der Tragödie erkennt der Zuschauer oft hinter einer scheinbar unverfänglichen Äußerung […] eine aus der Sicht der Figur unfreiwillige, aus der Sicht von Autor und Publikum aber um so gezieltere Anspielung auf die spätere Katastrophe.“18 Wegweisendes Merkmal der dramatischen Ironie ist also der Wissensvorsprung des Rezipienten gegenüber den agierenden Personen. Der Begriff der dramatischen Ironie geht jedoch über die Gattung Drama hinaus. So führt Müller Odysseus’ unerkannte Anwesenheit unter den Freiern im 21. Gesang der Odyssee und das Vorwissen des Lesers gegenüber den Freiern, die nicht ahnen, dass es sich bei dem Bettler um Odysseus handelt, als ein frühes Beispiel dafür auf, wie dramatische Ironie auch im Epos wirkt.19 Diese Form der Ironie „destruiert“20 also nicht die Gattung und führt auch nicht zu einer Epos-Parodie oder macht die Achilleis in Verbindung mit Einzeltextreferenzen zu einem „Parodic Mini-Cento“21. Stattdessen werden der Komik durch das epische Narrativ Grenzen gesetzt.22

Ganz im Gegensatz zu Claudia Klodt, Peter Heslin und Fernand Delarue geht Peter Davis gerade den verschiedenen Einflüssen von Epikern auf Statius’ Achill nach. Dabei macht er an einzelnen Beispielen deutlich, wie neben Homers Achill auch literarische Figuren wie Vergils Aeneas, Valerius Flaccus’ Iason und Statius’ eigener Theseus aus der Thebais auf die Gestaltung seines Helden in der Achilleis einwirkten.23

Auch zu Catulls carmen 64, in dem unter anderem die Hochzeit von Peleus und Thetis beschrieben wird, lassen sich Bezüge nachweisen. Diese Intertextualität wird in der Regel an den Szenen der Achilleis festgemacht, in denen Achill Lyra spielt und über sich selbst beziehungsweise seine Eltern singt (vgl. Stat. Ach. 1,188–194, 572–579, 2,96–167). Dabei lassen sich Einzeltextreferenzen auf Catulls carmen 64 nachweisen.24 Dániel Kozák folgert aufgrund der übereinstimmenden Thematik, dass Achills Lieder in der Achilleis als eine Art Prototyp für Catull erscheinen sollen und damit in der Logik der Achilleis das Rezipierte als Rezeption erscheint.25

Statius’ Achill rezipiert jedoch auch Ovids Ars amatoria26 und verführt in Übereinstimmung mit den Ratschlägen der Ars amatoria Deidamia. Dabei zeigt sich Achill als „wise lover“27, der die an Ovids Ars amatoria angelehnten quinque gradus amoris verinnerlicht hat. Da Catulls carmen 64 und vor allem durch Ovids Liebesdichtung in der Ars amatoria Achills Darstellung und Verhalten beeinflussen, gelangt schließlich Peter Davis zu der Bewertung, dass die Achilleis nur ein Epos in Anführungszeichen sei, weil diese rezipierten Werke in ihrer Grundhaltung antiepisch seien.28 Auch Denis Feeney betont Ovids Einfluss auf die Achilleis. Auf einen kriegerischen Beginn folge bis zum Ende des ersten Buches ein Abschnitt, der sich stark an Ovid orientiere. Dies zeige sich daran, dass in diesem Textstück die Liebe einen bestimmenden Teil einnehme.29

Wie jedoch François Ripoll ausführt, entspricht die Atmosphäre der Achilleis mehr der von Ovids Metamorphosen als der der Ars amatoria oder der Aeneis.30 Die elegischen Einflüsse auf die Darstellung Achills sind dabei zwar nicht zu vernachlässigen, aber sie bestimmen das Achillbild nicht allein. Gianpiero Rosati zeigt dies in seinem Aufsatz,31 der in leicht veränderter Form auch als Vorwort zu einer italienischen Übersetzung der Achilleis erschien:32 Dadurch, dass Statius’ Achill nicht nur in einer einzigen Tradition verortet werden kann und seine heroisch kriegerische Identität mit der des Liebhabers verbunden wird, wirkt seine Persönlichkeit komplexer.33 Dies zeigt sich auch am Stil der Achilleis: Elegische Elemente gehen einher mit Charakteristika des antiken Epos, wie beispielsweise Verweise auf Achills Berufung zum Helden und sein künftiges Schicksal oder der grundsätzliche Aufbau als Epos. Daher sollte die Achilleis auch als vollwertiges und ernsthaftes Epos angesehen werden.34 Die epische Form und ihre Diktion bleiben bewahrt,35 die erhaltenen Teile des Epos stehen in ihrem Spiel mit mythologischen und literarischen Vorbildern deutlich in der Tradition von Ovids Metamorphosen.

Alan Cameron wiederum zeigt, dass auch die Fragmente der Achilleis schon in besonderem Maße auf den Trojanischen Krieg hinführen. Zum einen steht Achill schon nach dem ersten Buch kurz vor Troja und auch die Erzählung seiner Jugend nimmt, obwohl dies vielleicht möglich gewesen wäre, nicht mehr Bücher ein.36 Zusätzlich hebt Cameron die Hinweise auf den späteren Achill hervor, die er als „darker hints of the Trojan tragedy that will follow“37 bezeichnet. Insgesamt betont also Cameron, dass Statius’ Achill fest in der homerischen Tradition verwurzelt ist.38 Gerade auch die Anspielungen auf die Thebais, die Ruth Parkes herausgearbeitet hat, stützen diese Auffassung.39

Gregor Bitto hat dagegen in seiner 2016 erschienenen Habilitationsschrift40 die Achilleis in Relation zur Odyssee gesetzt. Dabei stützt er sich auf die antike Literaturtheorie von Pseudo-Longin, der der Ilias als Homers frühem und damit kraftvollem Werk Pathos und der Odyssee als Alterswerk Ethos zuschreibt. Dabei sieht Pseudo-Longin, wie Bitto zeigt, als Kennzeichen des Ethos und damit des Alters die Neigung des Dichters zum Fabulieren und zur Darstellung von Alltagsgeschehen. Die Abkehr von der wiederholten Darstellung starker Leidenschaften (οὐδὲ τὴν πρόχυσιν ὁμοίαν τῶν ἐπαλλήλων παθῶν), dem raschen Wechsel in der Handlung und dem kämpferischen Stil (οὐδὲ τὸ ἀγχίστροφον καὶ πολιτικὸν) sieht er als Zeichen nachlassender Kraft an (Long. sublim. 9,13). Dieses Konzept überträgt Bitto auf die Achilleis: Dabei interpretiert er metapoetische Aussagen der Silvae als poetologische Hinweise darauf, dass Statius, nachdem er die Thebais in Anlehnung an die Ilias verfasst hatte, die Achilleis als ethisches41 Alterswerk verstanden wissen wollte. In den Einflüssen anderer Gattungen erkennt Bitto eine Methode zur Pathosreduzierung im Epos.42 Somit lehnt auch er die Deutung der Achilleis als parodistisches Epos ab.43 Mit seiner Analyse der Pathosreduzierung geht Bitto jedoch oft deutlich zu weit. Wie ich auch im Verlauf meiner Analyse der Achilleis zeigen werde, sieht er beispielsweise auch eigentlich an Homer und andere Epiker angelehnte Darstellungen als pathosreduziert. Durch Anspielungen auf andere Texte geht nicht das Genre des Textes, auf den angespielt wird, auf das Epos über.44 Die Gattung Epos entwickelt sich auch nach der Archaik weiter. Und auch die Ilias ist nicht so ausschließlich martialisch, wie es manchen Kommentatoren scheint.45 Auch gattungsübergreifende intertextuelle Bezüge sind typisch für das kaiserzeitliche Epos.

Achills Aufenthalt auf Skyros, der seinen Eintritt in den Trojanischen Krieg verzögert, widerspricht keinesfalls den Gattungskonventionen, wie sich an epischen Vorbildern zeigt: Auch Odysseus hält sich bis zum fünften Gesang der Odyssee insgesamt sieben Jahre auf Kalypsos Insel auf und hat davor ein Jahr bei Kirke verbracht. Auch Jason wird in Apollonios’ Argonautika (1,601–909) beziehungsweise Valerius Flaccus’ Argonautica (2,72–427) durch seine Liebesbeziehung zu Hypsipyle bei seiner Mission, das Goldene Vlies zu holen, aufgehalten. Genauso ergeht es Aeneas bei Dido, bis Merkur ihn an seinen Auftrag erinnert. In der Achilleis nimmt dieser Aufschub mit 400 Versen (1,560–960) zwar einen relativ großen und in der Forschung hauptsächlich beachteten Teil des Werkes ein. Diese Thematik wirkt innerhalb der Achilleis jedoch nur so dominant, da sie einen großen Teil des Fragments ausmacht.46 Der Umfang des Aufenthalts an sich ist vergleichbar mit dem in den Epen über die Fahrt der Argonauten, und die Skyros-Episode ist kürzer als der Aufenthalt von Aeneas bei Dido.

Anderer Gattungen können innovativ auf das Genre Epos einwirken.47 Rosati bezeichnet deswegen die Achilleis als „epica dell’ambiguità“,48 betont aber auch, dass Achill seine kriegerischen und martialischen Züge bewahrt.49

1.3Ziele der Arbeit

Bedeutend für die Bewertung, wie andere Gattungen einwirken, ist das epische Narrativ, durch das die Achilleis als Epos gekennzeichnet ist und durch das es gelingen kann, dem Leser Statius’ Achill als junge Version des bekannten Helden aus der Ilias vorzustellen. Die Achilleis erzählt die Ereignisse, die dem Leser aus nichtepischen Prätexten wie Euripides’ leider verlorenen Skyrioi oder Ovids Ars amatoria bekannt sind. Die Erzählung wird, wie ich zeigen will, dabei neu akzentuiert und Achill erscheint in der Achilleis auch in unepischen Situationen, in die andere Gattungstraditionen einwirken, männlicher und heroischer als in den nichtepischen Prätexten. Deswegen soll in der vorliegenden Arbeit herausgearbeitet werden, wie sich dieses Narrativ durch die ganze Achilleis zieht.

Auch Ovid greift in den Metamorphosen auf Prätexte aus verschiedenen Gattungstraditionen zurück und akzentuiert sie neu. Allerdings kann man gerade am Beispiel des Achill-Stoffes sehen, dass er dabei ein anderes Ziel – im Sinne seiner Verwandlungsthematik (auch der Verwandlung von Gattungen) – mit anderen Mitteln verfolgt.1 Der Unterschied zu Statius wird schon makrostrukturell sehr deutlich an Ovids ungewöhnlicher Auswahl der Episoden, der extrem unterschiedlichen Länge der Episoden und der assoziativen Verknüpfung.2 Als weiterer Unterschied fällt die Perspektivierung durch ungewöhnliche Erzählerfiguren oder Situationen und entsprechende Darstellungstechniken auf.3 Im Unterschied zu Ovid wird umso deutlicher hervortreten, dass Statius in der Episodenauswahl und Komposition, aber auch in der Perspektivierung durch die epischen Figuren an seinen Anspruch gebunden bleibt, die vollständige Lebensgeschichte Achills als Epos zu erzählen. Im Rahmen der Untersuchung der Intertextualität sind nicht nur Einzeltextreferenzen bedeutsam, wobei zum Teil sogar mithilfe von markers4 auf die Bedeutsamkeit eines einzelnen Intertextes verwiesen wird. Sehr wichtig für Statius’ Achilleis sind, wie ich zeigen will, Strukturreferenzen:5 Durch diese wird auf Figuren- und Handlungskonstellationen der Prätexte verwiesen. Teilweise betrifft dies in der Achilleis Prätexte, die dieselbe Geschichte aus nichtepischer Perspektive erzählt haben, und die nun mit der Konzentration auf den heroischen Achill neu erzählt und gedeutet werden. Andererseits wird mittels Strukturreferenzen auf epische Prätexte verwiesen, wodurch die Achilleis sich in ihrer epischen Tradition verortet.

Diese Auseinandersetzung mit den vorausgehenden Traditionen durch den Transfer von Merkmalen der (homerischen) Figuren und Handlungskonstellationen auf die Vorgeschichte (und die von Statius geplante nachfolgende Handlung der Ilias) erfordert von Statius eine sorgfältige Psychologisierung der handelnden Personen, d. h. eine psychologisch gestaltete Handlungsmotivierung, die ebenfalls herausgearbeitet werden soll.

Um dieses Zwischenspiel zwischen intertextuellen Bezügen und der Neuakzentuierung durch das epische Narrativ herauszuarbeiten, soll zunächst der Beginn der Achilleis analysiert werden. Anhand des Seesturmes, den Thetis auszulösen versucht (Stat. Ach. 1,20–98), soll exemplarisch gezeigt werden, wie in der Achilleis zu mehreren epischen Prätexten gleichzeitig Intertextualität aufgebaut wird (2.1).6 Der Seesturm in der Odyssee (Hom. Od. 5,270–290), der schon für die Aeneis (Verg. Aen. 1,34–80) Strukturreferenz ist, fungiert dabei gleichzeitig mit dem der Aeneis als Referenz für die Achilleis. Bedeutend dabei ist, dass in keinem Fall Struktur und Inhalt lediglich reproduziert werden. Durch die Variation geschieht für den Leser Unerwartetes oder bestimmte Aspekte werden anders akzentuiert.7

Hierauf soll Achills erste Charakterisierung – auch im Vergleich zu anderen jugendlichen Heroen – bei seinem ersten Auftritt im Werk untersucht werden, als Thetis ihn bei Chiron abholt (2.2).

Im nächsten größeren Abschnitt soll die Darstellung von Achills Aufenthalt auf Skyros folgen (2.3). Als Mädchen verkleidet befindet sich Achill dort in einer Situation, die für einen epischen Helden untypisch ist. Vor allem hier wird der Einfluss anderer Gattungen und die Auseinandersetzung mit ihnen besonders deutlich. Bestimmend dafür ist zunächst Thetis’ Auswahl von Skyros (2.3.1). Interessant für das Heldenbild ist zunächst, wie Thetis’ rhetorische Versuche scheitern, Achill davon zu überzeugen, sich als Mädchen zu verkleiden (2.3.2). Wie ich zeigen will, liegt dies nicht an ihrer Rhetorik, sondern an Achills heroischer Grundeinstellung. Erst als es mit seiner Männlichkeit vereinbar ist, lässt er die Verkleidung zu, um Deidamia verführen zu können. Die Verbindung von Liebe und Krieg mag also in ihrem Anteil relativ hoch und damit für ein Epos neu sein,8 sie macht aber gerade in der für Achills Männlichkeit schwierigen Episode auf Skyros deutlich, dass Achill sich nicht aus Feigheit oder anderen als unmännlich empfundenen Gründen als Mädchen versteckt hält.9 Achill wird erst durch seine sich entwickelnde Liebe zu Deidamia dazu bewegt, die Verkleidung durch seine Mutter anzunehmen. Wie herausgearbeitet werden soll, erscheint Achill auf Skyros zwar als Mädchen, wird dabei aber trotz der durch seine Mutter vorgenommenen Metamorphose als amazonenhaft und beinahe maskulin wahrgenommen.

Vor allem im Vergleich mit bukolischen und elegischen Prätexten und deren Akzentuierung soll im Folgenden herausgearbeitet werden, wie im Epos Achills Rolle anders als in diesen Prätexten akzentuiert wird (2.3.3). Dabei wird, wie gezeigt werden soll, Achills Männlichkeit stärker hervorgehoben und auch seine eigentliche Bestimmung zum Krieger wird in seinem Handeln deutlich. Zudem ist, wie ich zeigen will, Achill in keiner Hinsicht ein elegischer Liebhaber. Seine erfolgreichen Versuche, Deidamia zu verführen, mögen sich zwar an den quinque gradus amoris der Ars amatoria orientieren. Diese leitet jedoch keineswegs dazu an, ein elegischer Liebhaber nach dem Prinzip des servitium amoris zu werden. Stattdessen setzt sich Ovid in der Ars amatoria kritisch mit der elegischen Tradition auseinander. Achill ist auch mit seiner Verführungstechnik höchst erfolgreich, Deidamia ist keine dura puella, die Achill als Liebhaber erweichen muss. Zudem fühlt sich Achill in Statius’ Achilleis göttlich und wird auch immer wieder vom Erzähler als Quasi-Jupitersohn stilisiert.10 Er folgt in seinem Verhalten gegenüber Deidamia dem Verhalten der Götter und dabei insbesondere Jupiters Verhalten in Ovids Metamorphosen gegenüber sterblichen Frauen. Eine „große Befreiung aus der Welt der Frauen“11 ist für Achill somit nicht nötig. Auch unter Frauen kann Achill Mann sein.

Aus der Frauenrolle befreit sich Achill Schritt für Schritt. Während er durch die Vergewaltigung und die auch danach fortgeführte Beziehung zu Deidamia zunächst nur dieser gegenüber seine Männlichkeit offenbart, die auch schon mit seiner Rolle als Krieger verbunden ist (2.3.4), wird seine heroische Identität allen nach der Ankunft von Odysseus und Diomedes offenbart (2.3.5). Wie ich zeigen will, trägt auch der Abschied von Skyros zur weiteren Psychologisierung von Achills Wesen bei. Während er sich gegenüber Lykomedes als geschickter Redner erweist (2.3.6), zeigt sich bei seinem Abschied von Deidamia, wie nun Achill auf den Trojanischen Krieg ausgerichtet ist (2.3.7).

Im letzten Hauptteil der Arbeit soll nachgewiesen werden, wie sich die Achilleis in bestimmten Episoden selbst in ihrer epischen Tradition verortet. Dies wird insbesondere in der Episode des in der Forschung bisher weniger beachteten Aufenthalts der Griechen auf Aulis deutlich (2.4.1): Dieser knüpft zunächst an typische Rüstungs- und Katalogerzählungen des Epos an. Dabei werden die allgemeine Kriegsbegeisterung und das Ausmaß des Kriegs deutlich. Wie ich zeigen will, steigert die Heeresversammlung auf Aulis weiter die dramatische Spannung und zeigt die Erwartungshaltung der Griechen gegenüber Achill. Schon bevor er seine Heldentaten im Krieg vollbracht hat, ist er für die Griechen ein größerer Held als alle anderen anwesenden Helden. Auch Kalchas’ Prophetie steht in der Tradition von Prophetien im Epos. Da in ihr die bisherige Handlung reflektiert wird, ist sie zusätzlich auch bedeutsam für Achills Charakterisierung.

Für Odysseus’ und Diomedes’ Suche nach Achill dient die Dolonie als Strukturreferenz. Dabei ist interessant, wie sich die Achilleis in ihrer epischen Tradition verortet und sich mit ihren Vorbildern auseinandersetzt, so dass diese in der erzählten Zeit späteren Ereignisse eine Folge der Ereignisse der Achilleis werden.

Auch Odysseus’ Rede über die Ursachen des Krieges bereitet Achills Rolle als prototypischer Held der Ilias vor (2.4.2). Gleichzeitig lässt sich aufzeigen, dass die Rede typisch für den Helden der Odyssee und seine Manipulationskunst ist.

Im letzten Kapitel (2.4.3) wiederum steht Achills Erziehung, wie er sie selbst in seiner Erzählung darstellt, im Mittelpunkt. Hier soll untersucht werden, wie Achills jugendliche Taten und die Elemente der Erziehung durch Chiron mit dem antiken Heldenbild vereinbar sind. Dabei soll herausgearbeitet werden, wie die Erziehung Traditionen von der Archaik bis in die Kaiserzeit aufnimmt, Chiron in Achill eine heroische Grundeinstellung implementiert und Achill systematisch auf den Trojanischen Krieg vorbereitet wird. Im Rahmen dieser Analyse soll auch Chirons besondere Rolle als Kentaur und Erzieher zahlreicher Helden in den Blick genommen werden.

2Das epische Narrativ in Statius’ Achilleis

2.1Thetis’ Bitte um einen Seesturm und die epischen Vorbilder

Die auf die Achilleis wirkenden epischen Einflüsse lassen sich auch anhand von Thetis’ vergeblicher Bitte an Neptun, einen Seesturm heraufbeschwören zu dürfen (Stat. Ach. 1,20–98), aufzeigen. Hier wird in der Forschung allgemein eine intertextuelle Beziehung zu Thetis’ an Zeus gerichteten Bitten in der Ilias (Hom. Il. 1,495–530)1 und zu Junos Bitte um einen Seesturm in der Aeneis (Verg. Aen. 1,34–80) angenommen.2 Ein weitergehender Vergleich dieser Texte mit der Achilleis, der über den Absatz bei Juhnke3 und Mulders kurzen lateinischsprachigen Aufsatz von 19554 hinausgeht, ist jedoch bisher nicht erfolgt.

Um herauszuarbeiten, wie Statius epischen Vorbildern folgt, soll zunächst der grundsätzliche Aufbau von Szenen, in denen ein Gott einen Seesturm heraufbeschwören (lassen) will, vorgestellt werden. Bedeutsam für Statius im Sinne einer strukturellen Intertextualität ist, wie ich zeigen will, hier zum einen die Beschwörung des Seesturms im fünften Buch der Odyssee durch Poseidon (Hom. Od. 5,270–290). Bislang wurden anhand dieser Szene nur Einzelreferenzen aufgezeigt.5 Zum anderen ist neben diesem Strukturvorbild Junos erfolgreiche Bitte um einen Seesturm (Verg. Aen. 1,34–80) bedeutsam, die ebenfalls herangezogen werden soll. Wie schon Richard Heinze dargestellt hat, diente dabei das Schema des Sturms in der Odyssee als Vorlage für den in der Aeneis.6 Für die Achilleis bildet der Szenenaufbau von Junos Bemühungen um einen Sturm in der Aeneis die Hauptreferenz. Allerdings bleibt, wie auch die erwähnten Einzelreferenzen zeigen, auch der Sturm der Odyssee als epische Referenz bestehen und kann als wichtiger Vergleichspunkt zum versuchten Seesturm in der Achilleis herangezogen werden.

Auch zu Valerius Flaccus’ Argonautica lassen sich Parallelen ausmachen. Da der dortige Seesturm (Val. Fl. 1,574–607), der durch Boreas heraufbeschworen wird, jedoch im Aufbau hauptsächlich ebenfalls dem Vorbild der Aeneis und Odyssee folgt,7 soll dieser nur herangezogen werden, um Einzeltextreferenzen zur Achilleis aufzuzeigen. Dies gilt auch für Thetis’ Bitten im ersten Gesang der Ilias, die sich zwar strukturell unterscheiden, aber für die Deutung der Achilleis wichtige Einzelreferenzen bieten.

2.1.1Strukturreferenzen

Wie also schon angedeutet wurde, gibt es für die Szene eines Seesturms seit der Odyssee (5,270–384) eine epische Tradition. Diese wird von Vergil rezipiert, der dann wiederum für andere Epiker wie Statius als Vorbild dient. Wie aus den folgenden Tabellen deutlich wird, wird dabei das Schema aus der Odyssee verändert und erweitert:

270–285

Poseidon erblickt den fahrenden Helden.

270–281

Hintergrundhandlung: Odysseus fährt über das Meer.

279–281

Die Berge des Phäakenlandes erscheinen.

282–284a

Poseidon erblickt Odysseus.

284b–285

Folge: Zorn und Monolog mit seinem θυμός

286–290

Poseidons Monolog

286f.

Erkenntnis, dass andere Götter in seiner Abwesenheit über Odysseus entschieden haben

288f.

Odysseus nähert sich den Phäaken, wo er seinem Schicksal (αἶσα) zu leiden entkommen wird.

290

Entschluss, Odysseus vorher Unheil zu bringen

291–384

Seesturm

Tab. 1:

Hom. Od. 5,270–290

34–37a

Juno erblickt den fahrenden Helden.

34f.

Hintergrundhandlung: Aeneas und seine Begleiter fahren über das Meer.

36–37a

Cum inversum: Juno spricht aufgrund ihres aeternum vulnus.

37b–49

Junos Monolog

37b–38

Soll Juno als Besiegte Aeneas nicht von Italien abhalten können?

39a

Sie wird von den fata am Handeln gehindert.

39b–45

Pallas durfte wegen des Frevels nur eines einzigen die griechische Flotte versenken.

46–48a

Als Jupiters Schwester und Gattin ist sie im Gegensatz dazu machtlos.

48b–49

Ihre Machtlosigkeit ist eine Bedrohung für ihr numen.

50–63

Ankunft bei Aeolus und Ekphrasis des Ortes

64–76

Junos Rede

64

Einleitung der Rede: Juno spricht supplex.

65f.

Anrede und Begründung der Rede mit Aeolus’ Aufgabengebiet

67f.

Auf dem Meer befindet sich ein Juno feindliches Volk.

69f.

Aufruf zur Vernichtung der Schiffe

 

Aeolus erhält die Nymphe Deiopeia als Belohnung.

76–80

Aeolus’ Antwort

 

Absoluter Gehorsam des Aeolus

 

Begründung: Aeolus verdankt Juno alles.

81–143

Seesturm

Tab. 2:

Verg. Aen. 1,34–80

Wie am Vergleich deutlich wird, reproduziert die Beschwörung des Seesturms in der Aeneis die Struktur der Parallelstelle in der Odyssee: Die Gottheit erblickt den ihr feindlichen Helden, der zuvor in der Hintergrundhandlung das Meer befahren hat und beinahe das Ziel erreicht hat, von dem ihn die Gottheit abhalten will. Dies führt zu einer Zornesregung, die dann im Monolog weiter ausgeführt wird und zu einer Entscheidung führt. Poseidon kann als Meeresherrscher sofort selbst den Seesturm beschwören, während Juno dafür Aeolus aufsuchen muss.

Schon in der Aeneis wird damit durch den Wechsel der Gottheit die Struktur erweitert und damit komplexer. In der Achilleis ist die Situation, dadurch dass hier Thetis die handelnde Gottheit ist, nochmals verändert. In seiner Struktur folgt das Geschehen in der Achilleis allerdings ganz der Aeneis und damit im ersten Teil auch der Struktur der Odyssee:

20–29

Thetis erblickt Paris.

20f.

Bisher Geschehenes: Raub der Helena

22–24

Hintergrundhandlung: Paris fährt über das Meer.

25f.

Cum inversum: Thetis’ Erschrecken

27–29

Sofortiges Handeln: Auftauchen mit Schwestern

30–50a

Thetis’ Monolog

31f.

Interpretation der Flotte als Angriff auf sie selbst und Erfüllung der Prophezeiungen

33–38a

Künftige Folgen des Raubs der Helena: Für den Trojanischen Krieg wird Achill gesucht und will selbst gehen.

38b–43

Achill übt bei Chiron sicher schon Kriegsspiele: Folge: Schmerz

44–46

Verpasste Gelegenheit, Schiffe beim Auslaufen zu versenken

47–51a

Das Krieg auslösende Unrecht, eine Versenkung ist daher zu spät; dennoch Entschluss, Neptun um einen Sturm zu bitten

51b–60

Ankunft bei Neptun und Ekphrasis seiner Umgebung

51b–54a

Günstiger Zeitpunkt: Neptun kehrt von Oceanus heim. Ruhige Umgebung

54b–57a

Neptuns Begleiter

57b–60

Neptun und sein Gespann

61–76

Thetis’ Rede

61

Anrede als genitor und rector

62–65

Seit Jason: Missbrauch der Meere für Verbrechen

66–70

Paris’ momentanes Verbrechen und die schmerzhaften Folgen für Menschen, Götter und sie selbst; Venus’ Undank

71–73a

Keine Halbgötter an Bord, somit besteht kein Hinderungsgrund. Aufruf zur Vernichtung durch Neptun oder Thetis selbst

73b–76

Versenkung ist kein Zeichen von inclementia, sondern ihr Recht als Mutter; sonst auftretende Folgen für Thetis

77–79

Thetis’ bittende Haltung vor Neptun; Neptun antwortet freundlich und lädt sie auf seinen Wagen ein.

80–94

Neptuns Antwort

80–83

Fata und Götterbeschluss zum trojanischen Krieg verbieten ein Eingreifen.

84–91a

Trost: Achills blutige Taten vor Troja; Achill wird nicht als Peleus’ Sohn erscheinen, sondern als Jupiters Sohn.

91b–94

Rache erfolgt nach dem Fall Trojas mit Verfolgung der Griechen.

95–98

Folge: Kein Seesturm: Thetis ist niedergeschlagen und hat neue Pläne in Thessalien.

Tab. 3:

Stat. Ach. 1,20–98

Thetis erblickt wie Juno und Poseidon ihren Feind, der über das Meer fährt. Dies führt auch bei ihr zu einer Gefühlsregung. Anders als bei Juno und Poseidon ist sie jedoch weniger von Zorn motiviert als von Furcht. Bei allen drei Gottheiten mündet der darauffolgende Monolog in den Entschluss, die Schiffe versenken zu wollen. Juno und Thetis müssen, da sie selbst keinen Sturm beschwören können, dafür eine Gottheit aufsuchen, deren Umgebung daraufhin beschrieben wird. Sie halten beide supplex (Verg. Aen. 1,64, Stat. Ach. 1,50) eine Rede, auf die dann die Antwortrede des Gottes folgt. Die auffälligste Abweichung vom durch die Odyssee etablierten Schema „Seesturm“ ist in der Achilleis jedoch das Ergebnis: Entgegen der Erwartungen des Lesers1 löst Thetis keinen Seesturm aus.

Dieses unterschiedliche Ergebnis verlangt daher einen eingehenderen Vergleich, in dem die Gestaltung besprochen werden soll: Daraus soll sich ergeben, ob der Erfolg beziehungsweise Misserfolg durch die Situation, die in der Hintergrundhandlung deutlich wird, durch die Handlungsmotive, die in den Monologen deutlich werden, durch die Wahl der Ansprechpartner oder durch die Reden, mit denen die Gottheiten ihre Bitten artikulieren, begründet ist.

2.1.1.1Poseidons Beschwörung des Seesturms in der Odyssee (Hom. Od. 5,270–290)

2.1.1.1.1Hintergrundhandlung vor Poseidons Monolog

Der Seesturm, der Odysseus im fünften Buch der Odyssee (270–384) trifft (vgl. Übersicht Tab. 1 unter 2.1.1), ist die einzige Szene in der Odyssee, in der Poseidon, der Hauptgegner des Helden, explizit als Verursacher des widrigen Geschehens genannt wird. Allerdings zeigen die Apologe das Geschehen aus Sicht des zurückblickenden Odysseus, der anders als der epische Erzähler keinen vollen Einblick in das Handeln der Götter hat. Auch in der Seesturmszene erkennt er selbst Poseidon nicht als Urheber und vermutet stattdessen, dass Zeus für den Seesturm verantwortlich ist (Hom. Od. 5,303–305). Dagegen nennen mit Autorität ausgestattete Personen (z. B. Teiresias) in den Apologen Poseidons Zorn, der durch Polyphems Blendung entstanden ist, als Ursache für Odysseus’ Leiden (Hom. Od. 11,101–103).1

Dieser Seesturm, der zu Odysseus’ Schiffbruch führen wird und dessen Darstellung Irene de Jong in ihrem narratologischen Kommentar zur Odyssee als „brilliant example of the ‘zooming in’ technique“2 bezeichnet, findet am 18. Tag von Odysseus’ Reise zu den Phäaken statt. Odysseus befindet sich auf dem Floß, das er zuvor nach Anweisung der Göttin Kalypso gefertigt hat (Hom. Od. 5,162–164, 234–261). Als πομπή hat sie ihn mit Kleidung, Vorräten und Wein ausgestattet sowie ihm einen günstigen Fahrtwind geschickt (263–267). Das Spannen der Segel wird im Aorist geschildert (πέτασ᾽ ἱστία, 269). Die folgende Hintergrundhandlung, die Odysseus’ Tätigkeiten während der Fahrt beschreibt, wird hierauf durchgehend im Imperfekt beziehungsweise mit präsentischen Partizipien beschrieben (270–278).3 Die einsetzende Handlung im Aorist wird zunächst aus Odysseus’ Perspektive dargestellt (279–281). Am 18. Tag erscheinen ihm die schattigen Berge des Phäakenlandes (ὀκτωκαιδεκάτῃ δ᾽ ἐφάνη ὄρεα σκιόεντα, 279), die aus seinem Blickwinkel an einen Schild erinnern (280f.). Seine Ankunft und Rettung erscheint ihm somit schon nah. Die Fokalisierung auf Odysseus endet aber hierauf:

τὸν δ᾽ ἐξ Αἰθιόπων ἀνιὼν κρείων Ἐνοσίχθων

τηλόθεν ἐκ Σολύμων ὀρέων ἴδεν· εἴσατο γάρ οἱ

πόντον ἐπιπλώων. ὁ δ᾽ ἐχώσατο κηρόθι μᾶλλον,

κινήσας δὲ κάρη προτὶ ὃν μυθήσατο θυμόν· (Hom. Od. 5,282–285)

 

Als der Fürst und Erderschütterer von den Aithiopen zurückkam, sah er ihn schon von weitem von seinem Standpunkt auf den Solymerbergen. Denn er segelte über das Meer und bewegte sich in seine Richtung. Da aber kochte in seinem Inneren der Zorn noch weiter hoch, er schüttelte den Kopf und sprach zu sich selbst folgende Worte:

Noch einmal wird dem Hörer beziehungsweise Leser Odysseus vor Augen geführt, wie er über das Meer fährt: Dieses Mal jedoch nicht aus dem Blickwinkel des Erzählers, sondern aus Poseidons, der von den Äthiopen zurückkehrt. Hierbei wird auch sein erhöhter Standpunkt auf den Solymerbergen in Lykien beziehungsweise nach Martin Wests Konjektur den westsizilischen Elymerbergen erwähnt.4

2.1.1.1.2Poseidons Monolog

Der hierauf folgende Monolog Poseidons wird, wie für Monologe bei Homer grundsätzlich typisch, durch die Wahrnehmung ausgelöst.1 Hierfür wird im Aorist εἴσατο nochmals Odysseus’ Erscheinen2 hervorgehoben. Dieses Sehen führt bei Poseidon zu einer Verstärkung seines Zornes (ἐχώσατο κηρόθι μᾶλλον), die sich äußerlich im Kopfschütteln3 und im folgenden Monolog zeigt:

ὢ πόποι, ἦ μάλα δὴ μετεβούλευσαν θεοὶ ἄλλως

ἀμφ᾽ Ὀδυσῆι ἐμεῖο μετ᾽ Αἰθιόπεσσιν ἐόντος;

καὶ δὴ Φαιήκων γαίης σχεδόν, ἔνθα οἱ αἶσα

ἐκφυγέειν μέγα πεῖραρ ὀιζύος, ἥ μιν ἱκάνει.

ἀλλ᾽ ἔτι μέν μίν φημι ἅδην ἐλάαν κακότητος. (Hom. Od. 5,286–290)

 

Oh je! Haben die Götter denn jetzt wirklich im Nachhinein ihren Beschluss über Odysseus geändert, als ich bei den Aithiopen war? Er ist schon wirklich nahe am Land der Phaiaken! Vom Schicksal ist festgelegt, dass er dort seine lange Leidenszeit, die ihn betroffen hat, hinter sich lässt. Aber ich sage, dass ich ihn noch weiter ins Unglück treiben werde!

Nach dem Ausruf ὢ πόποι beklagt sich Poseidon darüber, dass die Götter nun in seiner Abwesenheit anderes bezüglich Odysseus (ἀμφ᾽ Ὀδυσῆι, 287) beschlossen hätten. Gleichzeitig sei Odysseus schon dem Land der Phäaken nah, in dem ihm durch das Schicksal (αἶσα, 288) vorherbestimmt sei, ein Ende seiner Leiden zu finden. Dies macht Poseidons sofortiges Handeln erforderlich, das in seinen Entschluss mündet, Odysseus vor seiner Ankunft im Land der Phäaken ausreichend Leiden zu bringen (ἅδην ἐλάαν κακότητος, 290). Nach Ende des Monologs setzt Poseidon diesen Vorsatz in die Tat um und beschwört mit dem Dreizack den Seesturm herauf, den er aufrechterhält, bis Odysseus’ Floß versenkt ist und der Held an Land schwimmen muss.

2.1.1.1.3Neptuns Verhältnis zur αἶσα

Im Vergleich zu den weiter unten behandelten Texten ist auch Poseidons Umgang mit Odysseus’ Schicksal interessant. Jens-Uwe Schmidt vertritt die Meinung, dass Poseidons Eingreifen mit dem Seesturm sich am Rande der zugestandenen Vergeltung befände und spricht ihm das Recht für diese Eigenmächtigkeit ab.1 Allerdings erkennt Poseidon die αἶσα an und versucht nicht, diese zu verändern.2 Die Wirkung der Vorherbestimmung durch die αἶσα entfaltet sich nämlich erst im Land der Phäaken. Durch Poseidons Eingreifen wird Odysseus’ dortige Rettung aus seinem Leiden nur zeitlich aufgeschoben und nicht verändert. Dies geht auch aus Kalypsos Worten an Odysseus hervor, die sie nach Hermes’ Götterbesuch in ihrer zweiten Rede und nach einem Schwur auf das Wasser der Styx (5,185f.) an ihn richtet:

εἴ γε μὲν εἰδείης σῆισι φρεσὶν, ὅσσα τοι αἶσα

κήδε᾽ ἀναπλῆσαι πρὶν πατρίδα γαῖαν ἱκέσθαι,

ἐνθάδε κ᾽ αὖθι μένων σὺν ἐμοὶ τόδε δῶμα φυλάσσοις (Od. 5,206–208)

 

Wenn du dir nur in deinem Herzen bewusst wärest, wie viel Leid du zur Erfüllung deines Schicksals durchstehen musst, bevor du deine Heimat erreichst, dann würdest du mit mir hier an diesem Ort bleiben und dieses Haus hüten.

Die αἶσα sieht somit ebenfalls das nochmalige Leiden des Odysseus vor, bevor er in der Heimat ankommt. Kalypsos vorherige Auskunft in ihrer ersten Rede an Odysseus zu seiner Fahrt verbarg somit die Bestimmung des weiteren Leidens noch im Konditionalsatz und dem dortigen diffusen Verweis auf das Walten der olympischen Götter:

[…] πέμψω δέ τοι οὖρον ὄπισθεν,

ὥς κε μάλ᾽ ἀσκηθὴς σὴν πατρίδα γαῖαν ἵκηαι,

αἴ κε θεοί γ᾽ ἐθέλωσι, τοὶ οὐρανὸν εὐρὺν ἔχουσιν,

οἵ μεο φέρτεροί εἰσι νοῆσαί τε κρῆναί τε. (Hom. Od. 5,167–170)

 

Ich will dir einen günstigen Rückenwind schicken, damit du ganz unversehrt in deiner Heimat ankommst, wenn die Götter, die den weiten Himmel beherrschen und die im Planen und im Ausführen besser als ich sind, es wollen.

Durch die αἶσα ist somit schon Odysseus’ Leiden vor Scheria und das göttliche Eingreifen vorherbestimmt. Odysseus erhält hierüber nach seinem misstrauischen Nachhaken auch eine relativ konkrete Antwort. Diese αἶσα akzeptiert er jedoch, um heimkehren zu können (Vgl. Od. 5,221–224).

Die Änderung des Götterwillens in Bezug auf Odysseus (ἀμφ᾽ Ὀδυσῆι, Od. 5,287), die Poseidon beklagt, betrifft nur den Aufenthaltsort bei Kalypso. Durch Poseidons Eingreifen wird die αἶσα nicht verändert, sondern erst zur Vollendung gebracht, da Odysseus die Rettung ja nicht bei Kalypso vorherbestimmt ist, sondern bei den Phäaken. Poseidons Ziel ist auch nicht, Odysseus zu vernichten, sondern ihm möglichst viel Unheil zu bringen.

2.1.1.2Junos Bitte um einen Seesturm in der Aeneis (1,34–80)

2.1.1.2.1Hintergrundhandlung vor Junos Monolog

Schon Richard Heinze hatte Parallelen zwischen der oben besprochenen Szene in der Odyssee und den Monologen der Juno im ersten und siebten Buch der Aeneis (Verg. Aen. 1,34–49, 7,286–322) festgestellt.1 Er vergleicht diese Monologe dabei mit den Götterprologen der Tragödie.2

Die Seesturmszene, die hier nur bis zum Ausbruch des Sturms analysiert werden soll (vgl. Tab. 2 unter 2.1.1),3 beginnt wie die der Odyssee mit der Beschreibung des Hintergrundgeschehens im Imperfekt. Für Aeneas und seine Flotte stellt sich die Lage günstig dar: Sie sind laeti, können kaum mehr von Sizilien aus erblickt werden, setzen die Segel und fahren über die See, als eingeleitet durch ein cum inversum ein plötzlicher Umschwung der Handlung einsetzt:

Vix e conspectu Siculae telluris in altum

vela dabant laeti et spumas salis aere ruebant,

cum Iuno aeternum servans sub pectore vulnus,

haec secum: […] (Verg. Aen. 1,34–37)

Die Beschreibung von Junos Gefühlen, die zu ihrem Monolog und ihrem hierauf folgenden Handeln führen (36), erinnern dabei stark an den Vers der Odyssee (ὁ δ᾽ ἐχώσατο κηρόθι μᾶλλον, Hom Od. 5,284), in dem Poseidons Zorn beschrieben wird, der dadurch entsteht, dass er Odysseus erblickt. Der Grund für ihren Zorn wird zusätzlich als aeternum […] vulnus (36) beschrieben, wodurch im Vergleich zur als Referenz herangezogenen Odyssee das Ausmaß des göttlichen Zorns nochmals gesteigert wird.4

2.1.1.2.2Junos Monolog

Anders als Poseidons Monolog in der Odyssee beginnt Junos Monolog1 nicht mit sachlichen Feststellungen nach einem Klagelaut (Hom. Od. 5,286–289).2 Stattdessen beginnt Juno ihre Klage mit sich selbst:

haec secum: ‘mene incepto desistere victam

nec posse Italia Teucrorum avertere regem?

Quippe vetor fatis. Pallasne exurere classem

Argivum atque ipsos potuit submergere ponto,

unius ob noxam et furias Aiacis Oilei?

ipsa Iovis rapidum iaculata e nubibus ignem,

disiecitque rates evertitque aequora ventis

illum exspirantem transfixo pectore flammas

turbine corripuit scopuloque infixit acuto;

ast ego, quae divum incedo regina Iovisque

et soror et coniunx, una cum gente tot annos

bella gero. et quisquam numen Iunonis adoret

praeterea aut supplex aris imponet honorem?’ (Verg. Aen. 1,37–49)

Diesen Monolog fasst Martina Steinkühler als Selbstagitation auf, die die „paradoxe Ohnmacht der Sprecherin“3 deutlich werden lässt. Besonders deutlich wird dabei Junos Bezug der Ereignisse auf sich selbst.4 Diese „Ich-Bezogenheit“5, die sich bei Juno zeigt, wird formal durch das stark betonte Personalpronomen me am Anfang ihrer Rede deutlich. Die exklamatorischen Infinitive (mene […] desistere […]| nec posse, 37f.) zeigen dabei die besondere Erregtheit der Sprechenden.6 Diese ersten zwei Verse fassen dabei den Inhalt ihres Monologs zusammen. Juno sähe sich besiegt, wenn Aeneas und die Trojaner in Italien ankämen und will diese Einschränkung ihrer Macht nicht hinnehmen. Die fata,7 die die Besiedelung Italiens vorsehen und einer endgültigen Vernichtung der Trojaner entgegenstehen, spricht sie hierauf nur voller Ironie und Verachtung aus:8Quippe vetor fatis (39). Als Zeichen für die sie betreffende Ungerechtigkeit führt Juno hierauf die Bestrafung des Ajax durch Pallas Athene an. Diese habe die Flotte der Argiver verbrennen und versenken dürfen nur aufgrund der Schuld eines einzigen. Zur Vernichtung des Ajax, der schon im Vers zuvor stark hervorgehoben wird (unius ob noxam et furias Aiacis Oilei? 41), habe Athene sogar Jupiters Blitz benutzen dürfen. Hierauf führt sie den genauen Ablauf von Ajax’ Bestrafung mit grausamen Details aus. Allerdings weicht diese Darstellung von Ajax’ Tod von ihrer homerischen Vorlage (Hom. Od. 4,499–511) ab. Hier entkommt nämlich zunächst Ajax durch Poseidons Eingreifen dem Zorn der Athene (καί νύ κεν ἔκφυγε κῆρα, καὶ ἐχθόμενός περ Ἀθήνηι, Hom. Od. 4,502). Erst seine Götterlästerung (4,503f.) führt dazu, dass Poseidon sein Schiff am gyraiischen Felsen zerschmettert und Ajax in die Tiefe gezogen wird. Bei Vergil hat dagegen Athene wie bei Euripides (Eur. Tro. 48–97) von Jupiter/Zeus den Blitz erhalten (Tro. 80f., 92–94)9. Auch hier ist es jedoch Poseidon, der die Schiffe und Seefahrer versenken soll und nicht Athene selbst (Tro. 82–84).10 Juno schreibt somit Athene in ihrem Monolog ein weitergehendes Handeln als in der traditionellen Überlieferung zu. Die Bestrafung des Ajax beschreibt Juno somit im Vergleich zu Homer hyperbolisch.11

Nachdem sie Ajax’ Bestrafung dargestellt hat, stellt Juno sich selbst als starken Gegensatz zu Pallas Athene heraus und hebt die ihr nicht erteilte Erlaubnis, die Trojaner zu vernichten, hervor (ast ego, Aen. 1,46). Dabei betont sie ihren Status als göttliche Herrscherin (divum incedo regina, 46) sowie als Jupiters Schwester und Ehefrau (Iovisque | et soror et coniunx, 46f.), der sie eigentlich von Pallas Athene absetzen sollte. Stattdessen kämpfe sie ohne Unterstützung jahrelang gegen ein ganzes Volk, das antithetisch zum zuvor aufgeführten Ajax (unius […] Aiacis, 41) gesetzt wird, der ja nur ein Mann sei: una cum gente tot annos | bella gero (47f.).

Schließlich schlussfolgert sie, dass diese Situation der Ohnmacht ihr Ansehen als Göttin bei den Menschen bedroht und dazu führen könnte, dass ihrem folglich machtlosen numen keine Gebete und Opfer mehr dargebracht würden.12

Wie Buchheit herausgestellt hat, ist der Monolog von persönlichen Gefühlen wie Überheblichkeit, Verblendung und gekränktem Ehrgeiz bestimmt.13 Juno überführt sich somit selbst, und dem Leser wird klar, dass sie aus falschen Gründen handelt.14

2.1.1.2.3Junos Ankunft bei Aeolus

Während dieses Monologs, nach dessen Abschluss nochmals Junos Zorn hervorgehoben wird (Talia flammato secum dea corde volutans, 50), ist die Göttin in Äolien angekommen. Es folgt eine Ekphrasis des Ortes und ihres Herrschers, Aeolus (50–63). Diesem wurde von Jupiter als pater omnipotens die Bewachung und das Zügeln der Winde anvertraut, die ansonsten Meer, Land und Himmel und damit alle göttlichen Herrschaftsbereiche mit sich rissen (maria ac terras caelumque profundum | quippe ferant rapidi 58f.).

2.1.1.2.4Junos Rede

Diese ihr eigentlich untergeordnete Gottheit spricht Juno supplex an:

ad quem tum Iuno supplex his vocibus usa est:

‘Aeole, namque tibi divum pater atque hominum rex

et mulcere dedit fluctus et tollere vento,

gens inimica mihi Tyrrhenum navigat aequor,

Ilium in Italiam portans victosque penates:

incute vim ventis submersasque obrue puppes,

aut age diversos et dissice corpora ponto.

sunt mihi bis septem praestanti corpore Nymphae,

quarum quae forma pulcherrima Deiopea,

conubio iungam stabili propriamque dicabo,

omnis ut tecum meritis pro talibus annos

exigat, et pulchra faciat te prole parentem.’ (Verg. Aen. 1,64–75)

Dabei folgt Junos Rede zu Beginn dem Gebetsstil. Auf die invocatio der Gottheit (65f.), folgt die pars epica (67f.), an die schließlich mit den preces (69f.) der abschließende Teil eines Gebets anschließt.1

Auf die Anrede des Aeolus folgt Junos Erklärung, weshalb sie ihn aufsucht. Dies erklärt sie mit seinem Aufgabenbereich. Seine durch Jupiter erteilte Aufgabe sei es die Meeresfluten durch Wind zu beruhigen oder aufzutürmen. Damit ist jedoch Aeolus’ Aufgabenbereich im Vergleich zur Darstellung durch den epischen Erzähler leicht verändert:

[…] regemque dedit qui foedere certo

et premere et laxas sciret dare iussus habenas. (Verg. Aen. 1,62f.)

Wie auch später an Neptuns Reaktion auf den Seesturm deutlich wird, der mit seiner emotionalen Aposiopese den Winden mit ihrer Vernichtung droht, ist es keineswegs Aeolus’ Aufgabe eigenständig Seestürme zu beschwören:

Tantane vos generis tenuit fiducia vestri?

iam caelum terramque meo sine numine, venti,

miscere, et tantas audetis tollere moles?

Quos ego…! sed motos praestat componere fluctus.

Post mihi non simili poena commissa luetis.

Maturate fugam, regique haec dicite vestro:

non illi imperium pelagi saevumque tridentem,

sed mihi sorte datum. Tenet ille immania saxa,

vestras, Eure, domos; illa se iactet in aula

Aeolus, et clauso ventorum carcere regnet.’ (Verg. Aen. 1,132–141)

Die Fluten, deren Aufwühlen Juno in ihrer Rede als Aeolus’ Aufgabenbereich aufführt, liegen in Wirklichkeit in Neptuns Aufgabenbereich (mihi sorte datum, 139). Nur auf seine Veranlassung wäre es den Winden und Aeolus erlaubt, Stürme zu verursachen (meo sine numine […] | tantas audetis tollere moles? 134f.). Aeolus ist, wie Neptun Eurus und Zephyrus ihrem Herrn als deutliche Zurechtweisung ausrichten lässt, nur Herrscher über das Gefängnis der Winde und nicht über das Meer.

Zusätzlich zu dieser Kompetenzverschiebung, die es Aeolus erst erlaubt, die Winde für den Seesturm auszuschicken, schmeichelt ihm in Junos Rede allein schon diese Ausweitung seiner Kompetenzen und macht ihn so bereitwilliger für ihren Plan.2

Auf diese Anrede folgt in Junos Rede die Beschreibung des Zustands, aufgrund dessen sie Aeolus aufsucht. Dies ist wieder der Ausgangszustand, der überhaupt zum Eingreifen der Juno geführt hat: Die Trojaner, mit deren Bezeichnung (gens inimica mihi, 67) Juno die una gens aus ihrem Monolog aufnimmt (47), fahren über das Meer, um Ilion und die besiegten Penaten nach Italien zu bringen.

Schließlich gibt Juno Aeolus den Befehl, gegen Aeneas’ Flotte vorzugehen. Dies erfolgt in Form von vier Imperativen, die Aeolus zwei Handlungsoptionen einräumen: Aeolus soll entweder mit einem Sturm, für den er den Winden die Möglichkeit geben soll (incute vim ventis, 69), die Schiffe versenken und vom Meer bedecken lassen (submersasque obrue puppes, 69),3 oder die corpora der Trojaner (aut age diversos et dissice corpora ponto, 70) und nach Servius’ Deutung auch deren Schiffe über das Meer verteilen (Serv. Aen. 1,70).4

Auf diese Anweisungen hin verspricht Juno in formelhafter, ritueller Sprache5 Aeolus die herausragend schöne Nymphe Deiopeia, die er als Belohnung heiraten soll und die ihm Nachwuchs schenken soll (Aen. 1,71–75).6

2.1.1.2.5Aeolus’ Antwort

Aeolus’ Rede schließt hierauf direkt an:

Aeolus haec contra: ‘tuus, o regina, quid optes

explorare labor; mihi iussa capessere fas est.

tu mihi, quodcumque hoc regni, tu sceptra Iovemque

concilias, tu das epulis accumbere divum,

nimborumque facis tempestatumque potentem.’ (Verg. Aen. 1,76–80)

Er zeigt sich dabei sehr unterwürfig und bereit, jeden Befehl zu befolgen. Dies begründet er mit seiner Dankbarkeit gegenüber Juno, der er seine Stellung als Herrscher über die Winde verdanke (78–80).1

Direkt hieran schließt die Beschreibung des Seesturms an (81–123), dessen Ausgestaltung jedoch hier nicht analysiert werden soll.

2.1.1.2.6Juno, die fata und ihr intertextuelles Strukturvorbild

Im Vergleich zu Poseidon in der Odyssee zeigt Juno ein anderes Verhältnis zum Schicksal: Während Poseidon im Rahmen der αἶσα handelt, ist Juno bewusst, dass die fata Aeneas’ Ankunft in Latium vorhersehen (Quippe vetor fatis, 39). Dennoch bittet sie Aeolus um das Versenken der Schiffe. Servius fasst deswegen Junos an Aeolus gerichtete Rede als rhetorischen Trick auf:

sciendum sane est artem hanc esse petitionis, ut minora inpetrare cupientes maiora poscamus. quod etiam nunc Iuno facit. scit namque se fatis obstare non posse, sed hoc agit, ut eos arceat ab Italia. (Serv. Aen. 1,70)

Juno handle also so, um die Trojaner von Italien noch etwas länger abzuhalten und nicht in der Hoffnung, sie gänzlich vernichten zu können.

Auf jeden Fall würden ihre Anweisungen jedoch den fata widersprechen, wenn sie voll ausgeführt würden. James Henry leitet hieraus ab, dass Juno die fata grundsätzlich missachte und die Meinung vertrete, dass ihr Götterwille Vorrang habe.1 Allerdings sind die fata nicht in allen Einzelheiten festgeschrieben. So ist auch Aufschub möglich.2

Zusätzlich befindet sich Juno mit der Beschwörung eines Seesturms nicht wie Poseidon in der Odyssee in ihrem eigenen Machtbereich3 und wendet sich für den Seesturm mit Aeolus an eine Gottheit, die dazu keine Machtbefugnis hat. In ihrer Rede an Aeolus schreibt sie ihm jedoch diese Funktionen zu und verlangt in ihren Imperativen dann die Erfüllung dieser Funktion. Durch den epischen Erzähler wird diese Handlung bei Poseidons Beruhigung des Seesturms klar bewertet: nec latuere doli fratrem Iunonis et irae (Aen. 1,130). Dass Juno, indem sie sich an Aeolus als untergeordnete Gottheit wendet, die eigentlichen Zuständigkeiten umgeht, ist somit laut Neptuns Urteil heimtückisch und geschieht aufgrund ihres Zorns auf die Trojaner.

2.1.2Thetis’ Bitte um einen Seesturm

2.1.2.1Hintergrundhandlung vor Thetis’ Monolog

Wie die Aeneis beginnt die Achilleis direkt nach dem Proömium in medias res(vgl.Übersicht Tab. 3 unter 2.1.1).1 Auch in der Achilleis ist für die weitere Handlung ausschlaggebend, dass die Gottheit, d. h. hier Thetis, einen Seefahrer erblickt. Dabei folgt das Geschehen der Struktur in Odyssee und Aeneis:

Solverat Oebalio classem de litore pastor

Dardanus incautas blande populatus Amyclas

plenaque materni referens praesagia somni

culpatum relegebat iter, qua condita ponto

fluctibus invisis iam Nereis imperat Helle,

cum Thetis Idaeos – heu numquam vana parentum

auguria! – expavit vitreo sub gurgite remos.

nec mora et undosis turba comitante sororum

prosiluit thalamis: fervent coeuntia Phrixi

litora et angustum dominas non explicat aequor. (Stat. Ach. 1,20–29)

Zunächst wird das Hintergrundgeschehen im Imperfekt geschildert. In der Achilleis wird dieses zusätzlich noch durch das bisherige Geschehen (20f.), nämlich den Raub der Helena, ergänzt. Paris,2 der pastor Dardanus,3 ist schon von Spartas Küste abgesegelt und hat dabei wie in Ovids Heroides (Ov. epist. 16,259f., 17,91f., 17,182) durch blanditiae4 erreicht, dass Helena mit ihm und der trojanischen Flotte fährt.5 Damit erfüllt er die Prophezeiung seiner Mutter Hekuba (Ach. 1,22), in deren Beschreibung in der Achilleis mit Wortentsprechungen wieder auf Paris’ Selbstbeschreibung in Ov. epist. 16 angespielt wird.6 Gleichzeitig baut dabei Statius mit einem Selbstzitat (praesagia somni, Stat. Theb. 5,620) auch Intertextualität zur Thebais auf. Die Fahrt des Paris7 wird dabei durch den epischen Erzähler als schuldhaft bewertet (culpatum relegebat iter, Ach. 1,23). Ripoll deutet diese Wertung als Anzeichen dafür, dass die Achilleis progriechisch sei.8 Allerdings trägt Paris in Venus’ Rede an ihren Sohn im zweiten Buch der Aeneis auch das Epitheton culpatus (Verg. Aen. 2,602).

Die Ortsangabe geschieht mit dem Verweis auf die in eine Nereide verwandelte Helle, die nun als Poseidons Ehefrau9 und als Meeresgöttin in dem nach ihr benannten Meer wohnt. Mit diesem Verweis auf Helle und ihr jetziges Wesen wird nicht nur die Perspektive auf die der Meergötter verschoben, sondern auch schon Thetis’ Verweis auf die Argonauten in ihrer Rede an Neptun vorbereitet.

Wie in der Aeneis wird das Geschehen durch ein cum inversum eingeleitet (Ach. 1,25): Wieder ist es der Anblick des Seefahrers, der eine starke Emotion der Gottheit hervorruft. Während Odysseus und Aeneas in der Odyssee und der Aeneis Zorn hervorrufen, ist es hier Furcht, die durch Paris’ Anblick ausgelöst wird (expavit